Julia Ärzte zum Verlieben Band 182

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HAPPY END MIT DEM SPANISCHEN DOC? von LOUISA HEATON
Traurig erkennt Grace: Ihre Ehe mit dem Chirurgen Diego Rivas ist zerbrochen. Doch kurz bevor sie ihre Sachen packt, finden sie sich beide in einem dramatischen Einsatz wieder. Ist wirklich alles verloren, wenn sie sich so bedingungslos aufeinander verlassen können?

AUF WOLKE SIEBEN MIT DER PILOTIN von CHARLOTTE HAWKES
Alles ganz professionell, schwört sich die schöne Helikopterpilotin Piper, als sie vorübergehend bei ihrem Kollegen Dr. Lincoln Oakes einzieht. Aber sie hat die Rechnung ohne das Knistern zwischen ihnen gemacht. Dabei hat Piper doch ein Geheimnis, das jede Liebe verbietet …

DIE STÄRKE, DIE DU MIR SCHENKST von ALLIE KINCHELOE
„Mason? Kannst du mich hören?“ Verzweifelt versucht Jess, Kontakt zu ihrem verschütteten Sohn aufzunehmen. Ein Tornado hat die Schule zerstört! Stärke gibt Jess in diesem Moment der attraktive Rettungssanitäter Beckett Wilder, der sie tröstend in die Arme nimmt …


  • Erscheinungstag 23.09.2023
  • Bandnummer 182
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519182
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Louisa Heaton, Charlotte Hawkes, Allie Kincheloe

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 182

1. KAPITEL

Die sinkende Sonne tauchte die Fassade des St. Aelina’s Hospitals in ein warmes orangerosa Glühen. Grace atmete tief aus, versuchte, ihre Nerven zu beruhigen und sich zu wappnen für das, was sie drinnen erwartete.

Oder vielmehr, wer.

Sie hatte Diego nicht Bescheid gesagt, dass sie wieder da war. Nach dem heftigen Streit vor ihrer Abreise fühlte es sich nicht richtig an. Was waren sie füreinander? Offiziell verheiratet, aber Freunde? Die sich gegenseitig besuchten, einfach, um Hi zu sagen? Die sich in die Arme fielen, so wie früher? Nein, nicht einmal annähernd!

Ihre letzte Auseinandersetzung, bevor sie zu Tante Felicity in Cornwall flog, hatte ihr das Herz zerrissen. So stritten sich Menschen, deren Beziehung endgültig in die Brüche gegangen war. Und wenn man eine Beziehung beendete und verschwand, meldete man sich nicht, wenn man zurück war. Weil der andere praktisch nicht mehr zu deinem Leben gehörte.

Grace war auf ihr Verhalten nicht besonders stolz. Dass sie ihn angeschrien, wie sie getobt hatte. Verzweifelt darauf wartete, dass er etwas sagte. Etwas tat. Irgendwie reagierte. So sehr hatte sie gehofft, dass ihre Worte zu ihm durchdrangen, dass er sie mi amor nannte, sie in die Arme zog, sie küsste und ihr versicherte, dass alles gut werden würde. Dass er sie verstand. Dass sie mit all dem Kummer und Schmerz, den das Leben ihnen in den Weg warf, fertigwürden und hinterher gemeinsam stärker waren als vorher.

Diego tat nichts dergleichen. Er stand nur da. Ließ das Gewitter über sich ergehen. Starrte vor sich hin, fast wie ein gescholtenes Kind. Presste die Lippen fest zusammen, als wollte er um jeden Preis vermeiden, etwas zu sagen.

Oh, warum hatte er nichts gesagt? Irgendetwas, um ihr zu zeigen, dass er für sie beide noch eine Chance sah.

Aber sein Schweigen, seine Unfähigkeit, irgendetwas von ihrer Ehe zu retten, gab ihr den Rest. Frustriert warf sie die Arme hoch und stürmte an ihm vorbei, knallte die Schlafzimmertür hinter sich zu, um ihr Gepäck ein letztes Mal zu checken. Sie durfte den Flug nach England nicht verpassen. Vor allem, weil sie ihn allein antreten würde!

Grace hatte ihn nicht gehen hören. Sicher weil sie zu sehr damit beschäftigt gewesen war, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Als sie schließlich das Schlafzimmer verließ und ihren Rollkoffer hinter sich herzog, erwartete sie ein letztes tränenreiches Goodbye, vielleicht einen letzten Versuch, ihre Beziehung zu retten.

Stattdessen fand sie einen Zettel auf dem Küchentresen.

Ich denke, es ist am besten, wenn ich in die Personalunterkünfte im Krankenhaus ziehe.

Fürs Erste.

D

Nur D.

Keine Küsse.

Kein Lass uns reden, wenn du zurück bist. Nichts. Wütend zerknüllte sie die Nachricht und warf sie in den Müll.

Wenn sie jetzt an jenen Abend dachte, wurde ihr flau im Magen. Grace blickte am St. Aelina’s hinauf und versuchte, daran zu denken, wie viel Freude sie an diesem Ort erlebt hatte.

Besonders nachts und hell erleuchtet, strahlte das Gebäude eine eigene Schönheit aus. Wie aus einer anderen Welt. Eine Welt, in der sie glücklich sein konnte. Eine Zuflucht, um ihren Kummer zu vergessen. Als Hebamme auf der Entbindungsstation zu arbeiten, war nicht nur ein Job, sondern Lebensart für sie. Das Land und seine Menschen hatten ihr Herz gewonnen. Bevor sie Diego begegnet war, hätte sie nicht im Traum daran gedacht, das Krankenhaus in London zu verlassen. Geschweige denn ihre Heimat, von Urlauben abgesehen. Aber Spanien – Barcelona, das St. Aelina’s – war ihr Zuhause geworden. Mehr, als sie es je für möglich gehalten hätte.

Die Leute, das Wetter, die herrlichen historischen Häuser, die weiche, melodische Sprache … all das hatte sich in ihr Herz geschlichen, während Diego es wieder verlassen hatte.

Nein, das stimmte nicht. Er war immer noch in ihrem Herzen, war immer noch ihr Ehemann und würde dort immer einen Platz haben. Vor allem nach dem, was sie durchgemacht hatten. Doch sie hatte ihn nicht halten können. Er war gegangen, hatte nicht für ihre Liebe gekämpft, wie Grace es sich erhofft hatte.

Wehmütig betrachtete sie das Krankenhaus, in dem sie den Rest ihres Berufslebens hatte arbeiten wollen. Aber jetzt musste sie kündigen. Ihre Ehe war gescheitert, und das Glück, das sie hier gefunden hatte, würde sich mehr und mehr in Schmerz verwandeln.

Wenn sie auch nur einen Funken Selbstachtung besaß, blieb sie nicht und wartete ab, ob Diego ihr vielleicht die Freundschaft anbot. Entweder Liebe oder gar nichts. Und lieben, das hatte er deutlich klargemacht, konnte er sie nicht so, wie sie es brauchte.

Ja, am besten zog sie einen klaren Schlussstrich.

Grace straffte die Schultern und betrat das Krankenhaus, bereit, all die Freundinnen und Freunde zu begrüßen, die sie zwei Wochen lang nicht gesehen hatte.

Buenas noches.“

Sie wünschte den Reinigungskräften einen guten Abend und auch den Pflegehelfern. Sie winkte Jorge zu, der das Café betrieb und gerade auf dem Weg nach Hause war.

Nachtdienste waren genau das Richtige für sie. Schon lange schlief sie nachts schlecht, da konnte sie auch arbeiten. Und es lenkte sie von ihren privaten Problemen ab. Jede Station, jedes Zimmer dieses Krankenhauses wusste Geschichten zu erzählen. Einige endeten. Manche beschrieben einen langen, schwierigen Weg. Doch auf der Entbindungsstation begannen neue Abenteuer.

Familien wurden größer. Wunder geschahen. Menschen erlebten Freude und Glück wie nie zuvor in ihrem Leben. Ein neues Gesicht, ein neues Leben wurde innig ins Herz geschlossen. Manchmal herrschten Trauer, Schmerz und Verzweiflung. Grace fühlte mit den untröstlichen Eltern, versuchte jedoch, den Verlust nicht zu nahe an sich heranzulassen. Zu sehr erinnerte er sie an ihre eigene Geschichte. Allerdings überwogen die Glücksmomente, und alle auf der Station hatten ihren Anteil daran – Hebammen, Ärztinnen und Ärzte, Säuglingsschwestern.

Es war ein ganz besonderer Ort.

Grace ging zu Fuß in den 1. Stock, um im Fahrstuhl nicht zufällig auf Diego zu stoßen. Er übernahm auch Nachtdienste, doch sie hoffte, dass sie sich nicht über den Weg liefen. Diego war Neonatalchirurg und arbeitete im 2. Stock. Grace drückte sich die Daumen, dass ihre werdenden Mütter die Babys ohne Komplikationen zur Welt brachten. Dann musste Diego nicht in ihre Abteilung gerufen werden.

Irgendwann würden sie sich begegnen, das war ihr klar. Aber zuerst brauchte sie eine Dosis der vertrauten Glücksgefühle! Grace begrüßte ihre Freundinnen und Kollegen, hörte sich konzentriert die Übergabe an und machte sich schließlich auf den Weg zu ihrer ersten Schwangeren, die in den Wehen lag. Zufrieden stellte sie fest, dass alles seinen natürlichen Gang ging. Hier wurde kein Neonatologe gebraucht.

Bei Alejandra de Leon war der Muttermund vollständig eröffnet, und sie wartete auf die Presswehen. Für sie und ihren Mann Matteo war es das erste Kind. Grace’ Kollegin und Freundin Nena betreute sie.

Grace löste sie ab und stellte sich vor. Matteo wirkte nervös und sehr aufgeregt, während er Kameras und Aufnahmegeräte an verschiedenen Stellen im Zimmer positionierte. Eins war am Bettgestell in Kopfnähe seiner Frau angebracht.

„Sie möchten nichts verpassen, hm?“, fragte Grace lächelnd auf Spanisch.

„Wir haben einen Videokanal.“

„Wirklich?“

„Mit fast 100.000 Followern“, erklärte er stolz.

„Beeindruckend. Wissen Sie schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist?“

„Wir lassen uns überraschen.“ Alejandra rieb ihren Bauch. „Oh, da kommt wieder eine … soll ich pressen?“

Grace nickte. „Holen Sie tief Luft und krümmen Sie sich, Kinn auf die Brust.“ Ermutigend half sie ihr mit weiteren Anweisungen. Erstgebärende waren meistens unsicher, wie sie pressen sollten. Aber dafür war Grace ja da. Und wie die Eltern wollte sie das Baby sehen, den unvergleichlichen Moment erleben, wenn es herausglitt, auf den Bauch seiner Mutter gelegt wurde, den ersten Schrei tat …

Matteo umklammerte die Hand seiner Frau. „Das machst du großartig“, flüsterte er. „Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr!“

Alejandra wandte sich ihm zu, lächelte und küsste ihn. Doch da setzte schon die nächste Kontraktion ein.

Grace zählte bis zehn. Sie konnte bereits das Köpfchen sehen. Das Kleine hatte dichte dunkle Haare. „Alejandra? Strecken Sie die Hand aus, fühlen Sie den Kopf Ihres Babys.“

„Oh!“, stieß sie hervor, als sie ihn unter den Fingern spürte. Überrascht, voller Liebe und Staunen sah sie ihren Mann an.

Matteo küsste sie auf die Stirn. „Du schaffst es! Geht es dir gut?“

Alejandra nickte und krümmte sich unter einer weiteren Wehe.

„Es ist anstrengend, aber Sie machen das gut“, sagte Grace. Ein Dammschnitt war hier wahrscheinlich nicht nötig. Genau was sie brauchte. Eine normale, komplikationslose Entbindung. Wie sehr hatte sie das vermisst!

Zwei Wochen bei Tante Felicity zu verbringen, war wundervoll gewesen. Auch wenn sie allein gereist war und ihre Ehe in Scherben lag. Sie waren am Strand spazieren gegangen, hatten in Cafés heiße Schokolade getrunken und Fish and Chips aus Papiertüten gegessen, bibbernd im Wind am Ufer der stürmischen See. Das englische Juliwetter hatte sie nicht mit Sonnenschein verwöhnt.

Es tat gut, ihre Tante wiederzusehen. Trotz der Fragen, die aufkamen. Wie sie sich die Zukunft vorstellte. Welche Entscheidungen sie treffen musste. Auch über ihre Sehnsüchte sprach Grace. Mehr als alles wünschte sie sich ein Kind.

Nicht auf alles, was Tante Felicity sie fragte, fand sie eine Antwort. Oft genug hörte Grace sich sagen: Ich weiß es nicht.

Selbst als sie wieder nach Hause kam, hier in Spanien, fand sie keine Antworten. Nur eine leere Wohnung. Still, ohne Leben. Ein Haufen Briefe auf der Fußmatte. Nichts Besonderes, von einer Hochzeitseinladung abgesehen. Javier und Caitlin, ihre Freunde und Kollegen, heirateten auf dem luxuriösen Anwesen Maravilla. Unter anderen Umständen hätte Grace sich gefreut, doch jetzt warf die stilvolle Karte nur weitere Fragen auf. Sollte sie auf diese Hochzeit gehen? Und wenn sie den beiden im Krankenhaus begegnete, was sollte sie sagen? Schließlich erwarteten sie sie auf ihrer Hochzeit. Mit Diego.

Es war zu viel. Zu kompliziert.

Aber dieses Paar hier würde gleich ein kleine Familie sein. Alejandras und Matteos Leben veränderte sich für immer. Ihnen wurde geschenkt, was Grace sich seit Jahren wünschte. Schwanger zu werden, war nie das Problem gewesen. Schwanger zu bleiben dagegen schon.

Sie weigerte sich, den Schmerz hochkommen zu lassen. Jetzt ging es nicht um sie, sondern um die werdenden Eltern in diesem Zimmer.

Alejandras Schrei begleitete die Presswehe. „¡Duele!“ Es tut weh!

„Ich weiß … der Kopf Ihres Babys dehnt das Gewebe. Noch einmal pressen, dann ist er draußen!“

Alejandra nickte erschöpft und trank einen Schluck Wasser aus der Tasse, die Matteo ihr an die Lippen hielt. Er griff nach einem Tuch und tupfte ihr die Stirn ab. „Du bist wunderschön. Ich liebe dich so sehr!“

Grace lächelte. Es war schön, die beiden so zu sehen. Bittersüße Gefühle durchströmten sie. Diego und sie waren auch einmal sehr verliebt gewesen …

Alejandra krümmte sich erneut.

„Sehr gut, weiterpressen! Pressen Sie mit aller Kraft … Und jetzt hecheln …“

Der Kopf war geboren, das Gesicht zum rechten Schenkel der Mutter gewandt.

„Babys Köpfchen ist draußen! Eine letzte Wehe, Alejandra, dann haben Sie es geschafft!“

Die werdende Mutter keuchte, kniff die Augen zusammen und presste wieder.

Die Schultern traten aus, und Grace stützte das Kind.

„Augen aufmachen, mamita, fühlen Sie Ihr Baby“, sagte sie und half ihr, das Kleine auf den Bauch zu heben. Alejandra weinte vor Dankbarkeit und Erleichterung, und in Matteos Augen schimmerten Tränen, als das Neugeborene den ersten Schrei von sich gab. Und dann lachten und jubelten alle, während Grace Matteo die Nabelschnur durchschneiden ließ. Anschließend deckte sie das Baby mit einem blauen Handtuch zu.

„Wollen Sie sehen, was es ist?“, fragte sie die glücklichen Eltern.

Matteo sah nach, und sein Lächeln wurde noch breiter, als er zu seiner Frau sagte: „Es ist ein Mädchen!“

Grace wartete darauf, dass die Plazenta ausgestoßen wurde. „Wissen Sie schon, wie Sie Ihre Tochter nennen werden?“

„Eliana Maria.“

„Was für ein wunderschöner Name. Alles Gute zum Geburtstag, Eliana.“

Sie überprüfte die Plazenta, und es war alles in Ordnung. Auch der Blutverlust der Mutter bewegte sich im normalen Bereich. Grace räumte so leise wie möglich auf, um die junge Familie nicht zu stören. Gleich würde sie ihnen ein wenig Zeit füreinander gönnen, bevor sie ins Zimmer zurückkehrte, um den postnatalen Check durchzuführen und den Apgarwert zu messen.

Wie immer in solchen Momenten fragte sie sich, ob sie jemals auch diese Erfahrung machen würde – glückselig mit dem geliebten Mann an ihrer Seite und ihr gemeinsames Kind im Arm. Alejandra hielt ihr Baby, Matteo saß halb auf dem Bett, hatte den Arm um sie gelegt. Beide hatten nur Augen für die Kleine, als wäre Grace nicht mehr im Zimmer.

„Bin in ein paar Minuten wieder da.“

Sie machte sich auf den Weg zur Tür. Sosehr sie es liebte, wenn ein Baby geboren wurde und auf allen Gesichtern ein strahlendes Lächeln erschien, so sehr hasste sie diesen Moment. Wenn sie vergessen war und ihr wieder einfiel, dass dieses Glück nicht ihr Glück war und sie nicht zu dieser Familie gehörte. Vielleicht erinnerten sie sich später an sie, wenn sie von der Geburt ihres Kindes erzählten. Vielleicht erwähnten sie die nette Hebamme, die ihnen geholfen hatte, alles durchzustehen. Aber das wäre auch alles.

Leise schloss sie die Zimmertür und atmete langsam aus. Tränen prickelten hinter ihren Lidern, doch sie zwinkerte sie weg. Entschlossen gab sie ihre Notizen zu Alejandras Entbindung ein und ging dann in die kleine Küche. Die beiden freuten sich bestimmt über einen Kaffee.

Sie goss zwei Tassen voll und war gerade auf dem Weg zu Alejandras Zimmer, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung zu ihrer Linken wahrnahm. Grace sah lächelnd in die Richtung, weil sie Ana, Gabbi oder Mira dort vermutete.

Es war keine ihrer Kolleginnen.

Grace erstarrte, als sie dem Blick ihres Mannes begegnete.

Diego.

Ihr Lächeln fiel in sich zusammen. Übelkeit kroch ihr die Kehle hoch, ihr Mund wurde trocken, und das Herz schlug ihr heftig gegen die Rippen. Warum war Diego hier? Wer hatte ihn gerufen? Bei der Übergabe war von anstehenden Frühgeburten keine Rede gewesen, und sie hatte gedacht, sie hätte noch ein bisschen Zeit, bevor sie ihm gegenüberstand. Jetzt fühlte sie sich überrumpelt …

Er sah fantastisch aus. Natürlich! Diego Rivas war ein attraktiver Mann. Abgesehen davon, dass er groß war und muskulös und beunruhigend sexy, rettete er Babys das Leben. Welche Frau würde nicht in Verzückung geraten! Seine dunklen Augen, der intensive Blick, der ihren festhielt, sie sollten mit einer Blutdruckwarnung versehen sein. Anscheinend ließ er sich einen Bart stehen, leichter Bartschatten bedeckte sein markantes Kinn.

Diego lächelte nicht. Tatsächlich wirkte er schockiert, sie zu sehen. Hatte genau wie sie wohl nicht damit gerechnet, dass sie sich hier begegnen würden. Grace fühlte sich ein bisschen besser. Hatte sie nicht darum gekämpft, bei ihm eine Reaktion hervorzurufen, bevor er gegangen war? Jetzt hatte sie eine.

„Diego …“

Sie sah, wie er schluckte. Sah ihn auf die blaue Patientenmappe in seiner Hand starren. Lange. Bis er sich plötzlich abwandte und davonging, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Erst als er außer Sichtweite war, spürte sie, wie viel Spannung sich in ihrer Brust, ihrem Magen, ihren Beinen angestaut hatte. Schlagartig verschwand sie, und Grace fühlte sich erschöpft und matt. Kraftlos sank sie gegen die Wand, atmete ein paar Mal tief durch, um nicht an Ort und Stelle in Tränen auszubrechen.

Er hat nicht einmal Hallo gesagt.

War sie selbst diese kleine Geste nicht wert? Hasste er sie so sehr, dass er es nicht ertrug, sie anzublicken? Hätte er nicht wenigstens kurz nicken können? Stattdessen marschierte er wortlos in die andere Richtung!

Zugegeben, als sie sich das letzte Mal sahen, war sie davongestürmt und hatte die Schlafzimmertür hinter sich zugeschlagen, aber … Konnten sie hier am Arbeitsplatz nicht wie Erwachsene damit umgehen? Niemandem wäre damit gedient, wenn sie ihre privaten Probleme ins Berufsleben trugen. Schaudernd stellte sich Grace vor, wie Kolleginnen und Kollegen wie auf rohen Eiern um sie herumschlichen. Oder noch schlimmer, Freunde sich gezwungen sahen, sich auf die eine oder die andere Seite zu schlagen.

Gut, dass ich nicht bleiben werde.

Grace straffte die Schultern und klopfte sanft an Alejandras Zimmertür, bevor sie eintrat. Die Kaffees stellte sie auf einem Schränkchen ab und lächelte die jungen Eltern an. „Ich muss Eliana noch einmal durchchecken, ja? Sie bekommen sie gleich wieder.“

Alejandra nickte und legte sie ihr in die Arme. Grace blickte auf das pausbäckige Baby hinunter, bewunderte das dichte schwarze Haar, die winzigen Fäustchen und die kleine Stupsnase.

Eines Tages könnte sie auch Mutter werden. Allerdings bestimmt nicht in naher Zukunft. Und vor allem nicht, wenn sie mit Diego verheiratet blieb.

Er wollte nichts mit ihr zu tun haben.

Je eher sie nach Cornwall zurückkehrte, umso besser.

Ihre Ehe war gescheitert.

Seit sie weg war, hatte er nonstop gearbeitet. Deshalb war er wie vor den Kopf geschlagen, als er im St. Aelina’s unerwartet seiner Frau begegnete. Er hatte eine Patientenakte für den morgendlichen Tagdienst herbringen wollen und überhaupt nicht daran gedacht, dass Grace heute Abend ihren ersten Nachtdienst nach zwei Wochen Abwesenheit haben würde.

Und sie sah … wunderschön aus. Das karamellblonde Haar hatte sie locker hochgesteckt, einzelne Strähnen rahmten ihr herzförmiges Gesicht. Und ihre blauen Augen – nicht blassblau, sondern leuchtend blau wie die Kuppeldächer auf Santorini – schlugen ihn einmal wieder in ihren Bann …

Die letzten beiden Wochen waren ihm endlos erschienen. Ursprünglich hatten sie zusammen nach Cornwall fliegen wollen, um ihre Tante zu besuchen. Er mochte Felicity. Hatte sich in ihrem kleinen Cottage am Meer auf Anhieb wohlgefühlt. Auch die Menschen dort gefielen ihm. Alle hatten ihn herzlich willkommen geheißen – obwohl ihre Tante nicht zur Hochzeit eingeladen gewesen war.

Grace und er hatten in London geheiratet, standesamtlich, in der Nähe des Krankenhauses, mit zwei Kollegen als Trauzeugen. Keine große Hochzeit in Weiß am Strand, von der Grace immer geträumt hatte, wie er später erfuhr. Aber sie wollten so schnell wie möglich verheiratet sein, weil Grace es kaum erwarten konnte, für immer mit ihm nach Barcelona zu gehen und eine Familie zu gründen. Sie waren so unglaublich verliebt, dass es ihnen als das einzig Richtige erschien. Heiraten, London verlassen, in Spanien leben und das ersehnte erste Kind bekommen.

Die Welt lag ihnen zu Füßen, und sie hatten geglaubt, dass alles möglich war.

Und heute?

Es hatte wehgetan, sie zu sehen. Körperlich spürbar wehgetan. Als hätte ihm jemand in die Brust und dann in den Magen geboxt, war ihm die Luft weggeblieben. Diego hatte keinen Ton herausgebracht. Ihre Blicke trafen sich, und er war wie in einem dieser grellen Lichtstrahlen in seinen geliebten Science-Fiction-Filmen gewesen. Er konnte sich nicht bewegen, konnte nicht atmen, nicht denken.

Mehr als alles wollte er zu ihr laufen, sie in die Arme ziehen, festhalten und nie wieder gehen lassen. Ihr sagen, wie leid ihm alles tat. Nur zwei Wochen waren sie getrennt gewesen, aber davor hatten sie sich so furchtbar gestritten, dass er keinen anderen Weg sah, als auszuziehen.

Seit er sie in seine Heimatstadt Barcelona gebracht hatte, bescherte er ihr nur Kummer und Verzweiflung, die langsam, aber unaufhaltsam all ihre gemeinsamen Hoffnungen und Träume zerstörten.

Doch statt zu ihr zu laufen, starrte er auf die Akte in seiner Hand. Es half ihm, sich zusammenzunehmen und zu gehen.

Später würde er mit seiner Frau reden. Vielleicht fand er dann die richtigen Worte? Vielleicht konnten sie dann miteinander sprechen, ohne bitterböse zu streiten?

Die Zeit heilt alle Wunden. Sagten die Leute das nicht immer wieder? Und genau das brauchten Grace und er. Zeit. Mehr Zeit.

Wenigstens war sie wieder hier. Sie hatten die Gelegenheit, ihre Probleme zu besprechen und zu lösen. Keine Trennungen mehr. Keine Abschiede. Zwar könnte es eine Weile dauern, doch eines Tages würden sie wieder miteinander reden.

Grace hatte Alejandra und ihre kleine Eliana gerade auf die Wöchnerinnenstation gebracht, als ihr Pager sich meldete. Sie wurde dringend in der Notaufnahme gebraucht.

„Wir bekommen einen Fall herein, und man hat ausdrücklich nach dir gefragt“, erfuhr sie, als sie anrief.

Seltsam. „Von wem?“

„Der Notfallsanitäterin.“

Die einzige Notfallsanitäterin, die ihren Namen kannte, war Isabella. Diegos ältere Schwester.

„Bin gleich unten. Wisst ihr Genaueres?“

„Nur wenig. Es handelt sich um eine junge Frau mit vorzeitigen Wehen.“

Oh.

Grace war es gewohnt, in die Notaufnahme geholt zu werden. Die Hebammen wurden oft gerufen, um Schwangere in den Wehen zu betreuen. Aber wenn Isabella jemanden brachte … Würde ihre Schwägerin Zeit haben, sie beiseitezunehmen und zu fragen, was mit ihrem Bruder und Grace los war? Wusste sie überhaupt etwas? Und falls das Baby als Frühchen geboren wurde, musste dann nicht auch ein Neonatologe dazukommen? Der einzige, den sie heute während ihres Nachtdienstes gesehen hatte, war ihr Mann.

Diego.

Drauf und dran, der unangenehmen Situation aus dem Weg zu gehen, wollte sie schon eine andere Hebamme bitten, an ihrer Stelle in die Notaufnahme zu gehen. Aber Grace war noch nie feige gewesen. Außerdem hatte Isabella bestimmt so viel zu tun, dass sie ihre Patientin abliefern und gleich wieder verschwinden würde. Und mit etwas Glück drohte bei der jungen Frau gar keine Frühgeburt. Die Infos konnten falsch sein.

Vielleicht.

Mit dem Glück war es so eine Sache …

Grace wollte nicht länger darüber nachdenken. „Ich komme sofort.“

Sie legte den Hörer auf und starrte den Apparat an. Erst als Ana näher kam, blickte sie auf. „Ich muss in die Notaufnahme. Unter Umständen bekommen wir eine Frühgeburt. Kannst du oben Bescheid sagen und nachfragen, ob sie einen freien Inkubator haben?“

„Klar.“ Ana lächelte.

Grace eilte an den Fahrstühlen vorbei, öffnete die Tür zum Treppenhaus und lief die Stufen hinunter, von aufgeregten Gedanken begleitet. Wenn Isabella nun gehört hatte, dass Diego ausgezogen war? Wenn ihre Schwägerin nun sauer auf sie war! Isabella und Diego standen sich sehr nahe. Grace war nicht sicher, ob sie es jetzt mit einer wütenden Spanierin aufnehmen könnte.

Unten angekommen, sah sie Isabella, die ihre Patientin in Kabine 3 rollte.

Zögerlich lächelte Grace. „Hola. Was haben wir?“

„Das ist Zara, achtzehn Jahre alt, klagt über Bauchschmerzen, die kommen und gehen. Sie schätzt, dass sie im achten Monat schwanger ist.“

„Schätzt?“

„Sie lebt auf der Straße. Keine Schwangerschaftsvorsorge, keine Ultraschallbilder.“ Isabella klang besorgt. Als könne sie es kaum glauben. „Sie weiß nicht einmal, wie viele Babys da drin sind.“

„Hallo, Zara. Mein Name ist Grace“, sagte sie lächelnd auf Spanisch. „Ich bin Hebamme, und ich werde mich um Sie kümmern.“ Sie wandte sich wieder an Isabella. „Wo hast du sie gefunden?“

„Im Park des Krankenhauses. Sie schlief im Pavillon.“

Armes Mädchen. „Zara, erzählen Sie mir mehr über Ihre Bauchschmerzen. Können Sie sie beschreiben?“

Zara beschrieb die Schmerzen, und für Grace hörte es sich nicht nach Geburtswehen an.

„Darf ich Ihren Bauch abtasten?“

Die junge Frau nickte.

„Ich verschwinde wieder“, sagte Isabella knapp.

Grace wandte sich ihr zu, um ihr zu danken, erwartete einen forschenden Blick, irgendetwas, aber ihre Schwägerin sah sie nicht einmal an.

Sie wirkte abgelenkt. Als wollte sie so schnell wie möglich weg aus der Notaufnahme.

Flüchtig blickte Grace ihr nach und mochte es sich kaum eingestehen, doch sie war froh, dass Isabella kein Wort zu Diego und ihr gesagt hatte! Vielleicht wusste sie nicht, dass sie sich getrennt hatten.

Konzentriert untersuchte sie Zaras Abdomen und legte ihr Maßband an, um den Fundusstand zu messen – den höchsten Punkt des gewölbten Bauchs. 36 Zentimeter. „Sie haben recht. Die Geburt steht bevor, und das Baby liegt mit dem Kopf nach unten, was schon einmal gut ist. Wenn Sie einverstanden sind, schließe ich Sie an einen Wehenschreiber an. Damit überwachen wir Babys Herzschlag und die Kontraktionen.“

Zara nickte.

Sie war achtzehn. Bestimmt hatte sie Angst.

„Können wir jemanden anrufen? Freunde? Familie?“ Grace konnte sich kaum vorstellen, wie es sein musste, so jung, hochschwanger und kurz vor der Geburt völlig allein zu sein.

Diesmal schüttelte Zara den Kopf und sah weg.

„Was ist mit dem Vater Ihres Kindes?“

Wieder ein Kopfschütteln, doch nun schimmerten Tränen in ihren Augen.

Mitfühlend legte Grace ihr die Hand auf den Arm. „Schon gut. Hier sind Sie sicher. Ich kümmere mich um Sie, okay?“

Zara nickte.

„Um alles richtig zu machen, brauche ich noch ein paar Informationen. Ich müsste Ihnen Blut abnehmen und Sie nach früheren Krankheiten, Operationen und so weiter fragen. Einverstanden?“

„Von mir aus …“

„Und eine Urinprobe wäre gut.“

Wieder nickte die junge Frau.

„Eine letzte Frage …“

Unwirsch blickte Zara sie an. „Was?“

Grace lächelte. „Möchten Sie etwas trinken?“

Zum ersten Mal seit ihrer Einlieferung glitt der Hauch eines Lächelns über Zaras schmales Gesicht.

Während Zara bei der Ultraschalluntersuchung war, nutzte Grace die Gelegenheit, eine neue Patientendatei für sie anzulegen. Dabei ging ihr nicht aus dem Kopf, wie es für Zara sein musste: erst achtzehn, schwanger, kein Zuhause. Die Straße war für niemanden ein Ort zum Leben, erst recht nicht für eine Schwangere. Dennoch beneidete Grace sie im Stillen. Trotz ihrer prekären Situation hatte Zara etwas, das Grace verwehrt blieb. Sie wurde Mutter.

Das Leben spielt oft ein merkwürdiges Spiel, dachte Grace. Es gab Menschen wie sie, die hart arbeiteten, aufrichtig und freundlich waren. Menschen, die ein Dach über dem Kopf hatten, gesetzestreu waren und nie etwas falsch gemacht hatten. Und einige sehnten sich unbeschreiblich danach, eine Familie zu gründen, und konnten es nicht. Entweder konnten die Frauen nicht schwanger werden, oder den Paaren ging es wie Diego und ihr. Die Frauen wurden schwanger, verloren aber ihre Babys – jedes Mal.

Und dann waren da die Frauen, die ihre Körper jahrelang missbrauchten, weil sie exzessiv Alkohol tranken oder Drogen nahmen. Sie wurden problemlos schwanger, bekamen Kinder. Grace wollte damit nicht sagen, dass diese Frauen es nicht verdienten, Mutter zu sein, doch es erschien ihr einfach unfair! Da machst du alles richtig im Leben, und trotzdem …

Arme Zara. Warum war sie auf der Straße gelandet? Wo war ihre Familie? Irgendwo musste sie doch eine haben. Selbst wenn sie bei einer Tante aufgewachsen war, so wie Grace, nachdem sie ihre Eltern verloren hatte.

Damals war sie noch klein gewesen. Ihre Eltern hatten sich stürmisch geliebt und wollten das Leben in vollen Zügen genießen, die Welt kennenlernen. Ein tragischer Verkehrsunfall setzte ihren Träumen ein jähes Ende. Beide waren sofort tot. Tante Felicity nahm Grace zu sich. Die ruhige, zurückhaltende Felicity, die als Krankenschwester arbeitete und ihre Nichte inspirierte, auch einen medizinischen Beruf zu erlernen. Wie begeistert war sie gewesen, als Grace sich zur Hebamme ausbilden ließ!

Natürlich vermisste Grace eine große Familie, ein Zuhause voller Lärm und Lachen, doch sie sagte sich, dass sie eines Tages eine eigene haben würde. Mit dem Mann, in den sie sich verliebte, den sie heiratete und mit dem sie viele Kinder bekam.

Aber nicht einmal das gelang ihr.

Ja, sie verliebte sich. Fand den Mann. Wurde schwanger. Doch dann ließ ihr Körper sie im Stich. Schwangerschaft um Schwangerschaft. Und mit jeder Fehlgeburt entfernte sich ihr Mann ein Stückchen mehr von ihr. Als könnte er es nicht ertragen, bei ihr zu sein.

Sicher glaubte er, einen Riesenfehler gemacht zu haben. Schließlich entstammte Diego einer großen Familie. Sechs Geschwister! Isabella war die Älteste, dann kam Diego, danach Eduardo, Frida, Luis und Paola. Alle inzwischen erwachsen. Sie erinnerte sich, wie er in ihren Armen gelegen hatte, als sie mit ihrem ersten Kind schwanger war, und ihr erzählte, wie gern er viele Babys mit ihr haben wollte. Eine Familie, wie er sie gehabt hatte. Grace lachte und sagte, dass sie genau das Gleiche wollte. Sie würde so viele Kinder bekommen, wie sie konnte.

Sie seufzte leise, versuchte, die wehmütigen Gedanken abzuschütteln. Dankbar für die Ablenkung, sah sie, wie Zara gerade zurückgebracht wurde. Grace winkte ihr zu und stand auf, um zu ihr zu gehen.

„Ich habe einige Ihrer Untersuchungsergebnisse bekommen“, erklärte sie. „Sie haben eine Harnwegsentzündung, daher die Schmerzen, die Sie mir geschildert haben. Machen Sie sich deshalb keine Sorgen, das passiert jedem einmal. Wir geben Ihnen Antibiotika und nehmen Sie stationär auf, damit wir Ihren Flüssigkeitshaushalt im Auge behalten und Sie ein bisschen aufpäppeln können. Sie sollten bei Kräften sein, wenn die Geburt losgeht.“

„Ist mein Baby in Ordnung?“

„Ich warte noch auf die Ultraschallbilder, aber Sie haben doch Kindsbewegungen gespürt, oder?“

Zara nickte.

„Ein gutes Zeichen. Fangen wir mit den Antibiotika an, während wir auf die Bilder warten. Eins nach dem anderen, ja?“

„Ja. Danke.“

Grace strich ihr über den Arm. „Keine Ursache. Falls Sie etwas brauchen, bin ich sofort bei Ihnen. Sie brauchen nur diesen Knopf zu drücken.“ Sie reichte Zara den Notrufknopf und wollte zurück zum Schreibtisch gehen. Plötzlich stand ihr Mann vor ihr. Ihre Blicke trafen sich, und sie hielt den Atem an.

Doch dann sah er an ihr vorbei auf Zara. „Ich habe Ihre Ultraschallaufnahmen.“

2. KAPITEL

Grace.

Hier hatte er sie nicht erwartet. Sie war so nahe. Nahe genug, dass er sie berühren könnte. Und er wollte es so sehr! Aber das ging nicht. Er hatte sie verlassen – und außerdem war er wegen der Patientin und ihres Babys hier, nicht wegen Grace. Sie mussten reden, doch das würde nicht einfach sein.

Wie die Nachrichten, die er überbringen musste.

„Mein Name ist Dr. Diego Rivas. Ich bin Neonatalchirurg und für Sie und Ihr Baby verantwortlich.“

Zara blickte zu Grace, und diese ging zu ihr, griff behutsam nach ihrer Hand.

„Alles okay. Hören Sie einfach zu.“

Grace lächelte Zara an. Sie können ihm vertrauen, sagte ihr Lächeln. Zwischen den beiden war eine besondere Verbundenheit zu spüren. Die Grace und er auch einmal gehabt hatten, aber dieses Band war heute zerschlissen, brüchig.

„Bei der Ultraschalluntersuchung haben wir festgestellt, dass der Fruchtwasserspiegel ziemlich niedrig ist und bei Ihrem Baby eine Omphalozele vorliegt.“ Diego wagte einen raschen Blick zu Grace. Sie würde wissen, was das war und was Zara in den nächsten Wochen erwartete.

Grace drückte ihrer Patientin die Hand.

„Was zum Teufel ist das?“ Angst und Panik schwangen in Zaras Stimme mit.

Er wollte antworten, doch Grace kam ihm zuvor.

„Während Ihr Baby sich in Ihrem Bauch entwickelt hat, sind seine inneren Organe wie Milz, Darm oder Leber von der Nabelschnur nicht in die Bauchhöhle zurückgewandert, sondern in einer Ausstülpung außerhalb geblieben.“

¡Ay, Dios mio!“ Zara schwang die Beine aus dem Bett. „Nein. Nein! Lassen Sie mich gehen!“

Diego trat einige Schritte zurück. Die junge Frau hatte furchtbare Angst. „Bitte“, sagte er leise und eindringlich. „Es ist wichtig, dass Sie bleiben.“

Zara blickte zu Grace.

„Wir müssen uns um Ihr Baby kümmern. Sie sollten hierbleiben“, sagte sie.

„Bin ich schuld?“, fragte Zara. „Weil ich nicht zu den Untersuchungen gegangen bin?“

Wie ein in die Enge getriebenes Tier stand sie fluchtbereit da, ihre Blicke huschten zwischen Grace und ihm hin und her. Ein falsches Wort, und sie würde aus dem Zimmer laufen. Das mussten sie auf jeden Fall verhindern. Nicht auszudenken, dass die Geburt einsetzte, während die junge Frau draußen auf der Straße war … Es würde für Mutter und Kind kein gutes Ende nehmen.

Diego schüttelte den Kopf. „Nein. Niemand weiß, wie und warum es während der Entwicklung zu solchen Anomalien kommt. Aber jetzt wissen wir Bescheid und können uns auf den Moment vorbereiten, wenn er auf die Welt kommt.“

Zara starrte ihn an. „Er?“

Lächelnd nickte er. „Ja, Sie bekommen einen kleinen Jungen.“ Das schien zu wirken, brachte Zara zum Nachdenken.

Diego sah zu seiner Frau. Sie mussten ihre Patientin davon überzeugen, dass sie im Krankenhaus besser aufgehoben war. „Wir brauchen genauere Ultraschallbilder, deshalb möchten wir Sie gern hierbehalten. Für die Zeit nach der Geburt werde ich einen Plan ausarbeiten. Ihr Junge muss operiert und die Bauchorgane in seine Bauchhöhle verlegt werden.“

Tränen stiegen Zara in die Augen. „Kann er sterben?“

Eine Frage, die ihn jedes Mal in einen Zwiespalt stieß. Alle Eltern wollten hören, dass ihr Kind gesund sein würde, und das konnte er nicht versprechen. Doch wenn er es nicht versprach, verschwand sie dann auf der Stelle?

„Jede Operation hat ihre Risiken, Zara. Aber für Ihren Jungen stehen die Chancen gut – besser als draußen auf der Straße. Und wir geben unser Bestes, dass Sie und er dies überstehen.“

„Müssen Sie einen Kaiserschnitt machen?“

„Nein. Sie können spontan entbinden. Wir möchten Sie nur unter genauer Beobachtung haben.“

Zara sackte in sich zusammen und fing an zu schluchzen. Diego reichte ihr Papiertücher und versuchte, sie zu beruhigen. Grace, die an Zaras anderer Seite saß, versuchte das Gleiche und strich ihr dabei sanft über den Rücken. Er hätte sie gern angesehen, seine Dankbarkeit für ihre Hilfe ausgedrückt, sie angelächelt, irgendwas … Doch Grace blickte ihn nicht an, sondern war allein auf ihre Patientin konzentriert.

Sie lächelte, flüsterte aufmunternde Worte. „Wir bringen Sie in einem Einzelzimmer unter. Sie müssen uns aber versprechen, dass Sie hierbleiben, bis es Ihnen und Ihrem Baby richtig gut geht, ja?“

Zara schniefte und wischte sich die Nase am Ärmel ab. Dann musterte sie ihn, schien zu überlegen, ob sie ihm trauen konnte. Sah Grace an, die sich – wie er zugeben musste – bewundernswert verhalten hatte.

Wie immer.

Schließlich nickte Zara. „Gut. Aber nur Sie beide. Ich will mit niemand sonst zu tun haben.“

Er nickte. Das ließ sich machen. Vielleicht ergab sich auch die Gelegenheit, mit Grace wieder ins Reine zu kommen. „Einverstanden.“

Als Diego ging, stieß Grace einen erleichterten Seufzer aus. In seiner Nähe war sie sehr angespannt gewesen. Sie freute sich nicht gerade darauf, in den nächsten Wochen eng mit ihm zusammenzuarbeiten, doch für ihre Patientin hatte sie sich darauf eingelassen.

Zara hatte niemanden, der für sie kämpfte. Niemanden auf ihrer Seite. Zumindest wusste Grace von niemandem. Fest entschlossen, sich um Zara und ihr Baby zu kümmern, wollte sie sie mit allem versorgen, was sie brauchten.

„Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?“

Die junge Frau wirkte peinlich berührt. „Ich weiß nicht. Gestern? Kann sein …“

„Ich sehe mal nach, ob ich etwas finde. Für morgen bringe ich Ihnen einen Speiseplan, dann können Sie auswählen, was Sie essen möchten.“

„Danke.“

Grace lächelte. „Keine Ursache. Wegen des Einzelzimmers frage ich auch nach – es sei denn, Sie möchten nicht allein liegen. Allerdings wird mehr los sein, Leute kommen und gehen, es könnte laut sein. Sie brauchen Ruhe und müssen wieder zu Kräften kommen.“

„Ein Zimmer für mich allein?“ Ihre Frage klang hoffnungsvoll. „Ich hatte noch nie eins.“

„Dann organisiere ich eins. Bin bald wieder da, ja?“

Zara nickte.

Grace verließ sie, desinfizierte sich die Hände und machte sich auf den Weg zur Entbindungsstation. Sie hoffte, dass die Leitende Hebamme einverstanden war, Zara in ein Einzelzimmer zu verlegen. Doch schon von Weitem sah sie, dass Diego bereits mit ihr sprach. Wahrscheinlich wegen Zara. Grace ging an ihnen vorbei in die kleine Küche. Vielleicht fand sie etwas, um Zara ein Sandwich zuzubereiten.

Nur wenige Minuten später hörte sie, wie die Tür sich öffnete. Als sie sich umdrehte, in der Erwartung, eine der anderen Hebammen zu sehen, gefror ihr das Lächeln auf den Lippen. Diego stand vor ihr.

Ihr Herz begann zu hämmern, und sie wandte sich ab, froh, sich mit dem Sandwich beschäftigen zu können.

„Du bist wieder da.“

Sie wünschte, ihre Hände würden aufhören zu zittern. Es war nicht einfach, die Butter gleichmäßig zu verstreichen, während Diego dicht hinter ihr stand.

„Es ist schön, dich zu sehen.“

Schinken. Käse. Salat. Vielleicht noch einen Joghurt? Grace versuchte, ihren Mann zu ignorieren und sich auf Zaras Imbiss zu konzentrieren.

Bis er sagte: „Ich habe dich vermisst.“

Grace fuhr herum, das Messer noch in der Hand. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“

„Ich dachte nur …“

„Nein! Du hast gar nichts zu denken, Diego!“ Sie warf das Messer ins Spülbecken und lehnte sich dagegen, atmete heftig, versuchte, sich zu beruhigen und mit gesenkter Stimme weiterzusprechen. Ihre Kolleginnen und Patientinnen brauchten sich ihren Streit nicht anzuhören. „Du bist ausgezogen. Du bist gegangen. Wenn du mich im Flur siehst, bin ich Luft für dich. Seit Wochen redest du kaum mit mir. Meidest mich. Und jetzt, nachdem ich zwei Wochen nicht da war, besitzt du die Unverfrorenheit, mir zu sagen, dass du mich vermisst hast?“ Sie lachte bitter auf. „Es war deine Entscheidung, mich zu verlassen. Mental, emotional und körperlich. Hast du überhaupt eine Ahnung, was das mit mir gemacht hat?“

Stumm starrte er sie an.

„Diese beiden Wochen in Cornwall waren die Hölle für mich. Ich musste ständig daran denken, dass meine Ehe am Ende ist. Aus und vorbei! Zwei Wochen lang habe ich versucht, mich daran zu gewöhnen, habe mir gesagt, dass uns nichts mehr verbindet. Und kaum komme ich wieder zur Arbeit, erzählst du mir, dass ich dir gefehlt habe! Wofür hältst du mich? Für ein Spielzeug, das du nach Belieben weglegen und wieder hervorholen kannst? Gefällt es dir, mich zu quälen?“

„Natürlich nicht“, sagte er leise mit angemessen entschuldigender Miene.

„Dann sag so etwas nicht. Wir reden über unsere Arbeit. Über nichts sonst. Wir sprechen über die junge Frau, die sich auf uns verlässt. Ihretwegen gehen wir professionell miteinander um. Ich werde mit dir zusammenarbeiten, ich werde höflich und aufmerksam sein, aber ich bin nur deine Kollegin, mehr nicht. Weil ich mein Herz heilen muss, das du zerbrochen hast. Und du sagst mir, dass du mich vermisst hast …? Das reißt nur alte Wunden auf.“

„Es tut mir leid. Selbstverständlich richte ich mich nach deinen Wünschen.“

Klar, damit hatte sie gerechnet. Nicht erwartet hatte sie den Schmerz, als sie begriff, dass er ihr zustimmte: Ihre Ehe war am Ende. Ein winziger Teil von ihr schien sich danach zu sehnen, dass Diego sagte, es sei nicht vorbei. Noch nicht. Ich liebe dich. Lass uns um unsere Liebe kämpfen. Doch von ihm kam nichts dergleichen.

Grace wandte ihm den Rücken zu, um ihre Tränen zu verbergen, und riss die Schublade auf, schnappte sich ein neues Messer. Sie schnitt das Sandwich in zwei Teile, legte es auf einen Teller und zwängte sich wortlos an Diego vorbei.

Ihre Ehe konnte sie nicht retten, aber sie konnte Zara helfen.

Und hier, auf der Entbindungsstation des St. Aelina’s, hatte sie immer Ruhe und Glücksmomente gefunden. Selbst an schwierigsten Tagen.

Sie brauchte diesen Ort, diesen Zauber, den er auf sie ausübte.

Das Dach des Krankenhauses war für Diego schon öfter ein Zufluchtsort gewesen. Nicht schön mit dem industriellen Charme von Klimageräten, Schornsteinen und Leitungen. Aber hier blickte er auf das blaue Meer, den Horizont und konnte ungestört nachdenken. Manchmal, wenn er keine Zeit hatte, an den Strand zu gehen, genoss er hier den Sonnenaufgang.

Hier oben schöpfte er Kraft während der Corona-Wellen. Jede auch noch so kleine Pause, die er sich leisten konnte, verbrachte er auf diesem Dach, nahm die Maske ab, atmete befreit. Diego beruhigte seine Nerven, wappnete sich für den Kampf in den Räumen unten, wo es um Leben oder Tod ging. Zu oft hatten sie ihn verloren, und Diego wusste nicht mehr, wie viele Familien er angerufen hatte, um eine schmerzvolle Nachricht zu überbringen. Wie ein Stich ins Herz traf ihn jeder Verlust persönlich. Trotz ihres enormen Wissens, der jahrelangen intensiven Ausbildung, des Fortschritts in Wissenschaft und Medizin, verloren sie den Kampf. Jeder Todesfall zeigte Diego, dass sie nicht gut genug, nicht klug genug waren.

Sie versagten.

Er versagte.

Wie immer in diesen Momenten erinnerte er sich an die überschäumende Freude, die er empfunden hatte, als Grace ihm sagte, dass sie schwanger sei. Diego lächelte. Wie glücklich sie gewesen war! Er sah ihr Gesicht vor sich. Die leuchtenden Augen. Das strahlende Lächeln. Sie wünschten sich eine große Familie, träumten von einem Haus voll Liebe, Lachen und Freude.

Nur wenige Wochen später verlor sie das Baby. Grace lag zusammengekrümmt im Bett, blass, mit tränennassen Wangen und weinte stundenlang.

Er hatte getan, was er konnte. Sagte ihr, dass so etwas bei der ersten Schwangerschaft häufig passierte. Dass es nicht sein sollte. Dass es sich nicht richtig entwickelt hatte. Er sprach wie ein Mediziner mit ihr, damit sie verstand, dass es nicht ihre Schuld war. Sie hätten nichts tun können. Diego blieb ruhig, wollte der Fels in der Brandung für sie sein, während sie um das Kind trauerte, das sie geliebt und verloren hatte.

Natürlich litt er genau wie sie. Seine Vorfreude darauf, Vater zu sein, wurde jäh zerstört. Hatte er sich doch vorgestellt, wie er seinen Sohn oder seine Tochter auf jedem Schritt durchs Leben begleitete, ihnen Sicherheit und Geborgenheit bot. Auch ihm war danach zumute, sich zusammenzurollen und sich seiner Trauer zu ergeben. Trauer um ein Kind, das nie geboren werden, das namenlos bleiben würde.

Aber was nützte es seiner Frau, wenn er zusammenbrach? Er wollte seine geliebte Grace wieder lächeln sehen, also bot er ihr starke Schultern, die alles trugen, an die sie sich anlehnen konnte. Er hörte zu. Schluckte seinen Schmerz hinunter, um ihr zu helfen, mit ihrem fertigzuwerden.

Sie versuchten es wieder, sobald Grace sich dazu in der Lage fühlte. Und als sie ziemlich schnell erneut schwanger wurde, kehrten Freude und Glück in ihr Leben zurück. Doch sie waren vorsichtig und verkündeten die gute Nachricht erst, als Grace im vierten Monat war. Im Krankenhaus erfuhren sie davon, ihre Freunde wussten es, auch Isabella und seine anderen Geschwister. Tante Felicity. Je mehr es wurden, umso sicherer wurden sie, dass diesmal alles gut gehen würde. Ihre Welt war wieder in Ordnung, und bei der ersten Ultraschalluntersuchung weinten sie vor Freude, dass das Herz ihres Babys so kräftig und regelmäßig schlug!

Grace kaufte sich Umstandsmode, sie schmiedeten Pläne, richteten ein Kinderzimmer ein. Redeten über Wandfarben. Namen. Bestimmt würde nichts mehr schiefgehen. Auf Regen folgt Sonnenschein …

Als die Tragödie sich wiederholte und Grace im sechsten Monat eine Fehlgeburt hatte, zerbrach etwas. Nicht nur in ihnen, sondern auch im Miteinander. Seine stoische Ruhe, die klugen Worte bedeuteten ihr nichts. Verzweifelt und verbittert schloss sie ihn in ihren Zorn auf die Welt ein.

Er versuchte, für sie da zu sein. Doch ihr Schmerz war zu groß, und er kam nicht damit klar, sie so zerbrochen zu sehen. Seine Versuche, sie zu trösten, scheiterten. Er fand Ausreden, um länger bei der Arbeit zu bleiben. Zwar mit schlechtem Gewissen, aber er brauchte Zeit für sich, um zu trauern.

Niemals würde er vergessen, wie es sich angefühlt hatte, seinen totgeborenen Sohn zu sehen.

Es dauerte lange, bis sie sich von diesem zweiten Schlag erholten. Ihre Beziehung hatte sich verändert. Ihre Zuversicht und ihr Vertrauen ins Leben, in ein gutes Leben, waren verschwunden. Der Verlust hatte sie dünnhäutig gemacht, sie hatten sich wegen Kleinigkeiten angefahren. Und sie waren nervös, fürchteten sich, es noch einmal zu versuchen. Mochten kaum darüber reden und konnten dennoch kaum an etwas anderes denken als daran, … ein Kind zu bekommen.

Unerwartet wurde Grace ein drittes Mal schwanger. Glücklicher waren sie deshalb nicht. Unbeschwert schon gar nicht. Grace geriet bei jedem leichten Zwicken in Panik. Belauerte jedes mögliche Symptom. Die Frau, in die er sich verliebt und die er geheiratet hatte, schien verschwunden. An ihrer Stelle war ein rastloses Wesen, das ständig zur Toilette ging, um sich zu vergewissern, dass sich keine Blutungen ankündigten. Das sich kaum bewegen mochte, um ja nicht das Baby zu gefährden.

Sie schafften es bis zum Ultraschall in der 13. Woche.

Ihr Baby nicht.

Nach dem dritten Schicksalsschlag brach alles zusammen.

Diego fand keine Worte mehr für Grace. Kein einziges. Und sie schien zu sehr in ihrem eigenen Schmerz, in ihrer eigenen Trauer versunken, als dass sie seine überhaupt bemerkt hätte. Weil das Sprechen miteinander verstummt war, blieb er länger bei der Arbeit, übernahm zusätzliche Dienste, gab Patienten und Patientinnen all seine Fürsorge, die seine Frau von ihm nicht haben wollte.

Irgendwie retteten ihn seine kleinen Patienten. Hier am St. Aelina’s konnte er helfen, konnte Leben verändern, retten. Es waren nicht seine Babys, doch bei jedem, dem er ein gutes Leben ermöglichte, verspürte er eine tiefe Zufriedenheit. Jedes Baby, das mit seinen glücklichen Eltern nach Hause entlassen wurde, füllte die Leere, die seine totgeborenen Kinder hinterlassen hatten.

Hier oben auf dem Krankenhausdach konnte er befreit atmen.

Hier oben konnte er sich sagen, dass das, was er tat, wirklich zählte.

Hier oben fasste er die Hoffnung, dass Grace und er eines Tages über alles sprechen konnten.

Zara lag auf dem Bett, Grace saß neben ihr und hielt ihr die Hand, während Diego die Ultraschalluntersuchung persönlich durchführte. Sie sollte weitere Details des Babys zeigen. Dass eine Omphalozele vorlag, wussten sie, aber da Babys mit dieser Anomalie oft Begleiterkrankungen hatten, wollte sich Diego Klarheit verschaffen, bevor es auf die Welt kam.

Vorgewarnt ist vorbereitet.

„Das Gel kann ein bisschen kalt sein“, sagte er.

Er bewegte den Schallkopf über Zaras Abdomen.

„Was suchen Sie denn? Sie wissen doch, was er hat.“

„Wir wollen nur sichergehen, dass sonst alles in Ordnung ist. Außerdem kann sich Dr. Rivas bei der Gelegenheit ein genaues Bild des Nabelschnurbruchs machen. Schließlich wird er ihn operieren.“ Grace klang sanft und ruhig.

So redete sie mit nervösen, ängstlichen Patientinnen. Er hatte es oft genug gehört. Doch zum ersten Mal nannte sie ihn Dr. Rivas. Fiel es ihr so schwer, seinen Vornamen auszusprechen? Versuchte sie auf diese Weise, noch mehr Distanz zwischen ihnen zu schaffen?

Lange hatte er sich mit der Entscheidung, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen, schwergetan. Meistens glaubte er auch heute noch, dass sie richtig war. Den Schmerz seiner Frau hilflos mitanzusehen und gleichzeitig mit seinem eigenen fertigzuwerden, war irgendwann unerträglich geworden. In Momenten wie diesen allerdings, wenn sie es nicht über sich brachte, ihn beim Vornamen zu nennen, begriff er allmählich, welchen zusätzlichen Kummer er ihr bereitet hatte.

Was nie in seiner Absicht gelegen hatte.

Die Omphalozele war recht groß. Im Bruchsack erkannte er die Eingeweide und einen kleinen Teil der Leber. Für den Eingriff wäre ein Silikonbeutel die beste Option. Diego fing am Kopf des Babys an und zog den Schallkopf tiefer. In Höhe der Kehle und des oberen Brustbereichs hielt er inne.

„Was ist?“ Zara war alarmiert. „Was stimmt jetzt wieder nicht?“

Er vergrößerte das Bild, um besser sehen zu können. „Ich glaube, ich sehe eine Atresie.“

„Was ist das?“

Die Panik in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Mit einer Atresie bezeichnet man eine Passage oder Öffnung im Körper, die fehlt oder verschlossen ist“, erklärte Grace.

„Für mich sieht es nach einer Ösophagusatresie aus, Zara“, bestätigte er und bewegte den Schallkopf hin und her, um ein besseres Bild zu bekommen. „Der Ösophagus ist die Speiseröhre Ihres Babys. Wenn er blockiert ist, was anscheinend der Fall ist, bedeutet es, dass Ihr Baby sich nicht normal ernähren kann. Die Milch, die es trinkt, gelangt nicht in den Magen.“

„Oh nein!“ Zara fing an zu weinen. „Heißt das, er stirbt, weil er nicht essen kann?“

Diego schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Das können wir gleich nach der Geburt operativ beheben.“

Doch die junge Frau schluchzte hemmungslos. „Ist es meine Schuld? Es ist meine Schuld, stimmt doch, oder?“

„Nein, natürlich nicht. Es ist nicht Ihre Schuld. Niemand weiß, was solche Fehlbildungen hervorruft. Sie kommen einfach vor.“ Grace stand auf, fasste ihre Hand fester und brachte Zara dazu, ihr in die Augen zu sehen. „Hören Sie mir zu. Wir wissen jetzt Bescheid. Das heißt, wir können ihm helfen.“

Grace hatte eine wunderbare Art, mit ihren Patientinnen umzugehen. Auch deshalb hatte er sich in sie verliebt. Sie wusste, wie ängstlich sie sein konnten, und fand immer den richtigen Ton und die passenden Worte. Sie gab den Frauen Kraft. Kraft, die sie selbst bei sich nie vermutet hätten. Wenn eine Frau im letzten Stadium der Entbindung völlig entkräftet das Gefühl hatte, nicht mehr pressen zu können, half Grace ihr, ungeahnte Kräfte zu finden.

Diego wünschte, er hätte das Gleiche für sie tun können, als sie Kraft brauchte.

Schuldgefühle fluteten ihn, und er musste den Blick von den beiden Frauen abwenden. Er konzentrierte sich auf Zaras Baby und druckte zum Schluss für Zara ein paar Aufnahmen aus.

„Fertig. Mehr konnte ich nicht finden.“

Grace sah ihn nicht an, sondern ihre Patientin. „Das ist doch gut. Jetzt brauchen Sie nur noch dafür zu sorgen, dass Ihr kleiner Junge wächst und gedeiht, damit er die besten Bedingungen hat, sobald er auf die Welt kommt und operiert wird.“

„Versprechen Sie mir, dass er nicht sterben wird.“

Jetzt sah er Grace doch an. Das konnten sie nicht versprechen.

„Alles wird gut.“ Seine Frau lächelte.

Zara lag wieder in ihrem Zimmer, und Grace wollte gerade nach einer anderen Patientin sehen, als sie Diego im Flur entdeckte. Er wartete auf sie. Hände in die Hüften gestemmt, die Miene ärgerlich.

Sie holte tief Luft und wollte an ihm vorbeigehen, doch er versperrte ihr den Weg. „Du hättest ihr nicht sagen dürfen, dass alles gut wird. Das weißt du genau.“

„Sie brauchte etwas Positives. Seit du diesen Fall betreust, kommst du ihr nur mit Hiobsbotschaften.“

„Ich habe ihr die Wahrheit erzählt. Sie muss wissen, woran sie ist.“

„Und die Wahrheit bei solchen Operationen ist, dass sie normalerweise gut ausgehen.“

„Normalerweise. Aber dir sollte klar sein, dass jede Operation ihre Risiken birgt, und wir wissen überhaupt nicht, wie das Baby auf die Narkose reagiert. Es könnte Komplikationen geben. Sie sollte sich der Realität bewusst sein.“

„Die für dich immer an erster Stelle steht.“ Warum kritisierte er, wie sie mit Zara umging? Verletzt und aufgebracht drängte sie sich an ihm vorbei, wandte sich noch einmal um. „Was vergibst du dir, wenn du etwas Mitgefühl zeigst? Nicht nur Arzt bist, sondern – wenigstens ein einziges Mal – wie ein menschliches Wesen reagierst?“

Bevor er antworten konnte, stieß sie die Tür zum nächsten Patientenzimmer auf und trat ein, zwang sich zu einem Lächeln, weil sie ihre privaten Gefühle draußen lassen musste. Carlita und Emilio, die werdenden Eltern, brauchten eine Hebamme, die Gelassenheit und Zuversicht ausstrahlte.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte sie.

Carlita bekam ihr erstes Kind, und der Muttermund hatte sich erst auf vier Zentimeter geweitet, sodass sie noch einige Stunden vor sich hatte.

Grace überprüfte die Herztöne des Babys und stellte fest, dass die Wehen alle fünf bis sechs Minuten auftraten. Sie setzte sich in eine Ecke des Zimmers, um weitere Beobachtungen zu notieren – Temperatur, Blutdruck und Blutzucker. Bei Carlita war ein Schwangerschaftsdiabetes aufgetreten, weshalb die Geburt in der 37. Woche eingeleitet wurde. Ihr Baby wog schon um die neun Pfund.

„Das machen Sie großartig. Wie fühlen Sie sich?“

Carlita lächelte schwach. „So weit ganz gut. Aber ich bin ziemlich nervös.“

„Was nur verständlich ist. Versuchen Sie, nicht daran zu denken, was Sie über andere Geburten gehört haben, egal, welche Horrorgeschichten Ihnen wohlmeinende Freundinnen oder jemand aus der Familie erzählt haben. Ihre Entbindung, die Geburt Ihres Kindes, ist eine einzigartige Erfahrung für Sie allein. Manche Frauen bekommen ihr Baby praktisch im Handumdrehen. Ein paar Mal pressen, und das Kind ist draußen. Aber solche Geschichten erzählt niemand, oder?“

Sie lächelte, dachte jedoch an jene Zeit, als sie ihr erstes Kind verloren hatte. Wie viele Frauen hatten ihr erzählt, dass sie auch eine Fehlgeburt gehabt hatten! Dass das normal sei. Natürlich. Und dass sie danach vier Kinder bekommen hätten. Fünf. Zwillinge. Drillinge. Jede schien eine Erfolgsstory parat zu haben.

Nachdem sie ihr zweites Baby verloren hatte, flossen die Worte schon spärlicher. Und als auch das dritte in ihrem Bauch starb, schienen die Frauen sie mit anderen Augen zu sehen. Waren sie schwanger, behielten sie es für sich, bis es nicht mehr anders ging. Um sie nicht aufzuregen, meinten sie.

Oh ja, sie hatte sich aufgeregt. Und wie! Anscheinend konnten alle Frauen außer ihr schwanger werden und gesunde Babys zur Welt bringen. Jeden Tag zur Arbeit auf die Entbindungsstation zu kommen, tat weh. Jede Geburt erinnerte sie an ihren Verlust. Doch irgendwann fand sie Trost durch diese Geburten. Jedes Baby in den Armen seiner Mutter war wie ein Sieg.

Auch wenn es nicht ihre Kinder waren, schenkten sie ihr doch Freude.

Grace hatte akzeptiert, dass sie nie Mutter werden würde. Nie die große Familie haben konnte, nach der sie sich sehnte. Mit ihr stimmte etwas nicht. Kein Wunder, dass Diego sich zurückgezogen hatte und schließlich gegangen war. Genau wie sie wünschte er sich eine große Familie. Er war in einer aufgewachsen, mit fünf Geschwistern! Als Einzelkind malte sie sich aus, wie wunderbar das gewesen wäre.

Einmal hatte er ihr davon erzählt. Davon, wie sich Isabella nach dem frühen Tod der Mutter um alle gekümmert hatte. Paola, die Jüngste, war damals ein Jahr alt, Isabella dreizehn. Zu jung, um so viel Verantwortung zu übernehmen, aber als Älteste hatte sie es getan. Und ein paar Jahre später, als ihr Vater schwer krank wurde, sorgte sie auch für ihn.

Alle gaben ihr Bestes, sie zu entlasten, aber sie waren sechs, und Isabella verpasste ihre Teenagerjahre – Diego auch, weil er praktisch der Mann im Haus wurde. Sie versuchten, fröhlich zu bleiben und über allen Sorgen das Lachen nicht zu vergessen, aber es war schwer. Sobald sie konnten, flogen sie aus und ließen sich in ganz Spanien verteilt weit weg von ihrer Heimatstadt nieder. Nur Isabella und er lebten weiterhin in Barcelona.

Allerdings schien Diego seiner Schwester nicht sehr nahezustehen. Jeder lebte sein eigenes Leben, doch Grace war überzeugt, dass da Liebe sein musste. Gegenseitige Wertschätzung.

Diego hatte schon einmal seine Freiheit gesucht.

Jetzt war er frei, jemanden zu finden, der ihm eine Familie schenken konnte.

Der Gedanke machte sie traurig. Tränen prickelten hinter ihren Lidern. Sie blinzelte sie rasch weg. Wenn sie erst wieder in England war, sollte sie sich um die Scheidung kümmern. Welchen Sinn hatte es, sich an eine gescheiterte Beziehung zu klammern? Es spielte keine Rolle mehr, wie stark die Bindung anfangs gewesen war.

Wärme durchströmte sie, als sie an glücklichere, längst vergangene Tage dachte. An den Moment, als sie in jenem Londoner Krankenhaus arbeitete und aufblickte, weil sie Schritte den Flur entlangkommen hörte. Und da sah sie ihn zum ersten Mal – Diego.

War es Liebe auf den ersten Blick gewesen?

Lust auf den ersten Blick?

Ihr Herz hatte heftig gepocht, ihr wurde der Mund trocken, und sie fühlte sich wie ein Teenager, der sich zum ersten Mal verliebte. In einen hochgewachsenen Mann mit dunklem Haar und glutvollen braunen Augen … Ihre Blicke trafen sich, und die Zeit stand still, alles andere um sie herum verschwand. An ihrem Arbeitsplatz, während der Arbeit, hatte ein fremder Mann ihr den Atem verschlagen.

Die Station war voll mit jungen Müttern gewesen, und Grace hatte den ganzen Tag keine Zeit gefunden, eine richtige Pause zu machen. Doch in dem Moment, als ihre Blicke sich verfingen, war die Erschöpfung wie weggeblasen.

Ihre Müdigkeit … weg.

Schmerzende Beine … fühlte sie nicht mehr.

Die Sehnsucht nach einer Tasse Tee und sich ein paar Minuten auszuruhen … nicht mehr vorhanden.

Dann tickte die Zeit weiter, er hatte ihr zugelächelt und genickt, und ihre Wangen wurden warm. So war es passiert. Als Diego nach Dienstschluss zu ihr kam und sie bat, mit ihm auszugehen, sagte sie natürlich Ja! Obwohl wenige Stunden zuvor ihre Vorstellung von einem wundervollen Abend darin bestanden hatte, zu Hause ein Bad zu nehmen und anschließend mit einem guten Buch ins Bett zu kriechen.

Stattdessen tanzte sie in einem Club fast die Nacht durch, nachdem Diego ihr Salsa tanzen beigebracht hatte. Danach landeten sie bei ihm zu Hause und zusammen unter der Dusche. Hinterher setzten sie das lustvolle Spiel in seinem Bett fort.

Grace verliebte sich rettungslos in Diego. Als er ihr schließlich einen Heiratsantrag machte, glaubte sie, dass nichts auf der ganzen Welt sie glücklicher machen würde.

Was war aus der süßen Aufregung geworden?

Wohin war die Liebe verschwunden?

Grace wusste, dass es nicht richtig war, wie sie vorhin reagiert hatte. Diego hatte Zara genau erklärt, was auf sie zukam, und natürlich hatte er recht, dass Grace ihr nichts versprechen durfte. Keiner von ihnen konnte mit Sicherheit sagen, dass alles gut gehen würde.

Aber …

Wann immer sie von ihm ermutigende Worte gebraucht hatte, Streicheleinheiten für die Seele, gab er nur Fakten von sich. Klinisch kühl. Er war eher Dr. Rivas gewesen als Diego, ihr liebender Ehemann.

Sie wünschte sich so sehr ein Zeichen, dass der liebende Ehemann überhaupt noch existierte.

Doch Diego zeigte ihr nur, dass er nicht da war.

3. KAPITEL

„Grace? Hast du einen Moment Zeit, bevor du gehst?“

Ihre Supervisorin und leitende Hebamme Renata stand an der Tür zu ihrem Büro. Grace wollte wirklich gerade nach Hause gehen. Um endlich den ersehnten Schlaf zu bekommen, falls es ihr in dem kalten, leeren Apartment gelang, das sich früher wie ein Zuhause angefühlt hatte.

„Klar.“ Sie folgte Renata in deren Büro. „Was gibt’s?“

„Olivia musste nach Hause fahren, nach Andalusien. Ihre Mutter hat einen Schlaganfall erlitten. Das heißt, wir sind knapp an Personal für den Nachtdienst. Könntest du in den nächsten Wochen ihre Schichten übernehmen? Ich weiß, das ist ein bisschen viel verlangt, aber du bist meine erfahrenste Hebamme. Ich brauche jemanden, von der ich weiß, dass ich mich absolut auf sie verlassen kann.“

Oh! Mit so etwas hatte sie nicht ...

Autor

Louisa Heaton
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Charlotte Hawkes
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Allie Kincheloe
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