Julia Ärzte zum Verlieben Band 177

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ZWEITE CHANCE UNTER DEN STERNEN DER KARIBIK von AMY RUTTAN
Vor einem medizinischen Skandal flieht die schöne Chirurgin Victoria aus New York in die Karibik. Doch ungläubig sieht sie, wer ihr Boss im Tropenparadies ist: Dr. Matthew Olesen! Aus Angst vor zu viel Nähe hat sie damals ihre Liebe geopfert. Was sie bis heute bitter bereut …

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  • Erscheinungstag 05.05.2023
  • Bandnummer 177
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519137
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amy Ruttan, Juliette Hyland, Kate Hardy

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 177

1. KAPITEL

Es geht dir gut. Dies ist ein kleiner Rückschlag. Du hast schon Schlimmeres überstanden. Und wer würde nicht gerne im Paradies arbeiten?

Und genau das musste sich Dr. Victoria Jensen immer wieder sagen. Das hier war eine gute Sache. Und eine Gelegenheit. Auch wenn sie sich wieder allein fühlte. Und verängstigt. Aber diese Seite von ihr sollte niemand sehen. Seit dem frühen Tod ihrer Mutter hatte sie sie verborgen gehalten. Da es anscheinend keine weiteren leiblichen Verwandten gab, war sie danach in Pflegefamilien aufgewachsen. Keine wollte sie jemals adoptieren, also hatte sie ihr Herz verschlossen.

Sie hatte auch gelernt, dass sie entweder zurückschrecken und schwach sein oder kämpfen konnte.

Sie entschied sich für den Kampf.

Und sie entschied sich zu helfen, indem sie Leben rettete.

Als sie heranwuchs, war niemand für sie da gewesen, und sie wollte nicht, dass sich jemand anders so allein fühlte wie sie. Als Chirurgin konnte sie anderen helfen und hatte gleichzeitig die perfekte Ausrede, um Menschen auf Distanz zu halten. Ein Beruf, der sie zu sehr beanspruchen würde, als dass sie daran denken konnte, sich auf ein Leben mit nur einem einzigen Menschen festzulegen. Es war besser, Einzelgängerin zu sein. Wenn man allein war, musste man sein Herz nicht aufs Spiel setzen.

Immer schon hatte sie Chirurgin werden wollen.

Auch wenn sie das Resultat ihrer Arbeit nicht immer bestimmen konnte.

Das brachte sie zum eigentlichen Grund zurück, warum sie hier war.

Sie hatte einen Patienten verloren.

Einen sehr wichtigen Patienten. Einen ausländischen Botschafter in den USA.

Die Klinikleitung hatte ihr vorgeschlagen, sich beurlauben zu lassen, bis die Autopsie-Ergebnisse vorlagen und das Medieninteresse abgeklungen war, und obwohl sie nicht einverstanden gewesen war, hatte sie keine andere Wahl gehabt.

Der Zeitpunkt war jedoch günstig, denn ihr Mentor Dr. Paul Martin war gebeten worden, auf der Karibikinsel St. Thomas bei einer Domino-Nierentransplantation zu assistieren, und Paul hatte arrangiert, dass sie an seiner Stelle ging.

Sie hatte schon früher Patienten verloren, und das tat immer weh, aber bei diesem Patienten machten die Medien Jagd auf sie.

Sie gaben ihr die Schuld.

Bei ihrem Einsatz auf den Virgin Islands konnte sie sich unsichtbar machen, ihre Arbeit erledigen und warten, bis die Aufmerksamkeit nachließ.

In der Theorie war es der perfekte Plan.

Victoria zupfte ihren weißen Kittel zurecht, während sie ihr Spiegelbild im Waschraum der Damentoilette betrachtete, und schüttelte die letzten Selbstzweifel ab. Sie hatte schwitzige Handflächen und in der Nacht zuvor nicht viel geschlafen, aber das machte nichts.

Sie wollte diesem Krankenhaus beweisen, dass es verdammt viel Glück hatte, eine der besten Transplantationschirurginnen in seinem Haus zu haben. Wenn auch nur für kurze Zeit.

Innerlich zuckte sie bei ihren aufmunternden Worten zusammen. Das war etwas, was ihr Mentor Paul ihr beigebracht hatte, als sie seine Assistenzärztin wurde. Selbstbewusst zu sein. Selbstständig zu denken und Selbstvertrauen auszustrahlen, was, wie sie wusste, sie oft als kühl und arrogant erscheinen ließ.

Seien Sie ein Hai, sagte er. Das ist der einzige Weg, um zu überleben.

Er war kühl, distanziert und kümmerte sich nur um seine Karriere und um die wenigen Studenten und Studentinnen, die er für würdig hielt, von ihm unterrichtet zu werden.

Sie war eine davon gewesen, und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie von jemandem bevorzugt worden. Es war Dr. Paul Martin, der ihr geraten hatte, sich nicht von einer Familie oder der Liebe vereinnahmen zu lassen. Das war ihr nur zu eindringlich klar geworden, als sie noch in den Pflegefamilien gelebt hatte.

Allerdings gab es Bereiche in ihr, denen das nicht gefiel. Verborgene Bereiche, die sich nach Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit sehnten.

Wie sehr wünschte sie sich das, nachdem sie ihre Mutter verloren hatte.

Aber sie war ganz allein gewesen.

Sie war der einzige Mensch, der sich selbst nie im Stich gelassen hatte … bis sie wider besseres Wissen zustimmte, den Botschafter zu operieren.

In den zehn Jahren als Transplantationschirurgin war noch nie etwas so katastrophal schiefgelaufen wie die Operation, die sie aus New York hatte fliehen lassen. Und es war nicht einmal ihre Schuld. Sie hatte die Transplantation nicht durchführen wollen. Der Botschafter war zu der Zeit kaum in der Lage, die Operation zu überstehen, und obwohl sie ihren Vorgesetzten bat, noch damit zu warten, hörte niemand auf sie.

Victoria hatte alles versucht, doch der instabile Patient war auf dem OP-Tisch kollabiert. Gerade als sie dachte, dass sie ihn stabilisieren konnte, bildete sich ein Blutgerinnsel, das sie nicht entfernen konnte, und damit war alles vorbei.

Der Botschafter starb.

Und nun war sie in diesem Inselparadies gelandet.

Das hiesige Krankenhaus brauchte Unterstützung bei der Durchführung einer aufwendigen Operationsserie für mehrere Patienten, die eine Nierentransplantation benötigten.

Eine Dominotransplantation oder Überkreuz-Lebendspende war für Kranke gedacht, die ein neues Organ brauchten und einen potenziellen Spender gefunden hatten, der jedoch nicht mit ihnen kompatibel war. Fanden sich weitere Empfänger-Spender-Paare mit demselben Problem, so wurden die Organe praktisch über Kreuz eingesetzt, bis jeder Empfänger eine neue Niere hatte, die sein Körper nicht wieder abstoßen würde. Es gab viele Faktoren zu berücksichtigen, und das erforderte akribische Koordination. Es war wie beim Domino – fiel ein Teil aus, brach das ganze System zusammen.

Für diejenigen, die damit nicht vertraut waren, konnte es ein logistischer Albtraum sein, aber zum Glück hatte sie schon mehrere Dominotransplantationen durchgeführt.

Bevor sie jedoch loslegen konnte, musste sie den neuen Chefarzt der Chirurgie kennenlernen, was ihr einige Bauchschmerzen bereitete. Sein Vorgänger war Pauls Freund. Aber dieser hatte aus persönlichen Gründen in den Vorruhestand gehen müssen, und sie wusste nicht, wer sein Nachfolger war. Gestern Abend hatte sie mit Paul darüber gesprochen, aber der Anruf war plötzlich unterbrochen worden, und Victoria hatte den Namen nicht verstanden.

Allerdings fragte sie sich, ob der neue Chefarzt ihr gegenüber vielleicht skeptisch eingestellt war.

Wenn er ein rational denkender Chirurg ist, wird er erkennen, dass das, was in New York passiert ist, nicht deine Schuld war. Er wird von der Komplikation wissen und es verstehen.

Victoria mochte eine begabte Chirurgin sein, aber sie war nicht allmächtig, und sie hätte die Bildung dieses Blutgerinnsels keinesfalls verhindern können.

Wenn die Medien sie nicht unfairerweise beschuldigt hätten, wäre sie immer noch in New York.

Ja, und unglücklich.

Victoria verscheuchte diesen heimtückischen kleinen Gedanken aus ihrem Kopf.

Du brauchst niemanden.

Victoria richtete ihr braunes Haar, das sie zu einem Knoten geschlungen hatte. Die hohe Luftfeuchtigkeit auf den Jungferninseln sorgte dafür, dass sich immer wieder Strähnen lösten. Nachdem sie ihr Äußeres gründlich geprüft hatte, wusch sie sich die Hände, nickte ihrem Spiegelbild knapp zu und verließ die Damentoilette.

Das Büro des Chefarztes befand sich am Ende des Gangs. Jeder Schritt auf ihren Absätzen schien im Takt ihres Herzens zu schlagen, und sie versuchte, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken.

Komm schon. Du schaffst das.

„Dr. Jensen?“, fragte die Assistentin des Chefarztes – Yvonne, so stand es auf ihrem Namensschild –, als Victoria das Büro betrat.

„Ja. Ich möchte bitte den Chefarzt der Chirurgie zu sprechen.“

Yvonne nickte und lächelte strahlend. „Einen Augenblick bitte. Ich frage Dr. Olesen, ob er Zeit für Sie hat.“

Yvonne stand auf und verschwand im Büro hinter ihrem Schreibtisch.

Victoria runzelte die Stirn und biss sich auf die Unterlippe. Dr. Olesen? Sicherlich war es ein anderer Dr. Olesen. Es gab viele Dr. Olesens auf der Welt. Das Schicksal würde nicht so grausam sein, sie dem früheren Kollegen aus ihrer Assistenzarztzeit in die Hände zu spielen.

Matthew Olesen war der einzige Mann, der ihr je unter die Haut gegangen war. Der einzige Assistenzarzt in ihrer chirurgischen Ausbildung, der für ihre Pläne eine Bedrohung darstellte. Er hatte sie verrückt gemacht, und sie hatte sich wahnsinnig zu ihm hingezogen gefühlt. Matthew war ihr Erster gewesen. Sie hatten so viele Nächte miteinander verbracht, und sie hatte sich in ihn verliebt.

Und obwohl sie mehr wollte, hatte die intensive Leidenschaft ihr Angst gemacht. Angst, ihm zu vertrauen, ihm ihr Herz anzuvertrauen.

Damals gab es nur eine Stelle in Dr. Martins Transplantationsteam, und Victoria wollte sie unbedingt haben.

Nichts und niemand sollte sich ihr in den Weg stellen.

Nicht einmal ein Mann, den sie liebte …

„Willst du die Sache wirklich so beenden?“, fragte Matt, die Hände auf ihren Schultern.

Sie wollte sich aus seiner Umarmung befreien, schaffte es aber nicht, sich von ihm loszureißen.

Sie wollte die Beziehung nicht beenden, aber für ihr Herz war es besser so. Sie hatte Pläne, und Matt passte nicht in diese Pläne. Es war schwer, sich von ihm zu trennen, die wundervolle Beziehung zu beenden, weil sie doch noch mehr von ihm wollte, aber sie hatte zu viel Angst, ihr Herz zu riskieren.

Unmöglich konnte sie beides haben, Matt und die Karriere, für die sie so hart gearbeitet hatte.

Die Liebe war zu kompliziert.

„Ja. Ich nehme den Job an. Es gibt nur eine Stelle, und die gehört mir.“

Matt ließ ihre Schultern los, und ihr war plötzlich kalt.

„Du brichst mir das Herz, Victoria. Du bist es, die ich will.“

Sie schluckte die Tränen hinunter, die zu fließen drohten. Sie weinte nicht vor anderen.

„Ich will dich aber nicht, Matt. Mir ging es immer nur um die Stelle. Nur das zählt. Nichts sonst.“

Aber das war gelogen.

Sie wollte ihn doch.

Seine Augen blickten nun kalt, und er richtete sich auf. „Gut. Dann werde ich dich nicht mehr belästigen.“

Es hatte geschmerzt, aber sie war darüber hinweggekommen.

Wirklich?

Sie hatte gedacht, er würde in New York bleiben, sich aber geirrt.

Matthew versuchte nicht, um sie zu kämpfen, und sie verstand die Botschaft.

Sie war auf sich allein gestellt. Das war sie gewohnt. Sie konnte sich auf niemanden außer auf sich selbst verlassen.

Und, hast du es wirklich überwunden?

Dr. Matthew Olesen war von ihrem Radar verschwunden, und sie hatte sich nie die Mühe gemacht, nach ihm zu suchen. Es tat zu sehr weh, denn sosehr sie sich auch einreden wollte, dass sie über ihn hinweg sei, sie war es nicht. Ein Teil von ihr sehnte sich immer noch nach ihm und wollte ihn, aber sie hatte es ruiniert und sich stattdessen nur auf ihre Karriere konzentriert. Sie war mit anderen Männern ausgegangen, aber keiner hatte Matthew je das Wasser reichen können.

Niemand ließ ihr Herz schneller schlagen. Keiner ließ ihren Körper mit einem einfachen Blick aus seinen blauen, blauen Augen vor Lust erbeben. Matthew besaß immer noch den kleinen verborgenen Teil ihres Herzens, den sie für sich behielt.

Nimm dich zusammen.

Yvonne kam aus dem Büro. „Dr. Olesen erwartet Sie.“

Victoria nickte und öffnete die Tür, hielt den Atem an, als sie den Raum betrat. Ihre Hände zitterten, sie schwitzte fürchterlich und hoffte, dass es niemand bemerkte.

Es war nicht Matthew.

Er konnte es nicht sein.

Er saß mit dem Rücken zu ihr und tippte auf seinem Computer. Sie stand da, schrecklich angespannt, während sie darauf wartete, dass er sich umdrehte und sie ansah.

Das Schicksal konnte nicht so grausam sein.

Sieh mich an, schrie sie stumm.

„Es war ein weiter Weg hierher, oder?“

Die Stimme war etwas tiefer, als sie sie in Erinnerung hatte. Aber sie glitt ihr den Rücken hinunter mit diesem Hauch von Vertrautheit, der ihr einen Schauer des Entsetzens und zugleich ein Prickeln der Vorfreude bescherte. Ihr Magen drehte sich um, weil sie sich erinnerte, wie es war, wenn diese Stimme ihr süße Worte ins Ohr flüsterte, während sie dahinschmolz für ihn.

Das musste ein schlechter Scherz sein!

Sie war in der Hölle gelandet und wurde bestraft.

Er drehte sich um, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie in die kristallblauen Augen des einzigen Mannes blickte, der ihr je etwas bedeutet hatte.

Der Mann, den sie hatte gehen lassen. Der einzige Mann, den sie je geliebt hatte.

Der Mann, der sie immer noch in ihren Träumen verfolgte und sie mit etwas verhöhnte, das sie nie haben konnte. Victoria glaubte nicht an ewiges Glück, aber etwas in ihr bedauerte es immer noch und fragte sich, ob sie es mit ihm hätte haben können.

Und ihr Körper reagierte auf ihn. Sogar nach all dieser Zeit.

Verräter.

„Dr. Olesen“, sagte sie kurz, weil sie das Gefühl hatte, dass man ihr die Luft abschnürte.

Er lächelte, aber sein Lächeln erreichte nicht die Augen. Es war kalt und distanziert. Als sie versuchte, seinem Blick auszuweichen, sah sie auf seine Hand und bemerkte den Ehering. Das überraschte sie nicht. Matt hatte immer heiraten und eine Familie gründen wollen, sie nicht. Oder zumindest hatte sie es ihm so gesagt.

Tief in ihr war etwas, das sich auch danach sehnte. Aber sie ließ es nie an die Oberfläche. So etwas stand ihr nicht zu.

„Dr. Jensen.“ Sein Blick ging ihr durch und durch. „Ich hatte nie erwartet, dein Gesicht wiederzusehen, noch wollte ich es je wiedersehen. Aber nun ist es so.“

2. KAPITEL

Es war eine Lüge. Er wollte sie wiedersehen. Seit Jahren sehnte er sich nach ihr, obwohl sie ihm klargemacht hatte, dass sie ihn nicht wollte. Sie hatte einen Job ihm vorgezogen, und das schmerzte immer noch.

Jahre und Nächte lang verfolgte sie ihn in seinen Träumen. Wie eine Art Geist, der von seiner Seele Besitz ergriffen hatte. So intensiv, dass es unglaublich schwer war, die Erinnerungen an sie zu verdrängen.

Dann lernte er Kirsten kennen, zwei Jahre, nachdem er New York verlassen hatte. Sie war wie ein frischer Wind. Sie gab ihm das Gefühl, dass er sein Herz wieder öffnen konnte. Sie zeigte ihm, dass er lieben konnte, und als er sie heiratete, sah er ein langes, glückliches Leben mit ihr vor sich.

Doch es sollte nicht sein, denn der Krebs erhob sein hässliches Haupt, und Kirstens Leben endete viel zu früh.

Sein Herz war viel zu oft gebrochen worden. Einzig seine Arbeit war ihm danach noch wichtig. Seit Kirstens Tod hatte er sich voll und ganz hineingestürzt, um den Schmerz zu betäuben. In den letzten fünf Jahren hatte er sich nur darauf konzentriert, und schließlich kam der Erfolg.

Er war jetzt Chefarzt der Chirurgie im Ziese Memorial Hospital und kam gerade rechtzeitig für eine heikle und schwierige Domino-Operation. Matthew hatte sich vorgenommen, den besten Transplantationschirurgen zu finden, um den Eingriff zu koordinieren, aber dann sah er, dass sein Vorgänger bereits einen ausgewählt hatte, kurz bevor er in den Vorruhestand ging.

Und es war der eine Chirurg, den Matthew nie wiedersehen wollte.

Sein eigener persönlicher Dämon.

Dr. Victoria Jensen.

Es war, als hätte die Zeit sie nicht berührt. Es war, als starrte er die Frau an, der vor zehn Jahren sein Herz und seine Seele gehört hatten. Die Frau, die sein Herz genommen und zwischen ihren gepflegten Fingern zerdrückt hatte.

Ihr dunkles Haar war jetzt zu einem strengen Knoten hochgesteckt, aber er erinnerte sich gut daran, wie weich ihr Haar war, wenn sie es auf die Schultern fallen ließ. Wie es auf natürliche Weise ihr herzförmiges Gesicht rahmte, und wie seidig es sich anfühlte.

Ihre Lippen waren immer noch voll und rosig – Lippen, wie zum Küssen geschaffen. Und ihre großen braunen Augen … so ausdrucksstark. In einem Moment trübten sie sich vor Leidenschaft, und im nächsten war es, als würde in ihren Tiefen ein Höllenfeuer brennen. Besonders wenn er mit den Händen über ihre üppigen Kurven fuhr und ihr Körper unter seinen Berührungen zitterte.

Allein der Gedanke an all die Erinnerungen, die er vor zehn Jahren verbannt hatte, ließ sein Blut schneller kreisen, und er ärgerte sich, dass er sich erlaubte, wieder so an sie zu denken.

Eigentlich wollte er den Vertrag gleich wieder kündigen, aber er wusste, dass Victoria einer der besten Transplantationschirurgen der USA war, eine wichtige Unterstützung für die bevorstehende Operation. Die Operation steckte in der Klemme, und er brauchte Hilfe.

Es gab zwar Patienten und Spender, aber das war es auch schon.

Es gab keine Koordination. Kaum Laboruntersuchungen, keine Vorbereitungen. Nichts war organisiert.

Es herrschte Chaos.

Sein Vorgänger hatte die richtige Entscheidung getroffen, als er ihr die Stelle anbot, nur verstand Matthew nicht, warum sie sie angenommen hatte.

Warum hatte sie diese großartige Position in Manhattan verlassen, um nach St. Thomas zu kommen? Er war sich ziemlich sicher, dass es nichts mit der Dominochirurgie zu tun hatte. Matthew hatte einen Teil seiner Facharztausbildung dort absolviert – er wusste, dass solche Operationen in New York oft durchgeführt wurden.

Also, warum war sie gekommen?

Vielleicht hatte es mit dem Tod des Botschafters zu tun?

Matthew wusste besser als die meisten anderen, dass Patienten während einer Operation verstarben, egal, wie sehr man sich bemühte, sie zu retten. Das kam vor.

Er war vielleicht grob zu ihr gewesen, aber er musste Abstand halten. Sie auf Armeslänge halten. Und wenn sie die Victoria war, an die er sich erinnerte, dann wusste er, dass sie mit dieser Domino-Operation allein fertig wurde.

Er musste vorsichtig sein.

Kühl und distanziert.

Damit er nicht in die gleiche Falle tappte wie damals, als er noch jung und naiv gewesen war.

„Es tut mir leid, dass du so denkst“, sagte Victoria steif und durchbrach damit seine widersprüchlichen Gedanken. „Ich möchte auch nicht hier sein und mit dir arbeiten. Mir gefällt diese Situation ebenso wenig.“

„Nein?“

Ihre Wangen färbten sich rot, und er hätte schwören können, dass in ihren Augen Zorn aufblitzte.

Vielleicht hatte er den Bogen überspannt.

„Nein. Ich will nicht darüber reden, was zwischen uns passiert ist. Die Vergangenheit ist Vergangenheit, und ich bin hier, um zu arbeiten. Das heißt, wenn du mich lässt.“

Er grinste und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Das ist in der Tat eine interessante Aussicht.“

„Was meinst du damit?“

„Dass ich dich hier arbeiten lasse.“

„Nun, du bist der Chef.“ Er erkannte an ihrem Tonfall, dass sie sich über ihn ärgerte.

Und obwohl sie die Beste war, war er sich nicht sicher, ob es das Klügste war, sie in St. Thomas zu lassen und mit ihr zu arbeiten.

Es ist nicht mehr die Assistenzarztzeit.

Sie waren keine Konkurrenten mehr. Er war ihr Chef.

Es würde nicht mehr so sein wie vor zehn Jahren. Er hatte mit einer Viper geschlafen und war gebissen worden, weil er sich in sie verliebt hatte, und das würde er nicht noch einmal zulassen. Nur dass sie keine Schlange war. Und es war nicht der Verlust des Jobs, der ihn damals verletzt hatte.

Überhaupt nicht. Sondern, dass er sie verloren hatte. Dass sie die Karriere über ihn stellte, obwohl er sie jederzeit der Arbeit vorgezogen hätte.

In seinen Armen war sie so sanft gewesen. Er hatte sie so sehr geliebt.

Reiß dich zusammen.

„Und warum sollte ich dich nicht hier arbeiten lassen?“

„Ich habe keine Zeit für kindische Spielchen, Matthew.“

„Dr. Olesen“, korrigierte er schroff. Die Vertrautheit, mit der sie seinen Namen benutzte, war beunruhigend. Es fühlte sich richtig und natürlich an, und es gefiel ihm überhaupt nicht.

„Tut mir leid. Dann eben Dr. Olesen.“

„Du hast recht, ich benehme mich kindisch. Was vergangen ist, ist vergangen. Mein Vorgänger hat dich eingestellt, und ich bin bereit, den Vertrag zu erfüllen. Danke, dass du dich entschieden hast, für diese Operationen hierherzukommen.“

„Das habe ich mir nicht ausgesucht. Weißt du nicht, warum ich herkommen musste? Die Medien sind voll davon!“

„Dass der Botschafter gestorben ist? Was ist damit? Das ist sehr bedauerlich, hat aber mit meiner Domino-Operation nichts zu tun.“

Victoria seufzte. „Natürlich nicht. Trotzdem bin ich nicht freiwillig hier. Ich musste für eine Weile abtauchen, der Medienrummel war unerträglich.“

Sie wusste, dass es melodramatisch klang, aber sie war verzweifelt und zutiefst frustriert, dass die Medien und der Rest der Welt den Lügen über sie glaubten.

Während des Eingriffs war einiges passiert, das nicht ihre Schuld war. Doch wenn sie daran dachte, drehte sich ihr der Magen um, und ihr brach kalter Schweiß aus.

Und nun war Matthew ihr neuer Chef.

Matthew.

„Sag, dass du mich nicht liebst“, verlangte er.

Sie wandte den Kopf ab, weil sie ihm nicht in die Augen blicken konnte. Es brach ihr das Herz, aber sie hatte auch große Angst.

„Ich kann nicht …“

„Du kannst mich nicht einmal ansehen, Victoria.“ Er berührte ihr Kinn, und alles zog sie zu ihm hin. „Sag, dass du mich nicht liebst. Sag, dass du mich nicht willst.“

„Ich liebe dich nicht … Ich will dich nicht.“

Sie hatte Matthew damals angelogen.

Es war eine Lüge, um sich selbst zu schützen. Sie war nicht bereit, ihre emotionale oder finanzielle Sicherheit aufs Spiel zu setzen, indem sie sich auf einen anderen Menschen verließ. Sie hatte hart gearbeitet, um das Studium zu schaffen, hatte gehungert, weil sie sich zwischen Essen und den Kosten für ein Fachbuch entscheiden musste. Damals schwor sie sich, dass sie so etwas nie wieder durchmachen wollte.

Nicht einmal für die Liebe, denn Liebe konnte man verlieren.

Fähigkeiten und Fertigkeiten – chirurgische Fertigkeiten – wurden immer gebraucht. Das Wissen, das sie einmal erworben hatte, konnte ihr niemand mehr nehmen.

Sie hatte Matthew also anlügen müssen, obwohl ihre gemeinsame Zeit in New York eine der wenigen glücklichen Zeiten in ihrem Leben gewesen war. Selbst heute noch gab es Momente, in denen sie sich fragte, ob sie sich richtig entschieden hatte.

Die Lüge hatte ihren Schaden angerichtet. Es war klar, dass Matthew sie hasste. Doch sie würde damit klarkommen, auch wenn es wehtat.

„Was genau ist passiert?“, fragte Matthew ruhig.

In seiner Stimme lag kein Tadel, nur professionelle Neugierde.

Sie seufzte erleichtert auf. „Ein Blutgerinnsel.“

„Beschreib mir den Ablauf“, fragte er ruhig.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Es war wie in den alten Zeiten, als sie gemeinsam an einem Fall gearbeitet hatten und sie überfordert gewesen war. Es hatte immer geholfen, mit ihm darüber zu sprechen. Sie vermisste das. Es war beruhigend gewesen.

„Wir haben bei dem Botschafter eine Leber- und Darmtransplantation durchgeführt, und dann traten Komplikationen auf. Sein Blutdruck stieg. Sein Herz blieb stehen. Wir konnten ihn stabilisieren, aber dann setzte wieder Herzrasen ein. Dann traten starke Blutungen auf. Ich bekam sie unter Kontrolle, aber eine Sache führte zur nächsten. Es kam zu einem Multiorganversagen, und an der Nahtlinie löste sich ein Blutgerinnsel. Ich konnte es nicht rechtzeitig entfernen. Zu dem Zeitpunkt bestand keine Chance mehr, ihn zu retten. Ich hatte schon vorher Bedenken geäußert, die Operation überhaupt durchzuführen. Er war zu schwach, um einen so komplexen Eingriff zu überstehen.“

„Warum hast du es dann getan?“

„Der Patient hat mich unter Druck gesetzt. Er bestand darauf, dass ich ihn operiere. Meine Vorgesetzten haben ihn unterstützt. Aber ich hätte es nicht tun dürfen.“

Er nickte. „Ja. Ich gebe dir recht, dass du die Operation nicht hättest machen sollen, wenn dein Bauchgefühl dir davon abgeraten hat, aber eins verstehe ich nicht.“

„Was?“, fragte sie.

„Warum musst du abtauchen?“ Seine Augen blickten wärmer, und sie atmete erleichtert auf.

Victoria lächelte matt. „Die Medien haben sich auf die Story gestürzt und nach einem Sündenbock gesucht. Dabei übersahen sie, dass der Botschafter bereits schwer krank war und es bei einer solchen Operation keine Überlebensgarantie gibt. Wäre sie gut verlaufen, wäre ich eine Heldin gewesen. Aber da das nicht der Fall war, wurde ich von den Medien und der Öffentlichkeit wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt. Der Klinik-Vorstand schlug vor, dass ich vorübergehend diese Stelle übernehme, bis sich die Lage beruhigt hat. Also warte ich hier die Ergebnisse der Autopsie ab.“

Matthews Gesicht entspannte sich, und sie war froh, ihn verständnisvoll zu sehen, nicht mehr kalt und distanziert wie vorhin, als sie in sein Büro gekommen war.

„Ich kann verstehen, weshalb du New York verlassen hast.“

Sie nickte. „Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Medien werden sich hoffentlich bald auf etwas anderes stürzen.“

Er lächelte schwach. „Und du hattest keine Ahnung, dass ich gerade zum neuen Chef ernannt worden war, als du zugestimmt hast, herzukommen?“

Victoria atmete aus. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. „Richtig.“

„Nun, es scheint, dass wir beide in einer schwierigen Situation sind. Es tut mir leid, dass die Öffentlichkeit dir den Tod des Botschafters anlastet. Da ich weiß, wie heikel Transplantationen sein können, weiß ich, dass dich keine Schuld trifft. Unser Krankenhaus braucht dich für diese Domino-OP. Für dich ist es eine Routineoperation, aber hier im Ziese Memorial führen sie selten derart schwierige Eingriffe durch. Deshalb weiß ich es zu schätzen, dass du deine Erfahrung und Kenntnisse zur Verfügung stellst.“

„Du willst, dass ich bleibe?“

„Ja. Wie du schon gesagt hast, wir können die Vergangenheit hinter uns lassen und wie andere Kollegen gut zusammenarbeiten.“

„Stimmt, das können wir.“

„Okay.“

Erleichterung erfasste sie. Vielleicht hatte Paul recht, und sie konnte hier einfach abtauchen. Vielleicht war es genau der richtige Ort für sie, bevor sie nach Manhattan und in ihr normales Leben zurückkehren konnte.

Dein einsames und langweiliges Leben.

Victoria vertrieb den Gedanken rasch wieder. Schließlich hatte sie sich aus freien Stücken für dieses Leben entschieden. Sie würde sich in ihre Arbeit stürzen und die Domino-Operation durchführen. Für den nächsten Monat konnte sie tun, was sie wollte. Der einzige Haken: Sie musste mit Matthew Olesen zusammenarbeiten.

Oder besser gesagt, unter Matthew arbeiten. Er war ihr neuer Chef. Sie waren nicht gleichgestellt.

Vielleicht war der Himmel der Meinung, dass sie etwas Demut und Sühne brauchte, weil sie ihre Karriere ihm vorgezogen hatte. Der nächste Monat würde zweifelsohne Strafe genug sein.

Aber sie konnte durchaus Abstand halten. Zehn Jahre waren genug Zeit, um über jemanden hinwegzukommen.

Oder?

„Danke, dass ich hier arbeiten darf. Ich freue mich darauf, die Patienten kennenzulernen und mich in den Fall einzuarbeiten.“

„Gesagt, getan.“ Matthew stand auf. „Komm, ich bringe dich in den Besprechungsraum, wo wir alles vorbereitet und Informationen der überweisenden Ärzte vorliegen haben.“

„Das klingt gut, Dr. Olesen.“

Matthew runzelte die Stirn. „Nein, das ist nicht richtig.“

„Du hast gesagt, ich soll dich so nennen“, erklärte sie. „Oder wäre es dir lieber, wenn ich Chef sage?“

„Das gefällt mir auch nicht besonders.“

„Wie dann? Blödmann? So habe ich dich früher manchmal genannt.“

Um seine Mundwinkel zuckte es. „Hier geht es ziemlich locker zu, und es tut mir leid, dass ich mich wie eine Nervensäge benommen habe. Wenn wir eng zusammenarbeiten, wird es allen anderen seltsam vorkommen, wenn du mich mit Dr. Olesen ansprichst. Sie würden Fragen stellen, und ich behalte mein Privatleben gerne für mich.“

„Ich auch. Deshalb ziehe ich es vor, nicht darüber zu sprechen, warum ich hier bin. Tratsch und Klatsch der letzten Wochen reichen mir für den Rest meines Lebens.“

„Okay.“ Matthew öffnete die Tür und bedeutete ihr, voranzugehen.

Sie verließen sein Büro, und er ging schnell, sodass sie schon bedauerte, Schuhe mit hohen Absätzen angezogen zu haben. Aber sie gab ihr Bestes, um mit ihm Schritt zu halten.

Sie war froh, dass er bei ihr war. Wenn sie an Mitarbeitern vorbeikamen, lächelte er oder hob grüßend die Hand. Doch sein Lächeln erreichte nicht mehr die Augen, so wie früher. Dabei hatte sie genau das an Matthew Olesen immer gemocht. Dass er dieses Lächeln mit seinem ganzen Wesen ausstrahlte und einem das Gefühl gab, dass er ein Freund war. Entsprechend entspannt waren seine Patientinnen und Patienten, wenn er zu ihnen ans Krankenbett trat.

Auch darum hatte sie ihn beneidet: Wie Matthew am Krankenbett sofort Vertrauen herstellte, das strebten alle in ihrem Studiengang an, aber nur ihm schien es mühelos zu gelingen.

Als sie durch die Flure des Ziese Memorial Hospitals gingen, merkte sie, dass sich etwas verändert hatte – der Mann, den sie einst so gut gekannt hatte, war irgendwie anders. Und dann fiel ihr Blick wieder auf den goldenen Ring an seinem Finger.

Er war verheiratet. Er war tabu.

Ihr wurde das Herz schwer.

Warum sollte er nicht verheiratet sein?

Matthew war ein wunderbarer Mann, der eine Frau im Sturm erobern konnte. Das wusste sie aus eigener Erfahrung. Doch sie hatte ihn von sich gestoßen.

Dass er so verändert wirkte, könnte daran liegen, dass eine Familie auf ihn wartete und er beruflich stark eingespannt war. Paul sagte immer, eine Familie sei eine Last und würde einen ausbremsen. Nicht förderlich für eine Chirurgenkarriere.

Wahrscheinlich hatte Matthew wenig Lust, Zeit mit ihr zu verbringen und ihr, der neuen Mitarbeiterin, das Krankenhaus zu zeigen. Bestimmt wollte er nach Hause und bei seiner Familie sein. Victoria fragte sich, wie seine Kinder wohl aussahen.

Kinder hatten schon immer zu Matthews Zukunftsplänen gehört – aber nicht zu ihren.

Lügnerin.

Eigentlich wollte auch sie unbedingt Kinder haben, aber sie hatte fürchterliche Angst davor. Die bedrückenden Erinnerungen daran, wie sie von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht wurde und in keiner geborgen war, schmerzten wie eine tiefe Wunde. Sie konnte nicht zulassen, dass das ihren Kindern passierte, falls ihr jemals etwas zustoßen sollte.

Victoria schüttelte die unwillkommenen und unangenehmen Gedanken ab, als Matthew stehen blieb und die Tür zu einem kleinen Besprechungsraum öffnete. Sie sah einen Stapel Krankenakten und ein Whiteboard.

Beim Anblick der Weißwandtafel stöhnte sie stumm auf. Die Organ-Empfänger hätten schon getestet, Spender und ein OP-Plan besprochen sein müssen.

Stattdessen starrte sie auf eine leere Tafel und Patienten-Unterlagen.

Man war mit der Planung dieser Operation wirklich noch nicht weit gekommen, und sie hatte nur einen Monat Zeit, um das alles zu organisieren? Sie würde viel zu tun haben.

Kein Wunder, dass sie Hilfe brauchten.

Matthew konnte sehen, dass Victoria besorgt war, als er die Tür zum Sitzungszimmer öffnete. Ihm waren die gleichen Gedanken gekommen, als er die Leitung der Chirurgie übernahm. Die Domino-Operation lag weit hinter der Planung zurück, und zu diesem Zeitpunkt war er sich nicht einmal sicher, ob sie einen so heiklen und komplizierten Eingriff in dem ihnen zugestandenen Zeitrahmen durchführen konnten.

Es gab so viele Faktoren, und nichts ging voran. Alles war zum Stillstand gekommen, und er wusste, dass sämtliche Beteiligten frustriert waren.

Sein eigener Bruder, der einen seiner Patienten von der Insel St. John für diese Operation überwiesen hatte, rief ihn ständig an, um sich über den Fortgang zu informieren, und das ging Matthew langsam auf die Nerven.

Er verstand, wie frustrierend es für einen Arzt war, warten zu müssen. Es störte ihn auch, weil es sein Zwillingsbruder Marcus war, und sie hatten nicht gerade das beste Verhältnis zueinander.

Marcus rief nur an, wenn er etwas wollte.

Du rufst ihn auch nicht an.

Matthew verdrängte diesen Gedanken rasch.

Sie mochten eineiige Zwillinge sein, aber ihr Aussehen war auch schon das Ende der Gemeinsamkeiten.

Marcus war zwanzig Minuten jünger und verhätschelt worden, der typische kleine Bruder. Da sie vom elften Lebensjahr an bis zum Schulabschluss im Internat aufgewachsen waren, hatte Matthew viel Zeit damit verbracht, Marcus zu erziehen, anstatt nur sein Bruder zu sein. Das war anstrengend gewesen. Sogar während des Medizinstudiums musste Matthew ihm beim Lernen helfen, weil Marcus es vorzog, unter Leute zu gehen und zu feiern. Das frustrierte ihn. Obwohl Marcus Arzt war, war er zu locker, zu leichtlebig, fand Matthew.

Matthew mochte Kontrolle und Planung – deshalb war er Chirurg geworden. Der Operationssaal war sein Glücksort. Alles an seinem Platz und alles in bester Ordnung.

Deshalb war Matthew jetzt Chefarzt der Chirurgie am Ziese Memorial Hospital, und sein Zwillingsbruder lebte auf einem Boot vor der Küste von St. John. Nur manchmal beneidete er Marcus insgeheim ein bisschen um seinen sorglosen Lebensstil.

Marcus traf sich mit Frauen, ließ sich aber auf keine näher ein. Es waren unverbindliche Affären. Matthew konnte das nicht. Das war nicht sein Stil. War es nie gewesen.

Matthew fehlte ihre frühere Beziehung, damals, bevor sie in die Pubertät kamen. Bevor sie beide hitzköpfige Teenager wurden und sich in dasselbe Mädchen verliebten. Dieses Mädchen war nicht die Ursache für ihre Spannungen gewesen, nur der Auslöser.

Und obwohl keiner von ihnen das Mädchen bekam, verschlechterte sich ihre angespannte Beziehung von da an immer mehr.

So sehr, dass sie nun praktisch Fremde füreinander waren, nur zufällig leibliche Geschwister.

Auf beiden Seiten gab es kein Vertrauen mehr. Nur Vorwürfe, Kälte und Verletzungen.

Diese Verzögerung der Domino-Operation war ihrer Beziehung auch nicht gerade zuträglich. Matthew wollte Marcus’ Patienten und all den anderen helfen, aber er brauchte Unterstützung.

Und genau da kam Victoria ins Spiel.

Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Ich weiß, es ist wenig. Mein Vorgänger war nicht gerade groß im Organisieren.“

Das war die Untertreibung des Jahres. Allen Menschen auf der Liste lief die Zeit davon. Die Operation musste stattfinden, und zwar möglichst bald.

Victoria nahm eine der Akten zur Hand. „Das stimmt. Du weißt, dass eine Menge Tests durchgeführt werden müssen, um sicherzustellen, dass die Antikörper übereinstimmen. Man kann nicht einfach sagen: ‚Ich spende dir eine Niere‘, sonst wäre keine Domino-Operation nötig.“

Matthew verzog das Gesicht. „Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst. Aber ich bin froh, dass du hier bist. Wenn ich nicht die Aufgaben des Chefarztes der Chirurgie übernommen hätte, dann würde ich das alles selbst erledigen.“

Victoria zog eine Braue hoch. „Und wie viele Domino-OPs hast du schon durchgeführt?“

„Was soll die Frage?“ Matthew verschränkte genervt die Arme. „Willst du andeuten, dass mir die Kompetenzen fehlen?“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Nun, ich weiß, dass Dr. Martin nicht viel von unserem Krankenhaus hält. Da er dein Mentor war, habe ich angenommen, dass du genauso denkst.“

Victoria verdrehte die Augen. „Da hast du falsch gedacht. Außerdem hat Dr. Martin vorgeschlagen, dass ich an seiner Stelle hierherkomme.“

„Hat er das? Wärst du darauf eingegangen, wenn du gewusst hättest, dass ich hier jetzt der Chefarzt bin?“

Sie wurde rot. „Ich weiß es nicht.“

„Du musst gewusst haben, dass ich auf die Virgin Islands zurückgekehrt bin. Du musst gewusst haben, dass ich hier lebe.“

„Warum? Ich habe deine chirurgische Karriere nicht verfolgt, seit du Manhattan verlassen hast, also weiß ich nicht, wie viele Domino-Operationen du durchgeführt hast. Ich musste an meine eigene Karriere denken.“

Es tat weh, sie das sagen zu hören, aber es bestätigte seine Vermutung. Er war ihr längst nicht so wichtig gewesen wie sie ihm.

„Als ich New York verließ, kam ich hierher, um zu arbeiten, und seither habe ich an einer Domino-Operation mitgewirkt.“ Nervös rieb er sich den Nacken. „Es ist schon eine Weile her, aber ich weiß, wie es geht.“

Victoria legte die Akte hin. „Ich werde mich sofort an die Arbeit machen und herausfinden, ob jemand unter unseren Patienten einen Spender hat, der bereit ist, sich testen zu lassen.“

„Ich helfe dir“, bot Matthew an.

„Es könnte spät werden bei den vielen Informationen, die durchzusehen sind.“

„Ja, und?“, fragte er verwirrt.

Und dann landete ihr Blick auf seiner Hand, an der er immer noch den Ring trug. Kirsten war seit fünf Jahren tot, aber er konnte sich einfach nicht dazu durchringen, den Ring abzunehmen. Und als Victoria ihn ansah, kam alles wieder an die Oberfläche.

All die glücklichen Erinnerungen an Kirsten, die ihm jetzt nur Kummer bereiteten, weil er sie so sehr vermisste. Die gemeinsame Zeit war zu kurz gewesen. Kirsten erkrankte unheilbar an aggressivem Eierstockkrebs. Sie war wie eine flüchtige Sternschnuppe – viel zu schnell war sie wieder aus seinem Leben verschwunden.

„Du bist verheiratet“, sagte sie sanft. „Möchte deine Frau nicht, dass du zum Abendessen nach Hause kommst?“

„Nein“, erwiderte er steif. „Nein, ich habe keine Frau.“

Ihre Wangen röteten sich. „Das tut mir leid. Ich habe einfach angenommen …“

„Ist schon gut. Meine Frau ist vor Jahren gestorben. Es ist kein Problem, wenn ich heute Abend lange arbeite. Ich würde es sogar vorziehen, länger zu arbeiten und diese Operation voranzubringen, bevor den Patienten die Zeit wegläuft.“

Denn gerade er wusste, wie schnell die Zeit vergehen konnte.

3. KAPITEL

Victoria versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, während sie Akten durchging. Aber es fiel ihr schwer, wenn Matthew ihr gegenüber saß und sie immer noch damit beschäftigt war, seine Enthüllung zu verarbeiten, dass er Witwer war.

Er tat ihr leid.

Zuerst war sie eifersüchtig gewesen, aber jetzt hatte sie deswegen ein schlechtes Gewissen. Ihr tat das Herz weh, wenn sie an seinen Verlust dachte. Es war offensichtlich, dass er seine verstorbene Frau immer noch liebte.

Victoria hatte von klein auf gelernt, dass es nur einen Menschen gab, auf den sie sich verlassen konnte, und das war sie selbst. Aber Matthew war anders. Das hatte sie vom ersten Moment an gewusst, als sie ihn kennenlernte und auf die ersehnte Stelle hinarbeitete, die sie schließlich bekam.

Es hatte sie erschreckt, wie sehr sie ihn begehrt hatte.

Welche Gefühle er bei ihr in der kurzen Zeit, die sie zusammen waren, ausgelöst hatte. Sie hatte solche Angst gehabt, dass ihr das Herz gebrochen werden könnte, und es war so viel einfacher gewesen, ihn von sich zu stoßen.

Es war besser so.

Wirklich?

Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie fragte sich, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie sich statt auf ihre Karriere auf ihn eingelassen hätte.

Er war ein Fremder. Obwohl es zwischen ihnen heftig zur Sache gegangen war, hatte keiner von ihnen allzu viel über persönliche Dinge gesprochen.

Sie waren schließlich Konkurrenten gewesen.

Sie verscheuchte diesen Gedanken.

Victoria blickte wieder auf ihre Arbeit. Sie hatte sich richtig entschieden. In der Liebe war nichts sicher.

Sieh dir Matthew an – er ist Witwer. Ihm brach das Herz, als seine Frau starb.

Nicht ohne Grund hatte sie sich nicht an Menschen gebunden.

Es gab eine Zeit in ihrem Leben, in der sie das getan hatte. Sie hatte davon geträumt, dass ihr Vater oder ihre Großeltern väterlicherseits, die sie nie kennengelernt hatte, kommen und sie zu sich holen würden, ihr ein Zuhause, Sicherheit gaben. Aber mit jedem Jahr, das verging, wurde sie mehr und mehr enttäuscht, und so war es einfacher, sich von ihren Träumen zu lösen.

Wenigstens hatte Matthew eine Familie gehabt, die ihn unterstützte. Eltern und eine Frau.

Es tat ihr weh, dass er jemanden verloren hatte, den er offensichtlich liebte.

Als spürte er, dass sie ihn betrachtete, blickte er von der Akte auf, an der er arbeitete. „Ist etwas?“

Wärme kroch ihr den Nacken hinauf, und sie räusperte sich. „Nichts, nur ein bisschen Jetlag.“

Er lächelte verwundert. „Wie das? Wir sind in derselben Zeitzone.“

Verflixt.

„Hey, es ist durchaus ein wenig anstrengend, Manhattan hinter sich zu lassen und hierher zu kommen in dieses …“

„Tropische Paradies?“, bot er an, und seine Augen funkelten vergnügt. So wie früher. Genau das Glitzern, das ihr immer weiche Knie bescherte. Das ihr Herz heftiger schlagen ließ.

„Vermutlich.“ Und sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie war im Paradies. Hier konnte sie sich verstecken und das tun, was sie am meisten liebte.

Arbeiten.

„Ich weiß, es ist eine Menge Arbeit und wahrscheinlich viel unorganisierter, als du es gewohnt bist.“

„Kein Problem.“ Seufzend richtete sie sich auf. „Ich schaffe das schon. Ich kann und will helfen.“

Sie war eine gute Chirurgin, mochten die Medien in New York auch etwas anderes behaupten. Sie brauchte nur das zu tun, was sie immer tat – sich in ihre Arbeit stürzen und alles andere ignorieren. Besonders die Gefühle, die Matthew in ihr weckte.

Sie war nicht seinetwegen hier.

Allein ihretwegen. Nur, dass sie bei dieser Erkenntnis Magendrücken bekam. Seit wann war sie so egoistisch? Sie war Chirurgin, nicht nur wegen der Jobsicherheit, sondern weil sie Menschen helfen wollte. Und als sie auf den Stapel Patientenunterlagen starrte, wurde ihr klar, dass es hier viele Menschen gab, die sie brauchten.

Wie lange mochten sie schon warten? Sie hoffte sehr, dass alle die Operationen gut überstanden. Transplantationen belasteten den Körper, und danach mussten alle Organempfänger für den Rest ihres Lebens Medikamente zum Schutz vor Abstoßungsreaktionen einnehmen.

Matthews Telefon klingelte, er nahm ab und blickte stirnrunzelnd aufs Display. Victoria bekam ein flaues Gefühl im Magen.

„Was ist?“, fragte sie.

„Es ist eine Patientin, die wir in die Domino-Operation einbeziehen wollen. Sie ist in der Notaufnahme, und die Kollegen wollen, dass ich komme. Es sieht nicht gut aus.“

„Kann ich helfen?“ Sie befürchtete, dass er ihr sagen würde, sie solle sich weiter um die Akten kümmern.

„Aber natürlich. Komm mit, wir sehen nach Mrs. Van Luven.“ Matthew zog seinen Kittel von der Stuhllehne und streifte ihn über, bevor er zur Tür eilte.

Erleichtert nahm sie die Patientenakte aus dem Stapel und folgte Matthew. Er gab ihr eine Chance. Das hätte er nicht tun müssen, und sie war ihm dankbar dafür. Es war, als ob keine Zeit zwischen ihnen vergangen wäre. Ihr Herz schlug schneller, und ihr brannten die Augen.

Es war schön, wieder jemanden zu haben, der ihr vertraute.

Gewöhn dich nicht an ihn. Du wirst nicht hierbleiben.

Daran sollte sie sich immer wieder erinnern, denn sobald der Wirbel in Manhattan sich gelegt hatte und die Medien sie vergessen hatten, konnte sie nach New York und zu ihrem alten Job zurückkehren.

Zu dem, den sie bekommen hatte und Matthew nicht.

Im Moment fühlte sie sich nicht wie eine Gewinnerin und war dankbar, dass er ihr eine Chance gab. Sie war eine gute Chirurgin. Sie wollte sich nicht von einer seltenen Komplikation und den Medien einreden lassen, dass dem nicht so war.

Da die Patientin gefährdet war und auf der Spenderliste stand, hatte man sie isoliert, um sie nicht der Ansteckungsgefahr durch gefährliche Keime auszusetzen. Auf dem Weg zu ihr war Victoria von der Ausstattung des Krankenhauses beeindruckt. Es konnte sich durchaus mit ihrer Klinik in Manhattan vergleichen.

Das Ziese Memorial war neu und umgeben von der traumhaft schönen Hauptstadt Charlotte Amalie.

Victoria war ein wenig neidisch auf Matthew. Sie hatte sich so sehr auf New York konzentriert, doch angesichts dieses wunderschönen Krankenhauses in der Karibik wusste sie nicht mehr richtig, warum.

Matthew setzte sich eine Maske auf, und Victoria nahm sich ebenfalls eine aus der Schachtel, bevor sie hineingingen.

„Mrs. Van Luven, ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, dass ich Sie in nächster Zeit nicht hier sehen will“, scherzte Matthew.

Die Frau mittleren Alters lachte, ihre tief liegenden Augen blitzten. Aber der gelbliche, wächserne Teint verriet, dass ihre Nieren nicht mehr richtig arbeiteten. „Es tut mir leid, Dr. Olesen, ich kann einfach nicht anders.“

„Ich habe Ihnen eine weltberühmte Spezialistin mitgebracht.“

Mrs. Van Luvens Blick ruhte auf Victoria. „Tatsächlich?“, meinte sie lächelnd.

„Das ist Dr. Jensen aus New York. Sie ist Transplantationschirurgin. Eine der Besten.“

Victoria errötete und war froh, dass die Maske ihre Reaktion auf sein Kompliment verbarg.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Van Luven“, sagte sie.

„Werden Sie helfen, die Operation voranzubringen?“, fragte Mrs. Van Luven hoffnungsvoll. „Ich warte schon seit einiger Zeit, und ich bin zu krank, um die Insel zu verlassen.“

Victoria nickte. „Ich habe es vor.“

„Oh, gut.“ Mrs. Van Luven schloss die Augen und lehnte sich sichtlich müde ins Kissen.

„Was hat sie heute hierhergebracht?“, wandte sich Matthew an den Arzt der Notaufnahme.

„Sie hatte ihre regelmäßige Dialyse, und die Dialyseabteilung hat sie hergeschickt, weil sie nicht genug ausscheidet und ihre Werte gestiegen sind.“

Der Arzt reichte Matthew ein Tablet, das alle Tests zeigte.

Victoria beugte sich vor, um einen Blick auf die Informationen zu werfen.

Sie runzelte die Stirn, als sie die Blutbildwerte sah. Die Dialyse funktionierte nicht, und Mrs. Van Luven stand kurz vor dem Nierenversagen.

Ein schwieriger Fall.

„Wie sieht es aus?“, fragte Mrs. Van Luven schwach, ohne die Augen zu öffnen.

Matthew und Victoria wechselten einen bedeutungsvollen Blick.

„Ich denke, wir werden Sie hierbehalten, Mrs. Van Luven.“ Matthew reichte seinem Kollegen das Tablet zurück.

„Ist das nötig?“ Mrs. Van Luven klang bedrückt.

„Ich fürchte, ja. Sie werden unter Beobachtung bleiben müssen, während Sie auf Ihre Transplantation warten“, sagte Matthew sanft.

„Sie meinen, bis ich eine Transplantation bekomme … oder sterbe“, antwortete sie leise.

„Hier können wir Sie genau überwachen und Ihnen die Medikamente geben, die Sie brauchen“, erklärte Victoria. „Auf diese Weise muss ich Sie nicht ständig herbitten, um die Kreuzprobentests zu machen, die ich zur Vorbereitung der Operation brauche.“

Es war keine Lüge, aber Mrs. Van Luven brauchte auch nicht gesagt zu werden, dass ihre Nieren versagten oder dass sie im Sterben lag. Victoria glaubte fest an die Kraft des Lebenswillens. Die Patienten mussten wissen, dass sie eine Chance hatten.

Die Augen von Mrs. Van Luven leuchteten auf. Als ob sie verstanden hätte. Es gab der Patientin einen Hauch von dem, was nach Victorias Meinung manchmal die wirksamste Medizin der Welt war – Hoffnung.

Matthew konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als Victoria Mrs. Van Luven diese Dosis Hoffnung gab, denn ihre Werte waren nicht ermutigend.

Mrs. Van Luven war dreiundvierzig Jahre alt, und ihr drohte akutes Nierenversagen.

Matthew wusste, dass zu Hause zwei Kinder im Teenageralter und ein liebender Ehemann auf sie warteten.

Sie war zu jung, um zu sterben, aber das war Kirsten auch gewesen.

Und das war die Seite des Arztberufs, den er am meisten hasste – jemanden zu verlieren. Dem Tod den Sieg überlassen zu müssen.

Dann fühlte er sich wie ein Versager.

Matthew vertrieb diese leise Stimme. Victoria war hergekommen und hatte der Patientin Hoffnung gemacht, indem sie nicht mehr versprach als eine erstklassige Krankenhausversorgung, wie sie im Ziese Memorial geboten wurde. Aber er hatte die Worte nicht sagen können, und das machte ihm zu schaffen

Wann hatte er das letzte Mal Hoffnung verspürt?

Wann war er so abgestumpft und rührselig geworden?

Er lächelte, während er Victoria beobachtete. Er hatte vergessen, wie klug sie war. Wie gut sie mit Patienten umgehen konnte. Was sie selbst von sich nicht behaupten würde. Doch damit lag sie falsch.

Victoria versuchte immer, cool und distanziert zu wirken, so, als ob sie niemanden bräuchte. Aber er kannte ihr wahres Ich. Die mitfühlende, fürsorgliche Chirurgin, die sie zu verbergen versuchte.

Das war die Frau, in die er sich verliebt hatte.

Aber auch die Frau, die ihm das Herz gebrochen hatte.

„Dr. Tremblay wird Sie einweisen, und ich werde später nach Ihnen sehen. Wo ist Ihr Mann?“, fragte Matthew.

„Rick ist zur Arbeit gefahren“, sagte Mrs. Van Luven. „Er wollte mich nicht allein lassen, aber ich habe ihn beruhigt, weil ich dachte, es ist heute alles okay. Er wird am Boden zerstört sein, wenn er erfährt, dass ich hierbleiben muss.“

Matthew kannte dieses Gefühl nur zu gut. „Ich werde Rick persönlich anrufen und ihn wissen lassen, was los ist.“

Mrs. Van Luven nickte. „Vielen Dank, Dr. Olesen und Dr. Jensen.“

„Nichts zu danken. Ich werde bald ein paar Labortests mit Ihren Kreuzproben durchführen. Versuchen Sie, sich auszuruhen“, fügte Victoria hinzu, bevor sie die Notaufnahme verließen und die Glasschiebetür hinter sich schlossen. Victoria nahm ihre Maske ab, entsorgte sie und desinfizierte sich die Hände.

Matthew ebenfalls. „Du warst großartig.“

„Wieso? Ich habe nur meine Arbeit gemacht.“

„Ja, aber damals als Assistenzärztin hast du gesagt, du wärst nicht besonders gut im Umgang mit Patienten. Das warst du doch und bist es auch immer noch.“

Victoria schüttelte abwehrend den Kopf. „Nein, das stimmt nicht.“

„Doch. Du hast ihr Hoffnung gegeben.“

Ihre Wangen färbten sich rosig, und sie räusperte sich. „Du warst immer besser am Krankenbett.“

„Wohl kaum.“

„Doch. Darum habe ich dich immer beneidet.“

Wovon redete sie? Sein Zwillingsbruder war viel charmanter. „Ach, komm, kannst du nicht mal ein Kompliment annehmen? Ich meine, ich weiß, dass du dich gerne unnahbar, kühl und distanziert gegenüber Patienten gibst, aber du bist alles andere als das.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wann habe ich jemals gesagt, dass ich eine gewisse Distanz zu meinen Patienten bevorzuge?“

„Vor zehn Jahren, als ich dich kennenlernte“, erinnerte Matthew sie.

Als er sie das erste Mal gesehen hatte, fühlte er sich sofort zu ihr hingezogen, doch dann hatte sie den Mund aufgemacht, und er war lange Zeit ziemlich genervt von ihr gewesen.

Sie versuchte immer, knapp und sachlich zu wirken, aber er durchschaute ihre Fassade und wusste, dass ihr die Menschen wichtig waren. Es ging ihm ein wenig auf die Nerven, dass sie ihre weiche Seite immer noch verleugnete. Als ob sie Angst davor hätte.

Es war nichts falsch daran, empfindsam zu sein.

Verletzlich.

Und er spürte ihre Verletzlichkeit.

„Nun“, sagte sie und räusperte sich erneut. „Vielleicht, aber ich glaube nicht, dass ich darin besonders begabt bin.“

„Wenigstens gibst du zu, dass du dich um deine Patienten sorgst. Als ich dich das erste Mal traf, wolltest du das nicht zugeben.“

„Es ist kompliziert“, antwortete Victoria. „Ich sorge mich … ich meine … ach, egal.“

„Egal was?“

Was hatte sie zu verbergen? Warum musste sie immer so verschlossen sein? Sie hatte sich nicht verändert.

Hattest du das etwa erwartet?

Sie errötete erneut. „Müssen wir jetzt darüber reden?“

„Warum nicht?“

„Weil wir mitten in einer belebten Notaufnahme stehen?“

„Du bist also bereit, mit mir zu reden. Nur nicht hier?“, fragte er.

Victorias Gesicht verfinsterte sich, sie bekam den „Ich bringe dich um“-Blick. Ihm war klar, dass er sie auf die Palme brachte, aber er konnte sich nicht zurückhalten. Auch wenn er es nicht sollte, verfiel er dennoch automatisch in die alte Gewohnheit, selbst noch nach zehn Jahren.

„Gut“, sagte sie steif und presste die Lippen zusammen. „Nur nicht hier.“

„Okay, wie wäre es dann, wenn wir heute Abend essen gehen und uns unterhalten? Du weißt schon, wie in den guten alten Zeiten. Ein Arbeitsessen, während wir die Operation planen.“

Es überraschte ihn sehr, dass er sie zum Essen einlud. Das hatte er nicht vorgehabt, aber es war ihm einfach herausgerutscht. Andererseits wäre es nicht schlecht, mit jemandem zu Abend zu essen. Normalerweise waren seine Abendessen eher einsam und bedrückend. Er hasste es, aber das war die Realität. Er hatte geliebt und verloren, zwei Mal, und er hatte nicht vor, sein Herz noch einmal zu riskieren.

Ein Arbeitsessen wäre eine nette Ablenkung.

Sie blickte ihn mit großen Augen an. „Okay“, sagte sie schließlich, sichtlich verwirrt. „Und wo? Ich kenne mich auf der Insel nicht so gut aus …“

„Ich weiß ein Lokal. Nicht weit vom Krankenhaus entfernt.“

Sie nickte. „Einverstanden.“

Was tue ich hier eigentlich?

Matthew war sich nicht sicher, was über ihn gekommen war. Er wollte nicht, dass sie Mitleid mit ihm empfand. Er hatte es satt, dass er anscheinend für alle der arme Witwer war. Sogar sein Zwillingsbruder, der sich ständig über ihn ärgerte, warf ihm manchmal diesen mitleidigen Blick zu, der ihn jedes Mal wütend machte.

Es war fünf Jahre her, dass Kirsten gestorben war. Es tat immer noch weh, aber er wollte kein Mitleid.

Vor allem nicht von Victoria.

Nicht von der Frau, die ihm das Herz gebrochen hatte.

Warum gehst du dann mit ihr essen?

Weil sie ihm leidtat! Ihre Karriere war auf Eis gelegt. Seine nicht. Sie versteckte sich, und er hatte nichts zu verbergen.

Wirklich nicht?

„Also, wollen wir uns in der Eingangshalle treffen?“ Victoria brach das unangenehme Schweigen.

„Ja.“

„Gut. Ich sollte mich jetzt aber wieder um die Laborwerte und die Patientenprofile kümmern.“

„Soll ich dich in den Konferenzraum zurückbringen?“

Victoria schaute weg und schob eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, hinters Ohr.

Er hatte es schon immer lieber gemocht, wenn sie ihr Haar offen trug, aber ihren schlanken Hals zu sehen, weckte Erinnerungen. Lebhafte Erinnerungen daran, wie sie reagierte, wenn er sie dort küsste.

Was ist los mit dir?

„Nein. Alles gut. Ich treffe dich um sieben in der Lobby.“

Er rieb sich verlegen den Nacken, während er versuchte, die erotischen Bilder zu vertreiben.

„Klingt gut.“

Victoria nickte und ging. Matthew sah ihr nach. Er konnte den Blick nicht von ihr und ihren Kurven losreißen. Er fluchte leise vor sich hin, während er sich mit der Hand durchs Haar fuhr, völlig frustriert über sich.

Selbst nach all dieser Zeit fühlte er sich immer noch zu ihr hingezogen.

Begehrte sie immer noch.

Ein Abendessen mit ihr war eine schlechte Idee.

Er wandte sich ab und stieß direkt mit jemandem zusammen, weil er nur wegwollte und nicht aufgepasst hatte.

„Tut mir leid“, murmelte er.

„Du entschuldigst dich sonst nie bei mir. Obwohl du das öfter tun solltest“, spottete der Mann.

Matthew stöhnte auf.

Sein Zwillingsbruder war nicht der Mensch, den er im Moment sehen wollte. Hatte man ihn heute nicht schon genug gequält?

„Ich dachte, du kommst nur ungerne auf meine Insel?“, meinte Matthew trocken.

„Stimmt. Ich bevorzuge St. John, aber da du meine Anrufe ignorierst …“

Matthew seufzte. „Ich ignoriere dich nicht. Ich war sehr beschäftigt.“

Marcus zog eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Tatsächlich? Das ist nicht dein üblicher Modus Operandi.“

„Wovon redest du?“, fragte Matthew.

„Normalerweise ignorierst du mich, aber mein Patient …“

„Du rufst mich auch nicht privat an“, wehrte sich Matthew.

„Ich bin beschäftigt“, sagte Marcus. „Ich gehe aus und treffe mich mit Freunden. Du arbeitest nur.“

„Arbeit ist wichtig.“

„Zu leben auch.“

„Wir haben auf die Ankunft des ausführenden Chirurgen gewartet. Verschone mich, Marcus! Ich tue mein Bestes.“

Marcus sah ihn scharf an. „Mein Patient liegt im Sterben, Matthew.“

Matthew spürte einen Stich des Mitgefühls. Er konnte den Schmerz in der Stimme seines Bruders heraushören, und dieser Ton der Verzweiflung war ihm sehr vertraut.

„Ich weiß, und wir haben eine Chirurgin, die sich mit Domino-Operationen sehr gut auskennt. Sie ist gerade aus New York gekommen.“

Marcus wirkte sichtlich beeindruckt. „Aus New York? Wie hast du das geschafft? Das ist ja eine tolle Neuigkeit!“

„Lässt du mich jetzt in Ruhe?“

Marcus grinste. „Mal sehen.“

Er schob sich an ihm vorbei, und Matthew schüttelte den Kopf. „Wohin willst du?“

„Ich werde mich bei deiner neuen Chirurgin für meinen Fall einsetzen.“

Matthew verdrehte die Augen und sah Marcus hinterher. Manchmal vermisste er seinen Bruder, aber heute war er froh, dass er endlich verschwand.

Zurück in seinem Büro, setzte er sich in seinen Schreibtischsessel und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Erst jetzt wurde ihm klar, dass Victoria nicht wusste, dass er einen Zwillingsbruder hatte. Wenn er und Victor...

Autor

Amy Ruttan
Amy Ruttan ist am Stadtrand von Toronto in Kanada aufgewachsen. Sich in einen Jungen vom Land zu verlieben, war für sie aber Grund genug, der großen Stadt den Rücken zu kehren. Sie heiratete ihn und gemeinsam gründeten die beiden eine Familie, inzwischen haben sie drei wundervolle Kinder. Trotzdem hat Amy...
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Juliette Hyland
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Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert? Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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