Julia Ärzte zum Verlieben Band 170

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NEUES GLÜCK FÜR SCHWESTER GEMMA? von KATE HARDY
Groß, dunkelhaarig, blauäugig: Der atemberaubend attraktive Vertretungsarzt Dr. Oliver Langley ist genau der Typ Mann, der Schwester Gemma gefährlich werden kann. Denn obwohl sie nie wieder ihr Herz riskieren will, ist es schier unmöglich, seinem Sex-Appeal zu widerstehen …

DIESE LIPPEN SOLL MAN KÜSSEN von JULIETTE HYLAND
Dr. Carter Simpson stockt der Atem, als er seine Jugendliebe Helena bei einem Job am Südpol wiedersieht. Das schöne junge Mädchen von einst ist eine atemberaubende Frau geworden. Mehr denn je laden ihre roten Lippen zum Küssen ein. Doch er darf ihr nicht zu nahekommen!

VERLOBT MIT DEM FEIND von AMY RUTTAN
Dr. Kiera Brown sollte Dr. Henry Baker hassen – nicht heimlich begehren! Schließlich ist er ihr erklärter Feind, seit er nach Aspen gekommen ist, um das örtliche Krankenhaus zu schließen! Aber warum behauptet er dann plötzlich in der Öffentlichkeit, dass sie seine Verlobte ist?


  • Erscheinungstag 21.10.2022
  • Bandnummer 170
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511612
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kate Hardy, Juliette Hyland, Amy Ruttan

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 170

KATE HARDY

Neues Glück für Schwester Gemma?

In Gemmas Nähe schlägt Dr. Oliver Langleys Herz gleich schneller. Aber nicht nur als seine neue Arbeitskollegin ist die schöne Krankenschwester tabu für ihn! Seit seine Verlobte ihn kurz vor der Hochzeit verließ, hat er der Liebe für immer abgeschworen. Entgegen aller Vernunft fühlt er sich jedoch täglich mehr zu Gemma hingezogen …

JULIETTE HYLAND

Diese Lippen soll man küssen

Ausgerechnet am anderen Ende der Welt – auf der Amundsen-Scott-Station am Südpol – begegnet Schwester Helena ihrer Jugendliebe Dr. Carter Simpson wieder. Sofort ist die erotische Spannung von damals da. Doch Vorsicht: Einst war Carter ohne ein Wort des Abschieds aus ihrem Leben verschwunden. Und auch jetzt ahnt sie, dass er etwas vor ihr verbirgt …

AMY RUTTAN

Verlobt mit dem Feind

Dr. Henry Baker verspürt ein erregendes Prickeln in Dr. Kiera Browns Nähe. Aber er ist nicht für ein heißes Rendezvous im Schnee nach Aspen gekommen. Er muss dafür sorgen, dass Kiera ihren Widerstand gegen die Schließung des örtlichen Krankenhauses aufgibt, sonst nichts! Doch dann braucht er dringend eine Scheinverlobte – und nennt im Affekt Kieras Namen …

1. KAPITEL

Oliver Langley atmete tief ein. Nun fing sein neues Leben an. Noch vor einem halben Jahr hatte er sich ein anderes Leben ausgemalt – bevor seine Welt völlig aus den Fugen geraten war. Bevor sein Zwillingsbruder Rob nach einem Erdbeben für eine humanitäre Hilfsorganisation gearbeitet hatte und ihm der Blinddarm geplatzt war. Bevor Robs Nieren durch eine schwere Blutvergiftung schwer geschädigt worden waren. Bevor Ollie ihm eine Niere gespendet hatte.

Bevor Ollies Verlobte die Hochzeit abgesagt hatte.

Daran war er selbst schuld, schließlich hatte er sie gebeten, die Zeremonie zu verschieben. „Tabby, Rob ist von der Dialyse zu geschwächt, um zur Hochzeit zu kommen und mein Trauzeuge zu sein.“ Zu einem späteren Termin hätten beide Brüder die OP überstanden und die ganze Familie könnte dabei sein und zusammen feiern.

„Lass uns die Hochzeit um ein paar Monate verschieben. Die Transplantation ist hoffentlich Anfang Juni, sodass wir uns im August gut erholt haben werden. Dann könnten wir im Spätsommer heiraten.“

„Die Hochzeit verschieben.“ Tabby schwieg, als würde sie überlegen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein.“

Fassungslos sah er sie an. „Ich weiß, dass das viel Aufwand bedeutet, Tab. Aber ich helfe natürlich mit, so viel ich kann.“

„Darum geht es nicht, Ollie. Ich … ich denke schon länger über uns nach. Und ich glaube, wir sollten die Hochzeit absagen.“

„Absagen?“ Ihm wurde kalt. „Warum? Hast du einen anderen Mann kennengelernt?“

„Nein. Es liegt nicht an dir, sondern an mir.“

Sie war also zu nett, um ihm zu sagen, dass es doch an ihm lag. „Tabby, was auch immer das Problem ist – zusammen finden wir bestimmt eine Lösung. Es tut mir leid, wenn ich dich irgendwie verletzt habe.“ Ollie liebte sie. Er wollte sie heiraten und eine Familie mit ihr gründen. Eigentlich hatte er geglaubt, dass sie diese Gefühle erwiderte.

Tränen traten ihr in die Augen. „Es liegt nicht an dir“, sagte sie noch einmal. „Dass du Rob eine Niere spenden willst, verstehe ich, schließlich ist er dein Bruder.“

„Aber?“, brachte Ollie mühsam heraus.

Sie sah ihn an. „Aber was ist, wenn etwas schiefgeht? Wenn du krank wirst, wenn deine verbleibende Niere nicht mehr funktioniert und du dann immer zur Dialyse musst? Was, wenn sich kein passender Spender für dich findet und du stirbst?“

„Das wird ganz bestimmt nicht passieren.“ Er wollte tröstend die Arme um sie legen, doch sie wich zurück.

„Du hörst mir nicht richtig zu, Ollie. Ich kann das nicht. Du kennst doch die Situation meiner Eltern.“

Tabbys Vater war am chronischen Erschöpfungssyndrom erkrankt und brachte schon seit Jahren kaum Energie für irgendetwas auf.

„Mum hat sich an ihr Ehegelübde gehalten: ‚in guten und in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit‘. Mir war das früher nicht bewusst, aber sie hat sich kaputtgearbeitet. Sie hat dafür gesorgt, dass genug Geld da war und dass es meinem Bruder und mir gutging. Zusätzlich hat sie sich um Dad gekümmert. Als wir älter waren und uns klar wurde, wie krank Dad ist, haben Tom und ich mitgeholfen, so gut wir konnten. Aber für unsere Mutter war es jeden Tag ein Kampf. Sie hat sich völlig aufgeopfert, um sich um Dad zu kümmern. Und das kann ich für dich einfach nicht tun.“

Ollie runzelte die Stirn. „Ich bin doch gar nicht krank, Tab. Nach der Transplantation werde ich mich eine Weile erholen müssen, aber davon abgesehen wird es mir gutgehen. Rob wird dann auch langsam wieder fit werden, und bald ist alles wie immer.“

„Du kannst mir aber nicht garantieren, dass es dir immer gutgehen wird und ich dich nicht pflegen muss, Ollie.“ Tabby schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht heiraten.“ Mühsam kämpfte sie gegen die Tränen an. „Ich weiß, dass das sehr egoistisch von mir ist. Aber ich liebe dich einfach nicht genug, um so ein Risiko einzugehen.“ Sie nahm ihren Verlobungsring ab und gab ihn Ollie zurück. „Es tut mir wirklich leid.“

„Du hast bestimmt nur kalte Füße bekommen, weil die Hochzeit so kurz bevorsteht und du nervös bist“, entgegnete er. „Alles wird gut. Wir lieben uns doch!“

„Nein, Ollie“, widersprach sie. „Ich liebe dich, aber nicht genug.“

Es gelang ihm nicht, sie umzustimmen. Tabby meldete sich vor dem Eingriff, um ihm und Rob Glück zu wünschen. Doch sie machte sehr deutlich, dass sie ihn nicht zurückhaben wollte. Ihre Liebe für ihn reichte einfach nicht.

Nach der Transplantation grübelte Ollie viel und merkte, dass er eine Weile aus London wegmusste. Also nahm er sich ein halbes Jahr von seiner Stelle als praktischer Arzt im Londoner Stadtteil Camden frei, überließ seine Wohnung einem Freund und zog mit Rob zu den Eltern nach Northumbria. Der weite Himmel und die grüne, hügelige Landschaft gaben ihm nach den Jahren im hektischen London die Gelegenheit, in Ruhe durchzuatmen und zu überlegen, wie es in seinem Leben nun weitergehen sollte.

Doch nach einer Weile war Ollie unruhig geworden. Er liebte seine Eltern sehr, aber seine Mutter hatte sich ein wenig zu aufopferungsvoll um ihre Söhne gekümmert. Er brauchte einfach Raum für sich, und bestimmt würde ihm die Arbeit, die er so liebte, dabei helfen, wieder zu mehr innerem Gleichgewicht zu finden und die geplatzte Hochzeit zu vergessen.

Wie der Zufall es wollte, brauchte die Arztpraxis Ashermouth Bay für drei Monate einen Arzt als Schwangerschaftsvertretung. Er hatte sich erfolgreich um die Stelle beworben und sich für die Zeit ein altes Fischer-Cottage in der Nähe des Hafens gemietet. Von dort aus konnte er zu Fuß zur Praxis gehen.

Heute war sein erster Arbeitstag. Seiner Ex-Verlobten mochte er nicht gut genug gewesen sein, doch Ollie war sich sicher, dass er ein guter Arzt war.

Die Praxis wirkte sehr einladend. Sie befand sich in einem einstöckigen Gebäude aus rotem Backstein, mit Blumenkästen voller leuchtend roter Geranien und einem Lavendelbeet. Neben der Tür hing ein Schild, auf dem alle Mitarbeiter aufgeführt waren, von den Ärzten über die Arzthelferinnen bis hin zum Büro- und Empfangsteam. Überrascht entdeckte Ollie seinen Namen unter dem der Ärztin Aadya Devi, die er vertreten sollte. Das war ein schönes Gefühl – als würde er schon jetzt dazugehören.

Er atmete tief ein, öffnete die Tür und ging zum Empfang. Die Arzthelferin hinter dem Tresen unterhielt sich mit einer Frau, die die Arbeitskleidung einer nurse practitioner trug und ihm den Rücken zuwandte. Offenbar hatte ihn keine der beiden Frauen hereinkommen hören, denn sie unterhielten sich über ihn.

„Dr. Langley soll heute Vormittag anfangen“, erzählte die Arzthelferin.

„Unser Neuer“, sagte die Krankenschwester erfreut. „Caroline hat mich gebeten, ihm bei der Eingewöhnung zu helfen, weil sie diese Woche ja nicht da ist.“

Caroline war eine Ärztin Ende fünfzig und leitete die Praxis. Sie lachte gern, strahlte Durchsetzungsvermögen aus und war Ollie beim Vorstellungsgespräch gleich sympathisch gewesen.

„Und Frischfleisch ist er ja auch“, fügte die Krankenschwester hinzu.

Die Arzthelferin lachte. „Oh, Gemma, war ja klar, dass du gleich daran denkst!“

Ollie, der die beiden gerade begrüßen wollte, verschlug es die Sprache. Frischfleisch?

Er hatte die geplatzte Hochzeit noch nicht ganz verkraftet und war daher nicht bereit für Annäherungsversuche. Und dass jemand so über ihn redete, gefiel ihm überhaupt nicht. Nach der Reaktion der Arzthelferin zu urteilen, machte diese Gemma so etwas häufiger. Er würde ihr wohl klarmachen müssen, dass sie bei ihm an der falschen Adresse war.

Er räusperte sich vernehmlich. „Guten Morgen!“

„Oh, guten Morgen!“, erwiderte die Frau am Empfang lächelnd. „Wir haben eigentlich noch nicht geöffnet, aber kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin Oliver Langley“, stellte er sich vor.

Sie errötete, weil ihr wohl sofort klar war, dass er das Gespräch mitbekommen haben musste.

„Ich bin Maddie Jones, Arzthelferin und für den Empfang zuständig. Herzlich willkommen in unserer Praxis! Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen, Dr. Langley?“

„Nein, vielen Dank“, erwiderte er sachlich. „Ich erwarte nicht, dass ich bedient werde.“

Nun begrüßte ihn auch die andere Frau lächelnd. „Guten Morgen, Dr. Langley. Ich freue mich, Sie kennenzulernen!“

Ollie fand es ziemlich dreist von ihr, ihm so ein strahlendes Lächeln zu schenken, nachdem sie ihn kurz zuvor als „Frischfleisch“ bezeichnet hatte.

„Ich heiße Gemma Baxter und bin eine der nurse practitioners. Caroline hat mich gebeten, mich diese Woche ein bisschen um Sie zu kümmern.“

„Das ist nett von Ihnen, Nurse Baxter“, erwiderte Ollie ausdruckslos, „aber wirklich nicht nötig.“

„Bitte nennen Sie mich doch Gemma“, erwiderte sie. „Und ich möchte Ihnen wenigstens zeigen, wo sich in der Praxis alles befindet. Wie Sie sehen, ist das hier der Wartebereich.“ Sie zeigte auf die Stühle. „Die Zimmer der Arzthelferinnen und der nurse practitioners sind links vom Empfang, die Toiletten für die Patienten dort drüben und die Sprechzimmer der Ärzte auf dieser Seite.“ Sie wies auf einen Gang. „Kommen Sie bitte mit? Toiletten, Küche und Aufenthaltsraum des Praxisteams befinden sich hier, hinter dem Empfang und dem Büro.“ Sie führte ihn in die Küche. „Kaffee, verschiedene Sorten Tee und heiße Schokolade finden Sie im Schrank über dem Wasserkocher, ebenso die Becher. Die Spülmaschine ist neben dem Kühlschrank. Fürs Ausräumen haben wir einen Arbeitsplan. Die Mikrowelle brauche ich ja sicher nicht zu erklären. Wir zahlen jede Woche ein paar Pfund in die Kaffeekasse ein, und Maddie sorgt dafür, dass uns die Vorräte nicht ausgehen. Wenn Sie irgendetwas vermissen, sagen Sie ihr bitte einfach Bescheid.“ Wieder lächelte sie ihn an. „Ich muss mich vor meiner Telefontriage und der Impf-Sprechstunde noch um außerhalb der Sprechzeiten eingegangene Nachrichten und Schreiben vom Krankenhaus kümmern, deshalb verabschiede ich mich jetzt. Ihr Zimmer ist das dritte rechts, der Name steht schon an der Tür.“

„Danke, dass Sie mir alles gezeigt haben“, sagte Ollie. Die Bemerkung mit dem „Frischfleisch“ hatte ihn verstimmt. Aber da er drei Monate lang mit Gemma zusammenarbeiten würde, beschloss er, ihr gegenüber höflich zu sein.

„Ich hole Sie dann mittags ab“, fügte sie hinzu. „Weil heute ja Ihr erster Arbeitstag ist, lade ich Sie ein.“

„Das ist w…“ Ollie kam nicht mehr dazu, ihr zu sagen, dass das wirklich nicht nötig war, denn Gemma war schon weg.

Er kochte sich einen Kaffee und ging dann in sein Sprechzimmer, das schön hell und geräumig war. An der Wand hing ein Aquarellbild einer Burg am Meer, wohl eine örtliche Sehenswürdigkeit. Außerdem gab es einen Schreibtisch mit Computer, einen Stuhl für den Patienten und einen für eine Begleitperson oder ein Elternteil.

Ollie suchte auf seinem Smartphone Nutzername und Passwort heraus, die er letzte Woche zugeschickt bekommen hatte. Dann meldete er sich im System an, änderte sein Passwort und richtete sich eine Erinnerung für den Beginn der Telefontriage ein. Als er Zugriff auf seine E-Mails hatte, begann er, Entlassungsbriefe, Schreiben vom Krankenhaus und Überweisungen durchzuarbeiten, die übers Wochenende angefallen waren.

Gemma wusste, dass sie vermutlich etwas vorschnell urteilte, aber sie fand Oliver Langley ziemlich reserviert. Auf den herzlichen Empfang und ihren Vorschlag, ihn herumzuführen, hatte er ausgesprochen kühl reagiert. Sie konnte nur hoffen, dass er mit den Patienten freundlicher umging. Niemand wollte es schließlich mit einem Arzt zu tun haben, der einen von oben herab behandelte – sondern mit einem, der aufmerksam und freundlich zuhörte.

Zugegeben, er sah toll aus. Der große dunkelhaarige Mann mit den blauen Augen erinnerte sie an den jungen Hugh Grant. Aber in der Medizin kam es nicht aufs Aussehen an, sondern darauf, wie man mit seinen Patienten umging. Bisher wirkte Oliver Langley auf sie sehr verschlossen. Dabei hatte Caroline gesagt, dass er von allen Bewerbern am besten ins Praxisteam passte. Waren die anderen etwa Roboter gewesen?

Gemma hoffte, dass sie ihn in der Mittagspause mit einer Charme-Offensive dazu bringen konnte, etwas aufzutauen. Sie nahm sich vor, ihm ein echtes Lächeln zu entlocken – und wenn sie dafür ihr gesamtes Repertoire an schlechten Witzen aufbrauchen musste!

Sie trank einen Schluck Kaffee und sah nach, welche ihrer Patienten am Wochenende eine dringende Behandlung benötigt hatten und nun weiter betreut werden mussten. Dann nahm sie sich die Liste, die Maddie ihr geschickt hatte, und fing mit ihren eineinhalb Stunden Telefontriage an. Diese Methode, bei der sie ihre Patienten anriefen und eingehend nach Symptomen befragten, hatten sie nach der Corona-Krise beibehalten. Sie war zwar gut zum Behandeln leichterer Erkrankungen und für Ratschläge bei Husten und Erkältungen geeignet, doch Gemma fand, dass man oft durch die Körpersprache eines Patienten Wichtiges erfuhr. Nicht selten führte dies dazu, dass sie weiter nachfragte und so herausfand, was dem betreffenden Patienten wirklich Sorgen bereitete. Das funktionierte in der Telefonsprechstunde leider nicht. Und anhand eines verschwommenen Fotos konnte man einen Ausschlag nicht gut beurteilen oder feststellen, ob eine Wunde septisch war.

Nun war alles zum Glück wieder etwas einfacher, und alle gewöhnten sich langsam an die neue Normalität. Gemma arbeitete die Liste ab, bis es Zeit für die Impf-Sprechstunde war. Kleinere Patienten weinten zwar manchmal, wenn sie geimpft wurden, aber immerhin bekam Gemma so die Gelegenheit, Babys im Arm zu halten. Wie sehr sie sich nach einem eigenen Kind sehnte, hätte sie niemals offen zugegeben. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie beim Umgang mit den kleinen Patienten ihre biologische Uhr immer lauter ticken hörte.

Vor zwölf Jahren hatte Gemma ihre kleine Schwester verloren – und mit ihr ihre ganze Familie, denn die Eltern konnten mit dem schweren Verlust nicht umgehen und Gemma seitdem keine Liebe mehr schenken. Sie war damals so ausgehungert nach Zuneigung gewesen und hatte Sarah so vermisst, dass sie ihren Schmerz auf völlig falsche Weise betäubt und mit viel zu vielen Jungs geschlafen hatte. Als ihr schließlich die Mutter ihrer besten Freundin ins Gewissen geredet hatte, war Gemma ins andere Extrem verfallen: Weil sie auf keinen Fall schwach und bedürftig wirken wollte, hatte sie niemanden wirklich an sich herangelassen, sodass seitdem jede Beziehung nach ein paar Wochen im Sande verlaufen war. Leider hatte sie nie einen Mann kennengelernt, der wirklich zu ihr passte.

Es war also unwahrscheinlich, dass sie je eigene Kinder haben würde. Ihre letzte – unverbindliche – Verabredung war auch schon wieder ein halbes Jahr her. Immerhin war Gemma die Patentante von Scarlett, der Tochter ihrer besten Freundin. Darüber war sie sehr froh. Doch warum hatte sie es noch immer nicht geschafft, wieder ein gutes Verhältnis zu ihrer eigenen Familie aufzubauen? Warum konnte sie nicht zu ihren Eltern durchdringen?

Gemma gab sich einen Ruck. Warum machte sie sich ausgerechnet jetzt solche Gedanken? Das war doch wirklich albern.

Vielleicht lag es daran, dass Oliver Langley genau der Typ Mann war, auf den sie damals in ihren schwierigen Jahren angesprungen war: groß, dunkles Haar, blaue Augen, sehr attraktiv. Und seine kühle Zurückhaltung hatte sie durcheinandergebracht. Gemma war es gewohnt, dass Leute positiv auf ihre warme, freundliche Art reagierten.

Sein Problem, dachte sie. Und sie hatte ohnehin keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen – schließlich wartete viel Arbeit auf sie.

Sie ging aus ihrem Sprechzimmer und rief ihren ersten Patienten herein.

2. KAPITEL

„Ich muss zugeben, dass mir vor dem Termin sehr gegraut hat. Ich kann Nadeln nämlich nicht leiden“, gab Fenella Nichols zu, als sie sich mit ihrem Baby auf dem Schoß hinsetzte.

Gemma war schon aufgefallen, dass sich die Nervosität der Mutter auf ihre einjährige Tochter übertragen hatte.

„Ja, das geht vielen Menschen so.“ Sie lächelte verständnisvoll. „Aber es ist eine gute Entscheidung, dass Sie Laura vor Meningitis, Mumps, Masern und Röteln schützen wollen.“ Sie strich der Kleinen über die Wange. „Na, meine Süße? Gönnst du mir ein Lächeln?“

Zu ihrer Erleichterung gluckste das Baby fröhlich. „Wie läuft es denn so mit ihr?“

Das war der Moment, in dem ihr die Patientinnen oft ihre echten Sorgen anvertrauten.

„Mein Mann findet, dass Laura sich etwas langsam weiterentwickelt“, sagte Fenella. „Ich finde, sie ist zwar eher klein, aber wahrscheinlich kommt sie einfach nach mir.“

Fenella war eine schlanke, kleine Frau, nur einen Meter fünfzig groß und damit gut zwölf Zentimeter kleiner als Gemma.

„Da haben Sie wahrscheinlich recht. Ich werde sie messen, und dann sehen wir in der Tabelle nach. Und wie ich höre, erzählt sie ja schon gern.“

„Ja. Ihre Lieblingswörter sind Papa, Wauwau und Quak.“ Fenella lächelte. „Und sie hält sich an Möbeln fest, um sich auf die Beine zu ziehen.“

„Dann will sie sicher auch bald laufen. Es hört sich so an, als müssten Sie sich keine Sorgen machen.“ Gemma winkte dem Baby zu, das fröhlich zurückwinkte. Sie hielt der Kleinen ein Bilderbuch hin. „Wer macht Quak, Laura?“

Das Baby zeigte auf die Ente.

„Fenella, würden Sie mit Laura das Lamm suchen?“

Als Mutter und Baby abgelenkt waren, bereitete Gemma die Einstichstelle an Lauras Bein vor und impfte sie. Die Kleine weinte kurz, war aber schnell abgelenkt, als ihre Mutter eine Seite im Buch umblätterte.

„Wauwau!“, rief sie begeistert und wies auf einen Hund.

„Gut gemacht!“, lobte Gemma. „Es kann sein, dass sich die Einstichstelle im Laufe des Vormittags leicht rötet, aber das sollte in ein paar Tagen wieder verschwunden sein. Weil es vorkommen kann, dass Babys vom Wirkstoff gegen Meningitis leichtes Fieber bekommen, gebe ich Laura jetzt Fiebersaft mit Paracetamol. Achten Sie darauf, dass sie ausreichend trinkt. Sie können ihr in vier Stunden noch einmal Fiebersaft geben, und wenn Ihnen irgendetwas Sorgen bereitet, rufen Sie einfach bei uns an.“

Gemma wog und maß die Kleine und hielt die Werte sowie weitere Angaben fest. „Laura entwickelt sich genauso weiter wie seit ihrer Geburt und liegt ganz leicht unter dem Durchschnitt. Damit bin ich absolut zufrieden“, beruhigte sie die junge Mutter. „Gibt es noch etwas, das Ihnen Sorgen bereitet?“

„Nein“, erwiderte Fenella lächelnd. „Aber ich finde, zum nächsten Impftermin kann mein Mann mit Laura gehen.“

Gemma lachte. „Gute Idee!“

Ihr nächster kleiner Patient war schon ein bisschen älter. Sie lenkte ihn von dem „Pikser“ ab, indem sie ihn bat, mit ihr zusammen „Old MacDonald hat ’nen Zoo“ zu singen.

„Zoo?“, wiederholte die Mutter lachend.

„Ja“, bestätigte Gemma. „Ist mal was anderes. Da kommen dann statt Kühen und Schafe Elefanten vor, Tiger, Löwen, Krokodile …“

„Krokodile!“ Der Junge strahlte vor Begeisterung und vergaß die Nadel völlig.

Diese Momente mit kleinen Patienten liebte Gemma besonders. Sie hätte sich auch gut vorstellen können, in einer Kinderarztpraxis anzufangen.

Der Junge bekam einen Aufkleber mit der Aufschrift „Ich war SUPERtapfer!“. Dann machte Gemma kurz sauber und rief den nächsten Patienten herein. Gerade waren Schulferien, sodass auch Teenager zur Impf-Sprechstunde kamen, die ihre Meningokokken-Impfung gegen Meningitis nachholen mussten.

„Geht’s in ein paar Monaten los an die Uni?“, fragte sie Millie, die erste Patientin.

„Wenn meine Noten gut genug sind.“ Das Mädchen biss sich auf die Lippe. „Mir graut vor dem Tag, an dem wir die Prüfungsergebnisse bekommen.“

„Das verstehe ich. Daran kann ich mich auch noch gut erinnern.“

Beim zweiten Anlauf hatte Gemma die nötigen Noten bekommen, doch der erste Versuch war eine Katastrophe gewesen. Sie war damals mit Pauken und Trompeten durch die Prüfungen gerasselt, sodass sie das letzte Schuljahr und alle Abschlussprüfungen wiederholen musste.

„Denk daran, dass es immer einen Plan B gibt“, sagte sie. „Auch wenn du keinen Studienplatz an der Uni deiner Wahl bekommst, wird es bestimmt gut, weil du ein Fach studierst, das dich begeistert.“

„Ja, vielleicht.“ Millie schnitt ein Gesicht. „Meine Mutter macht sich Sorgen.“

„Das tun Mütter eben. Aber diese eine Sorge kannst du ihr ja nehmen.“ Lächelnd fügte sie hinzu: „Bei meiner Mutter war es damals genauso.“

Na ja, fast. Nach Sarahs Tod schien ihre Mutter sich zu verschließen. Stattdessen hatte sich Yvonne gekümmert, die Mutter von Gemmas bester Freundin Claire. Sie war es auch gewesen, die Gemma nach der vermasselten Prüfung ins Gewissen geredet hatte.

„Ich sollte alles aufschreiben, worüber ich mir Sorgen machte. Dann haben wir alles besprochen und gemeinsam einen Plan geschmiedet. Meine Mutter …“ Claires Mutter „… machte sich Sorgen, dass ich mich nicht gesund ernähre. Also habe ich mir von ihr beibringen lassen, wie man sich schnell und günstig etwas Gesundes kocht.“

„Das ist eine Superidee, danke!“, sagte Millie.

„Gern geschehen. Ich wünsche dir viel Glück und eine tolle Zeit an der Uni!“

Sie war pünktlich mit der Sprechstunde fertig, erledigte noch etwas Büroarbeit und sah dann in der App der Praxis, dass auch Oliver mit seinem letzten Termin fertig war.

Gemma ging zu seinem Sprechzimmer. „Zeit fürs Mittagessen.“ Sie schenkte ihm ihr herzlichstes Lächeln.

Oliver Langley blickte von seinem Schreibtisch auf. „Sehr nett von Ihnen, aber das ist wirklich nicht nötig.“

Wollte er sich wirklich sträuben? Dann würde er jetzt lernen, dass auch Gemma auf stur stellen konnte. Er war zwar nur für ein Vierteljahr in der Praxis, aber in diesen drei Monaten würde er zum Team gehören. Da kam es nicht infrage, sich als etwas Besseres zu fühlen.

„Doch, ist es“, widersprach sie. „Sie sind neu hier, und heute ist Ihr erster Tag in der Praxis. Wir verstehen uns als Team und sind füreinander da. Ich dachte mir, wir könnten oben auf den Klippen zu Mittag essen und uns vorher Sandwiches aus der Bäckerei holen, die sind nämlich superlecker. Und an Ihrem ersten Tag lade ich Sie selbstverständlich ein.“

Er öffnete den Mund, aber Gemma ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Keine Widerrede.“

Als Oliver Langley sie misstrauisch ansah, seufzte sie. „Es geht doch nur um Kaffee und ein Sandwich, um Sie in der Praxis willkommen zu heißen. Sie verpflichten sich damit mir gegenüber zu nichts.“

„Also gut, danke“, sagte er etwas verlegen.

Gemma war fest entschlossen, ihn noch zum Lächeln zu bringen. „Sehr schön. Bis zur Bäckerei sind es fünf Minuten und dann noch mal fünf Minuten bis zu den Klippen.“

Als er ihr schweigend folgte, suchte sie nach einem unverfänglichen Thema. „Die Bäckerei gehört meiner besten Freundin. Claire backt fantastisches Sauerteigbrot, und ihre Brownies sind einfach göttlich.“

„Aha.“

Du meine Güte, dachte Gemma. Konnte er ihr nicht entgegenkommen und ein bisschen Small Talk machen? Sie versuchte es noch einmal. „Essen Sie gern Kuchen?“

„Nein, eher nicht.“

Dann würde er ihr also freitagvormittags, wenn sie in der Praxis immer Kuchen anbot, vermutlich keinen abkaufen.

„Dann bin ich offenbar das Gegenteil von Ihnen. Ich glaube nämlich, dass mit Kuchen alles besser wird.“

Oliver Langley sah sie an, als wäre sie nicht ganz bei Trost. Hätte Gemma Caroline nicht versprochen, sich an seinem ersten Arbeitstag um ihn zu kümmern, hätte sie den Griesgram jetzt einfach stehenlassen.

In der Bäckerei suchten sie sich Sandwiches aus. Oliver bestellte einen Espresso, und Gemma kaufte noch einen Zitronen-Himbeerkuchen und einen herzhaften Muffin. Auf dem steilen Weg hinauf zu den Klippen trug ihr neuer Kollege die Papiertüte mit dem Essen, bemühte sich aber nicht, ein Gespräch zu beginnen. Damit die gute Atmosphäre in der Praxis erhalten blieb, war sie trotzdem entschlossen, ihn ein wenig zum Auftauen zu bringen.

Oben angekommen, nahm Gemma eine Decke aus ihrem Rucksack und breitete sie aus. „Setzen Sie sich doch.“

„Haben Sie immer eine Decke dabei?“, fragte er überrascht.

Sie nickte. „Ja. Ich komme meistens zum Mittagessen her, wenn es nicht gerade regnet. Man hat von hier so einen tollen Blick.“

„Stimmt“, musste er zugeben und betrachtete Strand und Meer.

„Hier kann man sich ordentlich durchpusten lassen und bekommt einen klaren Kopf. Die besten Voraussetzungen für einen guten Tag.“

Oliver setzte sich neben sie und reichte ihr Kaffee und Sandwich. „Danke für das Mittagessen.“

„Gern geschehen. Wie war denn Ihr erster Vormittag in der Praxis?“

„Gut.“

Ob sie ihn jemals zum Auftauen bringen würde? Gemma atmete tief ein. „Dr. Langley, ich wollte Ihnen einen netten Empfang bereiten und Sie im Team willkommen heißen, aber wenn ich auf Sie aufdringlich wirke, tut es mir leid.“

Als er sie nur misstrauisch ansah, seufzte sie innerlich. Vielleicht konnte sie zu Oliver Langley ebenso wenig ein gutes Verhältnis aufbauen wie zu ihren Eltern – und sollte einfach aufgeben.

„Aber immerhin weiß ich jetzt, dass Sie kein Kuchenfan sind, also werde ich freitags nicht versuchen, Ihnen Spendenkuchen zu verkaufen.“

„Spendenkuchen?“, wiederholte er verwirrt.

„Ja. Vor der Coronakrise habe ich freitags vormittags immer einen Stand im Wartebereich aufgebaut und mit dem Verkauf Spenden für die kardiologische Station des örtlichen Krankenhauses gesammelt. Ich habe Kuchen und Kekse an Patienten, Praxismitarbeiter und jeden verkauft, der gerade in der Nähe war.“ Sie seufzte. „Caroline hat mir gerade erlaubt, wieder damit anzufangen, aber es kommen derzeit natürlich viel weniger Patienten in die Praxis.“ Sie zuckte die Schultern. „Immerhin, besser als nichts. Alle drei bis vier Monate organisiere ich eine größere Spendenaktion. Das Fallschirmspringen musste ich auf den nächsten Monat verschieben, weil das Wetter zu schlecht war. Sie sind nicht verpflichtet, mich als Sponsor zu unterstützen, aber ich wäre Ihnen natürlich sehr dankbar, auch wenn Sie nur mit einem Pfund dabei sind.“ Sie lächelte leicht. „Ich sammle schon seit zehn Jahren Spenden, und mittlerweile ist bei allen im Dorf eine gewisse Spendenmüdigkeit eingetreten.“

Spendenmüdigkeit?

Nun verstand Ollie. „Haben Sie mich deshalb Maddie gegenüber als ‚Frischfleisch‘ bezeichnet?“

„Oh nein!“ Erschrocken sah sie ihn an. „Ich meine … das habe ich zwar gesagt, aber wahrscheinlich ist es ganz anders angekommen, als es gemeint war. Tut mir wirklich leid! Oh je, ich hoffe, Sie dachten nicht, ich wäre eine Art männermordender Vamp und hätte es auf Sie abgesehen?“ Sie biss sich auf die Lippe. „So bin ich wirklich nicht. Ich kenne Sie ja gar nicht. Jetzt verstehe ich auch, warum Sie mir gegenüber so zugeknöpft waren.“

Gemma wirkte ehrlich bestürzt.

„Vergessen Sie einfach meine Bitte, mich als Sponsor zu unterstützen“, fuhr sie fort. „Und bei der Einladung zum Mittagessen hatte ich wirklich keinerlei Hintergedanken, sondern wollte Sie einfach nur stellvertretend für Caroline in der Praxis willkommen heißen – und Ihnen zeigen, wo man die besten Sandwiches bekommt und am besten nachdenken kann. Sie sind ja neu in der Gegend.“

Ollie traute zwar seiner Menschenkenntnis nicht mehr, seit er sich so in Tabby getäuscht hatte, doch Gemma wirkte aufrichtig. Und sie war offenbar sehr bemüht, mit ihm Frieden zu schließen. Vielleicht sollte er sich also einen Ruck geben und ihr entgegenkommen.

„Ich glaube, Sie haben mich heute Morgen einfach auf dem falschen Fuß erwischt“, sagte er. „Wie wär’s, wenn wir einfach noch mal von vorn anfangen? Ich bin Oliver Langley und werde ein Vierteljahr lang Aadya Devi vertreten.“ Er reichte ihr die Hand.

„Gemma Baxter, nurse practitioner.“ Sie schüttelte ihm die Hand. „Herzlich willkommen in der Praxis Ashermouth Bay, Dr. Langley.“

Schnell merkte Ollie, dass es ein Fehler gewesen war, ihr die Hand zu schütteln, denn die Berührung ließ seine Haut prickeln und sein Herz schneller schlagen. So heftig hatte er schon lange auf keine Frau mehr reagiert, nicht einmal auf Tabby.

„Danke“, brachte er mühsam heraus, ohne Gemma in die Augen zu sehen.

„Von Caroline weiß ich, dass Sie ursprünglich aus London stammen. Was hat Sie denn nach Northumberland verschlagen?“

Ich bin vor den Folgen meiner falschen Entscheidungen hierher geflüchtet, dachte er. Um mich zu verstecken und mir die Wunden zu lecken. Und um sich von der Organspende für seinen Bruder zu erholen, der eine Niere gebraucht hatte.

Natürlich würde er ihr nichts davon erzählen. „Meine Eltern sind vor zehn Jahren hergezogen. Bei meinem Vater hatte sich eine Angina pectoris entwickelt, und meine Mutter wollte, dass er früher in den Ruhestand geht und sich etwas schont. Jetzt sind sie also viel im Garten oder gehen essen.“

„Das klingt schön“, fand Gemma. „Und bestimmt freuen sich die beiden auch, dass Sie jetzt näher wohnen.“

„Und Sie? Sind Sie von hier?“

„Ja, ich bin in Ashermouth aufgewachsen. Meine Ausbildung habe ich in Liverpool gemacht, aber ich wollte zum Arbeiten hierher zurückkehren.“

„Ihre Familie wohnt also hier?“

Bildete er es sich nur ein, oder huschte bei dieser Frage ein Schatten über ihr Gesicht?

„Ja, nicht weit von hier.“

„Und wollten Sie von Anfang an lieber in einer Arztpraxis arbeiten als im Krankenhaus?“, erkundigte sich Ollie.

Gemma nickte. „Ich finde es schön, wenn ich meine Patienten richtig kennenlerne und besonders Kinder länger begleite. Das gibt mir das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Im Krankenhaus kümmert man sich ein paar Tage oder Wochen lang um seine Patienten, das ist nicht dasselbe.“ Sie sah ihn an. „Wollten Sie schon immer Arzt für Allgemeinmedizin werden?“

„Ich hätte mich fast auf Geburtshilfe spezialisiert“, antwortete er. „Weil mir dieser Bereich während meiner Ausbildung in London so viel Spaß gemacht hat. Ich fand es faszinierend, die Geburt eines kleinen Menschen zu begleiten. Aber als mein Vater Angina pectoris bekam, habe ich es mir anders überlegt.“

„Wollten Sie da nicht Kardiologe werden?“

Ollie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich wollte ein Arzt sein, dem Erkrankungen bei seinen Patienten auffallen, bevor sie schlimmer werden. Und das war eben ein Allgemeinmediziner.“

„Das kann ich nachvollziehen“, sagte Gemma.

Er aß sein Sandwich auf. „Sie hatten recht, das Brot ist wirklich super – genauso gut wie das Brot in schicken Londoner Cafés.“

„Warten Sie ab, bis Sie den Muffin probiert haben! Sie sind ja kein Kuchenfan, deshalb habe ich einen herzhaften gekauft.“ Sie reichte ihm den Muffin. „Schmecken Sie, was da alles drin ist?“

Der leicht neckende Ausdruck in ihren Augen gefiel Ollie. Erschrocken stellte er fest, dass sie ihm sehr sympathisch war.

„Na, wissen Sie’s?“

„Käse und Gewürze.“

Gespielt enttäuscht sah sie ihn an. „Geht es vielleicht etwas genauer?“

„Ich bin Arzt und kein Foodblogger“, gab er schlagfertig zurück.

Als sie lachte, funkelten ihre dunklen Augen, und ihr Mund wirkte geradezu unwiderstehlich. Wie gebannt blickte Ollie Gemma Baxter an.

Damit hatte er nicht gerechnet.

Die Trennung von Tabby war fast vier Monate her, und seitdem hatte er keine Augen für andere Frauen gehabt – bis heute. Ollie war dafür nicht bereit. Besser er ging schnell auf Abstand, bevor er noch irgendetwas Unvorsichtiges sagte.

Bei ihrer ersten Begegnung hatte er Gemma für etwas oberflächlich gehalten, doch langsam wurde ihm klar, dass sie das keinesfalls war. Schließlich sammelte sie mit großem Elan Spenden für einen guten Zweck.

Er entschied sich dafür, ein unverfängliches Thema anzuschneiden. „Was können Sie mir über Ashermouth erzählen?“

„Was interessiert Sie denn – touristische Sehenswürdigkeiten oder Geschichtliches?“

„Beides.“

„Gut. Früher war Ashermouth ein Fischerdorf“, begann sie. „Seitdem haben sich die Zeiten geändert, und jetzt spielt Tourismus eine große Rolle. Man kann mit dem Boot zu den Inseln fahren, um Papageientaucher zu beobachten. Wenn man Glück hat, sieht man während der Fahrt sogar Delfine. Ganz in der Nähe gibt es auch eine Robbenkolonie, und wenn sie Junge haben, kommen sie oft in die Bucht – jetzt zum Beispiel.“ Sie fügte hinzu: „Wandern Sie gern? Bei Ebbe können Sie an der Bucht entlanggehen, an den Ruinen einer Burg vorbei, und sich unterwegs ein altes Schiffswrack ansehen.“

„So was hat mich schon als Kind total begeistert“, sagte Ollie.

„Die örtliche Heimatkundegruppe veranstaltet jeden Monat eine Geisterwanderung durchs Dorf“, erzählte sie. „Da hört man dann jede Menge Geschichten über Schmuggler und Piraten. Und falls Sie sich für Burgen interessieren – davon gibt es hier in der Umgebung jede Menge. Aber wenn Ihre Eltern in der Umgebung wohnen, wissen Sie das ja bestimmt schon.“

„Meine Mutter sieht sich gern die Gärten von Herrenhäusern an. Ich habe sie und Dad bei Besuchen oft hingefahren.“

„Wenn Sie Sport mögen: Es gibt im Dorf ein Cricket-Team und eine eigene Fußballmannschaft“, fiel ihr noch ein. „Und man kann surfen, kitesurfen oder zum Stand-up-Paddling gehen.“

Rob wäre von all dem begeistert gewesen. Von ihnen beiden war eher sein Bruder der Adrenalinjunkie. Rob arbeitete in der hektischen Notaufnahme eines Krankenhauses in Manchester, gehörte der Bergrettung an und ging in seiner Freizeit gern klettern. Und im Urlaub war er für eine Organisation im Einsatz, die humanitäre Hilfe leistete.

Ollie liebte seinen Bruder, aber er selbst hatte nicht die Neigung, Risiken einzugehen. In der Familie wurde immer scherzhaft kommentiert, dass Ollie Robs Anteil Vernunft abbekommen hatte – und Rob seinen Anteil Abenteuerlust.

„Ich bin mehr für Klippen und Strand“, erwiderte er.

Gemma sah auf die Uhr. „Wir sollten langsam wieder zurückgehen.“ Sie lächelte ihn an.

„Danke fürs Mittagessen.“

„Gern geschehen.“

Als Ollie ihr half, die Decke zusammenzulegen, und sich ihre Finger dabei streiften, lief ihm ein Schauer über den Rücken.

Das war doch einfach albern, schließlich waren sie Arbeitskollegen. Außerdem wollte er keine Beziehung. Und es gab jede Menge Gründe, warum er nicht darüber nachdenken sollte, wie es wohl wäre, Gemma Baxter zu küssen.

Doch leider war ihm ihr sinnlicher Mund schon aufgefallen. Und so dachte er eben doch darüber nach.

Ollie gab sich einen Ruck. Wir sind Kollegen, mehr nicht, rief er sich in Erinnerung. Auf dem Rückweg zur Praxis flüchtete er sich in Small Talk, damit sie nicht bemerkte, was für Gedanken ihm durch den Kopf gingen.

Nachdem er etwas aufgetaut war, hatte sich Oliver Langley als überraschend nett entpuppt, wie Gemma fand. Sie hatte ihm tatsächlich ein echtes Lächeln entlockt, das sie ziemlich durcheinanderbrachte. Denn es verwandelte den kühlen, distanzierten Fremden in einen absolut atemberaubenden Mann. Und es ließ ihr Herz schneller schlagen, als ihr lieb war.

Das war nicht gut. Denn erstens war er bestimmt bereits vergeben. Und zweitens war Gemma in Bezug auf Beziehungen bisher nicht gerade erfolgreich gewesen, selbst wenn man über das eine Jahr voller katastrophaler Beziehungen und die zwei Jahre danach hinwegsah, in denen sie sich nur darauf konzentriert hatte, die Prüfungen zu bestehen und ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ehrlich gesagt sah ihr Liebesleben ziemlich trostlos aus. Sämtliche Beziehungen waren nach ein paar Wochen im Sande verlaufen. Sie war einfach nie jemandem begegnet, mit dem sie ihr Leben hätte verbringen wollen.

Ihre beste Freundin Claire hatte die Theorie, dass Gemma eine Riesenangst davor hatte, jemanden zu sehr zu brauchen und bedürftig zu erscheinen – und dass sie deswegen ins andere Extrem umschlug.

Doch eigentlich hatte es mit Vertrauen zu tun. Gemma hatte ihre Eltern und ihre kleine Schwester über alles geliebt, aber nach Sarahs Tod hatten ihre Eltern sich in ihrer Trauer verloren und abgekapselt. Seitdem gelang es Gemma nicht mehr, eine echte Verbindung zu ihnen zu finden. Vielleicht war es diese Angst, die ihr trotz Therapie noch immer im Weg stand: Was wäre, wenn sie jemanden wirklich liebte und an sich heranließ – und es dann schiefging? So wie damals mit ihren Eltern, die sich von ihr abgewandt hatten?

Am Nachmittag hatte Gemma mit der Telefontriage und Sprechstundenterminen alle Hände voll zu tun. Nachdem sie die Aufzeichnungen zu ihrer letzten Patientin eingetragen hatte, zog sie sich um und fuhr zum monatlichen Pflichtbesuch zu ihren Eltern. Sie bemühte sich nach wie vor um die beiden, auch wenn ihre Eltern sie aufgegeben zu haben schienen. Eines Tages würde sie ihre Familie zurückgewinnen. Sie musste nur den Schlüssel zum Herz ihrer Eltern finden.

„Der Arzt, der Aadya vertritt, hat heute angefangen“, erzählte sie betont fröhlich.

„Aha“, erwiderte ihre Mutter nur.

„Er wirkt sehr nett.“

„Das ist schön“, sagte ihr Vater. Dann trat Schweigen ein.

Schließlich hielt Gemma es nicht mehr aus. „Soll ich uns einen Tee kochen?“, schlug sie vor.

„Wenn du möchtest, Liebes“, sagte ihre Mutter.

Gemma kochte Wasser und nahm Becher aus dem Schrank. Beim Teekochen konnte sie dem bedrückenden Schweigen zumindest fünf Minuten lang entkommen und sich neue Gesprächsthemen überlegen: den Garten ihrer Eltern, den Welpen, den Maddie in ein paar Wochen bekommen würde, wie viele Spenden sie für den Fallschirmsprung gesammelt hatte. Aber es war so anstrengend, ein Gespräch in Gang zu halten, wenn ihre Eltern immer nur einsilbige Antworten gaben.

Ganz anders verliefen die Besuche bei Claires Mutter. Das Gespräch stockte nie, und sie musste sich auch nie das Hirn darüber zermartern, was sie als Nächstes fragen sollte. Yvonne umarmte sie immer zur Begrüßung, fragte sie, wie es bei der Arbeit war, und erzählte ihr von den Kursen, die sie in dem kleinen Handarbeitsladen neben Claires Bäckerei gab. Gemma hatte mehrfach versucht, ihre Mutter zur Teilnahme an einem der Kurse zu überreden, weil ihr Sticken oder Stricken vielleicht Spaß machen würde. Doch ihre Mutter hatte immer abgelehnt. Gemmas Eltern brachten es einfach nicht über sich, in das Dorf zurückzukehren, in dem sie bei Sarahs Tod gelebt hatten. Einmal im Monat legten sie Blumen aufs Grab ihrer Tochter, aber an mehr war nicht zu denken.

Auch in Gemmas Wohnung waren sie noch nie gewesen, was sich für sie wie eine weitere Zurückweisung anfühlte.

Nachdem sie sich eine Stunde lang bemüht hatte, ihre Eltern in ein Gespräch zu verwickeln, wusch sie ab, verabschiedete sich und fuhr nach Hause. Gemma war niedergeschlagen und hatte keinen Appetit. Weil sie wusste, dass das Rauschen der Wellen sie trösten würde, ging sie zum Strand und betrachtete das Farbspiel am abendlichen Himmel.

Eines Tages würde sie endlich wieder zu ihren Eltern durchdringen. Und dann würde sie auch das Selbstbewusstsein haben, einen Menschen zu finden, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte. Jemanden, der sie nicht einfach im Stich ließ, wenn es Schwierigkeiten gab. Dann würde sie sich nicht mehr so allein fühlen.

Aber jetzt wollte Gemma sich in Erinnerung rufen, wie glücklich sie sich schätzen konnte: Sie hatte gute Freunde, eine Arbeit, die sie liebte, und sie wohnte an einem der schönsten Flecken der Welt. Da war es doch fast anmaßend, sich noch mehr zu wünschen.

Als Ollie nach Hause kam, fand er eine Benachrichtigung vor: Bei den Nachbarn war ein Paket für ihn abgegeben worden. Als er es öffnete, wusste er sofort, von wem es war: Das kleine Fresspaket mit richtig gutem Käse, Oliven, Hafercrackern und edlem Rotwein konnte nur von einem Menschen stammen.

Ich hoffe, dein erster Arbeitstag war toll. Falls nicht, darfst du den ganzen Käse auf einmal aufessen. Ansonsten heb mir etwas davon für Donnerstagabend auf, sonst gibt es Ärger.

R

Er rief seinen Zwillingsbruder an und bedankte sich.

„Gern geschehen“, erwiderte Rob. „Ich fand es immer toll, wenn ich Pakete bekommen habe, als ich im Krankenhaus lag. Wie lief es denn heute?“

„Ganz gut“, sagte Ollie.

„Nette Kollegen?“

„Ja. Mit der nurse practitioner lief es anfangs allerdings nicht ganz rund.“ Ollie erzählte von dem Missverständnis zwischen ihm und Gemma.

„Ollie, ich weiß ja, was Tabby dir angetan hat“, sagte sein Bruder mitfühlend. „Aber das darf sich doch nicht auf sämtliche Begegnungen mit Menschen mit zwei X-Chromosomen auswirken.“

„Tut es ja auch nicht“, entgegnete er. „Aber ich bin überhaupt nicht auf eine Beziehung aus. Es ist doch erst dreieinhalb Monate her, dass Tabby die Hochzeit abgesagt hat.“

„Du sollst dich ja auch nicht gleich der nächsten Frau zu Füßen werfen, der du begegnest“, beschwichtigte sein Bruder ihn. „Aber du solltest dich auch nicht vor dem verschließen, was die Zukunft vielleicht Schönes bringt.“

„Hm“, machte Ollie nur, weil er sich nicht mit seinem Bruder streiten wollte. Aber der Gedanke an Gemma Baxter brachte ihn etwas durcheinander. Wie stark er reagiert hatte, als seine Hand bei dem Picknick zufällig ihre gestreift hatte – das war ebenso unerwartet wie beunruhigend. Und eigentlich hatte er die drei Monate hier doch als Gelegenheit nutzen wollen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Da war eine neue Beziehung wirklich keine gute Idee.

„Sei nachsichtig mit dir, Ollie“, sagte Rob. „Wir sehen uns dann Donnerstag!“

3. KAPITEL

Als Gemma am nächsten Morgen in die Teeküche der Praxis kam, war Oliver schon da.

„Guten Morgen“, begrüßte er sie. „Ich habe gerade Wasser gekocht. Möchten Sie etwas Heißes trinken?“

„Ja, gerne. Kaffee mit Milch und ohne Zucker, bitte.“

Er schenkte ihr wieder so ein Lächeln, das ihr Herz wie verrückt schlagen ließ. Oliver ist dein Arbeitskollege und absolut tabu, rief sie sich streng in Erinnerung. Ja, es stimmte, er war sehr attraktiv – und deshalb auch bestimmt schon vergeben.

Nach der Telefontriage stand Gemmas wöchentlicher Termin im Pflegeheim an. Dort kümmerte sie sich um die Bewohner, deren Gesundheit der Heimleitung Sorgen machte. Außerdem überprüfte sie bei jedem Bewohner alle sechs Monate Pflegeplan und Bedarf an Medikamenten. Oliver begegnete sie an diesem Tag nicht mehr, und sie schimpfte innerlich mit sich, weil sie enttäuscht darüber war.

Am Abend ging sie wie jeden Dienstag mit Claire zum Dance-Aerobic, eine willkommene Ablenkung. Das hoffte sie zumindest.

„Der Typ, mit dem du gestern zum Mittagessen verabredet warst, sah nett aus“, sagte Claire.

„Das ist der Kollege, der Aadya vertritt“, erklärte Gemma. „Und eine Verabredung war das auch nicht: Caroline hat mich gebeten, ihn in der Praxis willkommen zu heißen.“

„Du bist aber ganz schön rot geworden, als er etwas zu dir gesagt hat“, wandte ihre Freundin ein. „Und er ist genau dein Typ.“

Gemma rang sich ein Lächeln ab. „Er ist bestimmt liiert. Und wir sind Arbeitskollegen, weiter nichts.“

„Apropos Arbeitskollegen: Andy hat auch einen neuen Kollegen – er ist Single und in deinem Alter“, erzählte Claire. „Vielleicht könnten wir euch beide am Wochenende zum Essen einladen?“

Gemma umarmte sie. „Das ist wirklich lieb von dir, aber du musst wirklich keinen Partner für mich suchen. Ich bin mit meinem Leben völlig zufrieden.“ Natürlich wussten sie beide, dass das nicht ganz stimmte.

Am Mittwochvormittag hatte Gemma Asthma-Sprechstunde. Bei ihrer ersten Patientin standen mehrere Untersuchungen zur Überprüfung der Lungenfunktion an. Samantha war vierzig Jahre alt, rauchte und litt unter hartnäckigem Husten und Kurzatmigkeit. Beim letzten Termin hatte sie gesagt, es handele sich lediglich um Raucherhusten – andererseits hatte sie aber auch erzählt, dass sie im Winter immer häufiger Infektionen im Brustbereich bekam und zu keuchen anfing, wenn sie bergauf ging. Deshalb wollte Gemma sich vergewissern, ob sie unter einer Lungenerkrankung wie Asthma oder COPD litt.

„Mit den Untersuchungen werden wir herausfinden, was die Ursache für den Husten und die Atemlosigkeit ist“, erklärte sie. „Damit Sie die richtige Behandlung bekommen. Ich werde mit einer Spirometrie Ihr Atemvolumen testen und Ihnen dann ein Medikament gegen Asthma geben. Sobald es wirkt, wiederholen wir die Untersuchung und prüfen, ob sich durch das Medikament irgendetwas ändert.“

„Ich habe extra etwas Bequemes, locker Sitzendes angezogen, wie Sie mir geraten haben“, erwiderte Sam. „Gestern habe ich nicht ein einziges Glas Wein getrunken, und geraucht habe ich auch seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr. Das war gestern Abend echt die Hölle! Ich hätte so gern eine geraucht, aber Marty hat mich nicht gelassen.“

„Gut.“ Gemma lächelte. „Wie sieht es mit Ihren Kopfschmerzen aus?“

„Nicht so toll“, gab ihre Patientin zu. „Kann das mit der Kurzatmigkeit zu tun haben?“

Gemma nickte. „Das ist gut möglich.“ Sie ging mit Sam eine Liste durch, um weitere Dinge auszuschließen, die Einfluss auf die Untersuchungsergebnisse haben könnten, doch zum Glück traf nichts davon bei ihr zu.

„Sehr gut, dann können wir jetzt anfangen.“ Sie vergewisserte sich, dass Sam bequem saß. Dann erklärte sie ihr, wie die Untersuchung mit dem Spirometer funktionierte. „Schließen Sie den Mund fest um das Mundstück, und atmen Sie schnell und sehr kräftig aus. Das machen wir dreimal, und dann machen wir eine weitere Untersuchung, bei der Sie so lange ausatmen, bis Ihre Lungen ganz entleert sind. Sie bekommen eine Klammer auf die Nase, damit die gesamte Luft beim Ausatmen in das Mundstück fließt. In Ordnung?“

Als Sam nickte, begann Gemma mit der Untersuchung.

„Das haben Sie gut gemacht“, lobte sie ihre Patientin danach. „Jetzt gebe ich Ihnen das Asthmamedikament, und dann warten Sie bitte etwa zwanzig Minuten im Wartebereich, damit sich die Atemwege gegebenenfalls weiten können. Dann führen wir die Tests ein zweites Mal durch und vergleichen die Ergebnisse.“

Gemma kümmerte sich um den nächsten Patienten. Dann rief sie Sam wieder ins Sprechzimmer.

„Fällt Ihnen mit dem Medikament das Atmen leichter?“

„Ja, ein bisschen.“

Als die zweite Runde der Untersuchungen abgeschlossen war, verglich sie die Ergebnisse und beschloss, diese mit Oliver zu besprechen, der heute Vormittag Dienst hatte. Da er gerade mit der Telefontriage beschäftigt war, schickte sie ihm über das Benachrichtigungssystem der Praxis eine Nachricht.

Kann ich vor Ihrem nächsten Gespräch kurz mit Ihnen reden? Ich habe mit einer Patientin eine Spirometrie gemacht, aber der Bronchodilatator hatte nicht die erhoffte Wirkung. Ich vermute, dass sie COPD hat, hätte aber gern eine zweite Meinung.

Schon nach wenigen Sekunden kam die Antwort.

Perfektes Timing. Bin gerade mit einem Anruf fertig. Komme gleich zu Ihnen.

Kurz darauf klopfte es, und Gemma öffnete.

„Sam, das ist Dr. Langley, der Dr. Devi vertritt.“ Sie fasste Sams Fall kurz für ihn zusammen.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Sam“, begrüßte Oliver sie und sah sich die Testergebnisse an. „Ich stimme Ihnen zu“, sagte er leise zu Gemma.

„Sam, so sehen normale Ergebnisse bei jemandem Ihres Alters und Ihrer Größe aus.“ Gemma zeigte ihr auf ihrem Computerbildschirm eine Kurve. „Und so sehen Ihre Ergebnisse aus.“

„Bei Ihnen fällt die Kurve flacher aus, weil Sie nicht in der ersten Sekunde die meiste Luft aus Ihrer Lunge pusten“, erklärte Oliver. „Sie haben eine sogenannte obstruktive Lungenerkrankung, durch die Ihre Atemwege verengt sind. Deshalb strömt die Luft langsamer aus, als sie sollte.“

„Ich hatte gehofft, dass sich durch das Medikament Ihre Atemwege deutlich weiten. Dann hätten wir bei Ihnen Asthma diagnostiziert“, fügte Gemma hinzu. „Leider ist das nicht der Fall. Ihre Kurzatmigkeit muss also eine andere Ursache haben. Wir werden Sie röntgen und Ihr Blut untersuchen. So stellen wir fest, ob Sie Blutarmut haben oder überdurchschnittlich viele rote Blutkörperchen.“

„Sie wollen meinen Brustkorb röntgen?“ Sam wurde blass. „Oh nein. Glauben Sie, ich habe Lungenkrebs?“

„Nein, ich versuche nur Ursachen auszuschließen“, erwiderte Gemma. „Nach dem Diagramm zu urteilen, tippe ich auf COPD, eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung.“

„Das sehe ich genauso“, bestätigte Oliver. „‚Chronisch‘ bedeutet, dass es sich um eine Langzeiterkrankung handelt, die nicht wieder weggeht. ‚Obstruktiv‘ heißt, dass Ihre Atemwege verengt sind, sodass Ihnen das schnelle Ausatmen schwerfällt und Luft in Ihrem Brustkorb verbleibt.“

Sam schnitt ein Gesicht. „Habe ich das, weil ich rauche?“

„Wir möchten wirklich kein Urteil über Sie fällen“, versicherte Gemma. „Aber in neun von zehn Fällen sind die Betroffenen Raucher.“

„Manchmal gibt es auch eine familiäre Veranlagung“, ergänzte Oliver. „Und wenn Sie bei der Arbeit verstärkt Staub, Abgasen oder Chemikalien ausgesetzt sind, kann das auch eine Rolle spielen.“

„In meiner Familie ist sonst niemand so kurzatmig. Und ich arbeite in einem Gartencenter. Es muss also am Rauchen liegen.“ Sam seufzte. „Ich weiß ja auch, dass es mir nicht guttut. Ich habe mit fünfzehn angefangen, weil alle meine Freunde geraucht haben und ich kein Außenseiter sein wollte. Irgendwann wurde es zur Gewohnheit. Rauchen beruhigt mich, wenn es mal schwierig ist. Ein paar Mal habe ich es geschafft, damit aufzuhören, zum Beispiel als ich schwanger war. Aber als Louisa dann größer wurde und ständig Wutanfälle hatte, habe ich wieder angefangen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kriege das einfach nicht hin.“

„COPD lässt sich leider nicht heilen“, sagte Gemma bedauernd. „Aber wenn Sie verhindern möchten, dass es schlimmer wird, sollten Sie mit dem Rauchen aufhören.“

„Dabei können wir Sie auch unterstützen“, fügte Oliver hinzu. „Es gibt viele Möglichkeiten, das Aufhören einfacher zu machen, zum Beispiel Nikotinpflaster und Sprays. Und mit unserer Unterstützung ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es schaffen, dreimal so hoch.“

„Sie können auch an einem Programm zur Lungenrehabilitation teilnehmen. Das ist ein sechswöchiger Kurs, bei dem Sie Übungen zum besseren Atmen erlernen. Außerdem geht es um Umgang mit Stress und mit Ihrer Erkrankung.“

Sam nickte. „Das klingt gut.“

„Wir raten all unseren Patienten, die an Asthma oder COPD leiden, zur jährlichen Grippeimpfung, weil man mit einer Lungenerkrankung anfälliger ist und es häufiger zu Komplikationen kommt“, erklärte Gemma.

„Außerdem gibt es eine Pneumokokken-Impfung, die Schutz vor bakterieller Lungenentzündung bietet“, fügte Oliver hinzu. „Ich kann mir vorstellen, dass das alles jetzt ein bisschen viel zu verdauen ist und vielleicht beängstigend klingt. Aber wir sind für Sie da und helfen Ihnen.“

„Ich überweise Sie an eine Therapeutin, die Sie dabei unterstützen wird, mit dem Rauchen aufzuhören“, sagte Gemma. „Außerdem werden Sie regelmäßige Termine bei mir haben. So stellen wir sicher, dass wir die Symptome im Griff haben und keine Nebenwirkungen durch die Medikamente auftreten.“

„Vielen Dank“, erwiderte Sam. „Und ehrlich, ich werde mich richtig ins Zeug legen, um mit dem Rauchen aufzuhören.“

Als Oliver und Sam gegangen waren, ließ Gemma das Gespräch Revue passieren. Nachdem sie erlebt hatte, wie freundlich und sensibel Oliver Langley mit ihrer Patientin umgegangen war, verstand sie nur zu gut, warum er die Stelle in der Praxis bekommen hatte. Er hatte Sam weder von oben herab behandelt noch verurteilt, weil sie rauchte. Nichts hatte an den kühlen, leicht arrogant wirkenden Mann erinnert, der Montagmorgen in der Praxis aufgetaucht war. Er hatte Gemma beigepflichtet und ihr das Gefühl gegeben, sie würden schon seit Ewigkeiten zusammenarbeiten.

Doch Oliver war noch immer praktisch ein Fremder. Gemma musste vernünftig sein, auch wenn ihr Herz jedes Mal einen Schlag aussetzte, wenn er lächelte.

Nachdem sie die Aufzeichnungen zu ihrer Patientin eingegeben hatte, schrieb sie ihm kurz über das Nachrichtensystem der Praxis.

Vielen Dank für Ihre Hilfe mit Sam und ihrer COPD!

Er schrieb zurück.

Gern geschehen.

Seine Höflichkeit gefiel Gemma sehr. Je besser sie Oliver Langley kennenlernte, umso mehr mochte sie ihn. Natürlich nur als Kollege, wie sie sich schnell versicherte.

Direkt nach ihrem letzten Termin der Vormittagssprechstunde bekam sie eine Nachricht.

Haben Sie in der Mittagspause schon etwas vor, oder kann ich Sie zu einem Sandwich einladen? Wir könnten wieder zu den Klippen gehen.

Das klang, als würden sie langsam Freunde werden. Gemma schrieb zurück.

Gern, vielen Dank! Ich trage noch meine Aufzeichnungen ein und komme dann gleich zu Ihnen.

Es war verrückt, aber Ollie freute sich sehr auf das gemeinsame Mittagessen mit Gemma. Ihre ruhige, fürsorgliche Art gegenüber der COPD-Patientin hatte ihm sehr gefallen. Und sie war offenbar nicht zu stolz, um ihn bei einem Fall zu Rate zu ziehen, bei dem sie sich nicht ganz sicher war. Das Wohlergehen ihrer Patienten schien für sie das Wichtigste zu sein.

Sein erster Eindruck von Gemma Baxter – als sie am Montagmorgen diese missverständliche Bemerkung gemacht hatte – war falsch gewesen. Sie war nett und authentisch. Rob hätte jetzt wahrscheinlich mit einem frechen Grinsen festgestellt, dass sie mit dem hellen Haar und den großen Augen auch genau sein Typ war.

Aber zwischen ihr und Ollie entwickelte sich eine Freundschaft, weiter nichts. Und das war ihm auch ganz recht so.

Als sie kurz darauf oben auf den Klippen Gemmas Picknickdecke ausbreiteten, streiften sich ihre Finger erneut. Ollie hatte das Gefühl, einen leichten Stromschlag zu bekommen. Sogar sein Mund kribbelte.

Jetzt reiß dich aber mal zusammen, ermahnte er sich und schnitt ein unverfängliches Thema an. „Wie lief es heute Vormittag bei Ihnen?“

„Gut. Danke noch mal für Ihre Hilfe mit Sam. Ich habe die Asthma-Sprechstunde gerade erst übernommen und muss mich noch einfinden.“

„Gern geschehen, dafür bin ich ja da.“

„Und wie lief es bei Ihnen?“

„Auch gut.“ Er lächelte ihr zu. „Ich würde übrigens gern Ihre Fallschirm-Aktion mit einer Spende unterstützen. Wann ist sie noch mal, nächsten Monat?“

„Ja, Freitag in zwei Wochen. So langsam werde ich etwas nervös“, gab Gemma zu. „Es wird ein Tandemsprung mit einem erfahrenen Partner, also viel weniger riskant. Aber allein die Vorstellung, aus einem Flugzeug zu springen …“

„Höhenangst haben Sie ja offenbar nicht, wenn Sie gern hier oben sitzen.“

„Nein. Aber klettern gehen würde ich nicht. Obwohl …“ Sie sah ihn an. „Das wäre vielleicht eine Idee für meine nächste Spendenaktion.“

„Machen Sie den Tandemsprung auch, um Ängste zu überwinden?“, wollte Ollie wissen.

„Nein, eher weil die Leute keine Lust haben, immer für dieselbe Aktion zu spenden. Außerdem sorgt so etwas für Aufmerksamkeit. Bestimmt wird die Lokalzeitung über mich berichten und meine Website erwähnen, sodass noch mehr Leute spenden.“

„Und warum sammeln Sie ausgerechnet für die kardiologische Station?“

Gemma atmete tief ein, als müsse sie Mut fassen. „Weil meine jüngere Schwester dort behandelt wurde. Ich sammle in ihrem Gedenken Spenden.“

Ihre Schwester war gestorben? Bevor Ollie darüber nachdenken konnte, fügte sie hinzu: „Das ist schon lange her. Damals hatte ich mich in der Schule mit einem Virus angesteckt – und Sarah sich dann bei mir. Mir ging es schnell wieder besser, aber ihr nicht, sie litt weiter unter Atemnot. Dann musste sie ins Krankenhaus. Wie sich herausstellte, litt sie unter einer schweren Herzmuskelentzündung.“

„Das war nicht Ihre Schuld. Vielleicht hat sie sich ja auch bei einer Schulfreundin angesteckt.“ Er spürte, dass Gemma sich für den Tod ihrer kleinen Schwester verantwortlich fühlte. „War sie auf der Warteliste für eine Herztransplantation?“

„Ja. Wir haben monatelang gewartet, aber es fand sich kein geeignetes Spenderherz.“ Sie wandte den Blick ab. „Als Sarah starb, war ich siebzehn und sie dreizehn.“

Ollie drückte ihr leicht die Hand. „Das war bestimmt sehr schlimm für Sie und Ihre Familie.“

„Ja“, gab sie zu. „Meine kleine Schwester fehlt mir nach zwölf Jahren noch immer. Damals konnte ich mit dem Verlust nicht gut umgehen.“ Sie zuckte die Schultern. „Und das ist der Grund dafür, dass ich Spenden sammle. Meine kleine Schwester bekomme ich dadurch natürlich nicht zurück. Aber das Krankenhaus forscht zu Kunstherzen, die dauerhaft im Körper des Patienten verbleiben. Wenn das Erfolg hat, bleibt anderen Familien vielleicht so ein schmerzlicher Verlust erspart.“

„Es tut mir leid, dass ich mit meiner Frage so traurige Erinnerungen geweckt habe.“

„Ich habe auch sehr viele schöne Erinnerungen an Sarah.“ Sie lächelte, doch in ihren Augen glänzten Tränen. „Daran, wie ich sie vor der Schuldisco geschminkt habe, wie wir zusammen gebacken und im Garten gespielt haben.“

„Ich werde auf jeden Fall für Ihre Aktion spenden“, versprach Ollie.

„Das müssen Sie nicht.“

„Ich weiß“, erwiderte er. „Aber ich war dieses Jahr in einer Situation, die ähnlich hätte enden können.“

Außer den Mitgliedern ihrer Selbsthilfegruppe – zu der sie nicht lange gegangen war –, kannte Gemma niemanden, in dessen Familie eine Herztransplantation Thema gewesen wäre. „Brauchte jemand aus Ihrer Familie ein neues Herz?“

„Nein, mein Bruder brauchte eine Spenderniere.“

„Oh nein, das war bestimmt schlimm für Sie alle!“

Oliver nickte. „Rob ist ein Adrenalin-Junkie. Er ist Arzt in der Notaufnahme eines Krankenhauses in Manchester und geht in seiner Freizeit klettern. Außerdem gehört er der örtlichen Bergrettung an. Vor einiger Zeit hat er sich ein halbes Sabbatjahr genommen, um für eine Organisation im Bereich humanitäre Hilfe in einem Erdbebengebiet zu arbeiten. Ein paar Tage nach seiner Ankunft bekam er Bauchschmerzen, dachte sich aber nichts dabei. Dann brach er mit einer akuten Blinddarmentzündung zusammen.“

„Wie schrecklich! Der Arme.“

„Rob wurde ins Krankenhaus geflogen, aber sein Blinddarm platzte, sodass er eine schwere Blutvergiftung bekam.“ Olivers Miene wurde düster. „Dadurch wurden seine Nieren zerstört, sodass er auf die Dialyse angewiesen war.“

„Aber Sie haben einen Spender gefunden?“

„Wir erholen uns seit der Transplantation beide bei unseren Eltern. Deswegen bin ich nach Northumbria gekommen.“

Gemma blinzelte überrascht. „Sie haben ihm eine Niere gespendet?“

„Ja. Das war die naheliegende Lösung. Rob und ich sind Zwillinge, die Wahrscheinlichkeit, dass sein Körper die Spenderniere abstößt, ist also wesentlich geringer. Dadurch muss er weniger Medikamente zur Immunsuppression nehmen.“

„Deswegen arbeiten Sie also jetzt hier?“

„Ich habe so langsam einen Koller bekommen“, erklärte Oliver. „Unsere Mum würde uns am liebsten in Watte packen.“

Ganz anders als Gemmas Eltern – die hatten eine Mauer um sich errichtet und ihre ältere Tochter nicht mehr an sich herangelassen. Schnell verdrängte sie diesen Gedanken.

„Ich bin der Vernünftigere von uns beiden, für den armen Rob ist es also noch schlimmer.“ Er lächelte. „Tut ihm bestimmt ganz gut, sich mal in Geduld zu üben.“

„Sie beide haben wirklich großes Glück“, fand Gemma. „Ihr Zwilling, weil Sie für ihn da sind, und Sie, weil sie etwas tun konnten, um ihm zu helfen.“

„Ja. Wäre es ein anderes Organ gewesen, hätten wir auf einen Spender warten müssen. Und es ist nicht schön, darauf zu warten, dass jemand stirbt.“

„Nein“, bestätigte sie. „Dass ein geliebter Mensch nur noch am Leben ist, weil ein anderer gestorben ist … das ist schwer. Irgendwann war Sarah für eine Transplantation zu krank. Da hat sie beschlossen, alle Organe zu spenden, bei denen das möglich war.“

„Das war sehr tapfer von ihr“, fand Oliver.

„Ja. Ich wünschte …“ Als Gemma stockte, konnte er sich denken, was ihr durch den Kopf ging.

Sie wünschte, ihre Schwester wäre nicht gestorben. Sie wünschte, sie wäre an ihrer Stelle krank geworden und ihre Schwester hätte überlebt. All das war auch ihm immer wieder in schlaflosen Nächten durch den Kopf gegangen.

„Ich denke oft darüber nach, wie ihr Leben jetzt aussehen könnte“, sagte Gemma leise. „Sarah wäre jetzt fünfundzwanzig und hätte bestimmt etwas mit Kunst gemacht. Darin war sie sehr begabt.“

Wieder drückte er ihr die Hand. „Nach der Sache mit Rob kann ich mir noch besser vorstellen, wie schwer das für Sie sein muss.“

„Danke. Meine Eltern haben den Verlust nie verwunden. Sie sind nach Sarahs Tod aus dem Dorf weggezogen, weil sie mit den Erinnerungen nicht umgehen konnten.“

„Sie haben gesagt, dass Sie damals siebzehn waren – dann haben Ihre Eltern doch bestimmt mit dem Umzug gewartet, bis Sie Ihre Abschlussprüfungen hinter sich hatten?“

Gemma schüttelte den Kopf. „Nein. Und ich habe es total vermasselt und musste die Prüfungen wiederholen. Aber zum Glück musste ich nicht auf eine andere Schule, weil die Mutter meiner besten Freundin mir angeboten hat, bei ihnen zu wohnen, während ich das Schuljahr wiederhole.“

Dank Yvonne hatte sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Sie hatte sich um Gemma gekümmert und war ihr die Mutter gewesen, die sie so dringend gebraucht hatte.

„Das war aber sehr lieb von ihr“, fand Oliver.

„Ja“, bestätigte sie. „Und ich werde ihr ewig dankbar dafür sein. Übrigens denke ich auch darüber nach, einen Teenager bei mir aufzunehmen, der ein bisschen Unterstützung braucht – so wie Claires Eltern es für mich gemacht haben. Ich wohne alleine und habe sehr regelmäßige Arbeitszeiten, sodass ich mich gut um jemanden kümmern könnte.“

Das klang, als hätte sie keinen Partner. Ollie freute sich, doch dann gab er sich schnell einen Ruck. Schließlich war er nicht auf der Suche nach einer Beziehung. Und seit Tabby sich von ihm getrennt hatte, zweifelte er daran, dass er je einer Frau genügen würde.

Doch er fühlte sich von Gemma und der Wärme, die sie ausstrahlte, sehr angezogen. Sie hatte den Albtraum durchgemacht, der bei Rob zum Glück nicht eingetreten war. Und nun tat sie alles dafür, dass anderen dieses schmerzliche Erlebnis erspart blieb.

Ja, Gemma gefiel ihm sehr, aber er war noch nicht bereit für den nächsten Schritt in seinem Leben. Die Fairness gebot es, dass er ihr nicht mehr anbot als Freundschaft.

„Das ist eine gute Tat und bestimmt sehr bereichernd“, stimmte er ihr zu. „Damit kann man wirklich etwas im Leben eines Menschen bewegen.“

„Wie geht es Ihrem Bruder denn jetzt?“, wollte Gemma wissen.

„Er erholt sich gut, aber es macht ihn halb wahnsinnig, dass er noch nicht arbeiten darf. Und mit nur einer funktionierenden Niere kann er die humanitäre Arbeit und die Bergrettung natürlich vergessen. Fit genug ist er auch noch nicht, er wird also noch einiges an Geduld haben müssen. Leider ist Ausruhen keine von Robs Stärken.“

„Wann ist das Ganze denn passiert?“

„Er ist im März zusammengebrochen, und Anfang Juni war die Transplantation.“

„Dann sind Sie ja selbst noch dabei, gesund zu werden“, stellte Gemma fest.

„Ach, mir geht es gut, ich darf bloß nicht schwer heben“, erwiderte Ollie.

„Ich finde es wirklich toll, was Sie für Ihren Bruder getan haben!“

„Das hätten Sie für Ihre Schwester doch bestimmt auch gemacht.“

„Ja, natürlich“, erwiderte Gemma. „Hätte ich sie doch nur mit einer Lebendspende retten können …“ Tränen traten ihr in die Augen.

„Mir ist bewusst, dass wir großes Glück hatten“, sagte Ollie leise. Am liebsten hätte er sie eingeladen, am nächsten Abend gemeinsam mit Rob und ihm zu essen. Doch dann hätte sein Bruder vielleicht die falschen Schlüsse gezogen.

Er sah auf die Uhr. „Wir sollten wohl wieder zurückgehen.“

„Ja. Haben Sie eigentlich Freitagabend schon etwas vor?“

„Warum?“, fragte Ollie vorsichtig.

„Weil da im Anchor ein Pubquiz stattfindet und die Praxis normalerweise als Team antritt. Es geht um acht los, aber ich habe uns schon für früher einen Tisch reserviert, damit wir vorher etwas essen können. Möchten Sie vielleicht dazukommen?“

Ollie freute sich, dass er miteinbezogen wurde. „Ja, sehr gern, danke!“ Den Sonntag wollte er mit seiner Familie verbringen, aber Freitagabend und Samstag hing er noch etwas in der Luft. Und es wäre schön, das Praxisteam besser kennenzulernen.

„Super. Der Tisch ist für halb sieben reserviert“, erklärte Gemma. „Die Speisekarte ist nur klein, aber ich kann absolut alles darauf empfehlen. Das Pub verwendet so weit wie möglich vor Ort erzeugte Produkte.“

„Das klingt toll“, fand er. „Mögen Sie mir Ihre Nummer geben? Ich schicke Ihnen eine Nachricht, damit Sie auch meine haben. Und dann können Sie mir den Link zu Ihrer Spenden-Website schicken.“

Ollie gab ihre Nummer in sein Handy ein und schickte ihr eine Nachricht.

„Angekommen!“, verkündete Gemma. Und durch ihr Lächeln kam ihm der sonnige Tag noch heller und strahlender vor.

4. KAPITEL

Donnerstag sah Ollie Gemma nicht in der Praxis. Von Maddie erfuhr er, dass Gemma an diesem Tag immer freihatte. Nach dem Abendessen zeigte er seinem Zwillingsbruder das Dorf.

„Was für eine Aussicht!“, sagte Rob, als sie auf den Klippen waren. „Ich kann gut verstehen, dass du hergezogen bist. Und du sagst, in der Bucht kann man kitesurfen? Wo kann ich mich dafür anmelden?“

Ollie knuffte ihn. „Keine Abenteuer mehr, bis der Arzt dir das OK gibt!“

„Ach, komm schon … nur eine halbe Stunde?“

„Nein. Und wenn du nicht auf mich hörst, verpetze ich dich bei Mum.“

Sein Bruder stöhnte. „Bitte nicht. Ich weiß ja, dass sie und Dad sich furchtbare Sorgen um mich gemacht haben und dass sie es nur gut meinen. Aber es macht mich halb wahnsinnig, immer so in Watte gepackt zu werden. Dich doch auch, deswegen bist du schließlich hierher geflüchtet.“

„Stimmt“, gab Ollie zu.

„Ich möchte auch flüchten. Nächste Woche habe ich ein Vorstellungsgespräch“, erzählte Rob.

Erstaunt sah Ollie ihn an. „Du willst jetzt schon zurück nach Manchester?“

„Nein, die Stelle ist hier im Krankenhaus. Das halbe Jahr, in dem ich humanitäre Arbeit leisten wollte, habe ich ja größtenteils im Krankenhaus und mit Gesundwerden verbracht. Deswegen durfte ich mein Sabbatjahr verlängern.“

Mit großen Augen sah Ollie ihn an. „Du willst doch nicht etwa wieder in ein Erdbebengebiet?“

„Nein, ich bin doch nicht völlig bescheuert. Außerdem habe ich jede Menge Arzttermine“, erwiderte Rob. „Ich möchte für die nächsten Monate hier eine Teilzeitstelle bekommen – bis mein Arzt sagt, dass ich vollständig genesen bin.“

„Und dann gehst du wieder nach Manchester?“

„Ja. Ich möchte endlich wieder klettern. Aber ich verspreche dir, dass ich nichts tun werde, was meine Genesung gefährdet.“

„Na, da bin ich aber froh“, erwiderte Ollie, „wenn auch nicht ganz überzeugt.“

„Im Ernst. Bei einer Verschlechterung würde ich doch nur noch länger festsitzen und von Mum überbehütet werden. Das will ich auf gar keinen Fall! Und noch weniger möchte ich, dass bei Dad vor lauter Sorge noch mal eine Angina pectoris auftritt. Das würde ich mir nicht verzeihen.“

„Also gut, jetzt hast du mich überzeugt.“

„Sehr schön.“ Rob lächelte. „Und, wie läuft es mit deiner neuen Kollegin?“

„Ich verstehe mich mit allen neuen Kollegen gut“, entgegnete Ollie.

„Mit anderen Worten: Sie gefällt dir sehr, aber du willst es nicht zugeben.“

„Sie ist meine Arbeitskollegin. Und auch das nur vorübergehend. Wenn ich mich auf eine Beziehung einlasse und es schiefläuft, verdirbt das nur die Stimmung bei der Arbeit. Deswegen belasse ich es bei einer Freundschaft.“

„Du bist viel zu professionell, als dass so etwas zum Problem werden könnte“, entgegnete Rob. „Und warum sollte es überhaupt schiefgehen? Außerdem: Wie du selbst sagst, bist du ja nur vorübergehend hier. Also warum lässt du es dir nicht gutgehen, solange du hier bist?“

„Es ist einfach noch zu früh.“

„Es ist fast vier Monate her! Ich habe fast das Gefühl, du suhlst dich im Selbstmitleid. Entschuldige, aber ich darf das so direkt sagen – du bist schließlich mein Bruder und bedeutest mir viel. Auf keinen Fall werde ich zulassen, dass du weiter vor dich hin leidest.“ Rob schüttelte den Kopf. „Ich weiß, wie sehr Tabby dich verletzt hat. Aber über eine Trennung kommt man doch am besten hinweg, wenn man jemand Neues kennenlernt. Und vielleicht kann dir deine nette Kollegin dabei helfen, die Enttäuschung zu verarbeiten.“

„Ich würde niemals jemanden so ausnutzen“, entgegnete Ollie stirnrunzelnd.

„Das weiß ich doch“, versicherte sein Bruder. „Ich wollte damit ja auch nur sagen, dass du ein paar ziemlich schwere Monate hinter dir hast. Und die nächsten drei Monate wirst du hier sein. Zeit mit einer Frau zu verbringen, die dir gefällt, euch ein bisschen besser kennenzulernen und es schön miteinander zu haben – vielleicht hilft dir das dabei, mit dem Geschehenen abzuschließen. Auf jeden Fall solltest du dich durch das Erlebnis mit Tabby nicht davon abbringen lassen, wieder eine Beziehung einzugehen.“

„Du hast doch auch keine Beziehung“, erinnerte Ollie ihn.

„Ich bin ja auch noch dabei, mich von einem schweren Eingriff zu erholen“, sagte Rob unschuldig.

Als sein Bruder ihn nur vielsagend ansah, gab er zu: „Also schön, ich finde es immer sehr spannend, eine Frau zu erobern. Und ich bin noch keiner begegnet, mit der ich mich häuslich niederlassen möchte. Da bin ich eben ganz anders als du, Ollie. Ich werde einfach schnell kribbelig. Und ich langweile mich schnell.“ Rob seufzte. „Es tut mir übrigens echt leid, dass ich eure Trennung verursacht habe!“

„Hast du doch gar nicht“, widersprach Ollie.

„Doch, irgendwie schon. Ohne mein Nierenversagen hättest du nicht vorgeschlagen, die Hochzeit zu verschieben – und Tabby hätte sie nicht abgesagt. Allerdings finde ich ihre Begründung immer noch ziemlich schwach.“

„Sie hat eben erlebt, wie ihre Mutter ihr Leben dem Vater zuliebe auf Eis gelegt hat. Und das wollte sie auf keinen Fall selbst durchmachen. Das kann ich schon verstehen, auch wenn unser gemeinsames Leben sicher anders ausgesehen hätte.“

„Vielleicht hattest du auch Glück, dass es so gekommen ist“, sagte Rob. „Es sieht ja ganz danach aus, als hätte sie in schweren Zeiten nicht zu dir gehalten.“

Oder vielleicht habe ich ihr einfach nicht genügt, dachte Ollie.

„Oh nein, das ist deine Grübelmiene!“, stellte sein Bruder fest.

„Stimmt, tut mir leid“, gab Ollie zu. „Ich habe eben wirklich geglaubt, dass Tabby die Richtige für mich ist. Meine Menschenkenntnis ist also eindeutig nicht die beste.“

Rob klopfte ihm auf die Schulter. „Ach was, es ist doch total menschlich, sich in jemandem zu täuschen. Du darfst dich nur deswegen nicht völlig verschließen.“

„Sondern lieber mehr wie du sein und Risiken eingehen?“, fragte Ollie leicht ironisch.

„Ja“, bestätigte sein Bruder. „Und ich werde versuchen, mehr wie du zu sein, also vernünftiger. Abgemacht?“

Ollie überlegte. Bei der Vorstellung, sich mehr wie sein Zwillingsbruder zu verhalten und Risiken einzugehen, war ihm unbehaglich zumute.

„Es wird uns bestimmt beiden guttun“, sagte Rob sanft.

„Also gut, abgemacht.“

Als Ollie am Freitagmorgen in die Praxis kam, sah er ein Tablett mit Brownies, Zitronenkuchen und Haferkeksen in der Nähe des Empfangs stehen. Daneben stand eine Dose mit der Aufschrift „Spenden“. Auf einem Schild stand: „Jetzt wieder jeden Freitag: Kuchen für den guten Zweck“. Außerdem waren die Zutaten aufgelistet und die möglichen Allergene mit Textmarker hervorgehoben.

Seine neue Kollegin verbrachte ihren freien Tag also mit Backen. Lächelnd nahm Ollie sich einen Haferkeks und ein Stück Zitronenkuchen und warf Geld in die Spendendose.

„Was ist denn hier los? Ich dachte, Sie stehen nicht auf Kuchen“, neckte Gemma ihn, die gerade hereinkam.

„Das stimmt. Der Kuchen ist für meine Nachbarn.“

„Das ist aber nett von Ihnen! Heute Abend ist ja das Pubquiz. Sie kommen doch, oder?“

„Ja.“ Er nickte.

„Super!“ Gemma lächelte herzlich. „Dann bis nachher.“

Ollie trug gerade Notizen in die Patientenakten ein, als Maddie, die Arzthelferin vom Empfang, zu ihm gerannt kam. „Dr. Langley, eine Patientin ist gerade im Wartebereich zusammengebrochen!“

„Ich komme“, sagte Ollie sofort und griff nach seinem Stethoskop. „Haben Sie gesehen, was passiert ist?“

„Nein. Ich habe mich gerade um einen Patienten gekümmert, als im Wartebereich jemand schrie. Da habe ich Mrs. Henderson auf dem Boden liegen sehen. Offenbar ist sie einfach vom Stuhl gefallen.“

Die drei häufigsten Gründe für so einen Zusammenbruch waren Ohnmacht, Anfälle, und Herzprobleme. Da keine Zuckungen und kein Zittern zu sehen waren, war die Frau wahrscheinlich ohnmächtig geworden oder hatte ein Problem mit dem Herzen. „Holen Sie den Defibrillator und rufen Sie den Krankenwagen“, wies Ollie sie an. „Und finden Sie bitte heraus, ob sie heute hergekommen ist, weil sie sich den Kopf gestoßen hat. Sie werden sich außerdem um die anderen Patienten im Wartebereich kümmern müssen, damit ich die Patientin ungestört untersuchen kann.“

Autor

Kate Hardy
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