Julia Ärzte zum Verlieben Band 181

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AUCH KÜSSE KÖNNEN LEBEN RETTEN von TRACI DOUGLASS
In letzter Sekunde retten Sanitäterin Isabella und ein Fremder einen Mann vor dem Ertrinken. Und verbringen eine heiße Nacht miteinander! Danach heißt es „Adiós“. Bis sie sich in der Notaufnahme begegnen: Carlos ist der neue Kollege – der nichts von den Folgen jener Nacht ahnt …

DR. MCCAIN, BITTE AUF STATION LIEBE! von SUSAN CARLISLE
Schwester Izzy ist verliebt! Wenn sie mit dem attraktiven Dr. Chad McCain und seinem kleinen, mutterlosen Rabauken etwas unternimmt, ist das Leben wieder bezaubernd schön. Doch ihr Traum vom Glück zerbricht, als sie Chads Schwur hört: spätere Heirat – ausgeschlossen!

FAMILIENGLÜCK UNTER PALMEN von TINA BECKETT
Dr. Sebastien Deslaurier sieht die Angst in Schwester Rachels Augen und versteht sofort, dass sie befürchtet, ihre Tochter könnte eine ernste Krankheit haben. Er will helfen, denn seit sie sich auf der Südseeinsel Taurati wiedergetroffen haben, weiß er, was süße Hoffnung ist …


  • Erscheinungstag 25.08.2023
  • Bandnummer 181
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519175
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Traci Douglass, Susan Carlisle, Tina Beckett

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 181

PROLOG

April

Glatt wie ein Spiegel lag das Meer im Abendlicht.

Isabella Rivas grub die Zehen in den noch warmen Sand der Playa de Bogatell und betrachtete den grandiosen Sonnenuntergang, der den Horizont mit lebhaftem Orange, Pink und Purpur überzog. Sie liebte diese Zeit des Tages – wenn die Barcelona-Urlauber den Strand verlassen hatten und Wind und Wellen zur Ruhe kamen. Wenn das Wasser wie Glas war, so still und friedlich und …

„Hilfe!“, schrie eine Frau weiter unten am Strand. „Hilfe! Mein Mann!“

Isabella ließ ihr Surfbrett fallen und sprintete auf die Frau zu. „Señora, qué pasa?“

Kreideweiß im Gesicht und sichtlich in Panik hob sie beide Arme und sagte mit britischem Akzent: „Ich spreche kein Spanisch. Bitte, Sie müssen meinem Mann helfen. Er ertrinkt da draußen!“

„Verstanden, Ma’am“, wechselte Isabella ins Englische und rannte los. „Ich hole ihn. Verständigen Sie die Rettungsschwimmer!“

Sie ließ die seichten Stellen hinter sich, tauchte hinter der Sandbank ins tiefere Wasser und schwamm, so schnell sie konnte, in die Richtung, die die Frau ihr gewiesen hatte. Pechschwarzes Wasser umgab sie, nur die neonrote Boje vor ihr leuchtete in den Schatten. Als sie zwischen den Schwimmzügen mit dem Kopf hochkam, nahm sie vage etwas Weißes auf der Wasseroberfläche wahr, und mehr Adrenalin schoss ihr durch den Körper. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie noch jemand in dieselbe Richtung schwamm. Keiner von den Rettungsschwimmern, die wären nicht so schnell zur Stelle.

„Sir!“, rief sie, als sie den Mann erreichte. „Sir! Können Sie mich hören?“

Keine Antwort.

Seine graue Gesichtsfarbe und die bläulichen Lippen verrieten Isabella, was jahrelange Erfahrung als Notfallsanitäterin sie gelehrt hatte: Es stand nicht gut um den Mann. Unmöglich, zu sagen, warum er praktisch leblos im Wasser trieb, aber eins war klar: Er atmete nicht mehr.

„Wie kann ich helfen?“, erklang eine Männerstimme neben ihr.

„Helfen Sie mir, ihn ans Ufer zu bringen. Wir müssen versuchen, ihn wiederzubeleben.“

Zusammen brachten sie den Bewusstlosen an Land. Die Rettungsschwimmer erwarteten sie bereits mit ihrer medizinischen Ausrüstung, und Isabella sagte ihnen rasch, wer sie war und was sie brauchte. Derweil begann der gute Samariter, der ihr im Meer geholfen hatte, mit der Herzdruckmassage. Er schien sich auszukennen – mehr noch, er wirkte, als würde er das nicht zum ersten Mal machen. Isabella war unendlich froh darüber.

„Mein Name ist Isabella Rivas. Ich bin Notfallsanitäterin der Ambulancias Lázaro. Wir fanden diesen Mann bewusstlos bei der Boje dort hinten.“ Sie wandte sich an den Fremden. „Hat er einen Puls? Atmet er?“

„Nein“, sagte der Mann, vollständig auf den Patienten konzentriert. „Immer noch keine Reaktion.“

„Haben Sie einen tragbaren Defibrillator?“, fragte Isabella auf Katalanisch die Rettungsschwimmer. „Rufen Sie 061 an, jetzt sofort, bitte!“

Einer der Männer telefonierte und versuchte danach, die verzweifelte Ehefrau zu beruhigen, während der andere den Defi aus dem Rucksack zog. Isabella schnappte sich ein Handtuch, um die Brust des Patienten trocken zu reiben, bevor sie die Elektroden aufklebte. Auf der anderen Seite kniete immer noch der fremde Retter und setzte die Kompressionen unermüdlich fort. Kurz trafen sich ihre Blicke, sie sah in dunkle, schokoladenbraune Augen und registrierte flüchtig, dass er gut aussah. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, dem Gedanken nachzuhängen.

Sobald die Elektroden klebten, startete sie die Maschine und drückte den Knopf für die Stromladung. Als das Licht aufleuchtete und der Signalton ertönte, rief sie: „Weg vom Patienten!“

Sofort hob der Mann ihr gegenüber die Hände und wich zurück, als hätte er das schon öfter gemacht. Isabella schickte den ersten Stromstoß in das Herz des Patienten. Der Körper bäumte sich auf, sackte wieder in sich zusammen.

„Irgendwelche Herztätigkeit?“, fragte sie, als der Mann zwei Finger an die Halsschlagader hielt.

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Okay.“ Sie startete den Defi von Neuem und hieb auf den Knopf. Wieder ein kurzes Aufbäumen, dann nichts. Die graue Gesichtsfarbe verstärkte sich, kein gutes Zeichen. In der Ferne ertönte eine Sirene. Hilfe war unterwegs, dem Himmel sei Dank. Der Patient musste so schnell wie möglich ins Krankenhaus, sonst würde er sterben. Sie warf den Defi beiseite und löste ihren Helfer bei der anstrengenden Herzdruckmassage ab. Der griff nach dem Beatmungsbeutel, den der Rettungsschwimmer mit der Maske auf Nase und Mund des Bewusstlosen verbunden hatte. Ohne sich groß abzusprechen, fanden sie einen gemeinsamen Rhythmus, sie mit den Kompressionen, er mit der Beatmung, als würden sie schon seit Jahren als Team zusammenarbeiten. Ein gutes Gefühl, sich auf jemanden verlassen zu können, fand Isabella.

Schließlich traf der Krankenwagen ein, und Isabella übergab den Fall an die Kollegen, nachdem sie kurz berichtet hatte. Endlich zeigte der Patient einen schwachen Puls, atmete selbstständig und reagierte schwach auf Ansprache. Zur Behandlung sollte er ins St. Aelina’s, das nächstgelegene, hochmodern ausgestattete Lehrkrankenhaus. Isabella wusste, dass er dort in guten Händen war.

Als sie dem Krankenwagen nachsah und die Rettungsschwimmer zu ihrem Beobachtungsturm zurückkehrten, stellte sich der geheimnisvolle Fremde endlich vor.

„Carlos Martinez“, sagte er. Dunkelhaarig und attraktiv, wie er war, könnte er Spanier sein, aber sein Akzent verriet den Fremden. „Gute Arbeit bei diesem Patienten.“

„Gleichfalls.“ Isabella schüttelte ihm die Hand und hatte Mühe, nicht auf seinen muskulösen, sonnengebräunten und fast nackten Oberkörper zu starren. „Isabella Rivas. Woher kommen Sie?“

Sein Lächeln wurde breiter, zeigte ebenmäßige blendend weiße Zähne. „Havanna, Kuba. Bin erst vor Kurzem nach Barcelona gezogen.“

Benvingut a la meva ciutat“, sagte sie auf Katalanisch und lachte leise, weil er sie verwirrt ansah. Die lokal vorherrschende Sprache unterschied sich nicht stark vom regulären Spanisch, aber in seiner Heimat sprachen die meisten Cubañol, die kubanische Form des Spanischen. Während der Rettungsaktion hatten sie sich auf Englisch verständigt. Lächelnd erklärte sie: „Willkommen in meiner Stadt.“

Er nickte, und sein Lächeln stellte die tollsten Dinge mit ihr an.

Oh …

Eine Romanze stand nicht auf ihrer To-do-Liste. Sie las gern einen guten Liebesroman mit bewegendem Happy End, aber nachdem sie sich jahrelang um jeden anderen in der Familie gekümmert hatte, war sie froh über Zeit für sich allein.

Auch wenn der Kerl vor ihr wahnsinnig attraktiv war. Nicht nur das zog sie an, sondern auch seine gelassene, ruhige Professionalität, die er während der Rettungsaktion gezeigt hatte. Isabella hatte viel für Männer übrig, die wussten, was sie taten, und dieser Typ strahlte Kompetenz und Selbstbewusstsein aus.

„So, Isabella Rivas“, sagte Carlos, als sie zu ihrem Surfbrett gingen, das immer noch dalag, wo sie es hatte fallen lassen. „Hätten Sie Lust auf einen Drink? Ich für meinen Teil könnte einen gebrauchen.“

Überrumpelt von der unerwarteten Frage, war sie froh, dass sie sich gerade bückte, um ihr Surfbrett aufzuheben. So konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Ihre Wangen fühlten sich heiß an, und das Herz schlug ihr gegen die Rippen, als wäre sie ein verknallter Teenager. Und nicht eine gestandene Frau von vierunddreißig Jahren. Sie ließ sich Zeit, das Board hochzunehmen, und warf ihren langen dunkelbraunen Zopf, der noch feucht vom Meerwasser war, über die Schulter, bevor sie sich endgültig aufrichtete. Normalerweise würde sie ablehnen, danke, kein Interesse, und das war’s. Aber sie war interessiert. Mehr, als sie sollte! Ein Drink konnte nicht schaden, oder? Außerdem würde er helfen, den Adrenalinspiegel auf Normallevel zu senken. Sie war viel zu aufgedreht, um schlafen zu können, brauchte aber den Schlaf, weil sie morgen Frühdienst hatte.

„Fein“, sagte sie und sah ihn an. Zwischen ihnen knisterte es wie gerade gezündetes Feuerwerk. „In der Nähe ist eine Tapasbar. Gutes Essen, vernünftige Preise. Wollen wir dahin?“

Carlos verbeugte sich leicht und lenkte ihren Blick auf das Spiel seiner Muskeln in den breiten Schultern und im oberen Rücken. Nein, ihr lief nicht das Wasser im Mund zusammen! „Was immer Sie wünschen.“

Im Moment wünschte sie sich, wie an einem Baum an ihm hochzuklettern, und der Gedanke machte sie noch unruhiger.

Aus, Mädchen. Aus.

So war sie nicht. Sie flirtete nicht. Sie warf sich Männern nicht an den Hals. Doch Carlos hatte etwas, das sie innerlich zum Schmelzen brachte. Isabella schluckte, weil pure Lust ihr plötzlich den Hals zuschnürte, und warf ihm ein bebendes Lächeln zu. „Großartig. Hier entlang.“

In einem der nahe gelegenen Schränke verstaute sie ihr Surfbrett und kehrte zu Carlos auf die Promenade zurück.

„Kommen Sie oft zu diesem Strand?“, fragte er. „Sie scheinen gern zu surfen.“

„Ja.“ Sie lächelte, blickte jedoch nicht ihn an, sondern geradeaus, weil sie fürchtete, sonst etwas Dummes zu tun – wie zum Beispiel, ihn zu küssen. Also ernsthaft … sie musste das in den Griff kriegen! Übers Surfen zu reden, könnte helfen. Surfen entspannte sie. Beim Surfen baute sie Stress ab. „Ich mag Bogatell, weil es hier ruhiger ist. Weniger Touristen. Die Wellen sind zwar mäßig, aber ab und zu erwischt man richtig gute. Und ich habe es nicht weit bis nach Hause.“

„Interessant. Von anderen Einheimischen, die ich in der Bar meines Onkels kennengelernt habe, weiß ich, dass es hier eine Stelle gibt, die von Surfern Killers genannt wird. Sie meinten, es wäre eine Art Geheimtipp.“

Isabella lachte. „Ja, dort war ich schon ein paar Mal, und der Name passt. Killerwellen, die Spaß machen, doch nach der Arbeit will ich mich entspannen und wenig Leute um mich haben, verstehen Sie?“

„Und wie.“ Er grinste. „Hoffentlich habe ich mich heute Abend nicht aufgedrängt.“

„Überhaupt nicht“, hörte sie sich sagen und meinte es zu ihrem Erstaunen wirklich ernst. Von ihm ging eine Unbeschwertheit aus, die sie beruhigte. „Sie sagten, Ihrem Onkel gehört eine Bar. Welche?“

Encanteri. Schon davon gehört?“

„Ja, natürlich. Eine der angesagtesten Adressen der Stadt, wenn man abends ausgehen will.“ Zusammen mit einigen Freunden versuchte sie seit Monaten, einen Tisch zu reservieren, aber die Wartezeiten waren horrend lang. Und jetzt, da der Sommer vor der Tür stand und Urlauber die Stadt überschwemmten, würde es noch schlimmer werden. „Vielleicht komme ich über Sie einmal rein.“

„Schon möglich.“ Er sah sie an und hielt ihren Blick etwas länger als gewöhnlich, und sofort geriet ihr Puls ins Stottern.

Oh Mann!

„Nun …“ Auf der Suche nach Worten stolperte sie fast über ihre Flip-Flops. Dankbar ließ sie sich von Carlos stützen, der sofort die Hand ausgestreckt und sie davor bewahrt hatte, mit dem Gesicht zuerst auf dem Asphalt zu landen. Doch die Berührung verstärkte das sinnliche Prickeln, das durch ihren Körper rann. „Die … Bar ist gleich dort drüben.“

Isabella deutete auf das Neonleuchtschild mit der Aufschrift El Chiringuito. Sie bekamen draußen auf der Terrasse einen Tisch unter einem Sonnenschirm und bestellten.

„Also“, sagte Carlos, als der Kellner die Getränke brachte – für sie ein Glas Cava, Sangria für ihn. „Sie sagten, dass Sie nicht weit vom Strand wohnen?“ Sie bedachte ihn mit einem skeptischen Blick, und er lachte. „Ich wollte nicht aufdringlich sein, nur ein bisschen plaudern. Und mehr über Sie erfahren, Isabella. Sie machen mich neugierig.“

Neugierig war sie auch. Mehr, als sie sein sollte. Er war charmant und sympathisch. In ihrem Beruf brauchte sie gute Antennen für Täuschungen und dubiose Typen, und bei Carlos spürte sie nichts dergleichen. Anscheinend war er genau der, den er beschrieben hatte – ein Kubaner, der seine Heimat verlassen hatte, um in Barcelona zu leben und zu arbeiten. Sie fand ihn reizvoll, aber sie war nicht blöd. Nie würde sie irgendeinem Fremden ihre Adresse geben, ganz gleich, wie heiß der Kerl war!

„Ich wohne in El Poblenou“, sagte sie und trank einen Schluck von ihrem Rosé-Schaumwein. Die Bläschen kitzelten sie an der Nase. „Und Sie?“

„Zurzeit über der Bar meines Onkels.“ Carlos betrachtete sie über den Rand seines Glases hinweg. „Er war es, der mich überredet hat, nach Spanien zu kommen. Die Wohnung ist nett, einige würden sagen, luxuriös – jedenfalls für eine Großstadt.“

„Schön.“ Sie lächelte. „Haben Sie hier außer Ihrem Onkel noch mehr Familie?“

Sein Lächeln verblasste. Er stellte das Glas ab. „Er ist meine einzige Familie.“

„Oh.“ Isabella trank einen zu großen Schluck Wein, und der Alkohol wirbelte durch ihren leeren Magen, lockerte ihre Zurückhaltung ein bisschen. „Tut mir leid. Ich wollte keinen wunden Punkt treffen.“ Seufzend lehnte sie sich zurück. „Es gab Zeiten, da habe ich meine Familie weit weg gewünscht.“

Er schnaubte ungläubig. „Das hört sich nicht gut an.“

„Oh, ich meine es nicht ernst. Es war nur nicht leicht für mich, weil ich die Älteste von sechs Kindern bin und mich die meiste Zeit um meine jüngeren Geschwister gekümmert habe, nachdem meine Mutter gestorben war. Damals war ich dreizehn. Kurz darauf wurde auch mein Vater krank.“

„Es tut mir leid.“ Er beugte sich über den Tisch, kam ihr so nahe, dass sie die goldenen Tupfen in seinen braunen Augen sehen konnte. Warme, freundliche Augen. „Das muss für Sie sehr schwer gewesen sein, so jung Verantwortung zu übernehmen.“

Statt einer Antwort nickte sie nur und war froh, dass in diesem Moment ihr Essen gebracht wurde. Eine Portion Nachos, die sie sich teilten, eine Spezialität der Bar. Jeder füllte sich auf, und sie fingen an zu essen.

„Wie auch immer“, begann sie, nachdem sie eine Gabel voll würziger Tortilla-Chips mit geschmolzenem Käse genossen hatte. „Bis auf meinen jüngeren Bruder Diego, der an einem Krankenhaus in der Nähe arbeitet, sind alle ausgeflogen, sobald sie auf eigenen Füßen standen.“ Sie lachte. „Jetzt leben sie weit weg, in ganz Spanien verteilt. Dafür sehe ich Diego ständig bei meinen Notfalleinsätzen.“

Carlos lachte leise. „Komisch, was das Schicksal manchmal anstellt, hm?“

„Ja.“ Isabella sah auf, und ihre Blicke verfingen sich. Etwas Käse hing an seinem Mundwinkel, und sie stellte sich vor, wie sie ihm den winzigen Klecks wegleckte, und strich sich unwillkürlich mit der Zunge über die Lippen. Wilde, leichtsinnige Erregung packte sie, wie sie sie lange nicht verspürt hatte. Dem Blitzen in seinen dunklen Augen nach zu urteilen, ging es Carlos nicht anders.

Es war lächerlich. Albern.

Sie hatten kaum über etwas anderes gesprochen als das Essen, aber wie sein Bein ihres unter dem Tisch immer wieder wie zufällig streifte, war klar, dass sie zusammen ins Bett gehen würden. Nur eine Nacht. Ein lustvolles Vergnügen ohne Verpflichtungen. Zwei Fremde, die den Moment genießen wollten. Isabella konnte es kaum erwarten, mit ihm allein zu sein.

Unter dem Tisch zog sie einen Flip-Flop aus und strich mit den nackten Zehen über seinen Knöchel, genoss es, wie er unter der leichten Berührung erschauerte. Isabella lächelte vielsagend. „Ja, seltsam, wie das Leben manchmal so spielt.“

1. KAPITEL

Juni

„Blutdruck 90 zu 68. Niedrig, aber stabil. Sauerstoffsättigung normal“, verkündete Isabella, während sie dem Unfallopfer die Sauerstoffmaske aufs Gesicht drückte und der Rettungswagen zum Santa Aelina’s University Hospital raste. Der junge Mann, mit neunzehn noch ein Teenager, blinzelte zu ihr hoch, blass unter der Sonnenbräune, die dunklen Augen ängstlich aufgerissen. „Alles okay, das wird wieder.“

Er schluckte und zuckte zusammen. Starke Prellungen der Brust und gebrochene Rippen verursachten bei jeder Bewegung Schmerzen. Er hatte großes Glück gehabt, als sein Wagen sich überschlug. Dem Zustand des Fahrzeugs, aus dem sie ihn herausgezogen hatten, nach zu urteilen, konnte er von Glück sagen, dass er noch am Leben war. Doch das würde sie ihm nicht sagen, sondern es der Polizei überlassen. Zuerst mussten sie ihn im St. Aelina’s zusammenflicken.

Isabella blickte aus dem Fenster auf den sommerblauen Abendhimmel. Zu schade, dass die Brandung zu schwach war. Nach dem Tag heute hätte sie gern ein bisschen beim Surfen entspannt. Nicht, dass etwas Schlimmes passiert wäre, aber sie fühlte sich nicht gut. Und zwar seit einer knappen Woche schon. Wahrscheinlich hatte sie sich die Erkältung eingefangen, die gerade umging.

Außerdem hatte sie seit heute Nachtdienst. Ihr erster seit einem Monat.

Vielleicht konnte sie morgen gleich nach der Arbeit schwimmen gehen. In aller Frühe, bevor die Touristenmassen am Strand einfielen. Es wäre zwar nicht das gleiche Hochgefühl wie beim Surfen auf der perfekten Welle, aber es täte auch gut.

Ihr Kollege Mario lenkte den Krankenwagen zum Eingang der Notaufnahme, hielt vor den Automatiktüren und sprang hinaus. Er joggte um den Wagen herum und riss die Türen auf. Gemeinsam mit Isabella hoben sie die Trage heraus und rollten sie zum medizinischen Team, das den Patienten in Empfang nehmen würde.

Resum per favor“, bat die Ärztin hinter ihrer Maske um einen Bericht.

“, sagte Isabella, während sie die Fahrtrage in die hell erleuchtete Halle und weiter zu einem freien Traumaraum brachten. Kurz und knapp nannte sie die Vitalwerte und was sie an Fakten zum Unfall wussten. Mario und sie halfen dabei, den Patienten auf ein Krankenhausbett zu heben. Über das Bett hinweg traf sich ihr Blick mit dem eines Pflegers, und seine Augen kamen ihr vertraut vor. Ein warmes Braun mit goldenen Flecken und … Ihr Puls stolperte. Oh!

Carlos.

Nach der einen leidenschaftlichen Nacht mit ihm waren sie jeder seiner Wege gegangen. Isabella hatte nicht erwartet, ihn wiederzusehen, und jetzt war er hier. Arbeitete in derselben Notaufnahme, wo sie oft zu tun hatte. Sie würde ihren One-Night-Stand praktisch täglich sehen.

Na toll.

Ihr Tag drohte endgültig den Bach runterzugehen. Es ging ihr nicht gut, überhaupt nicht, und dann das!

Hinzu kam dieses verräterische Kribbeln unerwünschter Erregung, die in ihr prickelte wie aus der Flasche befreiter Champagner. Oder war das Übelkeit? Schwer zu sagen.

Schnell erledigte sie ihre Aufgabe und half Mario, die leere Fahrtrage in den Flur zu rollen.

„Ich muss kurz etwas trinken“, sagte sie zu ihm. „Wir treffen uns draußen am Wagen.“

Sí.“ Mario übernahm die Trage, während Isabella zur Damentoilette am Ende des Korridors flitzte. Schon spürte sie gallebittere Säure in der Kehle.

Nachdem sich ihr Magen erleichtert hatte, spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht und starrte ihr Spiegelbild an. Junge, Junge, sie sah aus, wie sie sich fühlte! Dunkle Ränder unter den Augen, hohle Wangen, weil sie schon ein paar Tage lang selten ihr Essen bei sich behielt, und leicht grün im Gesicht. Was für ein Unterschied zum letzten Mal, als sie Carlos am Strand begegnet war.

Jene Nacht erschien ihr heute wie ein Märchen. Dinner, Drinks, die Gespräche mit ihm. Nachdem sie das El Chiringuito verlassen hatten, waren sie am Strand spazieren gegangen, lachend, redend und irgendwann Händchen haltend. Schließlich küssten sie sich unter dem glitzernden Sternenhimmel. Das Knistern zwischen ihnen zündete ein Feuer, das hell aufloderte. Selten ließ Isabella andere nahe an sich heran. Verletzlich, frei und wild zu sein, ließ sie nicht zu, doch bei Carlos wagte sie es. Vielleicht war es der Reiz des Neuen, oder es lag daran, dass sie sich unausgesprochen einig waren, auf was sie sich einließen: leidenschaftlicher Sex, unkompliziert und nur für eine Nacht. Isabella tauchte hemmungslos ein in das sinnliche Vergnügen und genoss es.

Sie waren zu ihr gegangen, weil die Wohnung näher lag, und praktisch übereinander hergefallen, kaum dass die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war. Kleidung und Hemmungen fielen. Isabella konnte nicht genug von ihm bekommen, berührte ihn, küsste ihn, schmeckte ihn überall. Er machte das Gleiche mit ihr, brachte sie mit Lippen, Zunge und geschickten Fingern wieder und wieder zum Orgasmus, bis er endlich in sie eindrang. Es war lange her gewesen, dass ein Mann sie genommen hatte. Zu lange, und er füllte sie vollkommen aus. Und als er sich bewegte … Es fühlte sich an, als geriete ihre gesamte Welt ins Rutschen. Heiß und gierig aufeinander trieben sie zusammen auf den einen Moment zu, den Gipfel, wo die Lust in gleißendem Licht explodierte, bevor sie sanft hinuntersanken in weiche Schatten und in den Armen des anderen einschliefen.

Als Isabella am nächsten Tag aufwachte, war Carlos nicht mehr da. Auf ihrem Kopfkissen lagen eine Rose und ein Zettel.

Danke für die Erinnerung.

Warum, wusste sie auch nicht, aber sie bewahrte die kurze Notiz auf, schob sie in ihre Nachttischschublade. Das Einzige, was ihr von dieser atemberaubenden Nacht blieb. Hatte sie jedenfalls gedacht.

Bis jetzt …

Isabella klammerte sich an den Waschtisch, als erneut eine Welle der Übelkeit sie erfasste. Zum Glück musste sie sich nicht noch einmal übergeben. Sie atmete tief ein und wieder aus. Ein und aus. Ein und aus. Sie hasste Magenverstimmungen und Erbrechen mehr als alles andere, wurde aber glücklicherweise selten krank. Von der letzten Zeit einmal abgesehen.

Sobald sie sich ein wenig besser fühlte, wusch sie sich die Hände und verließ den Waschraum. Sie brauchte wirklich etwas zu trinken. Statt zu Mario zu gehen, nahm sie den Fahrstuhl zur Cafeteria im Untergeschoss. Zeit für eine Pause. Tee und ein paar Kräcker sollten ihren angeschlagenen Magen beruhigen.

„Blutdruck bei 126 zu 82“, verkündete Carlos im Traumaraum, nachdem er bei dem Verletzten erneut die Vitalwerte geprüft hatte.

„Okay“, sagte Dr. Gonçalo auf Spanisch. „Ich sehe mir jetzt Ihre Brust an, ?“

Der junge Mann stöhnte schmerzerfüllt auf, nickte aber.

Während die Ärztin ihn rasch, aber gründlich untersuchte, kommentierte sie, was sie fand. „Breitflächige, tiefe Kontusionen auf Brust und Sternum, hervorgerufen beim Aufprall auf das Lenkrad. Fünfte und sechste Rippe links frakturiert. Atemgeräusche klingen normal, aber ich möchte sicherstellen, dass die Lungen bei dem Unfall nicht geschädigt wurden. Bitte veranlassen Sie Röntgenaufnahme und CT.“

Carlos nickte und tippte die Anweisungen in sein Tablet. Er musste sich bemühen, aufmerksam zu bleiben und nicht an Isabella zu denken. Im ersten Moment war er völlig perplex gewesen, als er sie wiedersah. Gut, die Chance bestand, dass sie sich über den Weg liefen, sie als Notfallsanitäterin, er als Notfallkrankenpfleger. Aber Barcelona war eine große Stadt, sodass er nicht damit gerechnet hatte.

Ihrem erschrockenen Blick nach zu urteilen, war sie ähnlich überrumpelt gewesen wie er. Warum sonst verschwand sie aus der Notaufnahme, als wäre der Teufel hinter ihr her, sobald ihr Patient versorgt war?

Carlos beendete die Eintragungen und wartete, bis Dr. Gonçalo ihre Untersuchung abgeschlossen hatte, bevor er ihr aus dem Zimmer folgte. „Ich kümmere mich um Ihre Verordnungen und verständige seine Angehörigen.“

„Danke“, sagte die Ärztin und eilte zu ihrem nächsten Fall.

Ein Fahrstuhl öffnete mit einem „Ping!“ seine Türen, und Carlos sah im selben Moment hin, als Isabella die Kabine betrat. Der grüne Pfeil auf der Anzeige verriet, dass sie auf dem Weg ins Untergeschoss war.

Ein erster Impuls drängte ihn, ihr zu folgen. Aber nein. Er musste arbeiten. Außerdem war er nicht hier, um sich eine Freundin zu suchen. Sondern, um zu arbeiten und mehr über die Familie seines Vaters zu erfahren. Ein Vater, der es nicht für nötig gehalten hatte, bei seinem Kind zu bleiben, nachdem er Carlos’ Mutter geschwängert hatte.

Nicht, dass er deswegen verbittert war. Verdammt, das hatte er überwunden, als er zehn war. Heute, mit vierunddreißig, hatte er Fragen.

Warum zeugte ein Mann mit einer Frau, die ihm viel bedeutete, ein Kind und verschwand dann spurlos? Damals wusste sein Vater noch nichts von ihm, aber sowohl Carlos’ Mutter als auch ihre Eltern schrieben ihm mehrere Briefe. Briefe, die nie zurückkamen, also mussten sie ihn erreicht haben, oder? Rätselhaft. Kein großes Rätsel war jedoch, wie Carlos von klein auf behandelt wurde. Als uneheliches Kind hatte er es schwer, war immer auf der Hut, weil einige Kinder ihn wegen seiner Herkunft verprügelten. Beziehungsweise der fehlenden Herkunft. Kuba mochte ein kommunistisches Land sein, aber viele Einwohner waren tiefreligiös, sodass ledige Mütter und ihre Babys einen schweren Stand hatten. Also hatte Carlos sich eine dicke Haut zugelegt und gelernt, seine Emotionen für sich zu behalten und niemals vor denen, die ihm wehtun wollten, Schwäche zu zeigen.

Diese alte Angewohnheit half ihm heute in seinem Job. Selbst unter hohem Druck, wenn in der Notaufnahme die Hölle los war, blieb er ruhig und gelassen. Sich aufzuregen, ärgerlich zu reagieren oder mit Rechtfertigungen, das machte seiner Erfahrung nach alles nur schlimmer.

Doch während er sich um CT und Röntgen kümmerte, wanderten seine Gedanken stur zurück zu Isabella und der Nacht, die er mit ihr verbracht hatte. Wie sie sich in seinen Armen anfühlte. Wie ihre Lippen nach Wein schmeckten, hingebungsvolle Lippen, als er sie geküsst hatte. Wie sie seinen Namen geschrien hatte, als sie kam …

„Wo finde ich die Rippenfrakturen?“ Ein Röntgenassistent, der an der Stationszentrale stehen geblieben war, riss Carlos aus seinen erotischen Erinnerungen.

Er räusperte sich und blickte auf sein Display. „Traumaraum 2.“

Genug. Es wurde höchste Zeit, die Tagträumereien zu beenden und sich auf seinen Patienten zu konzentrieren. Er wartete, bis der Röntgenassistent den Jungen aus der Notaufnahme und zum Fahrstuhl gerollt hatte. Dann rief er die Familie an und teilte ihnen mit, dass es ihm gut ging. Sie waren aufgeregt und besorgt, bedankten sich jedoch sehr und wollten sofort ins Krankenhaus kommen.

Alle Aufträge erledigt. Carlos blickte auf seine Uhr, dann zu den Fahrstühlen. Er konnte Pause machen. Bei dem Betrieb dauerte es sicher noch eine gute Stunde, bis die Ergebnisse aus der Röntgenabteilung da waren. Ja, er würde sich einen Snack besorgen, und sollte er dabei zufällig Isabella über den Weg laufen, dann war es eben so. Warum nicht ein paar Worte mit ihr wechseln? Schließlich arbeiteten sie zusammen. Nicht nötig, die Situation unbehaglicher zu machen, als sie schon war. Wird schon werden, sagte er sich.

Doch als er im Fahrstuhl stand, sank ihm der Magen tiefer und zwar nicht nur, weil es abwärts ging.

Jene Nacht war besonders gewesen. Ein Traum.

Kann ich den Traum loslassen und die Realität akzeptieren?

Der Abend in der Bar am Strand fühlte sich an wie entrückt, losgelöst von Zeit und Raum. Alles mit ihr war unbeschwert – reden, lachen. Für einen Kubaner, der noch dabei war, in einer fremden Stadt und einem fremden Land Fuß zu fassen, waren die Stunden mit Isabella wie Balsam für die Seele gewesen. Wenn auch nur kurz, hatte er sich weniger allein gefühlt.

Nicht, dass er keine Unterstützung hätte. Sein Onkel hatte ihn mit offenen Armen aufgenommen, ihm sogar die Wohnung über seiner populären Bar Encanteri günstig vermietet. Auf Kuba waren Unterkünfte erschwinglicher, und als er den regulären Mietpreis für das 60-m2-Apartment hörte, musste er schlucken. Onkel Hugo war jedoch sehr großzügig gewesen, sagte, er hätte ihn hierhergelockt und fühle sich deshalb für ihn verantwortlich. Die Wohnung war sauber und vollständig möbliert, was wollte er mehr?

Oft genug hatte man ihn gefragt, warum er als Pfleger arbeitete, statt Medizin zu studieren und Arzt zu werden. Seine Noten hätten ihm einen Studienplatz gesichert. Aber Carlos wollte sich so bald wie möglich um Patienten kümmern. Deshalb hatte er sich für die Krankenpflege-Ausbildung entschieden. Außerdem wusste jeder, der im medizinischen Bereich arbeitete, dass ohne Pflegepersonal nichts lief. Ärztinnen und Ärzte verordneten Therapien, aber Krankenschwestern und Pfleger führten sie aus.

Der Lift hielt, die Türen glitten auf, Carlos trat heraus, hielt die Türen für ein älteres Paar offen und machte sich auf den Weg zur Cafeteria, aus der verlockende Düfte nach geschmolzenem Käse und frittierten Köstlichkeiten strömten. Leider war ihm der Appetit vergangen. Die Anspannung schlug ihm auf den Magen, wurde schlimmer, als er Isabella in einer Ecke allein an einem Tisch sitzen sah.

Er holte sich einen Eistee, zeigte an der Kasse seinen Mitarbeiterausweis vor und bezahlte. Warum war er so nervös, sie wiederzusehen? Sie waren beide erwachsen, konnten damit umgehen. Außerdem hatten sie bei dem Herzinfarktpatienten wie ein langjähriges Team gehandelt, vom ersten Moment an im Gleichklang. Warum sollte es nicht so weitergehen? Carlos dankte dem Kassierer, nahm seinen Tee und ging auf Isabellas Tisch zu. Auf einmal blickte sie auf, sah ihn und … Von wegen.

Seine Hoffnung, sie könnten so tun, als hätte es jene Nacht nie gegeben, löste sich in Luft auf. Der gequälte, gehetzte Ausdruck in ihren Augen ließ Carlos abrupt stehen bleiben.

Er holte tief Luft, aber das Engegefühl in der Brust blieb, während er weiterging. Je näher er kam, umso mehr verstärkte sich die Wachsamkeit in ihrem Blick. Er wollte ihr sagen, dass alles okay war. Wollte ihr sagen, dass er nicht darüber reden würde, dass er die Nacht längst vergessen hatte, obwohl es nicht stimmte. Er konnte sie gar nicht vergessen. Vor allem nicht das Gefühl, das Isabella ihm gegeben hatte. In ihren Armen war verschwunden, was er zeitlebens nicht losgeworden war: das ungewollte, verlassene Kind zu sein, dessen Vater nichts von ihm wissen wollte. Das nie die Chance bekommen hatte, mit seinem Vater zu reden, ihn zu fragen, warum er keinen Kontakt wollte. Dafür war es zu spät, weil sein Vater vor zehn Jahren gestorben war.

Carlos vertrieb die Gedanken. Vor seiner Ankunft in Barcelona war er klargekommen, ohne an seinen Vater zu denken. Natürlich hatte die Familie seiner Mutter ihn nie erwähnt, was auch geholfen hatte. Seine Mutter war wundervoll gewesen, immer liebevoll, fürsorglich wie eine gute Freundin und Mutter gleichzeitig. Sie waren sich sehr nahe, weil sie nur einander hatten. Und obwohl sie nie verraten hatte, wie sie sich fühlte, nachdem der Mann, den sie liebte, sie verlassen hatte, konnte er es in ihren Augen lesen. Verlust und Enttäuschung hatten ihre Narben hinterlassen. Es schmerzte ihn so sehr, dass er es tief in sich verbarg und nie darüber sprach.

Im letzten Jahr war sie gestorben, und die Trauer hatte ihn fast umgeworfen. Als er ihre Sachen durchging, fand er heraus, dass er einen Onkel hatte, Hugo, den Bruder seines Vaters. Da er ans Schicksal glaubte, sah er es als Fingerzeig, dieser Spur zu folgen. Ähnlich stark war die Anziehung zu Isabella gewesen, als er ihr im April am Strand begegnet war.

Bevor er etwas sagen konnte, sah sie ihn an, ihr Blick ausdruckslos. „Was willst du?“

„Ich …“, begann er, unterbrach sich dann.

Ich möchte von vorn anfangen. Ich wünsche mir die glückliche, unbeschwerte Stimmung mit dir zurück. Ich möchte dir danken für diese gemeinsame Nacht.

Letztendlich sagte er: „Wir müssen reden.“

Isabella erstarrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht, als sie Carlos in ihre Richtung kommen sah. Flüchten konnte sie nicht, also blieb sie sitzen, checkte ihr Handy, blickte schließlich teilnahmslos auf.

„Was willst du?“

Autsch.

Wie kalt das klang. Kälter, als sie beabsichtigt hatte. Dabei war ihr heiß, und es hatte nichts mit ihrer Übelkeit vorhin zu tun, sondern nur mit dem Mann, der vor ihr stand.

Falls er sich an ihrer schroffen Frage störte, zeigte er es nicht, sah sie mit seinen dunklen Augen nur an. Die Emotionen, die sie darin las, faszinierten sie … Verlangen, Verlegenheit, Freude, Schmerz. „Ich …“

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, um gleich darauf umso härter gegen ihre Rippen zu hämmern. Was würde er sagen? Dass er die Nacht bereute? Dass sie ein Fehler gewesen war? Am besten vergessen werden sollte? Natürlich hatte sie versucht, sie zu vergessen, aber es war ihr nicht gelungen. Unmöglich. Die Erinnerungen tauchten ständig wieder auf. Wie sie auf zerwühlten Laken gelegen hatten, sich bis zum Morgengrauen geliebt hatten.

„Wir müssen reden“, fuhr er schließlich fort.

Ja. Reden. Sehr gut.

Sie schluckte, blickte sich um. Zu viele Kolleginnen und Kollegen in der Nähe. Zu viele neugierige Zuhörer. Der letzte Tratsch um Herzchirurgin Dr. Caitlin McKenzie und Dr. Javier Torres, der nicht nur ebenfalls Herzchirurg, sondern auch ein reicher spanischer Graf war, hatte sich gerade erst gelegt. Isabella hatte wenig Lust, die nächste Zielscheibe getuschelter Vermutungen zu werden. Sie stand auf und deutete zum Ausgang. „Schön. Aber nicht hier.“

Carlos stutzte kurz, folgte ihr jedoch in den Flur. Hier lagen die Bereitschaftszimmer für die Ärztinnen und Ärzte, wo sie sich während langer Dienste ausruhen konnten. Isabella fand einen leeren Raum. Sie drehte das Schild auf Nicht stören, hielt Carlos die Tür auf und schloss sie, als sie beide im Zimmer waren.

„Also …“, begann sie und verschränkte die Arme. Dass hier ein Bett stand, machte es nicht einfacher. Beide warfen einen Blick darauf, sahen schnell wieder weg. Isabella räusperte sich. Bring es hinter dich. „Wenn es wegen unserer …“ Mit einer flüchtigen Handbewegung deutete sie auf ihn und sich. „… unserer gemeinsamen Nacht ist, keine Sorge. Ist schon vergessen.“

Lügnerin. Niemals könnte sie diese Nacht mit ihm vergessen.

Unter der Sonnenbräune wurde er blass, und wieder fühlte sie sich schäbig. Sie hatte ihre Emotionen schon immer gut verbergen können. Es machte sie weniger verletzlich. Aber Carlos war ein leidenschaftlicher Mann. Im Bett und außerhalb. Was er fühlte, war sichtbar, dicht unter der Oberfläche.

Feiner Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, ihr Magen rebellierte. Oh nein, gleich würde ihr schlecht werden. Bitte nicht schon wieder! Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht vor ihm.

Zu spät. Halt suchend griff sie nach der Waschtischplatte, verfehlte sie, stolperte vorwärts und konnte den Fall gerade noch abfangen. Zitternd und beschämt wegen ihrer Unbeholfenheit, ließ sie sich von Carlos helfen, sich auf die Bettkante zu setzen. Er ging neben ihr in die Hocke und umfasste ihr Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen.

„He, he“, sagte er, und seine tiefe Stimme besänftigte die brennende Hitze in ihren Wangen. Isabella klammerte sich an seine Hand, weil ihr plötzlich schwindlig war, und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Endlich ließ die Übelkeit nach, und die Benommenheit verschwand. Carlos hockte immer noch neben ihr, hielt ihre Hand und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. „Möchtest du dich hinlegen?“

Nicht sicher, ob ihr die Stimme gehorchte, schüttelte sie stumm den Kopf.

„Warte.“ Carlos erhob sich, kippte seinen Tee in den Ausguss, spülte den Becher kurz aus und füllte ihn mit Wasser. „Trink ein bisschen, wenn du kannst“, sagte er, als er wieder bei ihr war. „Das hilft. Wann hast du zuletzt etwas gegessen?“

Isabella nippte am kühlen Wasser, eine Wohltat für ihre trockene Kehle. „Gestern Abend, glaube ich. Und ein paar Kräcker heute Nachmittag. Ich habe seit Tagen diese Magenverstimmung …“

Er richtete sich auf. „Vielleicht wäre es nicht verkehrt, dass sich das mal jemand ansieht, bevor du zum nächsten Einsatz musst.“

„Nicht nötig. Mir geht es schon besser.“ Sie stellte die Tasse ab und stand auf. Jedenfalls versuchte sie es, aber sofort wurde ihr wieder schwindlig. Isabella sank aufs Bett zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Mario fragte sich bestimmt, wo sie so lange blieb. Sie musste weiterarbeiten. Wenn ihr nur nicht so elend wäre …

„Wie man sieht! Ernsthaft, Isabella, lass uns nach oben in die Notaufnahme gehen. Ich finde jemanden, der dich durchcheckt, und du isst inzwischen etwas. Wenigstens ein paar Kekse.“

Sie wollte widersprechen, aber er hatte recht. Wer weiß, was sie sich eingefangen hatte. Bevor sie mit Mario wieder zu Patienten fuhr, brauchte sie das ärztliche Okay, dass sie diese nicht gefährden würde.

„Ja, gehen wir.“ Langsamer als gerade eben stand sie auf, ließ sich von Carlos am Ellbogen stützen. Schon fast im Flur, blieb sie abrupt stehen. „Alles okay wegen der anderen Sache?“

Carlos’ braun gebrannte Wangen röteten sich leicht, was sie viel zu liebenswert fand. „Sí. Alles okay.“

„Gut.“

Der Fahrstuhl brachte sie zurück in den ersten Stock, und Carlos begleitete sie in die Notaufnahme. Dort angekommen, fand er einen leeren Schockraum. „Warte hier. Ich hole einen der Ärzte. Bin gleich wieder da.“

Kurz darauf tauchte ihre Freundin Nina, eine Krankenschwester, an der Tür auf. „Hola, Isa, was ist los?“ Sie lächelte mitfühlend. „Carlos sagt, dir ist übel und schwindlig.“

Sí.“ Isabella beschrieb ihre Symptome und seit wann sie darunter litt. „Bestimmt hat mich die Grippe erwischt. Du weißt ja, wie das rumgeht.“

„Stimmt. Wir hatten in letzter Zeit vermehrt Fälle.“ Nina tippte etwas in den Computer. „Und wann war deine letzte Periode?“

„Oh … also …“ Isabella runzelte die Stirn. Tatsächlich lag sie schon länger zurück. Aber sie kam nie regelmäßig, und bei all dem Stress, den sie gehabt hatte, wunderte sie sich nicht, dass sie sich verspätete. Sie nannte das Datum und wartete, bis Nina mit der Anamnese fertig war.

„Lass mich das mit der Ärztin besprechen, und dann sehen wir weiter.“ Nina lächelte aufmunternd. „Wird schon werden.“

Einige Minuten später kam sie zurück, einen Plastikbecher in der Hand. Bei ihr war eine Laborassistentin. „Wir brauchen eine Urinprobe.“ Nina reichte Isabella den Becher. „Und wir nehmen dir auch Blut ab, um sicherzugehen, dass dein Blutzuckerspiegel nicht zu niedrig ist.“

„Wo ist Carlos?“, fragte Isabella, während die Laborangestellte sich an die Arbeit machte.

„Bei einem anderen Patienten“, antwortete Nina. „Möchtest du, dass ich ihn hole?“

„Nein, nein, schon gut.“

Dass sie sich wünschte, er wäre bei ihr, war erst recht ein Grund, Ninas Angebot abzulehnen. Isabella war immer sehr darauf bedacht, sich nicht von anderen abhängig zu machen.

Die Laborassistentin war inzwischen fertig, und Isabella ging zur Toilette, um auch den Probenbecher mitgeben zu können. Dann hieß es weiter warten. Sie sagte Mario Bescheid, warum sie erst einmal nicht mitfahren konnte. Zum Glück war zurzeit nicht viel los, und sie hatten Verstärkung durch ein anderes Rettungsteam, sodass sie sich zumindest in der Hinsicht keine Sorgen zu machen brauchte. Mario brachte ihr sogar Saft und einen Müsliriegel vom Automaten. Nachdem sie gegessen und getrunken hatte, fühlte sie sich besser.

Endlich betrat ein Arzt den Raum. Ohne Nina.

„Señora Rivas?“, fragte er. Isabella kannte ihn nicht. Wahrscheinlich war er neu hier. „Ich bin Dr. De Leon. Wir haben Ihre Laborwerte bekommen.“

„Ist es Grippe?“ Sie wollte die peinliche Situation endlich hinter sich bringen.

„Nein, nicht die Grippe.“ Der Arzt lächelte. „Señora Rivas, ich freue mich, Ihnen mitzuteilen, dass Sie schwanger sind. Meinen Glückwunsch.“

Isabella schüttelte den Kopf, überzeugt, dass sie sich verhört hatte. „Verzeihung?“

„Übelkeit ist besonders im ersten Drittel völlig normal.“ Er scrollte durch die Datei auf seinem Tablet. „Ausgehend vom Datum Ihrer letzten Periode, würde ich sagen, dass Sie in der 8. Woche sind. Nina wird Sie mit Vitaminpräparaten versorgen und Ihnen einen Gynäkologen und Geburtshelfer hier in Barcelona nennen, falls Sie nicht schon jemanden haben.“

Benommen schüttelte sie wieder den Kopf. Schwanger? Unmöglich. Sie hüpfte nicht von einem Bett ins andere. Und ohne Schutz schon gar nicht. Das letzte Mal, dass sie mit jemandem geschlafen hatte, war …

Oh!

Nein. Nein, nein, nein. Das konnte nicht sein. Sie bekam nicht ein Kind von Carlos, dem Typen, den sie gerade abgebügelt hatte, bevor sie fast vor ihm in Ohnmacht gefallen war. Nein. Ausgeschlossen!

Der Arzt verließ den Raum, und Nina kam herein. Ein Blick auf Isabella, und sie zuckte zusammen. „Oh Mann, Isa. Ich würde ja gratulieren, aber wenn ich dich so sehe, bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich es tun sollte.“

Die Neuigkeiten waren wie ein Schlag vor den Kopf gewesen. Jetzt ließ der Schock allmählich nach, aber nur, um kalter Angst Platz zu machen. Ich kann nicht Mutter werden. Sie hatte zehn Jahre ihres Lebens damit verbracht, ihre Geschwister großzuziehen, nachdem die Mutter gestorben war. Ein paar Jahre später wurde ihr Dad krank, und sie übernahm auch die Verantwortung für seine Pflege. Inzwischen lebten ihre Geschwister über ganz Spanien verstreut, hatten sich ein Leben aufgebaut und sie zurückgelassen. Verflucht, der einzige ihrer Geschwister, von dem sie regelmäßig hörte, war Diego – und das auch nur, weil er nach Barcelona zurückgekommen war und am St. Aelina’s arbeitete.

Ihr Magen revoltierte wieder, diesmal aus anderen Gründen.

„Ach, Isa.“ Nina kam zu ihr und rieb ihr sanft den Rücken. „Es tut mir leid. Falls ich irgendetwas tun, irgendwie helfen kann …“

„Schon gut.“ Sie glitt von der Untersuchungsliege. „Ich bin nur überrascht. Das ist alles.“ Isabella ging zur Tür. „Ich muss wieder zur Arbeit.“

Arbeit half. Würde immer helfen. Hoffte sie jedenfalls.

2. KAPITEL

Wenige Stunden später wartete Carlos auf den nächsten Rettungswagen. Man hatte ihnen einen Siebzehnjährigen angekündigt, der sich beim Surfen eine tiefe Wunde am Handgelenk zugezogen hatte. Dr. Manuel Pérez, einer der Orthopäden, war bereits unterwegs in die Notaufnahme.

Carlos war dankbar für die Ablenkung, weil er ständig an das katastrophale Treffen mit Isabella denken musste. Schlechter hätte er es nicht handhaben können! Er sah sie vor sich, blass, mit misstrauischem Blick. Und als sie beinahe vor ihm umgekippt wäre, war sein Stresspegel abrupt in die Höhe geschnellt. Nachdem er seine Patienten versorgt hatte, sah er noch einmal in der Notaufnahme vorbei, aber von Nina hörte er, dass Isabella schon weg war.

Wenn es wegen … unserer gemeinsamen Nacht ist, keine Sorge. Ist schon vergessen.

Ihre Worte drehten sich auf Endlosschleife in seinem Kopf, schmerzten immer wieder.

Weil er nichts vergessen hatte. Nicht eine Sekunde. Diese eine Nacht hatte ihm etwas bedeutet. Er fühlte sich nicht mehr so allein in der fremden Stadt. Und er hatte eine besondere Verbindung zu Isabella gespürt, ein unsichtbares Band, das sie zusammenhielt. Dass sie nicht das Gleiche empfunden hatte, tat weh. Natürlich wusste er, dass er nichts erwarten durfte, aber dennoch …

Die Automatiktüren schwangen auf, und das Geräusch holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Die Notfallsanitäter rollten ihren Patienten herein, der sich vor Schmerzen wand und stöhnte. Das Badehandtuch um sein Handgelenk war blutgetränkt. Natürlich waren es Isabella und ihr Partner, die den jungen Mann gebracht hatten. Carlos schlug das Herz in der Kehle, während er neben der Fahrtrage herlief, um ihnen den Weg zum nächsten Behandlungszimmer zu weisen.

Dr. Pérez tauchte neben ihm auf. „Was haben wir?“

Isabella runzelte die Stirn und blickte starr geradeaus, während sie einen kurzen Bericht gab. „Das ist Felipe, siebzehn Jahre alt. Hat sich beim Surfen eine tiefe, stark blutende Verletzung am rechten Handgelenk zugezogen. Sagte, er hätte sich an scharfkantigen Steinen in der Nähe der Killers geschnitten. Ich war selbst schon dort und kann bestätigen, dass diese Felsen gefährlich sind.“

„Verstehe.“ Dr. Pérez wartete, bis sie den Patienten auf das Krankenhausbett gehoben hatten, und entfernte vorsichtig das Handtuch. Carlos hielt sich mit Tupfern bereit, um die Blutung sofort zu stoppen, falls eine Arterie getroffen worden war. „Felipe“, sprach der Arzt den jungen Mann an. „Können Sie mir sagen, ob das Blut herausspritzte oder herausfloss, als der Unfall passierte?“

„Ich weiß es nicht.“ Glasige Augen verrieten, dass er starke Schmerzen hatte. „Ich hab mir ein Handtuch geschnappt und es auf die Wunde gedrückt, als ich das Blut sah.“

„Sie geht bis zum Knochen.“ Dr. Pérez inspizierte die Verletzung, sah dann zu Carlos hinüber. „Wie ist sein Blutdruck?“

„126 zu 84.“ Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass Isabella und ihr Partner den Raum verließen. Verdammt. Er hatte gehofft, mit ihr sprechen zu können.

„Okay. Felipe? Können Sie die Finger strecken und zur Faust schließen?“ Der Junge tat, worum ihn Dr. Pérez bat. „Prima. Motorische Fähigkeiten sind intakt. Perfekter Puls. Sieht mir nach einer venösen Blutung durch Muskelverletzung aus. Die Sehnen scheinen unbeschädigt zu sein.“

Carlos lächelte den Patienten an. „Gute Neuigkeiten.“

Dieser nickte und schluckte schwer.

„Na dann“, sagte Dr. Pérez zufrieden. „Trotzdem werde ich weitere Tests veranlassen, um sicherzugehen, dass wir nichts übersehen haben.“ Er wandte sich an Carlos. „Wir brauchen MRT und Röntgenaufnahmen vom Handgelenk. Organisieren Sie mir einen freien OP, damit ich die Verletzung nähen kann.“

, Doktor.“ Carlos folgte ihm nach draußen zum Stützpunkt der Station. „Ich lasse Sie verständigen, sobald die Ergebnisse da sind.“

Als der Patient den MRT-Termin hatte und ein Kollege ihn zur Radiologie brachte, nahm Carlos seine wohlverdiente Pause. Er war seit Stunden in der Notaufnahme und hatte weitere sieben vor sich, bevor sein Dienst zu Ende war. Jetzt drängte es ihn nach draußen an die frische Luft. Carlos sagte der Stationsschwester Bescheid und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Sein Handy trug er bei sich, falls man ihn vor Ablauf der Stunde brauchte.

Kaum hatten sich die Automatiktüren hinter ihm geschlossen, atmete er tief durch und blickte zum sternenfunkelnden Himmel hinauf. Es war fast Mitternacht, und das leise Zirpen der Grillen in der kühlen Nachtluft linderte ein bisschen den Stress, unter dem er gestanden hatte.

Hola.“

Die sanfte Begrüßung ließ ihn zusammenzucken. Er hatte gedacht, dass er allein hier draußen war. Carlos blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Isabella lehnte an der Wand, ihr Rettungswagen stand startklar ein paar Meter weiter.

Carlos’ Puls beschleunigte, das Blut pochte in seinen Ohren. Augenblicklich war er wieder in jenem Bereitschaftszimmer, fühlte sich wie ein Idiot bei der Frau, die ihm nicht aus dem Sinn ging. Sie sah besser aus, ihre Wangen waren rosig, ihre Augen leuchteten. Nicht, dass das Misstrauen völlig aus ihnen verschwunden wäre, aber es war nicht mehr ganz so stark.

Seufzend lehnte sie den Kopf zurück an die Wand. „Vielleicht können wir jetzt reden?“

„Klar … sicher.“ Carlos ging zu ihr. „Hier oder …?“

„Wollen wir ein Stück spazieren gehen?“, fragte sie und rief dann, ohne eine Antwort abzuwarten, ihrem Partner zu: „Bin gleich wieder da. Schick mir eine Nachricht, wenn es Arbeit gibt.“

Mario, der im Wagen saß, hob bestätigend den Daumen.

„Am Strand?“, schlug sie vor, während sie Richtung Straße gingen. „Es ist nicht weit, nur einen Häuserblock oder so.“

„Meinetwegen.“ Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Irgendwann fragte er: „Geht es dir besser?“

„Ja, danke.“

Bisher hatte sie ihn nicht ein einziges Mal angesehen. Er hatte keine Ahnung, was sie sagen oder was passieren würde, da sie ihm bereits erklärt hatte, dass er und die gemeinsame Nacht für sie praktisch vergessen waren. Aber sein Instinkt meldete, dass dies wichtig war, also drängte er sie nicht. Was auch immer sie ihm zu sagen hatte, brauchte anscheinend etwas Zeit. Im Lauf der Jahre hatte Carlos gelernt, geduldig zu sein.

Sie erreichten den Fußgängerweg an der Playa de Bogatell und folgten ihm eine Weile. Wellenrauschen mischte sich mit den Stimmen der Touristen und dem Krächzen der Möwen. Es roch nach Meer und Strand und dem Essen, das in den nahe gelegenen Bars serviert wurde. Zwei Rennradfahrer sausten an ihnen vorbei, sodass Carlos näher an Isabella heranrücken musste, wofür er sich gleich entschuldigte.

Schließlich blieben sie an einem freien Platz am Geländer stehen und blickten aufs Meer hinaus. Eine leichte Brise zerzauste ihre Haare, zupfte feine Strähnen aus Isabellas Pferdeschwanz und wehte sie gegen ihre Wangen. Von irgendwoher erklang eine langsame sehnsuchtsvolle Ballade, die zu diesem seltsam melancholischen Moment passte.

Isabella holte tief Luft, bevor sie etwas murmelte, das er kaum verstand. Noch immer sah sie ihn nicht an.

¿Perdón?Wie bitte? Sie konnte unmöglich gesagt haben, was er gehört zu haben glaubte …

Seufzend wandte sie sich ihm zu. „Ich bin schwanger.“

Carlos blinzelte, zweifelte wieder an seinem Hörvermögen, aber nein, sie hatte das Wort ausgesprochen. Schwanger. Seine Gedanken purzelten durcheinander, machten ihn schwindlig, blockierten seine Stimmbänder. Ein Baby. Sie bekommt ein Baby. Mein Baby. Ich werde Vater. Urplötzlich schwenkte das Gedankenkarussell in die andere Richtung. Ich bin noch nicht so weit, Vater zu werden. Wie soll ich ein Kind großziehen? Wir haben doch aufgepasst. Wir haben verhütet. Allerdings erinnerte er sich auch daran, dass sie beide einiges getrunken hatten, und als sie in ihrem Schlafzimmer landeten, wurde es … ein bisschen hektisch, also … Oh Mann! Sein Puls raste, leichter Schweiß prickelte auf seinem Nacken, ließ ihn in der kühlen Nachtluft, die vom Meer herwehte, frösteln. Sag etwas. Irgendetwas.

¿Que?“ Mehr brachte er nicht heraus.

„Ich bin schwanger“, wiederholte sie und wirkte nicht gerade überglücklich. „Es ist von dir.“

„Oh“, sagte er, und endlich überlagerten die Worte den Schock, und unerwartet überschwemmte ihn pure Freude zusammen mit dem starken Bedürfnis, Isabella und das Kind zu beschützen. Wir bekommen ein Baby. Mein Baby. Mein Kind. Sie hätte nicht zu betonen brauchen, dass es von ihm war. Er glaubte ihr. Vater. Ich werde Vater. Bitte, lass mich ein besserer sein als mein padre es für mich gewesen ist.

Carlos schwor sich, alles zu tun, um seinem Kind der beste Vater zu sein. Was auch immer nötig war.

Seine Begeisterung wurde gebremst, als er merkte, dass ihre sich in Grenzen zu halten schien. Der sorgenvolle Ausdruck in ihren Augen gab ihm zu denken. Ihm wurde das Herz schwer. Vielleicht wollte sie das Baby gar nicht behalten. Carlos wusste, dass er etwas sagen musste. Aber das wollte gut überlegt sein. In dieser Situation brauchte Isabella Halt, Beruhigung. Und er wollte es nicht wieder vermasseln wie beim letzten Mal. Er räusperte sich und hoffte, dass er sicherer klang, als er sich im Moment fühlte. „Ich bin für dich da, egal, was du brauchst, ja?“

Anfangs wusste Isabella nicht, wie sie reagieren sollte. Sie hatte erwartet, dass er schockiert war, überrascht, vielleicht sogar etwas skeptisch, als sie ihm sagte, dass das Kind von ihm war. Schließlich kannten sie sich kaum. Nach einer Nacht mit heißem Sex hatte man noch keine Beziehung, ganz gleich, wie toll er gewesen war.

Dass er ihr jedoch sofort seine Unterstützung angeboten hatte … Nun, das hatte sie umgehauen. Als die Älteste unter ihren Geschwistern war sie es gewohnt, dass die Verantwortung für was auch immer von unten nach oben weitergereicht wurde, bis sie bei ihr landete. Und nun wollte sich jemand anders kümmern, eine für sie völlig neue Erfahrung – der sofort eine zweite Erkenntnis folgte. Wenn Carlos ihr seine Hilfe anbot, bedeutete es, dass er in der Nähe bleiben würde. Isabella war sich nicht sicher, ob sie damit glücklich war.

Während sie nach einer entsprechenden Antwort suchte, fügte er hinzu: „Was hältst du davon, etwas trinken zu gehen und zu reden? Ich lade dich ein.“

„Oh, also …“ Sie zerbrach sich den Kopf nach einer glaubwürdigen Ausrede. Nicht weil sie nicht mehr Zeit mit ihm verbringen wollte, sondern weil sie sich genau das wünschte. Und es konnte gefährlich werden, sich auf andere zu verlassen. „Musst du nicht weiterarbeiten?“

Carlos warf einen Blick auf seine Smartwatch. „Erst in zwanzig Minuten. Komm“, sagte er und bedeutete ihr, ihm zu folgen. „Ich weiß, wo wir hingehen können. Ist nicht weit.“

Sie zögerte, blickte zum El Chiringuito hinüber, der Bar, wo sie an jenem Abend gewesen waren „Warum nicht dort?“

Er winkte ab. „Ich glaube, das andere wird dir besser gefallen. Vertrau mir.“

Müdigkeit und die Übelkeit von vorhin regten sich wieder, was nach all der Aufregung kein Wunder war. Außerdem hatte sie Durst, also … „Gut, gehen wir.“

Sie gingen zurück zum Krankenhaus, bogen jedoch nicht links, sondern nach rechts ab. Zwei Straßen weiter blieb Carlos vor einem Eckhaus stehen. Aus großen, grob behauenen grauen Steinen erbaut, strahlte es etwas Archaisches aus. Barcelona war für seine prächtige Architektur bekannt, und dieses Haus passte dazu. Angefangen bei den Bogenfenstern bis zu den mit üppig blühenden Rosen bepflanzten Blumenkästen, strahlte es etwas erhaben Mittelalterliches aus. Ein kunstvoll gestaltetes, handgemaltes Schild verriet den Namen der Bar – Encanteri.

„Vielleicht … sollten wir woandershin gehen.“ Isabella zögerte am Eingang. Sie hatte ihre Einsatzkleidung an, und Carlos trug OP-Kittel und – Hose. „Ich glaube, ich bin nicht richtig angezogen.“

„Unsinn“, sagte er und hielt ihr die Tür auf. Als er sie gewinnend anlächelte, spürte sie wieder ihren Magen. Diesmal aus anderen Gründen. Der Mann war umwerfend. Er zwinkerte ihr zu, und ihr Herz flatterte. „Die Bar gehört meinem Onkel. Weißt du noch? Ich hatte dir an unserem ersten Abend davon erzählt. Alles okay, also.“

„Oh, ich …“ Sie verstummte, als er ihr die Hand auf den unteren Rücken legte. Seine Wärme drang durch ihr Hemd und machte ihr seine Nähe stärker bewusst, als ihr lieb war.

Drinnen erwies die Bar ihrem Ruf alle Ehre. Zweigeschossig, mit Gläsern voller sprudelnder Getränke und Glasbehältern an den Wänden aufgereiht, die Flüssigkeiten in knalligen Farben enthielten, hatte sie etwas Magisches. Wie verzaubert blickte Isabella sich um. In der Mitte der Bar stand eine Apparatur, die aus einem Labor zu stammen schien, mit Schläuchen und Röhrchen, durch die zischendes Gebräu floss. Der Tresen aus dunklem Holz nahm eine Seite des Raums ein, auf der anderen standen kleine Tische für zwei oder vier Personen. Im Obergeschoss zog sich eine Balustrade rundherum, hinter der Gäste allein, zu zweit oder in Gruppen standen, farbenfrohe Drinks in der Hand. Gehört hatte sie von dieser Bar schon oft, war jedoch nie hier gewesen.

„Kennst du wirklich den Besitzer?“, flüsterte sie Carlos zu.

„Ja.“ Er sah sie an, lächelte wieder und hob dann die Hand, um den stämmigen grauhaarigen Mann hinter der Bar zu begrüßen. „Das ist mein Onkel Hugo. Encanteri gehört ihm.“

„Aha … okay.“ Isabella folgte ihm.

„Onkel Hugo, ich möchte dir Isabella Rivas vorstellen, eine …“ Carlos blickte sie, dann wieder seinen Onkel an. „… Freundin von mir.“

¡Hola, Isabella Rivas!“, sagte der ältere Mann und schüttelte ihr kräftig die Hand. „Hugo Sanchez. Willkommen in meiner Bar.“

„Danke.“ Sie erwiderte sein freundliches Lächeln. „Sie ist wunderschön. Stammen Sie auch aus Kuba?“

.“ Lächelnd klopfte Hugo seinem Neffen auf den Arm. „Ich lebe nun schon seit vierzig Jahren in Barcelona, doch Havanna wird immer mein Zuhause bleiben. Schön, dass ich diesen Kerl überreden konnte, mich zu besuchen.“

Carlos lachte leise. „Sí. Können wir zwei Mineralwasser bekommen, Onkel? Wir setzen uns an den Tisch dort drüben.“

„Natürlich.“ Hugo winkte Isabella zu und wandte sich ab, um ihre Getränke einzuschenken.

Carlos führte sie zu einem kleinen Zweiertisch in der Ecke, zog ihr den Stuhl hervor und wartete, bis sie saß, bevor er ihr gegenüber Platz nahm. Ihre Knie berührten sich, was Erinnerungen an jenen ersten Abend weckte.

„Du bist also hierhergezogen, um näher bei deinem Onkel zu sein?“, fragte Isabella, nachdem die Bedienung ihre Getränke gebracht hatte.

.“ Er lächelte traurig. „Und um mehr über meinen Vater herauszufinden.“

„Ach?“, antwortete sie, froh über ein Thema, das weder sie noch ihre Schwangerschaft betraf. Darüber würden sie irgendwann reden müssen, aber vielleicht nicht heute Abend schon. „Stammt er aus Barcelona?“

„Nein … das heißt, eigentlich weiß ich nur wenig über ihn. Er verließ meine Mutter vor meiner Geburt. Nach ihrem Tod im letzten Jahr fand ich in ihren Papieren Onkel Hugos Namen und beschloss, ein paar Nachforschungen anzustellen.“ Carlos zuckte mit den Schultern. „Erst als ich hierhergezogen war, hörte ich, dass mein Vater vor zehn Jahren gestorben ist.“

„Das tut mir leid.“ Ohne nachzudenken, griff Isabella nach seiner Hand, zog sie dann schnell wieder zurück.

„Danke.“ Er trank einen Schluck Wasser. „Inzwischen weiß ich von Onkel Hugo, dass Alejandro – so hieß mein Vater – Kubaner war, seine Familie jedoch oft von Havanna nach Barcelona und wieder zurück reiste. Meine Mutter und er lernten sich hier während eines Urlaubs kennen. Sie verliebten sich Hals über Kopf, und sie wurde schwanger. Leider merkte sie es erst, als sie mit ihren Eltern wieder auf Kuba war. Sie waren sehr verärgert und versuchten, meinen Vater und seine Familie zu kontaktieren. Ohne Erfolg. Sie haben nie mehr von ihm gehört.“

„Oh, das ist schlimm.“

„Hmm.“ Carlos lehnte sich zurück und streckte die langen Beine aus, sodass die dünne OP-Hose über seinen muskulösen Schenkeln spannte. Nicht, dass es ihr auffiel. Überhaupt nicht! „Es mag albern sein, aber ich habe das Tagebuch meiner Mutter mitgebracht. Dachte, ich könnte ihre Spuren in Barcelona nachvollziehen, einige romantische Orte, an denen meine Eltern waren, besuchen. Und vielleicht herausfinden, wie er war und was sie zusammen unternommen haben.“

Fasziniert beugte Isabella sich vor, stützte die Unterarme auf dem Tisch ab. „Das klingt toll, so geheimnisvoll. Ich würde mir das Tagebuch zu gern einmal ansehen.“

„Warum nicht jetzt gleich?“

„Oh … also …“ Verunsichert wich sie zurück.

Carlos lachte auf und tätschelte ihr den Arm. „Ich wohne über der Bar. Wir können in zwei Sekunden oben sein, und ich zeige es dir.“ Sein Lächeln schwand. „Es sei denn, du möchtest nicht mit hochkommen. Auf keinen Fall will ich dich zu etwas drängen, das du …“

„Nein, nein, alles in Ordnung“, unterbrach sie ihn rasch. Lieber mit dem Tagebuch, als sich mit ihr und der Schwangerschaft zu befassen. Sie wusste immer noch nicht, was sie deswegen tun sollte. Isabella blickte auf ihre Uhr. „Fünf Minuten, dann muss ich zurück zu Mario und unserem Einsatzwagen.“

„Dann los!“ Carlos stand auf und winkte kurz seinem Onkel zu, bevor er Isabella nach draußen zu einer schmiedeeisernen Treppe hinter dem Gebäude führte. Sie endete im zweiten Stock an einer luxuriösen Wohnung mit zwei Schlafzimmern, einem Bad, einer voll ausgestatteten Küche samt Waschmaschine und Trockner, einem großzügigen Wohn-Ess-Bereich und einem kleinen Balkon. „Mein Onkel gewährt mir bei der Miete einen Nachlass, sonst könnte ich mir das Apartment gar nicht leisten. Setz dich, ich hole das Tagebuch.“

Sie suchte sich einen Platz am Ende des weich gepolsterten weißen Sofas. Ihre Wohnung war ungefähr gleich groß, wenn nicht sogar etwas größer, mit einem zusätzlichen kleinen Schlafraum, den sie als Arbeitszimmer nutzte. Von der Aussicht hatte Carlos allerdings mehr als sie. Von seinem Balkon aus blickte er auf den Strand und den Ozean, sie hingegen auf ein Meer von Dächern.

Gleich darauf kam er zurück und reichte ihr das Tagebuch. „Da, wo das Lesezeichen liegt, fängt ihre gemeinsame Geschichte an.“

Isabella schlug es auf und begann zu lesen. An den meisten Orten, die seine Mutter beschrieben hatte, war sie unzählige Male gewesen. Schließlich lebte sie bereits ihr ganzes Leben in dieser Stadt. La Sagrada Família. Park Güell. Casa Milà. Alles übliche Touristenattraktionen, die seine Mutter Ana vermutlich mit ihre...

Autor

Traci Douglass
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Susan Carlisle
<p>Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
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