Julia Ärzte zum Verlieben Band 176

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HEISSES WIEDERSEHEN UNTER PALMEN von CHARLOTTE HAWKES
Zu einer hochriskanten OP am offenen Herzen wird der renommierte Chirurg Liam Miller in die Karibik gerufen. Mit allem rechnet er, aber nicht damit, dass in seinem Expertenteam auch Schwester Talia ist. Effizient, zuverlässig, wunderschön – und seine Ex-Geliebte!

SAGEN SIE, KENNEN WIR UNS? von ANNIE CLAYDON
Die junge Ärztin Clemmie Francis traut ihren Augen kaum, als sie den neuen Arzt im Reha-Zentrum sieht: Dr. Gil Alexander! Von der ersten Sekunde an knistert es zwischen ihnen so heftig wie damals. Aber warum gibt Gil vor, sich nicht an ihre heiße Affäre zu erinnern?

EIN NEUER ANFANG IN KEY WEST von DEANNE ANDERS
In einem Rettungshelikopter-Team will Katie im sonnigen Florida einen Neuanfang wagen. Wenn Flugsanitäter Dylan Maddox sie bei den Einsätzen bloß nicht so kritisch beobachten würde! Und dann ist da noch das Verlangen, das sie manchmal unerwartet in seinen Augen aufblitzen sieht …


  • Erscheinungstag 06.04.2023
  • Bandnummer 176
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519120
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Charlotte Hawkes, Annie Claydon, Deanne Anders

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 176

1. KAPITEL

Den Spitznamen „Herzflüsterer“ hatte sich Liam Miller mit außergewöhnlichen chirurgischen Fähigkeiten verdient. Er übernahm schwierigste Fälle und schaffte es, dass die Herzen seiner Patienten wieder in perfekt normalem Sinusrhythmus schlugen.

Was für eine Ironie, dass er seinen Herzschlag nicht in den Griff bekam, seit er vor wenigen Stunden auf St. Victoria gelandet war! Genauer gesagt, seit er mit seinem Wasserflugzeug die dreihundert Quadratmeilen große karibische Vulkaninsel angeflogen hatte.

Was für ein Paradies! Smaragdgrüne Regenwälder, weiße Sandstrände, Korallenriffs und in der Sonne glitzerndes, traumhaft türkisblaues Wasser. Auch auf der kurzen Taxifahrt zur renommierten Island Clinic faszinierten ihn die prachtvollen Farben, die üppige Natur. Alles strahlte pure Lebensfreude aus.

Genau wie sie.

Liam versuchte, den Gedanken wegzuschieben – wie alle Erinnerungen, die er seit fast drei Jahren unter dem Deckel hielt –, aber hier schien es ihm auf einmal nicht mehr zu gelingen. Ob der Jetlag schuld war oder die Tatsache, dass er sich in ihrer Heimat aufhielt, konnte er nicht sagen. Aber diese Insel war exakt so, wie sie sie ihm damals beschrieben hatte. Und sie selbst passte perfekt ins Bild.

Talia.

Die Frau, die vor gut drei Jahren in sein Leben gestürmt war. Leuchtend wie ein Regenbogen, der die dunklen Wolken durchbrach, in denen Liam sich bewegte. Bis zu dem Moment war ihm gar nicht klar gewesen, wie trostlos seine Tage waren. Verschwenderisch verteilte Talia Farbe in seiner grauen Welt, erhellte sie mit ihrem ansteckenden Lachen und ihrer Lebendigkeit. Anfangs war es ihm nicht bewusst, aber irgendwann taute das schwere schwarze, zu Eis erstarrte Ding, das ein Leben lang auf seine Brust gedrückt hatte, langsam auf.

Sie brachte ihn dazu, die düstere Schuld, die ihm sein Vater unbarmherzig und hasserfüllt ein Leben lang eingetrichtert hatte, in einem anderen Licht zu sehen. Vielleicht war er durch den Tod der Mutter genauso Opfer wie sein von Kummer zerstörter Vater gewesen? Talia ließ ihn daran zweifeln, dass er so beschädigt, gebrochen und destruktiv war, wie er immer geglaubt hatte. Bei ihr erwachte in ihm das Gefühl, dass er es wert war, geliebt zu werden.

Und dann, so plötzlich, wie sie in seinem Leben aufgetaucht war, verschwand sie wieder. Farben und Freude nahm sie mit. Nur war es jetzt schlimmer als vorher, weil ihm bewusst war, was er vermisste.

Verärgert wandte Liam sich von dem Panoramafenster ab, das sich über eine ganze Wand im Büro des Klinikleiters erstreckte. Der Ausblick war atemberaubend. Doch Liam konzentrierte sich wieder auf sein Tablet und die elektronische Patientenakte auf dem Bildschirm, während er darauf wartete, dass Nate Edwards zurückkam.

Es störte ihn gewaltig, dass er die Gedanken an Talia Johnson selbst nach Jahren noch nicht so einfach aus seinem Kopf verbannen konnte. Schließlich war er nicht nach St. Victoria gekommen, um längst begrabene Erinnerungen wiederzubeleben.

Er war wegen seiner Patienten hier. Insbesondere wegen der fünfzehnjährigen Lucy Wells mit angeborenem Herzfehler. Außerdem musste er die Notizen über sie gar nicht mehr lesen. Seit Nate Edwards’ Anruf letzte Woche, hatte er sich so gründlich mit dem Fall befasst, dass er jedes Detail in- und auswendig kannte.

Liam vertiefte sich akribisch in jeden seiner Fälle. Jede einzelne Patientin, jeder einzelne Patient zählte. Sie landeten auf seinem OP-Tisch, und das Mindeste, was er für sie tun konnte, war, ihre Krankengeschichte penibel zu studieren. Weil jeder von ihnen ein Kind von jemandem war oder ein Ehemann, eine Mutter – so wie seine Mutter damals.

Für sie war der OP-Tisch der letzte und für ihn der erste Ort auf Erden gewesen.

Sein Leben begann, als ihres endete. Eine grausame Wendung des Schicksals, die sein verzweifelter Vater ihm nie vergeben hatte.

Nie.

Liam war Arzt geworden, Chirurg, um Leben zu retten, wo und wann immer es ihm möglich war. Als könnte er mit jedem gewonnenen Leben wiedergutmachen, dass seine Mutter ihres bei seiner Geburt verloren hatte. Als gebe es eine magische Zahl, ab der ihm, wenn er sie erreichte, vergeben wurde. Damit er endlich befreit war von der inneren Zerrissenheit und betäubenden Kälte, die sein Herz umschlossen. Talia hatte den Anfang gemacht, aber dann stellte sich heraus, dass er einer naiven Hoffnung aufgesessen war.

Schluss damit!

Er war nur ein paar Wochen, höchstens einen Monat hier, um den Herzchirurgen der Klinik zu vertreten, der nach einem Bootsunfall eine Zeit lang ausfallen würde. Die Insel war nicht groß, aber groß genug, dass er Talia nicht unbedingt über den Weg laufen musste. Ob sie wieder auf ihrer Heimatinsel lebte, nachdem sie ohne ein Wort aus seinem Leben verschwunden war, konnte er nicht sicher sagen. Doch selbst wenn, musste er ihr nicht zwangsläufig begegnen.

Liam erinnerte sich noch gut daran, wie begeistert sie ihm ihren Job am lokalen Krankenhaus beschrieben hatte, das in der stärker besiedelten Gegend um die Hauptstadt Williamtown lag. Die Island Clinic dagegen war abgelegen am anderen Ende der Insel erbaut worden. Ein perfekter Zufluchtsort für A-Prominente, die sich einer medizinischen Behandlung unterziehen mussten und gleichzeitig auf höchste Privatsphäre Wert legten.

Nein, hier würde er nicht zufällig auf Talia stoßen.

Was er, wie er sich entschlossen versicherte, exakt so haben wollte.

„Hallo, Talia. Ich kann nicht behaupten, dass ich erwartet – oder gehofft – hatte, dich jemals wiederzusehen.“

Das Frösteln fing im Nacken an, sie bekam eine Gänsehaut, und ihr schien das Blut in den Adern zu stocken. Sie konnte sich nicht umdrehen. Konnte nicht einmal das letzte Instrument auf das Metalltablett legen, das sie gerade bestückte.

In ihrem Kopf drehte sich alles.

Die Stimme gehörte Liam, und doch war es nicht seine. Sie erkannte den knappen professionellen Tonfall, aber der eisige Unterton sorgte dafür, dass sie unwillkürlich ihre OP-Kleidung fester um sich ziehen wollte. Um sich zu wärmen oder um sich zu schützen, wusste sie nicht zu sagen.

Also war er tatsächlich nach St. Victoria gekommen. Obwohl sie gewusst hatte, dass es passieren könnte – schließlich hatte sie ihrem Chef Liams Namen genannt –, hatte sie nicht recht daran geglaubt. Eher damit gerechnet, dass er das Angebot ablehnen würde, weil die Klinik auf St. Victoria stand.

Dass er es doch angenommen hatte, bewies nur eins: Sie war so unbedeutend für ihn, dass sie bei seiner Entscheidung keine Rolle gespielt hatte. Was sie natürlich längst wusste. Das hatte sie bereits vor drei Jahren festgestellt. Zu ihrem Nachteil.

Sie hatte Nate Liam nicht vorgeschlagen, weil sie ihn wiedersehen wollte, sondern einzig und allein aus einem Grund. Talia wusste, dass der berühmte „Herzflüsterer“ des Duke University Hospitals für ihre verzweifelte junge Patientin die beste Chance war.

Ihre Gefühle hatten damit nichts zu tun.

Überhaupt nichts.

Warum zitterte ihr Körper dann, als glaubte er ihr nicht?

Du bist immun gegen ihn, sagte sie sich fest und wappnete sich, um sich umzudrehen und ihn endlich anzusehen.

Ihr einziger Trost bestand darin, dass Liam wenigstens nie erfahren würde, auf wessen Initiative hin er hier war. Sie hatte Nate gebeten, in diesem Punkt Stillschweigen zu bewahren.

„Ist das dein Plan für den nächsten Monat?“ Seine Stimme klang ruhig, fast sanft, aber sie ließ sich nicht täuschen. „So zu tun, als würdest du mich nicht hören? Ich kann mir vorstellen, dass du dieses Spielchen erfolgreich spielen kannst.“

„Natürlich nicht“, murmelte sie, bevor sie bebend Luft holte und sich umdrehte, ein angestrengtes Lächeln auf den Lippen. Es fror augenblicklich ein, als er sie abschätzig musterte.

Vor ihr stand der Mann, der mit einem Blick, mit einem Wort Sehnsucht geweckt hatte, Verlangen, drängende Lust. Und nun sah er sie an, als würde er sie nicht kennen. Als bedeutete sie ihm nicht mehr als jede x-beliebige Fremde. Es tat weh.

„Liam …“

Ihre Blicke trafen sich. Talia konnte nicht wegsehen. Das Atmen fiel ihr immer noch schwer, ihre Beine drohten ihr den Dienst zu versagen. Halt suchend griff sie hinter sich, fühlte das kalte Metall des Instrumentenwagens in den Fingern.

Drei Jahre lang hatte sie sich gesagt, dass sie Liam in ihren Erinnerungen verklärte, dass er in Wirklichkeit gar nicht so toll war. Doch das Gegenteil war der Fall, wie sie jetzt erkannte.

Der Mann war atemberaubend. Fast eins neunzig groß, breite Schultern, muskulöse Brust unter dem makellosen Businesshemd, tadellos sitzender Anzug – und das bei den auf St. Victoria üblichen Temperaturen von um die dreißig Grad im Schatten. Sein kantiges Kinn verriet männliche Entschlossenheit. Seine Züge wie gemeißelt, der Blick hart. Sie versuchte, nicht dem Gefühl zu erliegen, dass er sich wie eine eiserne Faust um ihr empfindsames Herz legte.

„Ist das alles, was du zu sagen hast? Meinen Namen? Warum erklärst du mir nicht, warum ich hier bin?“

Panik flutete ihre Gedanken, und es kostete sie alle Willenskraft, sich nichts anmerken zu lassen. Er weiß es nicht, sagte sie sich. Er kann es nicht wissen!

Vergeblich versuchte sie es mit einem Lächeln. Ihr blieb nur, ihm kontrolliert und ruhig zu antworten. Obwohl sie innerlich zitterte.

„Ich vermute, du übernimmst Isaks Operationen. Jedenfalls erzählt man sich das.“

Seine bereits kühle Miene verschloss sich noch mehr, und die Faust um ihr Herz drückte fester zu. Liam ging auf Distanz, eine bittere Erinnerung daran, warum sie jene ungeheuerliche Entscheidung traf und vor drei Jahren den einzigen Mann verließ, den sie je geliebt hatte.

Vor drei Jahren, zwei Monaten, zwei Wochen und vier Tagen, um genau zu sein.

„Jedenfalls erzählt man sich das?“, wiederholte er. „Was soll das Spielchen?“

Die Frage kratzte an alten Wunden, die sie für längst verheilt gehalten hatte. Doch nun genügten wenige Worte von Liam, dass sie offen dalagen wie vor drei Jahren.

Im Duke’s zu kündigen und Liam zu verlassen, war der schwerste Entschluss ihres Lebens gewesen. Wer bei gesundem Verstand würde jemals einem Mann wie Liam Miller den Laufpass geben? Seinen Spitznamen „Herzflüsterer“ hatte er sich als Herzchirurg bei spektakulär erfolgreichen Eingriffen verdient, aber er passte auch, weil Kolleginnen, Patientinnen, Familienangehörige ihm verfielen.

Praktisch alle weiblichen Singles am Duke’s hatten sich gewünscht, die eine Frau zu sein, auf die Liam aufmerksam wurde. Dass er nie mit einer von ihnen ausgegangen war, machte ihn nur um so begehrenswerter. Es war mit das Erste gewesen, was ihr die anderen Schwestern erzählt hatten, nachdem sie am Duke’s angefangen hatte. Nie hätte sie erwartet, dass Liam ausgerechnet bei ihr seine Regel brach und sie um ein Date bat.

Und um ein zweites.

Sie fühlte sich als etwas Besonderes. Vielleicht war ihr das zu Kopf gestiegen, denn sie verliebte sich in ihn. Rettungslos. Schlimmer noch, naiverweise nahm sie an, dass er sie auch liebte. Wie dumm von ihr!

Als dann ihr Vater anrief und ihr die schrecklichen Neuigkeiten mitteilte, an jenem letzten Tag am Duke’s, da wusste sie, dass sie North Carolina – und Liam – verlassen musste. Aus Selbstschutz.

Obwohl ihr Verstand ihr plausibel erklärte, dass es die richtige Entscheidung war, litt sie furchtbar darunter. Vor allem, weil sie immer an Happy Ends geglaubt hatte, an Seelenverwandtschaft und daran, dass Liebe alle Hürden überwand.

Liam lehrte sie, dass es so etwas im wirklichen Leben nicht gab. Ernüchtert musste sie die schlichte Wahrheit akzeptieren, dass ihre Liebe nicht genügte. Ihm jedenfalls nicht.

Ärgerlich erwiderte sie seinen grimmigen Blick. „Ich spiele keine Spielchen. Habe ich nie getan.“

Aber, oh, es war schwer, hart zu bleiben, wenn er umwerfend aussah wie nie zuvor. Wenn ihr verräterisches Herz aus dem Takt geriet.

„Das habe ich auch gedacht. Aber ich habe auch geglaubt, dich zu kennen.“

Der leidenschaftslose Tonfall schickte ihr eisige Schauer über den Rücken. Talia wollte fluchen, wollte protestieren, doch wozu?

„Wie sich herausstellte, habe ich mich getäuscht, nicht wahr?“, sagte er mit bitterem Lächeln.

Verbitterung hatte sie auch erfahren, als ihr klar wurde, dass die Zukunft, die sie sich mit Liam vorgestellt hatte, definitiv nicht das war, was er im Sinn hatte. Sicher, sie bedeutete ihm etwas, aber nicht genug, um sie wirklich nahe an sich heranzulassen. Liam blieb verschlossen, bei anderen und auch bei ihr. Alles, woran sie glaubte, wie Liebe, Ehe und Familie, das tat er als Fantastereien ab, die im realen Leben keinen Platz hatten. Und in seinem schon gar nicht.

Die Warnzeichen waren sichtbar gewesen, und trotzdem war sie geblieben. Hatte sich an ihn gebunden. Ihn geliebt und gehofft, ihn damit zu ermutigen, sich ihr doch zu öffnen.

Natürlich erwartete sie von einem Mann, mit dem sie erst einige Monate zusammen war, nicht, dass er ihr unsterbliche Liebe gestand und sie bat, seine Frau und die Mutter seiner Kinder zu werden. Aber sie hatte auch nicht erwartet, dass ein Mann wie er sie so kaputtmachen konnte. Ihn zu verlassen, war die einzige Möglichkeit, sie beide zu retten.

Und nun war er hier, auf ihrer kleinen karibischen Insel, und Talia kämpfte mit den Vielleichts und den Was-wäre-wenns. Als gäbe es auch nur die geringste Hoffnung! Liam würde nicht länger als vier Wochen bleiben, um sich vorrangig um eine Patientin – das Kind eines Hollywoodstars – zu kümmern. Danach dürfte er auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Sie wäre verrückt gewesen, ihn wieder in ihr Herz zu lassen, nur damit er es ihr ein zweites Mal brach. Nein, sie durfte ihm nicht zeigen, wie empfänglich sie immer noch für ihn war.

„Das Gleiche könnte ich auch sagen“, antwortete sie knapp. „Aber warum noch darüber reden?“

„Richtig.“

Seine Gleichgültigkeit schnitt ihr ins Herz. Man hatte sie gewarnt. Liam Miller sei ein brillanter Chirurg, doch ein Einzelgänger. Ein guter Mann, aber zutiefst verschlossen. Talia hatte ihnen nicht geglaubt.

Und die Quittung bekommen.

„Warum bist du zu mir gekommen? Um mir zu sagen, dass du mich nie wirklich gekannt hast? Dass du nicht erwartet hast, mich jemals wiederzusehen? Nun, ich kann dir versichern, dass ich auch nicht erwartet habe, dich wiederzusehen!“

Er schwieg, seine Lippen zuckten. Der Hauch eines Lächelns. Dann trat er einen Schritt auf sie zu.

Ein einziger Schritt, und Talia hatte das Gefühl, dass die gesamte Klinik vom Boden abhob und kippte. Sie bekam weiche Knie, hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Vom ersten Tag an hatte Liam Miller diese Wirkung auf sie gehabt.

„Ich habe gerade deinen Chef getroffen. Ein inspirierender Mann.“

„Nate?“ Sicheres Terrain. Talia griff danach wie nach dem sprichwörtlichen Strohhalm. „Ja, er ist großartig. Er hat die Island Clinic gegründet und das Kooperationsprogramm mit dem St. Victoria Hospital auf den Weg gebracht, nachdem die Insel vor einigen Jahren von einem schweren Hurrikan getroffen worden war.“

„Das ist mir bekannt.“ Sein Lächeln wurde sarkastisch. „Ich kenne auch viele Chirurgen, die sonst was gäben für eine Chance, an der berühmten Inselklinik zu arbeiten.“

„Stimmt.“

Er war noch einen Schritt auf sie zugegangen, und Talia musste sich sehr beherrschen, nicht zu reagieren. Sich nicht im Mindesten anmerken zu lassen, dass sie sich eingeschüchtert fühlte.

Eingeschüchtert? Oder vielmehr hingezogen?

„Interessant ist, dass besagter Nate Edwards mich letzte Woche anrief, um anzufragen, ob ich mir einen besonderen Fall ansehen möchte.“

Ihre Verunsicherung nahm zu. Liam klang, als wüsste er Bescheid. Das konnte nicht sein, oder? Nate würde sich doch nicht über ihre Bitte um Vertraulichkeit hinwegsetzen. Da sie so getan hatte, als hätte sie keine Ahnung, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Unschuldige zu spielen.

„Ach?“, tat sie vage interessiert.

„Ach?“, echote er für ihren Geschmack etwas zu unbekümmert.

Eine gefährliche Lässigkeit, die nicht zu Liam passen wollte. Der Mann war für sein beherrschtes Wesen bekannt. In einem Maße, dass es an emotionale Distanziertheit grenzte.

Sogar bei ihr. Was sie gehasst hatte!

In jenem langen Sommer, den sie zusammen verbracht hatten, gab es gelegentlich Momente, als sie dachte, dass er diese Zurückhaltung aufgeben und mit ihr reden würde. Wirklich reden. Doch dann machte er sofort wieder dicht und ließ sie praktisch in der Kälte stehen. Was ihn im Innersten bewegte, seine Gedanken und Gefühle, gehörten ihm. Ihm allein.

„Nur um es klarzustellen, du wusstest nichts davon, dass ich herkommen würde?“ Liam stand so dicht vor ihr, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte.

Und plötzlich war es wieder da, das sinnliche Knistern, das sie innerlich zittern ließ und schwach machte. Was auch immer sie sich vorgemacht hatte, ihr Körper belehrte sie eines Besseren. Selbst nach all dieser Zeit begehrte sie Liam immer noch. Sehnte sich nach ihm, so sehr, dass es wehtat.

„Genau“, bestätigte sie, und die eigene Stimme klang fremd. „Ich wusste, dass ein Chirurg als Vertretung für Isak herkommen würde, aber nicht, dass du es bist.“

Durchdringend sah er ihr in die Augen, und sie spürte, wie ihr heiß wurde. Weil es ihr unangenehm war, dass sie log. War sie nicht immer stolz darauf gewesen, ehrlich zu sein?

„Tatsächlich?“ Er hob die Hand und Talia hatte das Gefühl, dass er drauf und dran war, ihr eine Locke hinters Ohr zu streichen oder ihre Wange zu streicheln.

Weder das eine noch das andere geschah.

„Kannst du dir mein Erstaunen vorstellen“, begann er nonchalant, „als Nate auf meine Frage, wie er gerade auf mich gekommen sei, antwortete, dass eine seiner OP-Schwestern mich empfohlen und er sich daraufhin meine Vita näher angesehen hätte?“

„Nate hat es dir erzählt?“ Talia keuchte erstaunt auf. Dass sie sich damit verriet, war wahrscheinlich besser so, da sie im Lügen grottenschlecht zu sein schien.

„Was hast du erwartet, Talia?“, fragte Liam glatt. „Er ist Gründer und Leiter einer weltbekannten Klinik, nicht eines Kindergartens. Er wollte sichergehen, dass zwischen uns kein böses Blut ist. Damit wir gut zusammenarbeiten können.“

Ihr Mund wurde trocken. „Was hast du ihm gesagt?“

„Was glaubst du?“, entgegnete er ruhig. Zu ruhig. „Nate weiß jetzt, dass wir eine intime Beziehung hatten, die lange vorbei ist. Außerdem habe ich betont, dass du, unabhängig von unserer persönlichen Verbindung, eine der professionellsten Krankenschwestern bist, mit denen ich je zusammengearbeitet habe. Und dass ich dazu jederzeit wieder bereit wäre.“

„Oh …“, brachte sie heraus. „Meinst du das wirklich?“

„Willst du eine ehrliche Antwort?“ Er klang barsch, und sie ärgerte sich über den Hoffnungsschimmer, der in ihr aufflackerte. Hatte es etwas zu bedeuten, dass Liam nicht so cool war wie sonst? „Ich dachte, ich komme her, übernehme die OP und verschwinde wieder. Dich zu sehen, lag nicht in meiner Absicht. Ich wusste nicht einmal, dass du hier bist.“

„Es ist meine Heimat“, stieß sie betroffen hervor. „Wohin hätte ich sonst gehen sollen, nachdem ich im Duke’s gekündigt hatte?“

Erdrückendes Schweigen folgte.

Liam brach es zuerst. „Ich hatte keine Ahnung, und es interessierte mich auch nicht.“

Eine klügere Frau hätte es dabei belassen und wäre gegangen. Leider schien Klugheit nicht ihre Stärke zu sein, wenn dieser Mann im Spiel war. Und obwohl sie sich für ihre Schwäche und Verzweiflung verabscheute, antwortete sie: „Das hast du schon damals deutlich klargemacht.“

„Ist das so?“

Talia wusste nicht, wer von ihnen näher herangerückt war, sodass sie dicht voreinander standen. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrer Wange. Und sie wollte … mehr. Einen verrückten Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, wie es wohl wäre, ihre Lippen auf seinen Mund zu pressen.

Ob es sich genauso anfühlen würde wie damals?

„Ich weiß, dass du wegen des Falls gekommen bist. Ich habe nicht angenommen, dass du meinetwegen herfliegst. Hättest du das gewollt, hättest du es schon vor drei Jahren getan.“ Die Worte waren draußen, bevor sie sie zurückhalten konnte.

Aber, oh Mann, sie wünschte, sie hätte es geschafft. Sein spöttisches Lächeln verschwand, und ein Ausdruck purer Verachtung trat an seine Stelle.

„Worum geht es hier? Um einen jämmerlichen Test?“, betonte er kalt. „Nachdem ich dir vor drei Jahren nicht nachgelaufen bin, hast du endlich einen Weg gefunden, mich herzulotsen?“

„Nein!“ Erschüttert blickte sie ihn an. „Natürlich nicht.“

Noch während sie es abstritt, fragte sie sich, ob er nicht doch recht hatte. Talia schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.

„Genau dies ist der Grund, warum ich nicht wollte, dass Nate dir erzählt, wer dich empfohlen hat. Hier geht es nicht um mich oder dich, sondern um ein angsterfülltes Kind, dem drei Spitzenchirurgen bereits gesagt haben, dass seine einzige Chance in diesem Eingriff besteht. Zufällig weiß ich, dass du bereits mehrere Aortenbogen-Rekonstruktionen mittels RAT durchgeführt hast.“

Das zumindest entsprach der Wahrheit. Er hatte erfolgreich einige rechtsseitige anterolaterale Thorakotomien vorgenommen.

Lange standen sie stumm da, sahen sich an, und Talia versuchte, das innere Zittern zu beherrschen.

„Ich wollte nicht eine zum Scheitern verdammte Beziehung wiederbeleben“, sagte sie, als sie die Stille nicht länger ertrug. „Glaub mir, du bist der letzte Mensch, den ich wiedersehen wollte.“

Kaum hatte sie es ausgesprochen, etwas melodramatisch, wie sie fand, da musste sie sich ehrlichkeitshalber eingestehen, dass sie gelogen hatte.

Vor zehn Minuten noch hätte sie geschworen, längst über Liam hinweg zu sein. Seit er vor ihr stand, reifte langsam, aber sicher die Erkenntnis, dass sie sich etwas vorgemacht hatte.

Liam dagegen schien unbeeindruckt.

„Stell dir vor, eben das glaube ich dir nicht.“

„Solltest du aber. Ich habe sogar Nate gebeten, mich in der Zeit, wenn du hier bist, nicht für Operationen einzuteilen. In zwei Tagen gehe ich für vier Wochen ans St. Vic’s, drüben am anderen Ende der Insel.“

„St. Vic’s?“

Talia zwang sich zu einem Lächeln, während sie sich sagte, dass sein eisiger Tonfall ihr nichts ausmachte. Überhaupt nicht!

„St. Victoria’s, das lokale Krankenhaus ungefähr fünfzehn Meilen außerhalb unserer Hauptstadt Williamtown. Natürlich nicht mit der Island Clinic zu vergleichen, aber Nate hat sie hauptsächlich aufgebaut, um dem Krankenhaus eine bessere Ausstattung und den Einheimischen die Behandlung durch erstklassige Ärztinnen und Ärzte zu ermöglichen.“

„Vielen Dank für die Einführung, aber über beide Häuser bin ich bestens informiert. Mein Erstaunen bezog sich mehr auf die Tatsache, dass du deinem Chef anscheinend nicht den Eindruck vermitteln wolltest, es gäbe Probleme zwischen uns, ihn andererseits jedoch gebeten hast, dich zu versetzen. Genau in dem Zeitraum, in dem ich hier bin.“

„Liam, wärst du nicht heute gekommen, sondern wie geplant in zwei Tagen, wären wir uns gar nicht begegnet.“

In seinen grünen Augen flammte etwas auf, und nicht zum ersten Mal wünschte sie sich zu wissen, was in diesem rätselhaften schönen Mann vorging.

„Hast du wirklich gedacht, dass wir uns nicht begegnen, während ich an dem Fall arbeite?“, fragte er scharf nach einer gefühlten Ewigkeit.

Talia nickte. „Nach Isaks Bootsunfall habe ich dich empfohlen, weil ich wusste, dass du Lucys beste Chance bist.“

„Warum ich?“

„Weil ich Nate kenne. Natürlich wollte er einen Top-Chirurgen als Vertretung für Isak, aber fast genauso wichtig ist ihm, dass der- oder diejenige ins Team passt.“

„Und da hast du an mich gedacht? Obwohl es hätte bedeuten können, dass wir zusammenarbeiten?“

„Ich wusste, dass du gut zum Team passt. Die Island Clinic ist bekannt dafür, dass hier mit äußerster Diskretion Prominente behandelt werden – Stars, von der NFL bis Hollywood. Mindestens genauso wichtig ist Nate jedoch, dass auch die Inselbevölkerung die beste medizinische Betreuung bekommt.“

„Ich dachte, die Klinik ist ein Ort für die Elite, die sich hier absoluter Diskretion und hochprofessioneller Hilfe sicher sein kann?“

„Das stimmt auch.“ Ob er hören konnte, wie ihr Herz gegen die Rippen hämmerte? Talia fand ihren Herzschlag ohrenbetäubend laut. „VIPs wie Violet Silnag-Wells suchen bei uns Rat. Ihre Tochter Lucy ist deine neue Patientin. Aber Nate lässt auch Einheimische vom St. Vic’s herfliegen, wenn sie dort nicht angemessen versorgt werden können. Jedes Leben zählt für ihn, und ich wusste, dass du vor allen anderen das besonders gut verstehen kannst.“

Liam zuckte zusammen, als hätte er nicht erwartet, dass sie so etwas sagte. Etwas Gutes über ihn.

Instinktiv nutzte sie den Moment. „Kein Wunder, dass Nate begeistert war, als ich ihm von dir erzählte. Aber fürs Protokoll, Liam: Ich gehöre nicht zu dem Team, das Lucy operieren wird. Habe nie dazugehört. Es konnte mir also gar nicht darum gehen, dass wir beide wieder zusammenarbeiten. Erst später wurde mir klar, dass wir uns wahrscheinlich über den Weg laufen würden“, stieß sie hervor. Das musste er ihr glauben. Sie selbst wollte es glauben. „Deshalb bat ich Nate darum, für vier Wochen am St. Vic arbeiten zu dürfen. Ich dachte, das wäre für alle besser.“

Lange sagte keiner etwas. Plötzlich trat Liam einen Schritt zurück. Und obwohl es nicht den geringsten Grund gab, fühlte sich Talia verlassen.

„Fein“, sagte er knapp. „Damit kann ich leben.“

Bevor sie sich eine Antwort auch nur überlegen konnte, war er gegangen. Seine Schritte hallten im Flur wider und verfolgten Talia noch, als er längst außer Sicht war.

Was zum Teufel ist mit dir los, haderte Liam wütend mit sich, während er die elegant gestalteten Flure der Inselklinik entlangmarschierte. Geschah ihm recht, warum musste er sich auch auf die Suche nach Talia machen? Allerdings konnte er nicht anders, seit er von Nate erfahren hatte, dass sie ihn als Vertretung für den Herzchirurgen empfohlen hatte.

Zorn und noch etwas anderes, das er nicht näher ergründen wollte, tobten in ihm. Liam fühlte es auf der Haut und überall im Körper, als hätte er die Kontrolle über sich verloren. Er, der stolz darauf war, sich immer im Griff zu haben, sich von nichts und niemandem beeinflussen zu lassen.

Wäre er nicht gerade aus dem Zimmer gestürmt, hätte er etwas getan, das er später bitter bereuen würde. Zum Beispiel Talia in die Arme zu reißen und ihr zu zeigen, dass sie trotz der Lügen, die sie ihm auftischte, eine letzte Wahrheit zwischen ihnen nicht leugnen konnte.

Die Anziehung war immer noch da, knisterte zwischen ihnen und heizte die Atmosphäre auf. Liam kannte die Zeichen. Er las sie in jeder Bewegung ihres sinnlichen Körpers, deutete die flachen Atemzüge, die Momente, wenn sich ihre Augen verdunkelten. Was auch immer sie ihm vorspielen wollte, eins konnte sie mit Sicherheit nicht: so tun, als ließe er sie völlig kalt.

Noch mehr verstörte ihn, dass es ihm genauso wenig gelang.

Natürlich konnte er sich sagen, dass es ihn erschütterte, Talia wiederzusehen. Konnte sich vormachen, dass er wütend auf sie war und deshalb so aufgewühlt. Doch das stimmte nicht, das wusste er genau.

Es war Verlangen, ein kaum zu zügelndes Verlangen. Und er ärgerte sich maßlos darüber.

Er begehrte sie so heftig wie damals, als er ihr zum ersten Mal begegnet war. Talia mit ihrem sprudelnden Lachen, dem hinreißenden Körper. Sex – unglaublicher Sex – war nie das Problem gewesen. Im Gegenteil, Sex mit Talia war intensiv. Außergewöhnlich.

Liam war fasziniert. Noch mehr, als er sah, wie konzentriert und erfahren sie sich im OP bewegte. Als sich zwischen ihnen eine Intimität entwickelte, die über Sex hinausging, wurde er nachdenklich. Falls je die Chance bestand, dass er sich einer Frau öffnete, dann bei Talia.

Doch dann verließ sie ihn. Ohne ein Wort.

Ein Grund mehr, auf Distanz zu bleiben. Wäre er in jenem Zimmer geblieben, hätte er diese Zurückhaltung gefährdet. Hätte sich in diese Hitze zwischen ihnen hineinziehen lassen, bis es zu spät war und die Flammen über ihm zusammenschlugen. Ihm jeden Willen nahmen.

Ihm, der selbst in kritischsten Notfällen für seinen kühlen Kopf und beruhigende Gelassenheit bekannt war. Eine Fähigkeit, die er nicht nur als Arzt und Chirurg trainiert, sondern sein Leben lang vervollkommnet hatte. Ein Panzer, mit dem er sich vor dem feindseligen Vater schützte.

Seit Liam sich erinnern konnte, hatte ihm der strenge alte Mann eingebläut, dass er es zu etwas bringen musste, um zu beweisen, dass er es wert war, anstelle seiner Mutter am Leben zu sein. Wütend, voller Verachtung und von Kummer gequält, war sein Vater nie darüber hinweggekommen, dass er die Liebe seines Lebens verloren hatte – und sein kleiner Sohn ihren Tod verursacht hatte.

Als Kind glaubte er jedes grausame Wort. Als Erwachsener stellte er fest, dass er nichts tun konnte, um seinen Vater zufriedenzustellen oder den Tod seiner Mutter wiedergutzumachen. Doch all die Versuche hatten ihn angetrieben, sodass er nach einer unglaublichen Karriere heute zu den Spitzenkräften in der Herzchirurgie zählte. Auf widernatürliche Art war er für die schonungslosen Lektionen sogar dankbar.

Was machte es schon, wenn andere Menschen ihn für kalt und unnahbar hielten? Schon lange hatte er akzeptiert, dass Liebe in seinem Leben nichts zu suchen hatte. Er traute niemandem, der von ihr sprach, und war ganz sicher, dass er niemals welche geben konnte.

Bis Talia auftauchte.

Selbst jetzt regte sich in ihm etwas, tiefer noch als das schwarze Loch, in dem seine mächtigsten Scham- und Schuldgefühle hausten. Talia zu küssen, wäre ein Riesenfehler gewesen. Weil er auch jetzt schon durcheinander war, seine Gedanken wie gefangene Tiere durch den Kopf irrten, verzweifelt auf der Suche nach einer Möglichkeit auszubrechen.

Aber hatte er sich bei Talia nicht immer so gefühlt, als hätte er sein ganzes Leben lang in einem Käfig zugebracht, zu dem sie den Schlüssel besaß?

So angespannt, wie er jetzt war, hatte er nicht übel Lust, ein paar Runden zu boxen. Obwohl er seit der Internatszeit nicht mehr im Boxring gestanden hatte und vor allem nicht, nachdem ihm klar geworden war, dass er Chirurg werden wollte.

Doch im Moment war ihm, als müsste er aus der Haut fahren.

Der nächste Marmorflur führte ihn zu dem opulent ausgestatteten Sprechzimmer, das Nate ihm zur Verfügung gestellt hatte. Er schloss die Tür auf und trat ein. Alles hier atmete Reichtum und Exklusivität, ein Ort, geschaffen für verwöhnte Celebrities. Ein himmelweiter Unterschied zu den Lebensumständen der Inselbevölkerung. Liam wunderte es nicht, dass Nate diese Klinik gegründet hatte, um mit dem hier generierten Einkommen die medizinische Versorgung auf St. Victoria spürbar zu verbessern.

Er drückte die Tür fest ins Schloss und ließ die Hand etwas länger auf der Klinke ruhen. Als müsste er sich vergewissern, dass alles draußen blieb, auch der Strom an Erinnerungen, der ihn mitzureißen drohte, seit er vorhin am Türrahmen gestanden und Talia gesehen hatte.

Natürlich funktionierte es nicht. Die Bilder überschwemmten ihn in leuchtenden Farben, sprühten vor Lebensfreude.

Liam warf sich in seinen dekadent luxuriösen Schreibtischsessel, streckte die Beine lang aus und überließ sich ärgerlich seinen Gedanken. Verrückt, wie ein hormongesteuerter Jugendlicher zu reagieren. Er war nicht wegen einer Frau hergekommen, hatte nicht einmal daran gedacht, dass Talia ihm erzählt hatte, ihre Heimat sei die paradiesische Karibikinsel St. Victoria.

Lügner.

Er ignorierte die Mahnung. Schließlich war er nur hier, weil es sich gut in seinem Lebenslauf machte, einen Fall an der renommierten Island Clinic zu übernehmen. Ein nächster Schritt in seiner glorreichen Karriere. Für seine Zukunft.

Talia Johnson hingegen war Vergangenheit. Er hatte sich nur mit Mühe wieder gefangen, nachdem sie ihn verlassen hatte.

Also blieb sie am besten genau dort. In seiner Vergangenheit!

2. KAPITEL

Das Klopfen an seiner Tür kam früher als erwartet. Auch wenn ihm erst in dem Moment klar wurde, dass er es erwartet hatte.

Allerdings erwartete er nicht, dass die Tür sich öffnen und Talia hereinkommen würde, bevor er überhaupt antworten konnte.

„Ist es nicht üblich, erst zu warten, bis man hereingerufen wird?“ Liam zog die Brauen hoch. Wenigstens hörte sich seine Stimme ruhiger an. Kontrollierter.

Wie es sein sollte.

Er brauchte nur daran zu denken, dass er an diese Klinik gekommen war, um zu operieren und seine Karriere zu fördern. Es sollte ihn nicht interessieren, wie diese betörende Verführerin sich rechtfertigen wollte.

Talia schien nicht viel daran zu liegen, sich zu entschuldigen. Stattdessen stürmte sie zum Schreibtisch. „Ich hätte gewartet – wenn ich sicher gewesen wäre, dass du mich nicht den ganzen Tag draußen stehen lässt!“

Liam ärgerte sich, dass er ihr Temperament immer noch bewunderte. Es hatte ihn von Anfang an fasziniert, genau wie ihr Humor, ihre Intelligenz.

Und dieser Wahnsinnskörper.

Sosehr er sich dagegen wehrte, Liam konnte nicht anders, er betrachtete Talia. Die Augen, dunkel wie Schokolade, die Grübchen in den Wangen, den schlanken Hals. Sie hatte die Haare, wie immer während der Arbeit, zu einem professionellen Knoten zusammengesteckt, aber wenn er zu ihr ging und ihn löste, würden ihr die schimmernden schwarzen Locken auf die Schultern fallen. Wild und leidenschaftlich wie Talia selbst.

Sein Blick fiel auf ihre üppigen Brüste, die schmale Taille, die sanft geschwungenen Hüften. Liam erinnerte sich, wie sich ihr atemberaubender Körper unter seinen Händen angefühlt hatte, und seine Selbstbeherrschung wurde auf eine harte Probe gestellt.

„Nachdem du mir praktisch gerade erst versichert hast, dass wir uns an dieser Klinik nicht sehen werden, überrascht es mich, dass du mir gefolgt bist.“

Sie warf ihm einen empörten Blick zu, und er beglückwünschte sich zu seinem sorglosen Tonfall. Sie brauchte nicht zu wissen, dass er Mühe hatte, gleichmäßig zu atmen, weil seine Brust sich wie zugeschnürt anfühlte.

Stolz hob sie den Kopf. „Ich wollte mich entschuldigen.“

„Tatsächlich?“

„Ich … hätte nicht abstreiten sollen, dass ich es war, die Nate auf dich aufmerksam gemacht hat.“

Liam konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Vor allem, als sie unter seiner Musterung kurz erstarrte und sich dann wieder rührte. Eine leichte Bewegung, die ihn sofort daran erinnerte, wie sie sich in seinen Armen bewegt hatte. Wie er sie berührt hatte, erst mit den Händen, dann mit seinem Mund. Wie sie sich ihm entgegengebogen hatte. Wenn er intensiv in sich hineinhorchte, konnte er das schwache Echo ihrer Lustschreie hören. Wie sie seinen Namen rief, als sie keuchend kam.

Augenblicklich verachtete er sich für seine Schwäche. Er musste sich zusammenreißen. Sofort.

„Warum?“, fragte er. „Warum hast du mich empfohlen?“

„Was willst du hören, Liam? Du weißt, dass Nate jemanden brauchte, der nicht nur Erfahrung mit Aortenbogen-Rekonstruktionen und rechtsseitiger Mini-Thorakotomie hat, sondern auch ein akzeptabler Ersatz für Isak ist, der den Eingriff durchführen sollte.“

„Und dir ist niemand außer mir eingefallen?“

„So ist es, Liam, weil Isaks Verfahren bahnbrechend ist. Auf genau dem Gebiet, auf dem du Spitze bist.“

Er fühlte sich nicht geschmeichelt. Er wollte sich nicht geschmeichelt fühlen. Doch während Talia redete, legte sich die Spannung etwas. Fachliche Gespräche fielen ihm leichter als persönliche. „Es gibt einen Haufen Studien, die sich mit unterschiedlichen Herangehensweisen, einschließlich medianer Sternotomie und RAT befassen. Man hat alles untersucht. Von Intubationszeit über Transfusionen, Blutungsursachen, Wundinfektion bis zur intensivstationären Aufenthaltsdauer, bevor der Patient im Krankenhaus verstirbt und so weiter. Was macht diesen Fall so besonders?“

Sie zögerte keine Sekunde mit ihrer Antwort.

„Diese anderen Studien haben gängige Verfahren der Brusteröffnung verglichen, als die rechtsseitige Thorakotomie ein neuer Ansatz war, sodass die Chirurgen noch eine steile Lernkurve vor sich hatten. Es brauchte Zeit, die Technik zu vervollkommnen, aber inzwischen haben erfahrene Operateure wie du und Isak die Zeit vermindert, in der die Aortenkreuzklemme oder die Herz-Lungen-Maschine eingesetzt werden. Mit dem Ergebnis, dass der Patient eine halbe bis eine Stunde weniger auf dem OP-Tisch liegt. Zusätzlich …“

„Fein.“ Er hob die Hand. „Du hast deinen Standpunkt klargemacht.“

Sie war schon immer eine großartige OP-Schwester gewesen, engagiert und erfahren, wie sie gerade wieder bewiesen hatte. Dennoch hatte sie nicht Isaks Team angehört. Liam fragte sich, warum nicht.

„Ich wollte nicht diskutieren, sondern deine Frage beantworten. Hoffentlich habe ich dir damit bewiesen, dass ich dich Nate aus rein fachlichen Gründen empfohlen habe und nicht, um dich … nach St. Victoria zu locken.“

„Das habe ich nie behauptet.“

„Aber angedeutet.“

Er machte sich nicht die Mühe, es abzustreiten. Wie von ihm verlangt, hatte sie ihm eine schlüssige Erklärung geliefert. Warum war er dann unzufrieden?

Liam fühlte sich unangenehm ernüchtert. Hatte er insgeheim gehofft, dass bei Talia doch persönliche Gründe dahintersteckten? Warum ging ihm diese Frau unter die Haut wie keine sonst? Es war, als wäre er froh, dass sie in sein Leben zurückgekehrt war.

Ärgerlich schob er den Gedanken beiseite.

Eigentlich hätte er verschwinden müssen, so weit weg wie möglich von St. Victoria – und Talia Johnson. Hatte er beim letzten Mal seine Lektion nicht gelernt? Es gab nur einen Menschen im Leben, dem man vertrauen konnte – sich selbst. Alle anderen ließen einen irgendwann im Stich.

Aber hier ging es nicht mehr um Talia. Er hatte sich der Island Clinic verpflichtet. Und Nate Edwards. Eine Patientin, um die er sich kümmern sollte, wurde bald eingeflogen. Liam war auf seine Professionalität immer stolz gewesen. Er würde niemanden hängen lassen.

„Ich nehme deine Entschuldigung an“, sagte er.

„Meine Entschuldigung?“

„Dass du mich nicht hättest anlügen sollen, was Nate und meine Empfehlung betrifft.“

„Okay. In Ordnung.“ Sie atmete hörbar aus.

„Gut.“

Keiner von ihnen rührte sich. Stumm sahen sie einander an.

Als die Stille sich dehnte, gab sich Liam wütend einen Ruck. „Nun, wenn das alles ist, ich habe zu tun“, stieß er hervor.

„Natürlich.“ Sie wirbelte herum, stolperte dabei fast, und er war schon halb aus dem Sessel hoch, als ihm bewusst wurde, was er da tat. Noch immer reagierte er auf sie, obwohl sie ihm klargemacht hatte, dass er ihr nichts bedeutete.

Liam ließ sich wieder auf seinen Schreibtischsessel fallen und streckte die Beine aus.

Es genügte ihm nicht. Er wollte sie treffen, so wie sie ihn getroffen hatte. Sie verletzen, ein wenig nur. „Ich gehe davon aus, dass du weiterhin planst, im Krankenhaus zu arbeiten, solange ich hier bin?“

Langsam drehte sie sich um. „Wenn du nichts dagegen hast?“

„Das würde voraussetzen, dass es mich interessiert, wo du bist und was du machst.“ Liam zwang sich, unbeteiligt zu klingen.

„Dann … wäre es für dich okay, wenn ich an der Island Clinic bliebe?“

Wie er vermutet hatte, liebte sie ihre Arbeit hier.

„Du hast mich falsch verstanden“, sagte er knapp. „Mich interessiert nicht, wo du arbeitest, solange du nicht mit meinem Fall betraut bist. Sind wir uns einig?“

Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen, doch ihrer Miene war nichts zu entnehmen. Du willst nicht wissen, was in ihr vorgeht, ermahnte er sich.

„Ja, okay.“ Sie nickte knapp. „Sind wir.“

Wieder wandte sie sich ab, griff zur Klinke und riss die Tür so heftig auf, als könnte sie es kaum erwarten, von ihm wegzukommen.

Was ihm nur recht war!

Talia stand bereits im Flur, als ihre zur Schau gestellte Sanftmut sich verflüchtigte und ihr Temperament mit ihr durchging. Wer sie einmal so erlebt hatte – was selten vorkam –, vergaß es nie wieder.

Liam hatte es nicht erlebt. Aber er war auch noch nie so gewesen wie gerade eben. Also sind wir quitt!

Sie wusste, dass er autoritär sein konnte. Ein selbstbewusster Chirurg, der im OP herrschte, wie es ihm gefiel. Doch dieser Liam, der sich zusammennahm, als brodelte etwas dicht unter der Oberfläche, das er nicht zeigen wollte, war ungewohnt für sie. Hatte ihr ungeplantes Wiedersehen ihn genauso verwirrt wie sie?

Talia gestand sich ein, dass es ihr gefiel, eine völlig neue Seite an diesem faszinierenden Mann zu entdecken.

Weniger begeistert war sie von der Art, wie er sie gerade entlassen hatte – als müsste er eine lästige Mücke verscheuchen.

Aufgebracht fuhr sie herum und marschierte schnurstracks zurück ins Zimmer und auf seinen Schreibtisch zu. Dort angelangt stützte sie sich mit beiden Armen auf der Platte ab und beugte sich angriffslustig vor.

„Für einen Mann, der mich nie wiedersehen wollte und dessen Karriere einen kometenhaften Aufstieg genommen hat, scheint dich meine Anwesenheit überraschend stark zu stören!“

Zu spät bemerkte sie ihren Fehler. Ihr wütender Auftritt bewirkte, dass sie Liam plötzlich sehr nahe kam. Er war aufgesprungen, und die heftige Bewegung sorgte dafür, dass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.

Schon wieder.

Nahe genug, um ihn zu berühren.

Ihr Herz schlug aus wie ein scheuendes Pferd. Talia klammerte sich an die Tischkante, um ihre Hände bei sich zu behalten. Wenn ich mich vorbeuge, kann ich ihn küssen. Sie hatte schon vielen verrückten Impulsen widerstanden, war sich aber nicht sicher, ob sie auch jetzt die Kraft dazu aufbringen würde.

„Ich habe ja gewusst, wie leidenschaftlich du sein kannst, Talia – habe es sogar bewundert –, aber ich kann mich nicht erinnern, dass du so ungestüm warst.“

„Vielleicht war ich bei dir nicht ganz so sehr ich selbst, wie ich immer gedacht habe.“ Die Worte waren heraus, ehe sie darüber nachdenken konnte.

Liam runzelte die Stirn. Anscheinend gefiel ihm nicht, was er gehört hatte. „Wie meinst du das?“

Sie antwortete nicht. Wollte sie überhaupt, dass das Gespräch in diese Richtung ging?

„Bitte, tu dir keinen Zwang an.“ Er zog die Brauen hoch. „Gerade eben noch hattest du etwas zu sagen.“

„Na schön“, stieß sie hervor. „Ich glaube, in den letzten Jahren ist mir einiges klar geworden.“

„Tatsächlich?“

„Ja.“ Sie schürzte die Lippen. „Ich habe mich gefragt, ob ich wirklich ich selbst war, als ich mit dir zusammen war, Liam.“

„Kannst du das präzisieren?“ Tonfall und Miene verrieten deutlich, dass ihm gar nicht behagte, was sie da sagte.

„Ich gebe es ungern zu, aber damals in North Carolina war ich tief beeindruckt von allem … Neues Krankenhaus, neues Land, neue Art zu leben und dann obendrauf du.“

„Ich, obendrauf?“, betonte er gedehnt. „Du kränkst mich.“

„Das meinte ich nicht.“ Sie errötete, versuchte noch, die Bilder zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht.

Ihr wurde heiß, als sie sich daran erinnerte, wie Liam sie nur zu berühren brauchte, mit der Hand, mit der Zunge, um sie in köstliche Ekstase zu versetzen. Ob er jetzt auch daran dachte? Wie er sie dazu gebracht hatte, vor Lust zu schreien, bis sie schließlich erschöpft in seinen Armen lag – und noch mehr wollte.

Immer hatte sie mehr gewollt. Kein Wunder, dass sie geglaubt hatte, das konnte nur Liebe sein.

Heute fragte sie sich, ob sie sich nicht hatte blenden lassen. Ob sie in ihrem Cinderella-Glückstaumel verdrängt hatte, dass der Traumprinz etwas Einschüchterndes hatte.

„Dein Körper verrät mir etwas anderes“, stieß er rau hervor.

Die Hitze nahm zu, die unpassenden Fantasien auch. Talia war unfähig, den Blick von ihm zu lösen.

Was ist los mit dir?

Tick.

Überdeutlich nahm sie das Ticken der Wanduhr wahr. Keiner von ihnen bewegte sich. Keiner sprach.

Tack.

Liam zog die dunklen Brauen zusammen, auf so vertraute Art, dass Talia sich an die Tischkante klammern musste, um nicht eine Hand auszustrecken und die steile Falte glatt zu streichen.

Tick.

„Und wenn schon?“, schleuderte sie ihm entgegen. „Du hast deutlich gemacht, dass du nicht an mir interessiert bist.“

„Ich habe nichts dergleichen gesagt.“

Seine Stimme glitt wie eine Messerklinge über ihre Haut, ließ sie erschauern. Und doch war es eher erregend als beängstigend. Talia versuchte zu sprechen, aber die Worte blieben stecken.

„Du hast gesagt …“

„Ich sagte, ich hätte nie erwartet – oder gehofft –, dich wiederzusehen“, stellte er richtig. „Nicht, dass ich nicht interessiert bin.“

Unfähig, etwas zu sagen oder sich zu rühren, schüttelte sie wortlos den Kopf. Ihr war ein wenig schwindlig, ob nun von dem ungewohnt gefährlich klingenden Unterton oder seiner verwirrenden Nähe, wusste sie nicht. Wahrscheinlich hatten drei Jahre nicht genügt, um die Gefühle, die sie verarbeitet zu haben glaubte, ein für alle Mal zu verbannen. Sie drängten mit Macht in ihr Herz, besetzten ihren Körper.

„Du willst mich immer noch?“, brachte sie schließlich heraus.

Plötzlich lagen seine Hände auf ihren Schultern, vertraut warm und stark, und sein Gesicht war ihrem ganz nah. Seine Augen waren dunkel vor Verlangen, der intensive Blick machte sie atemlos.

„Entgegen allem, was der Verstand mir sagt“, antwortete er rau. „Ich bin wegen meiner Patientin hier, nicht deinetwegen. Und doch bist du da, verfolgst mich wie ein Gespenst.“

Und dann, als wäre ein Schalter umgelegt worden, zügelte er sich nicht mehr, und sein Mund war auf ihrem. Wie jemand, der sich endlich holen will, was ihm gehört, eroberte er ihre Lippen. Er küsste sie lange, forschend, fordernd und so erregend, wie sie es nur bei Liam kannte.

Talia versank in diesem Kuss, gehalten allein nur von seinen Händen, die ihr Gesicht umfassten. Sie stand in Flammen, erfüllt von einem verzehrenden Hochgefühl.

„Was ist das jetzt?“, murmelte sie, als sie Luft holen mussten, und hätte ihn gleich wieder küssen können. „Ein ehemaliges Liebespaar, wieder vereint?“

„Keine Wiedervereinigung.“ Seine Stimme an ihren Lippen, seidenweich und drohend zugleich, traf den empfänglichen Punkt zwischen ihren Beinen. „Eher ein längst überfälliger Exorzismus.“

Seine Worte hätten sie zur Besinnung bringen müssen, aber Talia konnte nicht mehr zurück.

In ihr loderte ein Feuer, das sie zu verbrennen drohte, und dennoch genoss sie jede einzelne Sekunde.

Es war, als existierte nichts außer diesem Augenblick mit Liam. Alles andere wurde unbedeutend. Als könnten sie den ganzen Tag so bleiben. Die ganze Woche.

Für immer.

Könnt ihr nicht, schrie eine Stimme auf, gedämpft, wie in weiter Ferne. Doch sie war nicht zu überhören und quälte sie mit allem, was Talia vergessen wollte. Ermahnte sie, dass sie sich in einer Blase befand, so verführerisch wie flüchtig, während draußen eine andere Welt auf sie wartete.

Talia legte Liam die Hände auf die Brust, sagte sich, dass sie ihn wegschieben sollte. Aber ihre Arme fanden nicht die Kraft dazu. Stattdessen krallte sie die Finger in seine Kragenaufschläge und zog ihn näher zu sich. Liam schien nichts dagegen zu haben.

Die Küsse veränderten sich. Weniger stürmisch, verfielen sie einem erotischen Rhythmus, als Liam ihren Mund mit der Zunge erkundete. Talia bebte vor Erwartung, hörte die schwachen sehnsüchtigen Laute, die aus ihrer Kehle kamen, und konnte nichts dagegen tun. Dies war wie damals in North Carolina … und doch nicht.

Liam hatte es nicht eilig, verführte, forderte, neckte sie mit der Zunge, biss sanft in ihre Unterlippe, weckte Lust auf mehr, viel mehr. Immer wieder, als hätten sie alle Zeit der Welt.

Talia wusste nicht, ob es an der Trennung lag, aber was so wundervoll und intensiv mit Liam vor drei Jahren gewesen war, verblasste neben dem, was sie jetzt fühlte.

Als hätte sich jedes Gefühl, jede Sehnsucht noch verstärkt.

Seine Hände waren heiß auf ihrer Haut, und sie wollte ihm und sich die Kleidung vom Leib reißen, um ihn endlich ganz zu spüren. In seinen dunklen Augen, dem Blick, mit dem er ihren festhielt, las sie, dass er genau wusste, welcher Sturm in ihr tobte. Als würde nichts zählen außer diesem Moment. Als wäre sie die Einzige auf der Welt für ihn.

Liam presste sie an sich, und sie zitterte, als ihre weichen Lenden auf Härte trafen. Darum ging es doch, oder? Wenn Worte nicht mehr wichtig waren und primitives zügelloses Verlangen alles andere ausschaltete …

Die körperliche Seite ihrer Beziehung war nie ein Problem gewesen. Müßig der Versuch zu zählen, wie oft sie in seinen Armen die Welt vergessen hatte. Alles Emotionale dagegen blieb hinter unüberwindlichen Hürden verborgen, gespickt mit verletzenden Stacheln.

Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, den Kopf zu heben und Liam in die Augen zu sehen. Als ihre Blicke sich trafen, schnappte Talia unwillkürlich nach Luft. Die Botschaft war deutlich, die Sehnsucht klar zu erkennen, und sie traf sie tief im Innern. Liam sah sie immer noch an, als wäre sie für ihn das Kostbarste auf der Welt.

Aber du bist es nicht, ertönte schrill wieder die schwache Stimme. Und obwohl sie es nicht wahrhaben wollte, wusste Talia, dass dies hier purer Wahnsinn war. Zwischen ihnen hatte sich nichts geändert. Trotzdem konnte sie sich nicht abwenden, sondern erlag der Anziehung, die dieser Mann auf sie ausübte. Sie wollte es!

Leise stöhnend ergab sie sich seinem leidenschaftlichen Kuss, strich mit den Händen über seine muskulöse Brust, genoss zitternd den Moment.

Wie oft hatten sie diesen Tango getanzt? Fielen praktisch in seine Wohnung, schafften es nicht bis zum Schlafzimmer, bevor seine Hände auf ihr waren. Sein Mund. Seine Zunge. Und sie hatte sich hingegeben, halb verrückt vor Verlangen. War gekommen, wieder und wieder, bevor sie ihn aufs Bett drückte, sich rittlings auf ihn setzte, und Liam ihr die Führung überließ.

War sie nicht naiv gewesen, zu glauben dass sie Macht über ihn hatte? In Wahrheit hatte Liam sie immer in der Hand behalten. Wenn es um Liam ging, setzte ihr Verstand aus. Alles andere wurde unwichtig. Sogar ihre eigene Familie. Ihr altes Leben. Sie blieb in North Carolina, weil sie hoffte, dass er irgendwann auch nur einen Bruchteil dessen für sie empfand, was sie für ihn fühlte.

Aber jetzt waren sie nicht mehr in North Carolina, sondern hier, auf St. Victoria. In ihrer Heimat. Und sie waren sich einig, dass nichts von dem, was in den nächsten vier Wochen passierte, auch nur irgendetwas zu bedeuten hatte. Dies war rein körperlich und dennoch magisch und vollkommen trotz allem, was in ihrer Beziehung schiefgegangen war.

Leider gehörte zur Wahrheit auch, dass sie etwas Kostbareres als ihren Verstand verloren hatte: ihr Herz. Warum sonst wehrte sie sich nicht, als er sie fest in den Armen hielt und sie zum Schreibtisch schob, bis ihr Po gegen die Kante stieß? Oder mit einer Hand ihre Handgelenke umfasste und gegen seine Brust presste?

Sie hätte sich jederzeit befreien können, wenn sie es gewollt hätte. Doch sie tat, was Liam stumm von ihr verlangte.

Und dann begann er, ihren Körper zu erforschen, als wollte er ihn neu entdecken, zum ersten Mal seit drei Jahren.

Talia konnte nicht genau beschreiben, was seine Berührungen auslösten. Sicher auch ein bittersüßes Bedauern, das ihr den Atem nahm. Und obwohl sie an ihrer Schwäche fast verzweifelte, wünschte sie sich, dass dieser Moment in Liams Armen nie enden möge.

Weil sie das süße Gefühl der Schwäche liebte, als er mit seinen warmen, starken Händen über ihre Taille strich, hoch zu ihren Brüsten, und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit mit den Daumen die empfindsamen Spitzen rieb.

Selbst durch ihre OP-Kleidung hindurch war die Berührung elektrisierend, sodass Talia ein Aufstöhnen nicht unterdrücken konnte.

„Alles zu seiner Zeit“, murmelte Liam.

Ein schwacher Trost, dass auch er nicht mehr so kontrolliert und gelassen klang wie vorhin. Doch schon verabschiedete sich jeder klare Gedanke, als er mit der Hand tiefer glitt. Unter den Saum ihres Tops. Seine Finger berührten ihre nackte Taille. Talia spürte, wie sich in ihr alles zusammenzog vor Verlangen.

Sie hörte sich laut atmen, brachte aber nur ein Flüstern heraus. „Liam …“

Hatte er vergessen, wo sie waren? Sie musste es ihm sagen, aber ihr Verstand schien in nebligem Nichts verschwunden.

„Wie gesagt, alles zu seiner Zeit“, wiederholte er rau.

Noch während sie den Blick hob, um ihm in die Augen zu sehen, fühlte sie, wie er die Hand in ihre Hose schob, tiefer, immer tiefer, bis ihr die Kehle eng wurde, sodass sie nicht sprechen konnte, und ihr Körper zu erregt war, um sich zu widersetzen.

Er neckte sie. Lockte sie. Ließ die Finger durch die feinen Härchen gleiten, berührte Talia überall. Nur nicht da, wo sie es sich am meisten ersehnte.

„Ich weiß“, beschwichtigte er, als ihr ein unterdrückter Schrei entfuhr. „Ich weiß, was du willst. Vertrau mir.“

Aber er gab es ihr nicht. Er ließ sie zappeln wie die Fischer ihren Fang im Netz, draußen im tiefblauen Meer.

„Liam …“

„Wozu die Eile?“

„Keine Eile.“ Talia hatte keine Ahnung, wie sie es schaffte, ihm zu antworten. Sie klang außer Atem. „Ich wollte nur …“

„Was? Was willst du … Das hier vielleicht?“

Ehe sie etwas sagen konnte, schob er die Finger tiefer. Sie erbebte, als es sie heiß durchzuckte.

„Oder dies?“ Er berührte sie dort, wo sich die Hitze sammelte, dort, wo sie ihn am meisten brauchte.

Sein triumphierender Tonfall verriet, dass er keine Antwort erwartete. Wie ihr Körper reagierte, verriet ihm alles, was er wissen wollte.

Jede Bewegung seiner geschickten Finger entlockte ihr kehlige Laute. Köstliche Gefühle füllten sie aus, erregender als jede Fantasie, in die sie sich in den letzten drei Jahren geträumt hatte. Die ganze Zeit hatte es für Talia keinen anderen gegeben.

Warum auch? Niemand hätte je an Liam heranreichen können. Sie fragte sich, ob ihm das bewusst war. Ob er wusste, dass er der Einzige war, der jemals das mit ihr machte, was er gerade tat.

„Und das?“ Der heisere Tonfall verriet, dass ihn ihre Erregung nicht kalt ließ.

Talia konnte nicht antworten, sie brauchte ihre Willenskraft, um ihre Lust nicht hinauszuschreien. Seine Bewegungen wurden schneller, eine Hand in ihrem Slip, die andere an ihrer Wange. Dann küsste er sie, während er sie rhythmisch weiter verwöhnte. Talia hatte das Gefühl zu fließen, zwischen seiner Hand und seinen warmen Lippen, auf einem Meer purer Wonne. Sie drängte sich gegen seine Hand, während sie auf den Punkt zuraste, an dem ihre Welt kippen würde.

Als sie ihn erreichte und ihr Körper zu zucken begann, fühlte Talia Liams Lippen auf der empfindsamen Kuhle an ihrem Hals.

Sie ließ endgültig los, scherte sich nicht darum, dass sie die Kontrolle verlor. Und Liam hörte nicht auf, schickte sie in einen wilden Strudel, der sie hierhin und dorthin schleuderte.

Und dann fiel sie. Schneller und schneller. Benommen hoffte sie nur, dass Liam da sein würde, um sie aufzufangen, bevor sie am Boden ankam.

Liam spürte, wie sie zurückwich, einen erschrockenen Laut auf den Lippen.

Wozu er sich gerade an seinem neuen Arbeitsplatz hatte hinreißen lassen, war das Unschicklichste, das er je getan hatte. Talia dabei zuzusehen, wie sie sich unter seinen Berührungen vor Lust wand, hatte ihn so scharf gemacht, dass ihn nicht im Geringsten kümmerte, was anständig war oder nicht.

Es fühlte sich an, als hätte er ein ganzes Leben darauf gewartet, einen solchen Moment wieder zu erleben. Und er wollte ihn auf ewig ausdehnen.

Talia schien jedoch andere Pläne zu haben.

Reglos stand er da, während sie auf Abstand ging und mit zitternden Händen ihre Kleidung in Ordnung brachte. Als sie schließlich aufsah, sprühten ihre Augen Blitze.

„Was zum Teufel war das?“

„Muss ich es dir wirklich erklären?“, meinte er trocken. „Du bist Krankenschwester und im Besitz anatomischer Kenntnisse.“

Das machte sie noch wütender, und fast hätte er gelächelt, weil sie hinreißend aussah.

„Ich meinte, wolltest du damit irgendetwas beweisen?“

„Was, zum Beispiel?“

„Du dachtest ja, ich hätte dich meinem Chef empfohlen, um dich nach St. Victoria zu locken. Wolltest du unterstreichen, dass du deiner Meinung nach recht hast?“

„Ich wollte überhaupt nichts beweisen“, antwortete er ruhig, obwohl die gefährliche Tatsache bestehen blieb, dass er nicht in der Lage gewesen war, klar zu denken.

„Doch“, sagte sie leise. „Es war ein Test. Du wolltest dich rächen.“

„Wofür?“, fragte er scharf.

„Du hast mich mehr oder minder beschuldigt, dass ich damals das Duke’s – also dich! – verlassen habe, damit du mir folgst, hierher nach St. Victoria.“ Ihre Stimme bebte, aber er vermutete, mehr aus Scham als vor Ärger. „Ich denke, dies war deine Art, Rache zu nehmen.“

„Was für eine niedrige Meinung du doch von mir hast. Ich könnte viel über das denken, was vor drei Jahren passiert ist, aber das eben war primitive Lust. Rachegedanken haben keine Sekunde lang eine Rolle gespielt.“

Liam hatte nicht die Absicht, ihr darzulegen, welche Gefühle dazu geführt hatten, dass er sämtliche Karriereregeln über Bord geworfen hatte, um es mit ihr in diesem Büro zu treiben.

Leider hatte er längst nicht genug. Er mochte Talia befriedigt haben, hatte aber sich das Gleiche versagt. Sein Körper machte ihm allerdings deutlich klar, dass jetzt noch nicht Schluss sein sollte. Dass er tun wollte, was Talia und er beide wollten. Auch wenn sie es sich nicht eingestanden.

Primitive Bedürfnisse. Liam weigerte sich, ihnen nachzugeben, und versuchte, sich auf Talias Worte zu konzentrieren.

„Du begehrst mich immer noch, aber du liebst mich nicht! Du hast selbst gesagt, dass du das nicht kannst.“

„Dafür bin ich nicht geschaffen“, entgegnete er knapp.

„Warum nicht?“, rief sie. „Weil deine Mutter gestorben ist und dein Vater ein bisschen frostig ist?“

„Du begibst dich auf dünnes Eis, Talia. Ich schlage vor, du überlegst dir genau, was du sagst.“

„Immer das gleiche Problem, nicht wahr?“, sagte sie herausfordernd. „Jedes Mal, wenn es persönlich wird, machst du einen Rückzieher.“

„Ich mache nie einen Rückzieher.“ Er warf ihr einen warnenden Blick zu, aber natürlich war ihr nicht entgangen, dass er einen Sekundenbruchteil gezögert hatte.

Talia holte tief Luft. „Und ob, Liam. Sobald unser Gespräch auf Persönliches zusteuerte, hast du das Thema gewechselt.“

„Da möchte ich widersprechen“, sagte er lässig, fast amüsiert. „Du hast mir alles über deine Eltern und deine beiden jüngeren Brüder erzählt. Auch, wie nahe du deiner Großmutter stehst. Und ich habe dir von meiner erzählt“, fügte er hinzu, ohne darüber nachzudenken.

Sie stutzte, sah ihn fragend an. „Deine Großmutter?“ Als er schwieg, fuhr sie drängender fort. „Du hast sie nie erwähnt, geschweige denn irgendetwas von ihr erzählt.“

Hatte er nicht? Er war sich dessen ziemlich sicher gewesen. Nun, jedenfalls hatte er oft daran gedacht, über sie zu sprechen. Der einzige andere Mensch, neben Talia, der ihm zeigte, dass er ihm etwas bedeutete. In gewisser Weise ähnelte diese temperamentvolle Insulanerin seiner lebhaften Großmutter Gloria. Wie niemand sonst hatte sie sich immer schützend vor Liam gestellt, gegen ihren einzigen Sohn, der sein einziges Kind von Geburt an hasste.

Nach ihrem Tod war er wieder allein, verdammt zu einem einsamen Leben mit dem verbitterten alten Mann.

„Ich habe dir von ihr erzählt, als ich dir diese Schachtel zeigte.“

„Du hast mir zwar eine ...

Autor

Charlotte Hawkes
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Annie Claydon
<p>Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...
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Deanne Anders
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