Julia Ärzte zum Verlieben Band 195

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DER UNWIDERSTEHLICHE DR. SPIKE von AMY RUTTAN

Gleich wird sie ihren neuen Boss kennenlernen, den renommierten Chirurgen Dr. Atticus Spike! Penny ist gespannt – und erstarrt, als sie den Gott in Weiß erblickt. Es ist der sexy, aber maßlos arrogante Naturbursche, mit dem sie vorhin im Park so heftig aneinandergeraten ist …


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  • Erscheinungstag 21.09.2024
  • Bandnummer 195
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526227
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amy Ruttan, Sue MacKay, Susan Carlisle

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 195

1. KAPITEL

‚Hey, können wir reden?‘

‚Ich habe dir wirklich nichts zu sagen.‘

‚Du kannst ruhig sauer auf mich sein, aber ich brauche deine Hilfe bei einem Fall.‘

Dr. Penny Burman seufzte entnervt über die ständigen Nachrichten auf ihrem Telefon. Eigentlich hätte sie ihrem Ex, diesem Lügner und Betrüger Walter, mit einem klaren Nein antworten sollen. Aber wenn sie ihn bei einem Fall unterstützte, konnte sie dem Verwaltungsrat in Calgary zeigen, dass sie ihre Arbeit ernst nahm und zurückkommen wollte.

Dass sie mehr zu bieten hatte als diesen beschämenden Fehler.

Penny wollte keine Patienten leiden lassen, bloß weil Walter ihr das Herz gebrochen, ihr seine Ehe verschwiegen und sie schließlich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hatte. Nur sie, Walter und der Verwaltungsrat wussten, was geschehen war.

Nicht einmal ihre Mutter wusste darüber Bescheid, und sie sollte auch nicht erfahren, dass Penny einen so dummen Fehler begangen hatte.

Deshalb hatte sie ihrer Mom erzählt, es sei ihre eigene Entscheidung gewesen, in die Northwest Territories zu kommen. Auf gar keinen Fall wollte sie ihre Mutter enttäuschen, indem sie ihr sagte, dass sie in den Norden Kanadas gegangen war, weil sie sich unwissentlich in einen verheirateten Mann verliebt hatte.

Daher schrieb sie: ‚Also gut.‘

‚Danke. Ich schicke dir die Unterlagen nachher. Du fehlst mir.‘

Sie hatte keine Ahnung, warum Walter sie unbedingt bei seinem Fall dabeihaben wollte. Immerhin war er ja der große Spezialist.

Sie nur eine neue Oberärztin, die erst letztes Jahr ihre Prüfung abgelegt hatte. Penny seufzte erneut, ehe sie das Telefon wieder einsteckte. Da merkte sie, dass sie die Zeit vergessen hatte und jetzt außerdem nicht mehr genau wusste, wo sie sich auf ihrem morgendlichen Jogginglauf gerade befand.

Hoffentlich springt mich nicht gleich ein Bär an.

Über diesen absurden Gedanken musste sie lachen. Sicher, hier in den Northwest Territories war sie so weit im Norden wie noch nie zuvor. Was jedoch nicht bedeutete, dass sie hier eher einem Bären begegnen würde als in Calgary.

Dort gab es Bären. Genau wie in Fort Little Buffalo, wo sie für die nächsten sechs Monate arbeiten sollte. Wenn auch vielleicht nicht ganz dieselben.

Penny blieb stehen, um zu verschnaufen. Hier war es kälter als in Calgary im September. Da sie ihr Leben bisher in Alberta verbracht hatte, war sie kalte Winter gewohnt. Aber die Vorstellung, nun ihren ersten Winter im Norden zu verbringen, gefiel ihr nicht besonders.

Natürlich wäre sie nicht in dieser misslichen Lage, wenn sie einfach ihre lebenslange Überzeugung befolgt hätte, dass es wahre Liebe nicht gab. Sie hatte die Schutzmauern um ihr Herz leichtfertig aufgegeben, und was hatte ihr das gebracht?

Ein gebrochenes Herz, Demütigung und das Gefühl, eine komplette Idiotin gewesen zu sein.

Das Krankenhaus hatte sich gegen Penny gewendet und ihr aus PR-Gründen vorgeschlagen, sie freizustellen, damit sie stattdessen an einem kleineren Krankenhaus im Norden tätig sein konnte, mit dem Calgary oft zusammenarbeitete. Denn selbstverständlich wollten sie den großartigen Kinderkardiologen aus Toronto behalten, den sie so lange umworben hatten.

Der verheiratete Typ, der ihr Herz mit Füßen getreten hatte.

Mit einem halblauten Schimpfwort lief Penny weiter. Wenn sie Walters Nachrichten einfach nicht beachtet hätte, wäre sie mit ihrer Joggingrunde längst fertig gewesen.

Noch immer war sie unglaublich wütend auf sich selbst, dass sie auf diesen Kerl reingefallen war. Sie hätte es doch nun wirklich besser wissen müssen. Ihre Mutter hatte das Schicksal einer Geliebten erfahren, denn Pennys Vater hatte seine Frau und seine anderen Kinder, die ihm nach einiger Zeit aus Indien nach Kanada gefolgt waren, ihnen vorgezogen. Sobald seine Familie kam, hatte er Penny und ihre Mutter verlassen.

Penny vermisste ihren Vater.

Zumindest manchmal.

Während ihrer frühen Kindheit war er hin und wieder in ihrem Leben aufgetaucht. Doch seit der Highschool hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, zu ihrer Abschlussfeier zu erscheinen. Dabei war sie sicher gewesen, dass er kommen würde. Seinetwegen hatte sie sich in der Schule so angestrengt.

Penny hatte den tiefen Schmerz ihrer Mutter miterlebt. Diese war die Tochter indischer Einwanderer, aber in Kanada geboren und aufgewachsen. Obwohl Pennys Eltern beide dieselbe Herkunft besaßen, waren sie in völlig verschiedenen Welten aufgewachsen. Ihre Mutter hier und ihr Vater in Indien.

Er führte ein geheimes anderes Leben, von dem ihre Mutter keine Ahnung gehabt hatte.

Penny war fest entschlossen gewesen, niemals einen solchen Schmerz zu erleiden wie den, der ihre Mutter ein Leben lang gequält hatte. Deshalb hatte sie ihr Herz immer gut geschützt. Sie wollte nie die Betrogene sein.

Und dennoch war es geschehen.

Jetzt war sie für ein halbes Jahr hierher verbannt, während Calgary sich bemühte, die zu Recht verärgerte Ehefrau von Dr. Walter Scott zu besänftigen. Sie besaß einen großen Treuhandfonds und hatte die Absicht, eine Menge Geld an das Kinderkrankenhaus von Calgary zu spenden. Allerdings nur dann, wenn Penny so lange von der Bildfläche verschwand, bis sich die Dinge wieder beruhigt hatten.

Ihr war also keine andere Wahl geblieben.

Du hättest kündigen können.

Rasch verdrängte sie den Gedanken. Auf gar keinen Fall wollte sie ihre Stelle als Kinderärztin und Kinderchirurgin aufgeben. Dazu hatte sie viel zu hart gearbeitet, um ihrem meist abwesenden Vater zu beweisen, dass sie etwas wert war.

Aber es war nie gut genug. Sie war nie gut genug.

Ihre Mutter würde Fragen stellen, falls Penny kündigte. Ihre Entscheidung, in den Norden zu gehen, hatte sie jedoch nicht hinterfragt.

Links von ihr war plötzlich ein Rascheln zu hören, ein Knirschen in dem gelben Birkenlaub, und Penny erstarrte.

Na toll. Ein Bär. Absolut perfekt.

Sie griff nach der Dose mit Bärenspray, die sie auf den Rat ihrer Vermieterin bei sich trug. Bereit für einen hungrigen Bären, der sich auf seinen langen Winterschlaf vorbereitete.

Dann sah sie, wie ein Fellbündel aus dem Unterholz hervorbrach.

Na schön. Das ist also das Ende …

Mit einem Aufschrei ließ sie die Dose fallen, als das Tier an ihr hochsprang und begann, ihr voller Begeisterung das Gesicht zu lecken.

„Horatio! Platz!“, ertönte da ein lauter Befehl.

Das Lecken hörte auf, und Penny stellte fest, dass der „Angreifer“ vor ihr saß, wobei seine Zunge an einer Seite aus dem Maul hing. Mit einem blauen und einem braunen Auge schaute er zu ihr auf.

Eine Art Husky, wie sie nach seinem Aussehen vermutete. Allerdings war sie überhaupt keine Hundeexpertin. In ihrer Kindheit hatte sie niemals ein Haustier gehabt, auch wenn sie sich insgeheim immer eins gewünscht hatte.

Danach waren ihr das Leben, das Studium und alles andere dazwischengekommen. Es war schon lange her, seit sie daran gedacht hatte, einen Hund oder irgendein anderes Tier zu adoptieren. Das war der Haken. Erst hatte das Studium ihre gesamte Zeit in Anspruch genommen, und jetzt die Arbeit.

Ihr Herz hörte auf zu rasen, als sie den Hund ansah, der ihr die Pfote hinhielt.

„Horatio? Dann bist du also ein Rüde?“, meinte sie.

Den Kopf zur Seite gelegt, leckte er sich die große schwarze Schnauze. Penny hockte sich hin und streichelte ihm den Kopf. Daraufhin schloss er die verschiedenfarbigen Augen und fuhr ihr mit seiner breiten rosafarbenen Zunge übers Kinn.

„Horatio!“, hörte sie erneut die schroffe Stimme.

Als Penny aufstand, sah sie einen Mann mit finsterer Miene und in Holzfällerkleidung aus dem Wald kommen. Er machte den Eindruck, als wäre er geradewegs einem Buch entsprungen. Er trug ein rotes Flanellhemd, die Ärmel aufgerollt, sodass sie jeden Zentimeter seiner kraftvollen, gebräunten Unterarme erkennen konnte. Dazu eng anliegende Jeans und abgestoßene Arbeitsstiefel.

Außerdem besaß er einen gepflegten hellbraunen Bart und etwas längeres Haar, das er mit einer abgetragenen Baseballkappe zurückhielt. Sein Gesicht war tief gebräunt, mit einigen hellen Sommersprossen, da er offenbar viel draußen in der Sonne arbeitete.

Pennys Herzschlag setzte unwillkürlich kurz aus, als ihre Blicke sich trafen. Sie hielt den Atem an, da er mit seinen dunkelbraunen Augen bis ins tiefste Innere ihrer Seele zu schauen schien. Irgendetwas sagte ihr, dass dieser Mann Probleme verursachen könnte.

Hitze stieg in ihr auf, woraufhin sie den intensiven Blickkontakt unterbrach. Unter keinen Umständen würde sie sich erneut von einem gut aussehenden Mann blenden lassen. Das wäre wirklich das Letzte, was sie wollte.

Fort Little Buffalo war ihre Chance, sich zu bewähren und auf die Arbeit zu konzentrieren. Es war kein Urlaub und ganz sicher nicht der passende Zeitpunkt, um sich mit einem Einheimischen einzulassen. Egal, wie attraktiv, rau und sexy er aussah.

Du kennst ihn doch gar nicht. Denk mal nach. Wahrscheinlich ist er sowieso schon vergeben.

Auf keinen Fall würde sie sich in etwas hineinziehen lassen, das keine Zukunft hatte. Penny hatte nicht vor, hier im Norden zu bleiben. Calgary und das dortige Krankenhaus waren ihr Zuhause. Dort konnte sie sich wirklich beweisen und sich zu neuen und besseren Ufern aufmachen. Selbst wenn das bedeutete, wieder mit Walter zusammenarbeiten zu müssen. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Noch einmal würde sie garantiert nicht auf ihn hereinfallen.

Calgary hatte mehr Möglichkeiten zu bieten als Fort Little Buffalo. Dieser Ort war nur ein Mittel zum Zweck.

„Ist das Ihr Hund?“, fragte sie.

Der Mann nickte knapp und gab dem Hund einen scharfen Befehl, den sie nicht verstand. Betreten schlich Horatio zu ihm und setzte sich neben ihn.

„Er hat Sie hoffentlich nicht verletzt?“ Der Unbekannte kraulte den Hund, der erleichtert zu sein schien, dass er offenbar nicht allzu sehr in Ungnade gefallen war.

„Nein. Er hat mich bloß überrascht, das ist alles.“

Der Mann nickte wieder, und es entstand ein unbehagliches Schweigen. Penny wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Eigentlich treffe ich auf diesem Weg so früh keine anderen Leute“, erklärte er. „Normalerweise haben Horatio und ich ihn für uns allein.“

Sein Tonfall wirkte vorwurfsvoll, was Penny sofort auf die Palme brachte.

„Soviel ich weiß, ist das hier ein öffentlicher Weg. Allerdings bin ich neu hier.“

„Das dachte ich mir“, erwiderte er.

Der Hund war wesentlich freundlicher als sein Besitzer. Dieser blieb einfach stehen, und Penny wusste nicht recht, wie sie sich dieser unbehaglichen Situation entziehen sollte. Kinder konnte sie verstehen, bei Erwachsenen fiel ihr das manchmal schwer.

„Tja, dann laufe ich mal weiter“, erklärte sie.

„Werden Sie oft hier sein?“, wollte der Mann wissen.

„Wieso?“

„Nur damit ich in Zukunft eine weitere Begegnung vermeiden kann“, erwiderte er abweisend. „Ich versuche, meinen Hund zu trainieren. Er kommt aus dem Tierschutz und lässt sich zu leicht ablenken von …“

„Netten Menschen?“, ergänzte Penny leicht ironisch.

Also wirklich, wofür hielt sich dieser Kerl eigentlich? Den Herrscher des Parks? Ohne zu antworten, gab er seinem Hund einen weiteren Befehl und marschierte mit langen Schritten davon.

Kopfschüttelnd schaute Penny ihnen nach. „War ja ausgesprochen nett, Sie kennenzulernen!“, rief sie.

Der Mann blieb unvermittelt stehen, blickte jedoch nicht zurück.

Super. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Die erste Begegnung mit einem Einheimischen an dem Ort, der für das nächste halbe Jahr ihr Zuhause sein würde, war nicht gerade erfreulich verlaufen. Bald würde der Winter kommen, und dann saß sie in dieser Kleinstadt fest. Nichts wäre schlimmer, als mit den paar Leuten, die hier lebten, nicht gut auszukommen.

Hoffentlich war der Rest der Bevölkerung von Fort Little Buffalo anders als Horatios grantiger Besitzer. Sonst würden das sechs sehr lange Monate werden.

Als sie von ihrem Morgenlauf zurückkehrte, bemühte Penny sich, nicht an den attraktiven Griesgram aus dem Park zu denken. Jetzt kam es darauf an, einen guten Eindruck auf ihren neuen Chef zu machen. Obwohl sie eigentlich nicht hier sein wollte, würde sie dennoch ihr Bestes geben.

Sie war neugierig auf ihn.

Auf den Unterlagen in der Personalabteilung hatte sie lediglich gesehen, dass es sich bei dem Leiter der Pädiatrie um einen Dr. Spike handelte. Ob dies womöglich der weltberühmte Dr. Atticus Spike war? Er hatte die Kinderchirurgie revolutioniert und war vor fünf Jahren nach einer fehlgeschlagenen Operation auf rätselhafte Weise aus Boston verschwunden.

Es war nicht sein Fehler gewesen. Absolut nicht.

Aber einen von zwei siamesischen Zwillingen zu verlieren, wenn man als der führende Spezialist für die Trennung solcher Zwillinge galt, musste ein schwerer Schlag gewesen sein. Da die Mutter der Zwillinge eine bekannte Influencerin war, und der Vater eine Rocklegende, wurde überall in den Medien über diese Operation berichtet. Die ganze Welt hatte den Fall verfolgt und daran Anteil genommen.

Der überlebende Zwilling blieb gelähmt.

Die Welt trauerte mit den Eltern, doch Dr. Atticus Spike war danach einfach verschwunden. Penny hatte das immer sehr bedauert. Er hatte zahlreiche brillante Artikel geschrieben, und für sie war er so etwas wie ein Idol.

Aber ein berühmter Chirurg wie Dr. Spike würde sicher niemals ausgerechnet in Fort Little Buffalo in den Northwestern Territories arbeiten.

Im Grunde spielte es keine Rolle, wer hier der Leiter der Pädiatrie war. Penny wollte bloß einen guten ersten Eindruck machen und sich dann in die Arbeit stürzen.

Den Klinikanzug frisch gebügelt, strich sie sich mit einem Blick in den Rückspiegel ihres Wagens noch einmal das Haar aus dem Gesicht. Dann atmete sie tief durch, denn ihr Herz pochte wie verrückt.

Niemand hier weiß von deinem Fehltritt, und es interessiert auch keinen, sagte sie sich energisch. Daran musste sie sich immer wieder erinnern. Sie war es wert, hier zu sein. Man wollte sie hier.

„Vater, beim Wissenschaftswettbewerb in der Schule habe ich den ersten Preis gewonnen!“, hatte Penny freudig am Telefon ausgerufen. „Du kannst kommen und dir meine Siegerschleife angucken!“

„Dein Bruder hat einen Platz im landesweiten Wissenschaftswettbewerb bekommen. Du auch?“

„Nein, aber …“

„Dann streng dich mehr an.“

Penny stieg aus und schloss den Wagen ab. Sie war Kinderchirurgin. Zwar noch nicht sehr lange, aber sie war gut, und mit dieser kleinen Delle in ihrer beruflichen Karriere konnte sie leben. Einen solchen Fehler würde sie jedenfalls nie wieder begehen.

Hoch erhobenen Hauptes betrat sie das Krankenhaus und ging gleich zur pädiatrischen Abteilung durch, wo der Klinikleiter sie bereits erwartete.

„Dr. Burman, es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen“, begrüßte Dr. Lance Wood sie fröhlich.

„Die Freude ist ganz meinerseits, Lance. Vielen Dank für Ihre Einladung.“

„Unsinn. Wir sind begeistert, dass eine Chirurgin Ihres Kalibers sich bereit erklärt hat, hier zu uns in den Norden zu kommen, um Dr. Thorne während ihres Mutterschutzes zu vertreten. Atticus wird über diese kompetente Unterstützung sehr froh sein.“

„Atticus?“ Penny musste die Aufregung unterdrücken, die in ihr aufstieg.

„Ja. Sie sind mit seiner Arbeit vertraut?“, erkundigte sich Lance.

„Ja, falls Sie den Dr. Atticus Spike meinen, der die Gefäßchirurgie bei Neugeborenen revolutioniert hat.“

„Allerdings“, hörte sie da eine brummige Stimme hinter sich. „Aber die Schmeichelei können Sie gleich stecken lassen. Dieses Leben habe ich hinter mir.“

Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die Stimme erkannte. Langsam drehte Penny sich um und sah sich Horatios sexy, aber mürrischem Besitzer gegenüber.

Ihr Idol. Ihr neuer Chef.

Dr. Atticus Spike, und er wirkte keineswegs erfreut darüber, erneut ihre Bekanntschaft zu machen.

Atticus war nie glücklich über neue Kollegen aus dem Süden. Es bestand immer die Gefahr, dass sie genau wussten, wer er war. Dann fingen sie an, ihm zu schmeicheln, in der Hoffnung, wenn sie ihm genug Honig um den Bart schmierten, dass er sie unter seine Fittiche nehmen würde. Und sobald sie von ihm das bekommen hatten, was sie wollten, würden sie sich von ihm abwenden.

Genau wie seine Verlobte Sasha damals.

Denk nicht an sie.

Er hatte Sasha sehr geliebt und geglaubt, sie würde seine Liebe erwidern. Aber nachdem das Krankenhaus in Boston sich nach dem Tod des einen Zwillings von ihm distanzierte, hatte sie dasselbe getan.

Atticus war am Boden zerstört gewesen.

Es gab niemanden, dem er vertrauen konnte.

Er war also schon deshalb brummig, weil die neue Ärztin ihn zu kennen schien. Womit er nicht gerechnet hatte, war jedoch die Tatsache, dass es sich bei der neuen Kollegin aus Calgary um die hinreißende Frau handelte, der er vorhin begegnet war.

Oder besser gesagt, Horatio.

Horatio war ein stürmischer Hund aus dem Tierschutz und musste noch lernen, sich höflich zu benehmen. Als er losgerannt war, hatte Atticus nicht damit gerechnet, direkt einer Frau in die Arme zu laufen, die ihm den Atem raubte.

Es war, als hätte er einen Schlag vor die Brust bekommen. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Das tiefschwarze Haar hatte sie hochgesteckt, und er fragte sich, wie lang es war und wie es sich anfühlen mochte, seine Finger hindurchgleiten zu lassen.

Sie besaß dunkle, mandelförmige Augen, umrahmt von langen, dichten Wimpern. Sie war hochgewachsen, anmutig, und ihr Designer-Jogginganzug sah eindeutig nach Großstadt aus.

Atticus musste all seine Willenskraft aufbringen, um sich zurückzuhalten, da er wusste, dass sie neu in der Stadt war. Oder vielleicht auch bloß auf der Durchreise. Nach der schmerzlichen Erfahrung mit Sasha hatte er sich geschworen, sich nie wieder auf eine Beziehung mit einer Frau einzulassen.

Und wenn er erst einmal einen Entschluss gefasst hatte, dann blieb er auch dabei.

Sein Vater hatte immer gesagt, er sei ein Sturkopf. Genau diese Sturheit leistete ihm gute Dienste, wenn er seine allerkleinsten Patienten behandelte. Außerdem schützte er damit auch sein Herz, das durch Verrat und Falschheit zutiefst verletzt worden war.

Daher freute es ihn ganz und gar nicht, in der neuen Ärztin die unbekannte Frau aus dem Park wiederzuerkennen, an der Horatio offenbar einen Narren gefressen hatte. Schlimmer noch, sie wusste genau, wer Atticus war. Das bedeutete, dass sie ihn anhimmeln würde.

Doch diese Art von Bewunderung interessierte ihn nicht. Sasha, eine Kinderneurochirurgin, die mit ihm zusammenarbeitete, hatte bei der ersten Begegnung mit ihm genauso reagiert. Aber letztendlich hatte sich alles nur als eine Illusion herausgestellt.

Mit solchen Dingen wollte er nichts mehr zu tun haben. Deshalb war er in seine Heimatstadt zurückgekehrt, anstatt an ein anderes großes Krankenhaus zu gehen. Atticus wollte nur noch seine Ruhe haben.

„Sie? Sie sind Dr. Atticus Spike?“ In der Stimme der neuen Kollegin schwang Ungläubigkeit und vielleicht sogar ein Spur von Spott mit.

Überrascht verbarg Atticus ein Lächeln. Vielleicht war sie ja doch kein allzu süßlich schmeichelnder Fan. Ihre schockierte Miene und die Röte, die ihre hohen Wangenknochen überzog, deuteten darauf hin, dass auch sie nicht allzu erfreut war, ihn zu sehen.

Was er ihr nicht verübeln konnte. Schließlich hatte er sich im Park ziemlich schroff verhalten. „Genau der“, gab er frostig zurück.

„Atticus“, sagte Lance warnend.

Diesen Ton kannte Atticus gut, denn er hatte es geschafft, in den letzten beiden Jahren jeden neuen jungen Kinderchirurgen aus der Klinik zu vertreiben.

Allerdings lag das nicht allein an ihm. Einige dieser Ärzte waren von selbst wieder gegangen, sobald sie gemerkt hatten, dass Atticus und sein Ruf sie nicht weiterbringen würden.

Jemanden, der ihn für seine Zwecke benutzen oder manipulieren wollte, konnte er auf zehn Kilometer Entfernung riechen. Dessen war er sicher.

„Sie sind also die Chirurgin aus dem Süden?“, fragte er.

„Calgary.“ Ihre Augen wurden schmal, und sie verschränkte die Arme. „Ich habe eine renommierte Ausbildung abgeschlossen und bin sehr fachkundig.“

„Dr. Burman war die jüngste Absolventin ihrer Ausbildungsgruppe in der Pädiatrie an der Universität von Alberta“, erklärte Lance lächelnd. „Wir haben großes Glück, sie bei uns zu haben.“

Dies galt als eindeutige Warnung an Atticus. Mit einem missbilligenden Laut tat er so, als würde es ihn nicht interessieren, obwohl es ihn tatsächlich beeindruckte. Dennoch wunderte er sich, warum sie nicht in Calgary geblieben war.

Das ist nicht deine Sache.

Richtig. Er wollte nicht in ihr Leben mit hineingezogen werden. Solange sie sich als kompetente Ärztin erwies und sie gut zusammenarbeiten konnten, war ihm ihr Privatleben egal.

Wirklich?

Ein kleiner Teil von Atticus hätte nur allzu gern gewusst, ob sie einen Partner hatte. Jemanden, der zu Hause auf sie wartete. Der sie in die Arme schloss und ihre vollen Lippen küsste. Bei diesem Gedanken durchströmte ihn plötzlich glühende Hitze.

Eins wusste er jedoch ganz sicher: Er musste Abstand zu Dr. Penny Burman wahren.

„Gut, Sie können bei der ersten Schicht in der Notaufnahme mithelfen. Zu dieser Jahreszeit gibt es viele Erkältungen, Herbstallergien und solche Sachen.“ Atticus steckte die Hände in seine Kitteltaschen, damit er nicht in Versuchung geriet, die kleine Haarsträhne zurückzustreichen, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte.

Reiß dich zusammen.

Er musste sich unbedingt so weit wie möglich von ihr fernhalten.

„Das klingt großartig.“ Penny wandte sich zu Lance um, der ihr einen Ausweis und einen Piepser übergab. Insgeheim amüsierte es sie, dass hier noch Piepser benutzt wurden. Aber da der Empfang auf ihrem Smartphone ziemlich schwankte, konnte sie es nachvollziehen. „Wenn Sie mir freundlicherweise sagen, wo ich hinmuss, fange ich gleich mit meiner Schicht an.“

Wieder unterdrückte Atticus ein Lächeln. Sie war jedenfalls kein Mauerblümchen, und sie schien auch nicht beleidigt zu sein, weil er nicht sofort ihr bester Freund werden wollte. Vielleicht lag er in Bezug auf sie ja doch falsch.

Hm, unwahrscheinlich. Atticus täuschte sich nie. Er mochte vielleicht einsam sein, lag aber nie falsch.

„Ich bringe Sie hin.“ Lance warf Atticus einen weiteren warnenden Blick zu, bevor er Penny zur Notaufnahme führte.

Erst da lächelte Atticus vor sich hin, während er ihr nachsah. Den Rücken hielt sie kerzengerade und den Kopf hoch erhoben. Einmal schaute sie kurz über die Schulter zurück, wodurch sich ihre Blicke trafen.

Sein Pulsschlag beschleunigte sich, als ihre dunklen Augen sich mit einem Ausdruck voller Abneigung verengten.

Atticus empfand zwar Bedauern darüber, aber es war besser so.

2. KAPITEL

Penny wünschte, sie wäre Dr. Atticus Spike nie begegnet. Denn der erste Eindruck von dem Arzt, dessen Arbeit sie immer bewundert hatte, hatte ihr Bild von ihm vollkommen zerstört.

Warum waren alle Chirurgen so unangenehm? Walter war auch immer unglaublich von sich überzeugt gewesen.

Von seinem Charme und seinem liebenswürdigen Lächeln geblendet, hatte Penny es jedoch leider nicht bemerkt.

Hoffentlich würde sie später nicht auch mal so werden. Eins war jedenfalls sicher: Dr. Spike war ein arroganter Blödmann.

Leise lachte sie vor sich hin. Ihr Vater, ein Professor für englische Literatur in Vancouver, wäre über diesen Ausdruck entsetzt gewesen.

„Also, wirklich, Penny. Du bist doch eine gebildete Frau … Zeig mal ein bisschen Klasse“, hörte sie im Geiste seinen tadelnden Ton.

Er verlangte, dass sie sich wie eine perfekte Lady verhielt. Allerdings war dies von seiner Seite aus die reine Heuchelei. Denn im Umgang mit ihrer Mutter war er alles andere als ein Gentleman.

Rasch verdrängte Penny jeden Gedanken an ihren Vater. Er war der Letzte, an den sie jetzt gerade denken wollte. Schon gar nicht an ihrem ersten Arbeitstag in Fort Little Buffalo. Hier würde sie garantiert nicht dieselben Fehler machen wie in Calgary. Sie musste mit Dr. Spike zusammenarbeiten, aber damit hatte es sich dann auch.

Zwischen ihnen würde eine ausschließlich berufliche Beziehung bestehen, genau wie mit allen anderen Kollegen in diesem Krankenhaus. Penny hatte ihre Lektion gelernt. Die einzigen Menschen, denen sie vertrauen konnte, waren sie selbst und ihre Mutter.

Da ertönte wieder einmal der Signalton ihres Telefons, und sie las die Nachricht von Walter.

‚Hey, hast du schon die Infos gesehen, die ich dir geschickt habe?‘

Penny stöhnte. ‚Nein, ich bin bei der Arbeit.‘

‚Ich versuche auch zu arbeiten. Bitte, schau in deine E-Mails.‘

Ihr tat das Herz weh. Es klang so kalt und distanziert. Und sie hatte geglaubt, dass er ihre Liebe erwiderte.

‚Ich fange gerade erst mit meiner Schicht an. Später kümmere ich mich darum. Versprochen.‘

‚Danke. Du bist wunderbar.‘

Nur fühlte Penny sich im Augenblick keineswegs wunderbar. Wie sollte sie jemals einen klaren Strich unter die Sache ziehen, wenn er sie ständig mit Nachrichten bombardierte?

Sie griff nach der nächsten Patientenakte, die auf dem Stationstresen lag. In dem Krankenhaus in Fort Little Buffalo war nicht so viel los wie in Calgary, aber es gab zahlreiche entlegene Dörfer in dieser Gegend. Die Leute nahmen lange Wege in Kauf, um medizinische Hilfe zu erhalten. Daher gab es genug zu tun.

Einerseits war das gut, weil Penny sich dadurch auf die Arbeit konzentrieren musste. Andererseits tat es ihr immer leid, kranke Kinder zu sehen.

„Hi, Marcus.“ Sie zog den Vorhang beiseite.

Der Junge sah auf der großen Liege so klein aus. Er schwitzte heftig und wirkte für einen Fünfjährigen recht teilnahmslos. Sein Husten war allerdings kein Keuchhusten. Das konnte sie gleich ausschließen.

Er hatte kein Fieber, und sein Infekt war auch keine Viruserkrankung. Deshalb musste Penny keine Maske tragen, um ihn zu behandeln.

Marcus lächelte schwach, kuschelte sich dann jedoch eng an seine Mutter, die mit ihm auf der Liege lag.

„Ich bin Dr. Burman.“ Penny setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. „Weshalb bist du heute hier?“

„Wegen Asthma. Zumindest glaube ich, dass es Asthma ist“, antwortete die Mutter. „In unserem Dorf gibt es schon seit vier Jahren keinen Arzt mehr, aber das letzte Mal, als ein Doktor zu uns kam, meinte er, es könnte Asthma sein. Mir wurde gesagt, dass es eine Nachuntersuchung geben sollte, habe aber seitdem nichts mehr von ihm gehört.“

Penny machte sich Notizen. „Und warum vermutete der Arzt Asthma?“

„Ich dachte, Marcus hätte wieder eine Lungenentzündung, so wie gleich nach seiner Geburt“, sagte seine Mutter. „Er hat diesen Inhalator, aber in letzter Zeit braucht er ihn sehr oft.“

Penny überprüfte den Inhalator und notierte sich das Medikament. „Er hat die Höchstdosis genommen und hat trotzdem noch Schwierigkeiten beim Atmen?“

Liebevoll strich die Mutter ihrem kleinen Sohn über den Kopf. „Er wird so zappelig.“

„Ja, das kommt bei Salbutamol häufig vor, aber es wird ihm nicht schaden.“ Penny gab ihr den Inhalator zurück. „Ich werde bei unserem Team für Atemwegsinfektionen einige Tests anordnen. Sie bleiben einfach hier, weil ich weiß, dass Sie von weither kommen. Ich möchte Marcus daher stationär aufnehmen. Wir werden die Untersuchungen so schnell wie möglich durchführen. Außerdem lasse ich noch einen Allergietest machen.“

„Tut das weh?“, fragte er mit pfeifendem Atem.

Sie erhob sich. „Nein. Allergietests haben sich inzwischen sehr verändert. Du wirst vielleicht ein paar juckende Stellen an deinem Arm spüren, aber dagegen können wir dir auch etwas geben. Darf ich jetzt mal deine Brust abhorchen, Marcus? Ist das in Ordnung?“

Marcus nickte und setzte sich auf.

Mit dem Stethoskop hörte sie die Geräusche in seinem Brustkorb ab. Das Pfeifen war da. Ohne die Tests konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um Asthma handelte. Aber es lag definitiv etwas vor. Irgendetwas behinderte die Atmung des Jungen.

Als sie das Stethoskop wieder abnahm, sagte sie: „Wir werden auch noch ein Lungenröntgen machen. Nur um sicherzugehen, dass sein Brustkorb frei ist.“

„Danke, Frau Doktor“, erwiderte Marcus’ Mutter.

„Je nachdem, wie lange die Untersuchungen dauern, möchte ich ihn jetzt erst mal zur Beobachtung aufnehmen. Und Sie können bei ihm bleiben.“

Die Frau entspannte sich sichtlich. „Vielen Dank. Wir wohnen fünf Stunden Autofahrt von hier entfernt und sind mit dem Flugzeug gekommen.“

„Ich verstehe.“ Penny lächelte ihr zu. „Ich veranlasse alle Nötige. Wir finden heraus, was mit ihm los ist.“

Sie verließ die Kabine, schrieb ihre Anweisungen auf und gab sie der Stationsleiterin, die die Aufnahmeformalitäten erledigen sollte, während die verschiedenen Tests bei Marcus durchgeführt wurden.

In Calgary hätte Penny ihn nicht stationär aufgenommen, aber hier gab es kaum eine Alternative. Zumal seine Sauerstoffsättigung heute Morgen sehr niedrig gewesen war. Der Kleine musste beobachtet werden.

„Ein Allergietest?“, fragte jemand interessiert hinter ihr.

Mr. Blödmann höchstpersönlich.

Sie spannte den Kiefer an. „Ja.“

„Wer soll den denn durchführen? Wir haben hier keinen Allergologen.“

„Ich kann ihn durchführen. Im Rahmen der Visiten im Kinderkrankenhaus von Calgary habe ich mit den dortigen Allergologen zusammengearbeitet. Falls Sie die nötige Ausstattung dafür haben …“

„Leider nicht“, meinte Dr. Spike bedauernd.

Penny war erstaunt. „Sie haben nicht das Material dazu?“

„In Yellowknife oder Hay River ist es wahrscheinlich vorhanden“, erklärte er. „Wenn es dringend ist, können wir es einfliegen lassen.“

Sie knabberte an ihrer Unterlippe, ehe sie ihm die Patientenakte reichte. „Der Patient und seine Mutter sind heute Morgen aus einem abgelegenen Dorf hergeflogen. Der Junge atmet schon seit Jahren schlecht, und ein Besuchsarzt vermutete Asthma bei ihm, aber es wurde nie irgendetwas unternommen. Der Arzt hat keine Nachkontrolle gemacht.“

Stirnrunzelnd betrachtete Atticus die Eintragungen. „Es ist dringend.“

„So würde ich es einschätzen“, bestätigte Penny.

Er lächelte. Das erste Lächeln, seitdem sie ihn kennengelernt hatte. Vielleicht hatte Mr. Blödmann ja doch ein Herz.

„Okay, dann rufe ich in Hay River und Yellowknife an. Aber es könnte sein, dass sie keinen Test schicken können. Was halten Sie von Fliegen?“

„Ich bin Fliegen gewöhnt. Wieso?“, entgegnete sie.

„Ich kann Sie hinbringen“, sagte er.

„Was meinen Sie damit?“, fragte sie misstrauisch.

„Ich bin lizenzierter Buschpilot, und ich habe ein Flugzeug. Sie haben den Patienten stationär aufgenommen, richtig?“

„Ja“, antwortete sie verblüfft. Atticus Spike war Pilot?

„Also, sobald Ihre Schicht vorbei ist und die Übergabe stattgefunden hat, fliege ich Sie nach Hay River oder Yellowknife. Und dort holen wir das ab, was Sie für den Allergietest morgen brauchen.“

„Okay.“

„Dann führen Sie Ihre Telefonate und kommen danach zu mir.“ Mit seinen Patientenakten ging Atticus davon.

Sprachlos blieb Penny stehen. Vor wenigen Stunden war er ein verschlossener Hinterwäldler mit einem tollen Hund gewesen. Dann ein mürrischer, unfreundlicher Arzt. Und jetzt dieser super-hilfsbereite und nette Kollege?

Das machte sie ganz schwindelig.

Er war offenbar ein sehr launischer Typ, und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Verwirrt rieb sie sich die Schläfen. Als ihr Telefon mal wieder summte, ignorierte sie es entschlossen.

Sie hatte keine Zeit für Walter, und außerdem ärgerte es sie. Einerseits wollte sie ihm helfen, weil es um einen Patienten ging und es einen guten Eindruck auf den Verwaltungsrat des Krankenhauses machen würde. Andererseits wollte sie jedoch nicht mit Walter sprechen.

„Alles in Ordnung, Dr. Burman?“, fragte Schwester Rachel, die sich an den Tresen setzte.

„Ich denke schon.“ Mit einem leichten Kopfschütteln richtete Penny sich auf. „Könnten Sie mich bitte mit der Abteilung für Immunologie in Hay River und in Yellowknife verbinden? Sagen Sie denen, dass es dringend ist.“

„Na klar“, erwiderte Rachel lächelnd. „Sobald ich jemanden zu fassen bekomme, stelle ich sie zu Ihnen durch.“

„Danke.“ Penny nahm ihre restlichen Patientenakten und ging zum nächsten Patienten. Sie war daran gewöhnt, alles Notwendige zur Verfügung zu haben.

Wenn man in Calgary irgendetwas aus einem anderen Krankenhaus benötigte, ließ man es per Kurier kommen. Hier musste man fliegen, um sich die einfachsten Dinge zu besorgen.

Fliegen machte ihr nichts aus, aber zusammen mit Atticus, den sie kaum kannte und aus dem sie nicht schlau wurde, in einem kleinen Flugzeug zu sitzen, war eine andere Sache. Hoffentlich würde er sie nicht erneut gegen sich aufbringen und sie dazu veranlassen, ihn womöglich gleich direkt im Cockpit zu erdrosseln.

Bei dieser Vorstellung musste Penny lachen.

Immerhin vertraut er dir und hat nicht versucht, dich von dem Test abzubringen.

Das wusste sie zu schätzen. Obwohl Atticus sie nicht kannte, traute er ihr zu, dass sie wusste, was sie tat. In Calgary war das nicht immer der Fall gewesen.

Wahrscheinlich, weil er keine andere Wahl hat.

Sie hasste diese Unsicherheit, die so oft hinter ihrer Fassade der starken Frau lauerte. Es ärgerte sie, dass sie einen solchen Gedanken überhaupt zuließ. Ihr ganzes Leben lang kämpfte sie schon dagegen an. Jedes Mal, wenn es ihr nicht gelang, ihren Vater zu beeindrucken. Und auch dann, als sie sich wie ein absoluter Dummkopf auf Walter eingelassen hatte. Schnell schüttelte Penny diese negativen Gedanken ab. Sie hatte einen Job zu erledigen, und sie würde ihr verdammt Bestes dafür tun.

Auch wenn sie deshalb mit einem Mann in ein Buschflugzeug steigen musste, der ihr gründlich auf die Nerven ging.

Als er vorgeschlagen hatte, Penny zu fliegen, konnte Atticus es selbst kaum fassen. Die Einzigen, die er in seinem Flugzeug jemals mitnahm, waren seine Schwester, ihr Mann und ihre Töchter und Horatio.

Das war’s.

Trotzdem hatte er angeboten, ausgerechnet die Frau nach Hay River oder Yellowknife zu bringen, von der er sich geschworen hatte, dass er ihr auf jeden Fall aus dem Weg gehen wollte.

Denk dran, es ist für einen Patienten.

Solange er es als berufliche Angelegenheit betrachtete, konnte Atticus die Sache akzeptieren. Sie war bloß eine Kollegin. Wenn auch zugegebenermaßen eine Schönheit.

Während ihrer gesamten gemeinsamen Schicht in der Notaufnahme schaute er immer wieder zu ihr hinüber. Er konnte seine Augen einfach nicht von ihr losreißen, was ihm gegen den Strich ging.

Hatte er aus der Geschichte mit Sasha denn gar nichts gelernt? Als er ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte er auch nicht aufhören können, sie anzusehen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Penny ihm im Gegensatz zu Sasha weder besondere Beachtung schenkte noch ihm zulächelte.

Sie blickte weder zu ihm auf, noch flirtete sie mit ihm, worüber Atticus eigentlich erleichtert war.

Sie schien sich ausschließlich auf ihre Arbeit und ihr Telefon zu konzentrieren. Nun ja, das Telefon schien sie abzulenken, was sie offenbar als Belästigung empfand.

Schließlich ging er zu ihr, als sie am Stationstresen ihre Eintragungen durchlas. Sie war allein und bemerkte ihn anscheinend nicht einmal.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

„Ja“, antwortete sie, ohne aufzusehen. „Schwester Rachel sagt, dass es in Hay River das gibt, was wir brauchen.“

„Hervorragend.“ Atticus zögerte. Wenn er sie darauf ansprach, dass sie zu oft auf ihr Telefon schaute, gestand er damit zugleich, wie genau er sie beobachtete.

Weshalb fühlte er sich nur so stark zu ihr hingezogen?

Warum konnte er mit ihr nicht einfach genauso reden wie mit all seinen anderen Mitarbeitern?

„Ist das alles?“ Penny schaute auf.

Er war ihr so nahe, dass er die goldfarbenen Punkte in ihren dunkelbraunen Augen erkennen konnte. Ebenso wie ihre perfekt geschwungenen dichten, schwarzen Wimpern. Rasch trat er etwas zurück. „Sie wirken … abgelenkt.“

Sie seufzte. „Sie meinen wegen des Telefons? Es tut mir leid, das ist ein anderer Chirurg aus Calgary.“

„Ach ja?“

„Er bittet mich nur um etwas Hilfe bei einigen Patienten, aber mein Schwerpunkt ist selbstverständlich hier, Dr. Spike.“ Anfangs ging es nur um einen Fall, doch inzwischen wurden es mehr.

„Na schön.“ Atticus merkte, dass Penny im Grunde gar keine Lust hatte, diesem anderen Kollegen zu helfen. Und er hatte das Gefühl, sie wollte sich hier etwas beweisen.

Er hatte ihren Lebenslauf überflogen. Sie war hochqualifiziert und hatte es gar nicht nötig, sich irgendetwas zu beweisen.

„Wir fliegen gleich heute Abend nach Hay River.“ Gerne hätte er ihr gesagt, dass er sie dabei unterstützen könnte, sich hier zurechtzufinden. Schließlich wusste er, wie es war, an einen neuen Ort zu kommen, wo man niemanden kannte. Aber er schwieg.

In Boston hatte er sich zu Anfang ein wenig verloren gefühlt. Dann war er dort jedoch zu einem der allerbesten Spezialisten geworden und bis ganz an die Spitze aufgestiegen. Und zwar so weit, dass er aus den Augen verloren hatte, wer er war und wem er wirklich vertrauen konnte.

Penny nickte und griff nach ihren Akten. „Hört sich gut an.“

Als sie davonging, atmete Atticus tief durch. Dass sie sich so in seine Gedanken drängte, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Für den Rest der Schicht vermied er es geflissentlich, ihr zu begegnen. Nachdem die Mitarbeiter der folgenden Schicht ihre Arbeit begonnen hatten, suchte er Penny dann auf, beschrieb ihr den Weg zu seinem Flugzeughangar, wo sie sich in einer Stunde mit ihm treffen sollte.

Während er sein Flugzeug startklar machte, stieß Atticus einen gedämpften Fluch aus. Na ja, wenigstens flogen sie nur nach Hay River und nicht nach Yellowknife. Hay River war bloß vierzig Flugminuten entfernt. Er musste also nicht allzu viel Zeit in Pennys Nähe verbringen.

„Was ist das für ein Flugzeug?“

Er drehte sich zu Penny um, die hinter ihm stand, zwei Kaffeebecher in den Händen. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt Jeans sowie einen lila Pullover, der über einer Schulter hing und den Blick auf ihr Schlüsselbein freigab. Allein bei dem Anblick ihrer entblößten Schulter wurde Atticus unwillkürlich heiß.

Konzentrier dich.

„Kennen Sie sich mit Flugzeugen aus?“, fragte er.

„Ein bisschen“, meinte sie. „Ich bin zwar in Calgary aufgewachsen, aber meine Großeltern hatten ein Grundstück in den Ausläufern der Berge. Es kamen oft Buschpiloten bei ihnen vorbei. Ich bin deren Gesellschaft also gewöhnt.“

„Sind Sie mal in einem solchen Flugzeug mitgeflogen?“

„Schon lange nicht mehr.“ Eine leichte Nervosität schwang in ihrem Tonfall mit.

„Ich bin ein guter Pilot“, erklärte Atticus.

„Das kann ich nicht beurteilen.“ In ihren Augen glitzerte es scherzhaft, sodass er lächeln musste.

„Stimmt. Sie kennen mich ja nicht, abgesehen von meiner traurigen Berühmtheit“, gab er zurück.

„Das scheint Sie zu stören. Wieso?“

„Ich bin mehr als nur mein Name, und …“ Er brach ab, weil er nicht an Sasha und all die sogenannten Freunde in Boston denken wollte, denen er damals vertraut hatte. Es lohnte sich nicht.

„Was denn?“, hakte Penny nach.

„Das spielt keine Rolle“, sagte Atticus schnell, ehe er seine Vorbereitungen beendete. Er war sauer auf sich, dass er sich ihr gegenüber so unfreundlich verhielt, aber es war besser so. Schließlich blieb sie nur für kurze Zeit, und er wollte sich nicht mit ihr anfreunden. Dennoch gefiel es ihm nicht, immer dieser brummige Griesgram zu sein, als den man ihn mittlerweile kannte.

Penny reichte ihm einen Kaffeebecher. „Ich wusste nicht, was Sie mögen. Darum ist er schwarz.“

„Danke.“ Er freute sich über den Kaffee. „Ich trinke ihn gerne schwarz.“

„Ich mag lieber Tee.“ Sie nahm einen Schluck aus ihrem Becher. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Nein, wir müssen jetzt nur noch auf die Starterlaubnis warten. Den Flugplan habe ich durchgegeben, und in Hay River kann ich den Truck eines Kumpels von mir ausleihen, um damit zum Krankenhaus zu fahren.“

„Also, sagen Sie mir jetzt, was das für ein Flugzeug ist?“, fragte Penny.

„Wieso wollen Sie das wissen?“

„Ich versuche, Small Talk zu machen. Unbehagliches Schweigen mag ich nicht, und es tut mir leid, aber dieses ständige Hü oder Hott von Ihnen finde ich furchtbar“, antwortete sie.

Atticus lachte ein wenig. „Ach ja?“

„Allerdings.“ Sie trank noch einen Schluck von ihrem Tee. „Ich bewundere Ihre Arbeit sehr. Aber wenn Sie glauben, dass ich mir etwas von Ihnen verspreche, irren Sie sich. Ich bin zum Arbeiten hier, weiter nichts.“

„Warum sind Sie denn überhaupt hier?“

„Das ist nicht Ihre Sache. Sie brauchen nur zu wissen, dass ich meine Arbeit ernst nehme und eine verdammt gute Chirurgin bin.“

Wieder lächelte er. Daran hatte er keine Zweifel. Penny besaß Temperament, und das gefiel ihm. Trotzdem hätte er gerne gewusst, weshalb sie hier war. Denn dafür musste es einen Grund geben. Sie wirkte nicht wie jemand, der ein Großstadtkrankenhaus verlassen würde, um zum Arbeiten hierherzukommen. Sie war offensichtlich karriereorientiert, und zwar so sehr, dass sie die Verbindung nach Calgary noch immer aufrechterhielt.

Sasha war auch von ihrem Beruf besessen gewesen. Doch anders als sie hatte Penny anscheinend kein Interesse daran, ihn zu benutzen, um ihre Karriere zu fördern. Was Atticus durchaus erfrischend fand.

„Das bezweifle ich nicht.“ Er leerte seinen Kaffeebecher und warf ihn in den Müll. „Ich denke, wir sollten allmählich unsere Sachen einladen und starten.“

Nachdem Penny ihren Becher ebenfalls entsorgt hatte, öffnete Atticus die Flugzeugtür und half ihr beim Einsteigen. Ihre Haut fühlte sich weich an, und da war wieder diese seltsame Hitze. Während Penny ihren Platz einnahm, hielt er ihre Hand noch etwas länger fest als nötig. Obwohl er genau das eigentlich nicht tun sollte.

Es war schön, jemanden zu berühren, aber er musste sie loslassen. Das hier war zu gefährlich.

Schnell zog er seine Hand zurück, wobei er Pennys Blick vermied.

Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. „Danke.“

Atticus sagte nichts, sondern schloss lediglich mit einem kurzen Nicken die Tür. Dann nahm er auf dem Pilotensitz Platz und setzte seine Kopfhörer auf. „Sie haben dort auch welche.“

Penny folgte seinem Beispiel.

Schließlich startete er die Maschine und ließ sie langsam vom Hangar wegrollen. Er sprach mit dem Tower und wartete auf die Startfreigabe. Penny schien überhaupt nicht mehr nervös zu sein, sondern wirkte sogar recht entspannt.

„Rebel eins, Sie haben Starterlaubnis“, hörte er den Tower über Funk.

„Verstanden“, antwortete Atticus. Er beschleunigte und hob dann ab.

Es war ein wunderbarer Nachmittag. Bei ihrer Rückkehr würde es jedoch schon dunkel sein. Dem Wetterbericht zufolge waren die Flugbedingungen für heute Abend ebenfalls gut. Der gesamte Ausflug sollte also nicht allzu lange dauern.

Penny lachte leise.

„Was ist?“, fragte Atticus.

„Rebel eins? Das klingt ja sehr nach Science Fiction“, meinte sie belustigt.

Er lächelte und freute sich, dass sie die Anspielung auf den Film verstand.

„Ich bin beeindruckt.“ Er imitierte einen gewissen geräuschvoll atmenden Film-Bösewicht.

Penny lachte. Es war ein fröhliches, ansteckendes Lachen.

In der Maschine herrschte angespanntes Schweigen. Diese Leere wurde nur durch das Geräusch des Motors und der Propeller gefüllt.

Auch wenn Penny sich etwas unbehaglich fühlte, sagte sie sich, es sei für ihren kleinen Patienten wichtig.

„Es ist eine Murphy Rebel“, unterbrach Atticus plötzlich ihre Gedanken.

„Was?“

„Sie haben mich doch vorhin nach dem Flugzeugtyp gefragt. Es ist eine Murphy Rebel.“

„Oh.“

Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Oh? Das ist alles?“

„Was soll ich Ihrer Meinung nach denn sagen?“, gab sie zurück.

„Da Sie mich ja mehrfach nach dem Flugzeug gefragt haben, dachte ich, Sie hätten mehr dazu zu sagen als bloß ‚Oh‘.“

„Dieses Modell kenne ich nicht.“

„Und welche kennen Sie?“, erkundigte sich Atticus.

„DeHavillands und Cessnas. In denen bin ich früher manchmal mitgeflogen.“

„Und was halten Sie von dieser Maschine?“

„Ein schönes Flugzeug. Mehr kann ich erst sagen, wenn wir gelandet sind.“

Atticus lachte leise, woraufhin ihr Herzschlag einen Moment lang aussetzte. Vielleicht besaß er ja doch Sinn für Humor. Ihr Vater hatte definitiv keinen, und Walter war auch nie besonders fröhlich gewesen.

„Sie sollten häufiger mal lachen oder zumindest lächeln. Dadurch wirken Sie deutlich menschlicher anstatt wie eine Art Roboter“, meinte sie in scherzhaftem Ton.

„Das habe ich schon öfters gehört“, brummte er.

Lächelnd sahen sie einander an, sodass sich ihr Pulsschlag unwillkürlich beschleunigte. Es gefiel Penny, wenn Atticus lächelte oder lachte. Weil er dann echter zu sein schien und kein solcher Blödmann. Sie schaute aus dem Fenster, um den Ausblick zu genießen.

„Wir fliegen gerade über Wood Buffalo“, erklärte er. „Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich über Alexandra Falls fliegen, aber wir haben ja etwas zu erledigen.“

„Das ist schon okay.“ Gerne hätte Penny gesagt: Vielleicht ein anderes Mal. Doch sie hielt sich zurück. Ein anderes Mal würde es vermutlich nicht geben. Sie war nicht hier, um Verbindungen oder Beziehungen aufzubauen. Einen Flug zu einem Wasserfall machte man mit Freunden.

Oder als Liebespaar.

Sofort schoss ihr glühende Hitze in die Wangen, doch sie verbannte den Gedanken sofort. Nein, an so etwas wollte sie gar nicht erst denken. Atticus war ihr Vorgesetzter, erfahren und berühmt, genau wie Walter. Es war notwendig, sich immer wieder daran zu erinnern, wohin sie das gebracht hatte.

Sie musste Atticus auf Abstand halten. Sie kannte ihn nicht, und das war auch gut so. Daher konzentrierte sie sich auf die großartige subarktische Landschaft mit ihren herrlichen Wäldern und Seen. Plötzlich flog er eine Kurve, und sie befanden sich über einer weiten Ebene mitten im Wald, auf der breite weiße Streifen auf der grünbraunen Erde zu sehen waren.

„Was ist das?“, fragte Penny erschrocken. „Schnee?“

„Hier kommt der Schnee zwar ziemlich früh, aber nein, das ist kein Schnee. Es ist Salz.“

„Salz?“

Er nickte. „Salzebenen. Und manche dieser Seen sind gar keine Seen, sondern Sinklöcher. Rund um Fort Little Buffalo ist es erstaunlich sandig.“

„Ein Sinkloch habe ich noch nie gesehen.“

„Wenn Sie die Chance haben, bevor durch das Wetter die Straßen unpassierbar werden, fahren Sie nach Süden über die Grenze nach Alberta zum Pine Lake. Das ist eine ganze Reihe von Sinklöchern und einer der schönsten Orte überhaupt. Wenn wir noch Sommer hätten, würde ich Ihnen empfehlen, zum Schwimmen dorthin zu fahren. Der Fluss mit seinen vielen Stromschnellen ist dafür zu gefährlich.“

„Ich fürchte, dann werde ich die Schwimmsaison wohl verpassen“, erwiderte Penny. „Bis zum nächsten Sommer bin ich wieder zurück in Calgary.“

Atticus sagte nichts, und erneut entstand eine unbehagliche Stille zwischen ihnen. Sie wusste, dass das Krankenhaus in Fort Little Buffalo sie gerne behalten würde. Zwar war sie als Mutterschaftsvertretung gekommen, aber hier gab es immer einen großen Bedarf an qualifizierten Ärzten. Die Personalabteilung hatte ihr sofort eine langfristige Stelle angeboten, die Penny jedoch abgelehnt hatte. Allmählich begriff sie, wie schwierig es war, Ärzte im Norden zu halten. Aber ihr Stammkrankenhaus war nun mal in Calgary. Wenn sie zurückkam, dann würde sie es hoch erhobenen Hauptes tun.

Der Rest des Fluges verlief schweigend. Die längste halbe Stunde ihres Lebens.

Penny war heilfroh, als sie endlich Hay River am Horizont erblickte und Atticus bei dem Tower dort seine Landung ankündigte.

Penny wollte jetzt bloß zum hiesigen Krankenhaus fahren, das nötige Material besorgen und dann wieder nach Fort Little Buffalo zurückkehren.

Das Wichtigste war, diese sechs Monate hier so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

3. KAPITEL

Penny blieb etwas hinter Atticus zurück, als sie das Krankenhaus in Hay River betraten. Sie folgte ihm, weil er hier jeden kannte. Sie dagegen kannte niemanden. Auf der kurzen Fahrt im Truck bis zum Krankenhaus hatten sie nur wenige Worte miteinander gewechselt. Auch wenn Penny allzu gern mit ihm über die Arbeit gesprochen hätte, hatte er ja von Anfang an klargestellt, wie wenig erfreut er darüber war, in ihr eine Bewunderin seiner Arbeit zu sehen. Ganz im Gegensatz zu allen anderen Chirurgen seines Formats, die sie sonst kannte.

Vor allem Walter.

Doch andere Gesprächsthemen kamen für Penny nicht infrage, denn sie wollte sich unter gar keinen Umständen in irgendeine nicht berufliche Beziehung hineinziehen lassen.

Da summte ihr Telefon. Seufzend warf sie einen Blick darauf.

Es war Walter. Wer sonst?

Atticus blieb stehen und wandte sich zu ihr um. „Schon wieder Calgary? Ist denen nicht klar, dass Sie jetzt hier arbeiten?“

„Nein“, antwortete Penny verärgert. Doch dann stieß sie noch einen Seufzer aus. „Aber die Patienten sind wichtig.“

„Unsere Patienten hier genauso“, erklärte er streng.

„Ich weiß, und mein Schwerpunkt befindet sich hier. Glauben Sie mir. Aber ich war an diesem Fall beteiligt …“

Er nickte knapp. „Sie müssen diese Benachrichtigungen abschalten.“

„Sie haben recht.“ Sie schaltete das Telefon aus. „Es fällt mir schwer, mich von meiner Arbeit in Calgary zu trennen. Das tut mir leid.“

Ein seltsamer Ausdruck flog über seine Miene. „Sie werden bei uns gebraucht. Vergessen Sie das nicht.“

Sie wurde rot, da sie sich zurechtgewiesen fühlte. „Ich weiß.“

Mit einem weiteren kurzen Nicken ging er auf eine ältere Frau zu, die ihnen entgegenkam.

„Ich bin Dr. Bush.“ Lächelnd gab die Immunologin ihnen die Hand. „Dr. Spike, es ist mir eine Freude.“

Atticus brummte irgendetwas als Antwort.

„Ich bin Dr. Burman.“ Penny trat vor. „Ich bin sehr froh, dass Sie mir das Material zur Verfügung stellen können, das ich brauche. Mein Patient ist aus einem abgelegenen Dorf per Flugzeug zu uns gekommen.“

Dr. Bush hob die Schultern. „Kein Problem. Ich freue mich, dass noch jemand außer mir die Allergietests durchführen kann. Ich komme bloß alle drei Monate nach Fort Little Buffalo und war erst vor Kurzem da. Und ich bin nur zufällig gerade für zwei Wochen hier, bevor ich nach Yellowknife und dann nach Inuvik fliege.“

„Wo ist denn Ihr Heimatkrankenhaus?“, fragte Penny erstaunt.

Dr. Bush seufzte. „Ich habe eigentlich keins. Ich wohne in Yellowknife, aber es gefällt mir, meine Runden durch die anderen Krankenhäuser zu machen. In diesen kleineren Krankenhäusern können sie nicht so viele Mitarbeiter beschäftigen. Wenn Sie beide mich zu meinem Dienstzimmer begleiten, habe ich dort alles Nötige für Ihren Test.“

Penny folgte ihr, während Atticus etwas hinter ihnen zurückblieb.

Hay River war größer als Fort Little Buffalo, aber immer noch klein im Vergleich zu den Krankenhäusern im Süden. Es war verständlich, dass so viele Bewohner aus den Territories nach Alberta kamen oder sogar noch weiter wegzogen. Hier gab es einfach nicht die Infrastruktur, die für ihre medizinischen Versorgung notwendig war.

Dr. Bush öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. „Hier ist alles, was Sie brauchen. Ich hoffe, es hilft. Und bitte geben Sie dem Patienten meine Visitenkarte. Ich habe sie dem Paket beigefügt. Gelegentlich fliege ich auch einige der entlegeneren Dörfer an. Nächstes Jahr werde ich auf einer solchen Rundreise auf jeden Fall nach ihm schauen.“

„Vielen Dank.“ Penny griff nach dem Karton mit dem Material, den Atticus ihr jedoch sofort abnahm.

„Wir sollten besser gehen“, erklärte er.

Wegen seiner offensichtlichen Ungeduld warf Penny ihm einen missbilligenden Blick zu, ehe sie sich wieder an Dr. Bush wandte. „Ich werde Ihre Informationen weiterleiten. Ich danke Ihnen, Dr. Bush.“

Dr. Bush nickte liebenswürdig.

„Danke, Kylie“, brummte Atticus und verließ das Zimmer.

Penny folgte ihm, während er mit schnellen Schritten durch die Korridore lief.

„Hey, warten Sie! Warum haben Sie es denn so eilig?“, meinte Penny.

„Das hier ist kein Gesellschaftsbesuch, sondern eine Materialabholung“, entgegnete er. „Wir haben die Sachen, und jetzt müssen wir zurück.“

„Sind Sie zu all Ihren Kollegen hier im Norden so?“, wollte sie wissen.

„Wie denn?“ Er zog die Brauen hoch.

„Sie sind etwas schroff.“

Er lachte leise. „Schroff, ja?“

„Zumindest nicht besonders freundlich. Dr. Bush hat sich große Mühe gegeben, uns zu helfen.“

Atticus hielt inne. „Wenn sie wirklich helfen wollte, würde sie eine richtige Praxis aufmachen, anstatt ständig von einem Ort zum anderen zu fliegen.“

„Nicht jeder kann im Norden bleiben“, wandte Penny ein.

„Sie meinen, nicht jeder will im Norden bleiben.“

„Sie haben doch selbst in Boston praktiziert“, gab sie verärgert zurück.

Er rückte den Karton in seinen Armen zurecht. „Ich stamme aus Fort Little Buffalo.“

„Aber Sie sind trotzdem weggegangen.“

Seine Augen wurden schmal. „Na schön, Sie haben recht. Ich bin gegangen, aber ich bin zurückgekommen und geblieben. Die Leute wissen, wo sie mich finden.“

„Tatsächlich? Vor fünf Jahren sind Sie nämlich offenbar einfach von der Bildfläche verschwunden.“

Er lächelte flüchtig. „Von der Bildfläche?“

„Ja.“

„Sehr gut.“ Damit marschierte er aus dem Gebäude nach draußen, wobei er über die Schulter zurückrief: „Kommen Sie!“

Erbost blieb Penny stehen. Ein unausstehlicher Kerl. Er mochte sexy sein, und sie fühlte sich körperlich ungemein zu ihm hingezogen, aber er ging ihr gewaltig auf die Nerven. Sie wurde nicht schlau aus ihm, obwohl sie andere Menschen im Allgemeinen gut einschätzen konnte.

Jedenfalls vor der Geschichte mit Walter. Jetzt wusste sie nicht mehr, was sie denken oder glauben sollte. Im Flugzeug hatte sie gedacht, Atticus würde ein wenig auftauen. Doch da hatte sie sich wohl getäuscht.

Jemanden, der sich so unberechenbar verhielt, konnte sie in ihrem Leben nicht gebrauchen.

Atticus mochte Dr. Bush, aber sie hatten eine Abmachung. Kylie wusste, dass er möglichst unauffällig bleiben wollte. Penny wusste das nicht.

Vielleicht war er ja ein Blödmann, so wie er sie heute früh hatte murmeln hören. Aber wenn, dann diente das lediglich seinem Schutz.

Sasha und seine Freunde und Kollegen hatten ihn so herzlich aufgenommen. Für Atticus waren sie fast wie seine Familie gewesen, da er ja so weit von zu Hause fort war. Dann ein einziger Fehler, den er noch nicht einmal verschuldet hatte, und diese Familie, die Frau, die er liebte – alle hatten sich von ihm abgewendet.

Er hatte also nicht nur mit dem Schmerz zu kämpfen, dass ein Kind bei ihm auf dem OP-Tisch gestorben war, sondern er war auch noch allein. Niemand hatte ihn unterstützt.

Atticus konnte sich nur auf sich selbst verlassen. Auf sich selbst vertrauen.

Dass es ihm Spaß machte, mit Penny zusammen zu sein, ließ bei ihm die Alarmglocken schrillen. Auf keinen Fall durfte er allzu viel Zeit mit ihr verbringen. Ansonsten würde er sein Herz gefährden.

Er war schon einmal verraten worden, und das reichte ihm ein für alle Mal …

„Ich gehe zurück nach Fort Little Buffalo“, hatte er gesagt. „Kommst du mit, Sasha?“

„Im Ernst?“, fragte sie angewidert. „Wo ist das überhaupt?“

„Im Süden der Northwest Territories.“

„Also mitten in der Wildnis“, meinte sie sarkastisch. Aber es war kein Scherz, denn in ihrer Stimme lag ein boshafter Unterton.

„Meine Praxis läuft nicht mehr gut. Das Krankenhaus glaubt nicht mehr an mich. Leute, die ich für Freunde hielt, rufen mich nicht mehr zurück. Und alles nur wegen einer Sache im OP, für die ich nichts konnte.“

Sasha verzog das Gesicht. „Es war ein Fall von großem öffentlichem Interesse.“

„Na und? Es war ein Risiko, das wusste jeder. In Fort Little Buffalo ist den Leuten so was egal. Ich gehe an einen Ort zurück, wo den Menschen die Medizin mehr wert ist als Berühmtheit. Ich wünsche mir, dass du mitkommst. Ich liebe dich, und wir können dort heiraten.“

Eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn, und in ihren sonst so strahlend blauen Augen lag ein kalter Ausdruck. „Nein, ich komme nicht mit. Und was die Hochzeit betrifft … Ich denke, wir sollten uns erst mal eine Auszeit gönnen.“

„Eine Auszeit?“, fragte Atticus verständnislos.

„Bis Gras über die Sache gewachsen ist. Hör mal, ich habe hier immer noch eine tolle Praxis. Ich mache keine Fehler.“

Es war, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. „Ich habe keinen Fehler gemacht. Das hat die Autopsie bestätigt.“

„Klar, aber die Welt glaubt, es wäre dein Fehler gewesen.“

In diesem Moment fiel es ihm schlagartig wie Schuppen von den Augen. „Du warst nur mit mir zusammen, weil es in den Zeitungen gut aussah. Stimmt’s?“

Sasha senkte den Blick, womit er die Antwort wusste.

Entschlossen verdrängte Atticus die Erinnerung. Er stellte vorsichtig den Karton auf dem Rücksitz ab, bevor er Penny die Beifahrertür öffnete.

„Danke.“ Sie stieg ein.

Auch wenn sie ihn für einen Stinkstiefel hielt, war er immer noch ein Gentleman.

Eine leise Stimme in seinem Inneren flüsterte ihm zu, dass sie vielleicht Freunde werden könnten. Es musste ja nichts zwischen ihnen passieren. Seit seiner Rückkehr nach Fort Little Buffalo führte er ein einsames, abgeschiedenes...

Autor

Amy Ruttan
Amy Ruttan ist am Stadtrand von Toronto in Kanada aufgewachsen. Sich in einen Jungen vom Land zu verlieben, war für sie aber Grund genug, der großen Stadt den Rücken zu kehren. Sie heiratete ihn und gemeinsam gründeten die beiden eine Familie, inzwischen haben sie drei wundervolle Kinder. Trotzdem hat Amy...
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