Julia Ärzte zum Verlieben Band 196

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DR. BRADLEYS EINSAMES HERZ von ANNIE CLAYDON

Dr. Will Bradley versteckt sich seit einem traumatischen Verlust hinter einer unnahbaren Fassade. Bis er unerwartet eng mit Sanitäterin Lark zusammenarbeiten muss. Ohne es zu wollen, fühlt er sich immer mehr zu ihr hingezogen. Kann er es wagen, ihr sein Herz zu öffnen?


BLOSS DIESE EINE NACHT MIT DIR? von RACHEL DOVE

Hebamme Molly und Dr. Matt Loren sind beste Freunde – mehr nicht! Doch als Molly in einer Notlage vorübergehend bei Matt einzieht, prickelt es plötzlich unwiderstehlich sinnlich zwischen ihnen. Gegen jede Vernunft wird Molly schwach. Mit ungeahnt süßen Folgen …


DAS SCHÖNSTE GESCHENK IST DIE LIEBE von ANNIE O' NEIL

Allein an Weihnachten? Lieber arbeitet Natalie als Vertretungsärztin in den italienischen Alpen. Wenn ihr Boss Dr. Giovanni De Renza nur nicht so sexy wäre! Als sie sich mit ihm um ein Findelbaby kümmert, träumt sie heimlich von einer eigenen Familie. Doch was will Gio?



  • Erscheinungstag 19.10.2024
  • Bandnummer 196
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526234
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie Claydon

1. KAPITEL

„Verzeihung … Nach Ihnen.“

An einem regnerischen Montagmorgen wie diesem, wenn sich die Leute hektisch im Café drängten, konnte solch ein fröhlicher Tonfall nur von einem einzigen Menschen stammen – Dr. Will Bradley. Das wusste Lark, auch ohne sich nach der vertrauten Stimme umzudrehen. Alle anderen wollten es nur rechtzeitig zur Arbeit schaffen und hatten keine Zeit für Höflichkeiten.

„Tut mir leid. Habe ich Sie etwa mit Kaffee bekleckert? Ich hätte wirklich besser aufpassen müssen“, erwiderte eine unbekannte weibliche Stimme.

Will zuckte nun bestimmt mit den Schultern, um der Frau zu zeigen, dass er die Kaffeeflecken nicht persönlich nahm.

„Macht nichts. Ich wünsche Ihnen einen großartigen Tag!“

„Den wünsch ich Ihnen auch“, erwiderte die Frau lachend.

Lark Foster drehte sich nun doch um und entdeckte den freundlichen Arzt, der sich gerade hinter ihr in die Schlange einreihte. Sie ließ ein paar Leute vor und gesellte sich zu Will, der ihr sogleich sein berühmtes Lächeln schenkte. Ein Lächeln, mit dem er ihr stets das Gefühl vermittelte, der einzige Mensch weit und breit zu sein. Ein Lächeln, mit dem er alle um den Finger wickeln konnte.

„Hattest du ein schönes Wochenende?“

„Ja, danke.“ Lark erwiderte sein Lächeln. Sie arbeiteten nun schon seit vier Jahren zusammen, und selbst nach so langer Zeit spürte sie die Wirkung seiner positiven Ausstrahlung. Es glich einer spielerischen Aufforderung, die schönen Seiten des Lebens zu sehen.

Als sich der charismatische Arzt damals um die Teilzeitstelle bei der Migränestiftung beworben hatte, hatte Lark drei Vorbehalte gehabt: Will sah gut aus, geradezu umwerfend, und das konnte Lark nur schwer ignorieren, auch wenn sie sich anstrengte, denn sie hatte keine Zeit für Ablenkungen. Wegen seines Charmes konnte sie nie genau einschätzen, was er wirklich dachte. Und obendrein war er Neurologe.

Lark und Will arbeiteten jeweils zwei Tage pro Woche für die Stiftung. An den übrigen drei Tagen gingen sie ihren Hauptberufen nach, doch das änderte nichts daran, dass ihre Positionen innerhalb der Stiftung absolut gleichrangig waren, wie man ihr versichert hatte. Aber würde Will nicht dennoch davon ausgehen, dass seine Meinung mehr Gewicht hatte als ihre? Schließlich war er ein Facharzt und Lark nur Notfallsanitäterin.

Will hatte Larks Bedenken sofort ausgeräumt. An seinem ersten Arbeitstag hatte er ihren wissenschaftlichen Artikel über Migräne im Kindesalter erwähnt und ihr mehrere Fragen gestellt, die sein ehrliches Interesse an ihrer Arbeit demonstrierten. Niemals erwartete er, dass Lark seine Anweisungen befolgte. Er ordnete sich ihr aber auch nicht unter, denn da sie gleichrangig waren, konnte Lark ihre Entscheidungen ebenso gut begründen wie er.

Lark wischte ihm einen Kaffeetropfen vom Ärmel seines Regenmantels. „Wie ich sehe, hattest du auch ein schönes Wochenende.“ Niemand, nicht einmal Will, entschuldigte sich dafür, wenn er mit Kaffee bekleckert wurde – es sei denn, er war gut drauf.

„Richtig kombiniert, Sherlock.“ Sein Lächeln verblasste. Der schöne Part seines Wochenendes war wohl doch nicht so entspannt verlaufen. „Ich war gestern kurz im Krankenhaus, um Howard zu besuchen.“

Das war das Tolle an ihrer Beziehung. Seit sie befreundet waren, wagte er sich sogar ab und zu hinter seiner schützenden Fassade hervor und vertraute ihr an, was wirklich in ihm vorging. Lark hatte das Gefühl, für ihn etwas Besonderes zu sein, denn es gab nicht viele Menschen, denen sich Will öffnete.

„Alyssa hat mir erzählt, dass du nicht nur kurz zu Besuch gekommen bist.“ Lark hatte am Sonntagabend lange mit Howards Frau telefoniert, um sich zu erkundigen, wie es ihr nach seinem Schlaganfall ging.

Will tat es schulterzuckend ab, als wären seine guten Taten so unbedeutend wie der Kaffeetropfen auf seinem Regenmantel. „Howard ist immer noch frustriert, weil er uns viele wichtige Dinge nicht sagen kann, die wir seiner Meinung nach wissen müssen, um den Laden am Laufen zu halten.“

Lark nickte. Howards Schlaganfall war aus heiterem Himmel gekommen. Ein kerngesunder, rüstiger Mann Anfang sechzig war plötzlich halbseitig gelähmt und litt an expressiver Aphasie. Er konnte zwar noch lesen und verstand auch alles, aber das Schreiben und Sprechen fiel ihm sehr schwer. Vor allem war Howard frustriert, weil er die Stiftung nicht länger leiten konnte. Die Stiftung, die er vor fünfundzwanzig Jahren gegründet hatte und die Lark und Will nun stellvertretend für ihn führten.

„Ich weiß nicht, wie ich damit klarkommen würde. Es muss schlimm sein, ganz genau zu wissen, was man sagen will, ohne es aussprechen zu können.“

„Ja, und so etwas passiert ausgerechnet einem Mann wie Howard, der die ganzen Abläufe der Stiftung im Kopf hat. Ich habe ihm erzählt, dass du alle Sachen auf seinem Schreibtisch durchgegangen bist …“

Larks Mundwinkel sanken herab. „Das hat ihm sicher nicht gefallen.“

Will lächelte erneut. „Howard versteht, dass wir alles durchsehen und uns während seiner Abwesenheit um alles kümmern müssen. Es ist ganz normal, dass ihm das nicht gefällt, obwohl er natürlich weiß, dass du hervorragende Arbeit leistest.“

Es tat gut, diese Worte zu hören. Die anderen Mitarbeiter der Stiftung hatten Witze darüber gemacht, dass sie sich in die Höhle des Löwen begeben mussten. Will hingegen war nach Feierabend noch lange mit Lark im Büro geblieben und hatte sie kommentarlos mit Tee und Keksen versorgt, während sie sämtliche Briefe und To-do-Listen sortiert und versucht hatte, sich einen Überblick zu verschaffen – stets in der Hoffnung, nichts übersehen zu haben.

„Hat er zufällig auch den Stiftungsrat erwähnt?“ In der vergangenen Woche war es dort verdächtig ruhig geblieben, und keines der Mitglieder hatte auch nur einen Fuß in die Räume der Stiftung gesetzt.

„Das hat er. Der Stiftungsrat steht uns mit Rat und Tat zur Seite, aber wir beide müssen den Betrieb aufrechterhalten. Wir entscheiden alles gemeinsam, wie wir es schon immer getan haben. Der einzige Unterschied ist, dass wir auf Howards Unterstützung verzichten müssen.“

„Das alles hat er aber nicht selbst zu dir gesagt, oder?“ Lark lächelte.

„Nein, ich habe ihm einfache Fragen gestellt, die er mit Ja oder Nein beantworten konnte. Anschließend habe ich sie ihm noch einmal vorgelesen und ihn gefragt, ob alles stimmt, und er hat eifrig genickt. Er schafft es momentan zwar nicht, seine Gedanken in Worte zu fassen, aber er weiß immer noch ganz genau, was er will.“

Lark nickte. „Alyssa meinte, er spricht schon wieder ein wenig.“

„Er kann Ja und Nein sagen, manchmal auch einen Namen. Er wird noch viel Geduld brauchen.“

Sie hatten den Tresen erreicht, und Will wandte sich an die junge Bedienung, die sein charmantes Lächeln eifrig erwiderte.

„Einen Cappuccino und einen schwarzen Kaffee, beides groß, bitte.“ Will sah die junge Frau mit seinen blauen Augen an. Er mochte groß, dunkelhaarig und attraktiv sein, doch es war vor allem sein sanfter Blick, der Aufmerksamkeit erregte.

„Und ein Schokocroissant …“ Lark stieß ihn sanft in die Seite.

Er nickte. „Und zwei Schokocroissants, bitte.“

Bevor Lark ihr Portemonnaie zücken konnte, hatte Will bereits einen Schein aus seiner Brieftasche gezogen und versicherte ihr, dass er dieses Mal mit dem Bezahlen dran sei.

Lark kannte Howard, seit sie nach London gezogen war. Während ihrer Ausbildung als Notfallsanitäterin war er einer ihrer Dozenten gewesen. Die Migränestiftung hatte er in seiner Freizeit von zu Hause aus geleitet. Irgendwann wagte er den nächsten Schritt und mietete ein paar dunkle und nicht gerade einladend wirkende Räume im obersten Stockwerk eines Londoner Gebäudes. Lark half mit anderen Studenten beim Renovieren, und da sie sich für Migräne im Kindesalter interessierte, betätigte sie sich schon bald als freiwillige Helferin der Stiftung.

Mittlerweile waren die Räumlichkeiten kaum wiederzuerkennen. Alles war in hellen Cremetönen gehalten, und verschiedene Bereiche wurden von gläsernen Wänden abgetrennt, wodurch alles sehr offen und ruhig wirkte. Auf der einen Seite befanden sich die Büros, auf der anderen die Praxisräume, sodass es hier einen zentralen Anlaufpunkt für sämtliche Aktivitäten der Stiftung gab. Als sich das Tätigkeitsfeld der Stiftung erweitert hatte, war Howard mit einem Jobangebot auf Lark zugekommen, und ein Jahr später hatte er Will eingestellt.

Die Türen des Aufzugs öffneten sich. Will hatte den Räumlichkeiten seinen ganz persönlichen Stempel aufgedrückt. Er hatte seine endlose Kontaktliste durchforstet und mehrere Künstler aufgetrieben, die bereit waren, kostenlos für einen guten Zweck zu arbeiten. Ihre Gemälde schmückten die Wände und verliehen den Räumen ein kultiviertes Ambiente, und Lark hatte mit ihren pragmatischen Vorschlägen dafür gesorgt, dass sich alles zu einem harmonischen Ganzen fügte. Viele Besucher lobten die elegante und zugleich einladende Atmosphäre, und alle Mitarbeiter waren stolz darauf, dass eine der führenden Zeitschriften für Innenarchitektur einen großen Artikel über die kostengünstige und dennoch äußerst wirkungsvolle Renovierung veröffentlicht hatte.

„Zu dir oder zu mir?“ Will konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Lark ahnte, dass er zweifellos darin geübt war, solche Dinge zu fragen. Aber das ging nur ihn etwas an. Wenn er ihr diese Frage stellte, dann wollte er nur wissen, in wessen Büro sie gehen sollten, um Kaffee zu trinken und die Wochenplanung zu besprechen, bevor die restlichen Kollegen eintrafen.

„Zu dir. Nimm meinen Kaffeebecher mit. Ich sehe in der Zwischenzeit nach, ob die Leute von der Hotline übers Wochenende dazu gekommen sind, die Post zu sortieren.“

Die Anruflisten lagen in ihrem Fach. Lark überflog sie und stellte fest, dass es keine besonderen Anmerkungen für sie oder Will gab. Offenbar hatte es übers Wochenende viele Anrufe gegeben, denn die Post war noch nicht sortiert worden, also nahm sie die Umschläge mit in Wills Büro.

Will saß auf einem seiner beiden großen Sofas, hatte sich sein Jackett ausgezogen und die beiden Kaffeebecher neben den Croissants auf dem wuchtigen Couchtisch abgestellt. Sein Schreibtisch stand in der Ecke und wirkte penibel aufgeräumt, denn Will arbeitete dort nur äußerst selten. Gern verzichtete er auf den ergonomischen Sitzplatz und den großen Computerbildschirm, wenn er sich dafür mit seinem Laptop auf einem der Sofas ausstrecken konnte.

Er sprang auf, nahm Lark ihren Regenmantel ab und hängte ihn neben seinen an die Garderobe. „Hast du dir übers Wochenende ein paar Gedanken über unsere Besetzung während Howards Abwesenheit gemacht?“

„Ja, das habe ich. Wenn Carole dazu bereit wäre, drei Tage pro Woche zu arbeiten anstatt zwei, könnte sie sich um die Buchhaltung kümmern.“ Lark setzte sich und legte die Post auf den Tisch.

„Glaubst du, wir sollten unsere Schichten ändern? Ich könnte meinen Dienstplan anpassen und an den Tagen einspringen, an denen du nicht hier bist.“ Will trank einen Schluck Kaffee und sortierte die Briefe.

„Nein. Das Büro ist flexibel und verwaltet sich die meiste Zeit über selbst. Ich denke, es ist besser, wenn wir zusammenarbeiten und gemeinsam alle Entscheidungen treffen, solange Howard fort ist.“

Es waren ihre gewohnten Rollen. Lark war die Vermittlerin mit dem Sinn fürs Praktische, und Will lieferte neue Ideen. Als Team waren sie äußerst effektiv. Obwohl sie verschieden waren, respektierten sie einander und wussten die Arbeitsweise des jeweils anderen zu schätzen.

Erneut lächelte Will, und Lark fühlte sich, als wäre sie für ihn der einzige Mensch auf der Welt. Sein Lächeln war umso wertvoller für sie, seit Howard seinen Schlaganfall erlitten hatte.

„Du findest also nicht, dass unsere Beziehung eine kleine Auszeit braucht?“

Es fühlte sich gut an, mit ihm darüber lachen zu können. „Ich lasse es dich wissen, sobald es so weit ist, Will.“

Wortlos verfielen sie in ihr übliches Montagsritual und blätterten beim Kaffeetrinken die Post durch. Larks Stapel an geöffneten Umschlägen wuchs unablässig, während Will schon an seinem ersten Brief hängen geblieben war. Er las ihn komplett durch, trank einen Schluck Kaffee und las erneut.

„Was ist das?“, erkundigte sich Lark. Was auch immer in dem Brief stand, Will wirkte nicht gerade glücklich darüber.

„Es ist …“ Er schüttelte den Kopf, wühlte in Larks Stapel und zog einen Umschlag heraus. „Du hast auch einen bekommen. Es ist haarsträubend, geradezu unverschämt!“

„Okay.“ Lark war es gewohnt, dass Will zu Übertreibungen neigte, und begegnete seinem Gefühlsaubruch lieber erst mal abwartend. Ein bisschen lag das auch an ihrer Rollenverteilung: Sie war die Frau mit den praktischen Vorschlägen, er der Mann mit den ambitionierten Ideen.

„Nein, ich meine … es ist wirklich unverschämt. Lies es!“

Das Schreiben trug den offiziellen Briefkopf der Stiftung und war vom Vorsitzenden des Stiftungsrats unterschrieben worden. Lark las es aufmerksam durch, und mit jeder Zeile wuchs ihr Entsetzen. Unverschämt? Das war noch untertrieben.

„Sie wollen, dass wir … Was?!“

Will nickte. „Genau. Sir Terence ist nicht damit einverstanden, dass wir beide wie gewohnt zusammenarbeiten, um die Stiftung während Howards Abwesenheit zu leiten. Er findet, wir sollten die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass einer von uns vorübergehend Howards Position ausfüllt …“

„Was nicht funktionieren wird, weil wir noch andere Jobs haben.“ Darauf hatte Howard stets großen Wert gelegt. Die Mitarbeiter und Entscheidungsträger der Stiftung sollten auch weiterhin Kassenpatienten behandeln. Es funktionierte hervorragend, und Lark verstand nicht, warum Sir Terence nun etwas reparieren wollte, was gar nicht kaputt war.

„Genau. Ich kann es mir nicht leisten, meinen Job aufzugeben, selbst wenn ich es wollte, und ich bezweifle, dass es dir anders geht. Und das …“ Er deutete auf den ersten Absatz der zweiten Seite.

Lark hatte beim Lesen schwer schlucken müssen. „Da wir beide sehr unterschiedliche Aufgabenbereiche haben, sollen wir uns überlegen, wer von uns die Gesamtverantwortung übernehmen könnte.“ Lark machte ein langes Gesicht, und plötzlich fühlte sie sich wie betäubt. „Das führt nur zu Problemen.“

„Das kannst du aber laut sagen. Die haben zwei Leute, die schon jetzt prima zusammenarbeiten … Das tun wir doch, oder?“

„Ja. Ich könnte niemals machen, was du machst …“

„Und ich habe keine Ahnung, wie ich dich jemals ersetzen sollte.“ Wärme lag in seinem Blick. „Ausgerechnet jetzt, wo wir ohne Howard zurechtkommen müssen, verlangt Sir Terence von uns, dass wir unsere Aufgabengebiete tauschen. Anstatt zu fragen, was wir brauchen, und uns Hilfe anzubieten, was eigentlich viel sinnvoller gewesen wäre.“

Lark nickte zustimmend. „Das hilft uns kein bisschen. Dieser letzte Absatz …“ Sie blätterte eine Seite um.

Erst im allerletzten Absatz hatte Sir Terence zum Ausdruck gebracht, was er wirklich meinte. Der restliche Brief bestand nur aus Andeutungen, doch zum Ende hin wurde er plötzlich erschreckend deutlich: Es sei eine Zeit der Veränderungen, die sie begrüßen sollten. Lark und Will seien nun Konkurrenten, nicht nur, weil sie beweisen müssten, wie gut sie die Aufgaben des jeweils anderen übernehmen und den erkrankten Geschäftsführer vertreten konnten. In erster Linie ginge es darum, einen Nachfolger für Howard zu finden und dafür die Unterstützung von Sir Terence zu gewinnen.

„Er geht fest davon aus, dass Howard aufhört“, stellte Lark fest. „Ich finde, für Howard gibt es hier noch jede Menge zu tun.“

„Ich auch. So einfach darf ihn niemand abschreiben. Das werde ich nicht zulassen.“ Will warf den Brief auf den Couchtisch. „Glaubst du, seine Frau weiß darüber Bescheid?“

„Alyssa hätte es sicher erwähnt, als ich gestern mit ihr gesprochen habe. Aber wir dürfen sie nicht auch noch in diese Sache hineinziehen, Will. Im Moment hat sie schon genug um die Ohren.“

Er nickte zustimmend. „Gut, dann rufe ich Sir Terence an und sage ihm, dass das nicht geht. Er kann uns nicht wie Figuren auf einem Schachbrett herumschieben, um zu sehen, was passiert.“ Sogleich sprang er auf und stürmte zum Telefon. Jetzt wurde es ernst.

„Warte … Will, warte. Es ist acht Uhr morgens, und du weißt doch, dass Sir Terence normalerweise nur zwischen neun und zwölf erreichbar ist. Das ist die beste Zeit, um ihn anzurufen.“

„Wenn ich ihn beim Frühstück störe oder ihn vielleicht sogar aus dem Bett schmeiße, wird ihm das zweifellos klarmachen, dass das eine ziemlich miese Idee war. Und dass er auf der Stelle zurückrudern muss.“

Darum war Lark grundsätzlich diejenige, die Sir Terence anrief, wenn Howard nicht da war. Der Stiftungsrat mochte Wills Vorschläge, doch sie kamen immer dann am besten an, wenn Lark sie vorbrachte, nachdem sie ein paar praktische Überlegungen eingeflochten hatte.

„Nein, Will. Ich habe eine bessere Idee.“

Lächelnd kehrte er wieder zum Sofa zurück. „Okay. Raus mit der Sprache …“

„Wir tun das, was wir immer tun, wenn wir einer neuen Herausforderung begegnen. Wir arbeiten zusammen. Zu Konkurrenten werden wir nur, wenn wir es zulassen.“

Will überlegte kurz. „Du meinst, wir sollten Sir Terence mit seinen eigenen Waffen schlagen?“

„Nicht ganz. Ich meine, wir sollten bei seinem Spiel mitspielen und es uns zu eigen machen. Ihm zeigen, dass wir ein starkes Team sind, das mit allen Problemen fertigwird. Ich glaube, das wäre deutlich effektiver als eine Beschwerde.“

„Und dieser Unternehmensberater, der uns bald besuchen wird?“

„Mit ihm machen wir es genauso. Wir demonstrieren Einigkeit und machen unsere eigenen Spielregeln. Wer weiß, vielleicht lernen wir ja sogar etwas aus diesem von oben angeordnetem Rollentausch?“

„Ich weiß jetzt schon, dass ich niemals deine ganzen Aufgaben übernehmen könnte.“

Lark spürte, wie ihr Hitze in die Wangen stieg. Wie immer gab Will ihr das Gefühl, der einzige Mensch in seiner Nähe zu sein – aber gerade war sie es wirklich.

„Wer weiß, wozu das führen würde?“

Sie kannte Will gut genug, um zu wissen, mit welchen Worten sie seinen Ehrgeiz wecken konnte. Die Aussicht, etwas Neues zu wagen, war für ihn unwiderstehlich. Plötzlich entspannte er sich. Offenbar gefiel ihm der Gedanke.

„Der große Vorteil wäre, dass wir auf die Art nicht unnötig Staub aufwirbeln“, sagte er. „Wenn Howard von der Sache Wind bekommt und erfährt, dass wir unzufrieden sind, macht er sich nur noch größere Sorgen. Aber wenn wir damit allein fertigwerden, gibt es keine Probleme.“

Lark nickte. „So habe ich es mir auch gedacht. Wenn Howard aus dem Krankenhaus entlassen wird, muss er erst einmal für sechs Wochen in die Reha. Bis dahin sind wir auf uns gestellt. Wir müssen in dieser Zeit zusammenhalten und das Problem auf unsere Art bewältigen.“

Will lehnte sich zurück und bedachte Lark mit einem nachdenklichen Blick. Ein wohliges Schaudern lief ihr über den Rücken. Schon jetzt diskutierten sie miteinander über neue Herausforderungen. Sie hatten ihre gewohnten Rollen verlassen, und es fühlte sich erstaunlich kontrovers an. Irgendwie machte es sogar Spaß. Es war, als würde sie Will in einem ganz neuen Licht sehen.

„Ja, das schaffen wir. Wir sorgen dafür, dass alles gut wird.“

Lark war sich nicht ganz sicher, ob es ihnen wirklich gelingen würde. Doch für Will bedeutete „gut“ das Gegenteil von „unmöglich“, und Ersteres wäre ihr auf jeden Fall lieber.

„Du bist also einverstanden?“

„Ja, bin ich. Du warst schon immer die Stimme der Vernunft, Lark. Dann lassen wir Sir Terence mal in Ruhe frühstücken.“

Nachtigallen waren überbewertet. Will musste an den alten Schlager denken, der davon handelte, dass eine Nachtigall am Berkeley Square sang, einem der berühmtesten Plätze in London. Schon oft hatte er Frauen nach einem gemeinsamen Abend dorthin begleitet, sie in den Arm genommen, ein paar Schritte mit ihnen getanzt und ihnen dabei das alte Lied ins Ohr geraunt. Sie hatten zusammen gelacht und einander geküsst. Manchmal waren sie sogar noch weitergegangen …

Doch die Lerche, deren Gesang Romeo und Julia in einer lauen Sommernacht gefürchtet hatten … Die Lerche, nach der Lark benannt worden war, war ein ganz anderer Vogel. Sie sang frühmorgens, und ihr bräunliches Gefieder schimmerte golden im Sonnenlicht. Ein Anblick, der ihn jedes Mal an Larks wunderschönes braunes Haar und an ihre goldbraunen Augen erinnerte. Wäre Will auf die Idee gekommen, Lark in der Nähe des Berkeley Square irgendetwas von Nachtigallen zu erzählen, hätte sie bestimmt nur gelacht und wäre dann rasch in ein Taxi gestiegen.

Lark war praktisch veranlagt, nichts entging ihrem scharfen Blick, und Will war bisher noch keiner anderen Frau begegnet, die es so sehr genoss, ihn aufzuziehen. Ihre Freundschaft hatte sich gefestigt, nachdem Lark ihm einmal vorgeworfen hatte, dass er die Zustimmung zu einem ihrer gemeinsamen Anträge nur mithilfe seines Lächelns und einiger Shakespeare-Zitate erlangt hatte.

„Charme ist nicht alles, Will. Was, wenn am Ende die Zahlen nicht stimmen?“ Lark hatte ihm eine Kopie ihrer sorgfältig durchdachten Tabelle unter die Nase gehalten.

„Nüchtern betrachtet stimmt überhaupt nichts daran“, hatte er entgegnet. „Alles, was wir tun, tun wir aus purer Hingabe und Leidenschaft.“

Lark hatte kurz darüber nachgedacht. „Vermutlich hast du recht. Vielleicht muss ich mich einfach an die Vorstellung gewöhnen, dass Fakten und Zahlen niemals so gut ankommen wie mitreißende Ideen.“

Will widersprach ihr, und am Ende hatten sie beide darüber gelacht. Lark besaß einen einzigartigen Charme, den Will niemals besitzen würde, und er wurde es nie leid, sie für ihren klaren Verstand zu bewundern. Er liebte es, ihr beim Sortieren und Ausformulieren von Ideen zuzusehen, bis sich ein vager Einfall in einen soliden und umsetzbaren Plan verwandelt hatte. Es gefiel ihm auch, wenn sich ihre Stirn ganz leicht runzelte, während sie ihm all seine Denkfehler aufzählte.

Ihre Stärken lagen in ihren Unterschieden. Zusammen waren sie unschlagbar, doch Will verspürte einen Anflug von Kummer, als ihm klar wurde, dass es etwas gab, was sie niemals tun würden: Niemals würden sie den Ruf der Nachtigall begrüßen, in der samtenen Dunkelheit einer innigen Umarmung …

Lark hatte vorgeschlagen, einen gemeinsamen Brief an den Stiftungsrat zu verfassen. Will hatte sich bereit erklärt, ein Schreiben zu entwerfen, und hatte ihr vorab ein paar erste Ideen per E-Mail geschickt, damit sie die einzelnen Punkte in der Mittagspause besprechen konnten.

Gerade las sich Lark den Entwurf aufmerksam durch, lobte ein paar seiner Argumente und machte an anderen Stellen Verbesserungsvorschläge.

„Mein Lieblingszitat habe ich weggelassen …“

„Sehr gut. Es ist ein schönes Zitat, und es hätte sicher gut gepasst, aber in diesem Fall sind es unsere eigenen Worte, auf die es ankommt.“

Es war nicht zu vergleichen mit dem flüchtigen Vergnügen eines Kusses. Lark vermittelte Will auf völlig andere Art und Weise ein gutes Gefühl. Er öffnete das Dokument auf seinem Laptop, nahm die Änderungen vor, die Lark vorgeschlagen hatte, und druckte das Schreiben aus. Gemeinsam unterschrieben sie den Brief. Es fühlte sich an wie ein Sprung in unbekannte Gewässer.

„Ich bin gespannt, was uns dieser Unternehmensberater am Freitag erzählt.“ Will nahm einen Umschlag vom Schreibtisch, faltete den Brief zusammen und steckte ihn hinein.

„Ich auch.“ Lark runzelte nachdenklich die Stirn. „Bis dahin machen wir so weiter wie bisher. Hast du heute Nachmittag Zeit für die neuen Patienten?“

Will nickte. Sie hatten kürzlich begonnen, neue Patienten beim ersten Termin gemeinsam zu untersuchen, um anschließend zu entscheiden, wer sie übernehmen würde. Lark war der Ansicht gewesen, dass sie damit viel Zeit sparen konnten, denn so wussten sie von Anfang an über alles Bescheid und mussten sich nicht ständig miteinander absprechen, und sie hatte recht behalten.

„Na klar. Wollen wir heute Abend essen gehen?“ Das war das Schöne an ihrer Beziehung, die auf einer guten Freundschaft fußte. Will konnte Lark zum Essen einladen und wusste dabei stets, dass sie ihm keine Hintergedanken unterstellte.

„Das wäre wirklich schön. Etwas Zeit außerhalb des Büros, um alles in Ruhe zu besprechen.“

Will schmunzelte. „Richtig. Aber bring bloß nicht deinen Laptop mit, das verdirbt sonst die Stimmung.“

2. KAPITEL

Will schien die ganze Sache nicht allzu viel auszumachen. In manchen Momenten beneidete Lark ihn für die Hingabe, mit der er seine Ideen verfolgte! Und für seine heitere Zuversicht, dass sich unangenehme Details angesichts dessen, was unbestreitbar richtig war, einfach in Luft auflösen würden.

Alles, was sie über den Unternehmensberater wussten, der sie am Freitagnachmittag besuchen würde, war sein Name: Pete Mason. Lark hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Sie wusste nicht, wie sie sich auf das Treffen vorbereiten sollte, und das machte sie sehr nervös.

Die Besprechung dauerte dann über eine Stunde, deutlich länger als vereinbart. Es war ärgerlich, denn sie hatten extra ein paar Termine verschieben müssen. Als sie fertig waren, waren sie die Letzten im Büro. Will öffnete die Glastür, die zu den Aufzügen führte, und schüttelte Pete die Hand.

„Danke. Sie haben uns ein paar Denkanstöße gegeben …“

Pete nickte. „Dann sehen wir uns nächsten Freitag wieder?“

„Ich freue mich schon.“ Will sah zu Lark, und sie nickte knapp. Gemeinsam begleiteten sie Pete zum Aufzug, und als sich hinter ihm die Türen schlossen, wandten sie sich einander zu.

„Er ist gründlich. Das muss man ihm zugestehen …“ Will atmete hörbar aus, und sein Lächeln verflüchtigte sich.

„Das ist nicht das, was wir vereinbart hatten, Will.“ Pete hatte sämtliche Gesprächstechniken eines Beraters angewendet. Lark war es aufgefallen, denn ein paar davon benutzte sie auch bei ihren eigenen Patienten: aktives Zuhören und Nachfragen.

„Nein, das ist es nicht. Aber Management ist durchaus eine Frage der Persönlichkeit.“

„Darum geht es nicht. Er kann uns gerne zu unserer Arbeit befragen, aber offenbar geht es ihm eher um unser Privatleben.“

Will verstand sofort, woran sie sich störte. „Du meinst die ganzen Fragen zu Robyn.“

Robyn war Larks jüngere Schwester. Im Alter von fünf Jahren hatte sie einen schweren Unfall gehabt, und seitdem waren ihre Beine teilweise gelähmt. Als Robyn Jahre später einen Studienplatz an der Kunstakademie in London ergattert hatte, waren ihre Eltern strikt dagegen gewesen, dass sie so weit weg von zu Hause studierte.

Robyn war abenteuerlustig, ihre Eltern hingegen wollten sie beschützen. Lark hatte gerade erst ihre Abschlussprüfung bestanden und war die Einzige, die zwischen ihrer Schwester und ihren Eltern vermitteln konnte. Sie musste ihnen versprechen, dass sie in London mit Robyn zusammenziehen und auf sie aufpassen würde. Lark sorgte dafür, dass Robyn eine barrierefreie Wohnung im Erdgeschoss des Wohnheims der Kunstakademie erhielt, sodass sie den Campus mit dem Rollstuhl erreichen konnte. Als ihre Eltern schließlich abreisten und die beiden Schwestern allein in ihrem neuen Zuhause zurückließen, umarmten sich Lark und Robyn und malten sich ihre bevorstehenden Abenteuer aus.

Sie arbeiteten hart und unterstützten einander. Lark hatte irgendwann genug Geld gespart, um sich einen Bungalow in einem Vorort von London zu leisten, der ihr und Robyn mehr Platz bot. Natürlich war nicht immer alles einfach. Sechs Jahre hatten sie zusammengewohnt, und Lark hatte Robyn darin unterstützt, unabhängiger zu werden und schließlich einen guten Job zu finden. Doch auf dem Weg dorthin hatten sie beide viele Herausforderungen meistern müssen.

„Mein Privatleben beeinflusst sicher die Art, wie ich arbeite …“

Wills Miene verfinsterte sich. „Mag sein. Alles, was wir tun, beeinflusst uns auf irgendeine Weise. Trotzdem fand ich es unverschämt, als er dich gefragt hat, ob du dich nur deshalb gern um andere kümmerst, weil du es von zu Hause nicht anders gewohnt bist.“

Will hatte Lark verteidigt und war Pete gegenüber sehr deutlich geworden, was normalerweise ganz untypisch für ihn war. Lark wusste es zu schätzen, auch wenn es eigentlich nicht nötig gewesen wäre, doch nun fragte sie sich, ob Pete womöglich recht hatte.

„Ich vermisse Robyn tatsächlich sehr, seit sie geheiratet hat …“ Nun, da Pete sie nicht länger mit kritischem Blick taxierte, konnte sie es offen zugeben.

„Das ist nicht dasselbe. Fehlt dir Robyn, weil sie deine Schwester ist oder weil sie im Rollstuhl sitzt?“ Wills Fragen klangen nicht weniger provozierend als die von Pete, dennoch war es etwas anderes, sie aus seinem Mund zu hören – schließlich kannte er Lark und Robyn.

„Im Moment könnten wir sie wirklich gut als freiwillige Helferin gebrauchen.“ Lark warf einen Blick zum leeren Empfangsbereich, den Robyn früher an mehreren Abenden pro Woche betreut hatte. Sie hatte die Patienten gütig und verständnisvoll behandelt, genauso wie Lark es von ihr kannte. In ihrer Kindheit hatte Lark unter starker Migräne gelitten, und Robyn war immer für sie da gewesen.

„Ja, stimmt.“ Will lächelte. „Vermutlich hätte sie Pete ins Gesicht gesagt, was sie davon hält, dass er die Sitzung überzieht, obwohl wir gerade alle Hände voll zu tun haben. Wirklich schade, dass Robyn und Matt so weit weg wohnen …“

Er schaffte es immer, Lark zum Lachen zu bringen, selbst in schwierigen und verwirrenden Zeiten. „Das wäre wirklich schön gewesen.“

„Schau mal, du hast dich um Robyn gekümmert, weil sie deine Schwester ist, und sie hat dasselbe für dich getan.“ Will machte ein langes Gesicht. „Es ist immer leicht, Menschen auf den ersten Blick zu beurteilen und ihnen irgendeine Rolle zuzuschreiben, erst recht in einer Familie. Die Wahrheit herauszufinden ist viel komplizierter und erfordert harte Arbeit.“

Offenbar war es ein Thema, das ihm viel bedeutete. Fragend hob Lark die Brauen, doch Will schüttelte nur den Kopf. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass es Dinge in seinem Leben gab, über die er niemals sprach, nicht einmal mit ihr. Plötzlich lächelte er, und die Chance, ihn danach zu fragen, war verstrichen.

„Mir ist durchaus klar, wer hier der Chef ist“, sagte er.

„Das ist immer noch Howard.“

Er lachte. „Von wegen. Wie oft hat er schon gesagt, dass er auf deine Vernunft vertraut?“

„Und wie oft hat er schon gesagt, dass wir auf deine Ideen angewiesen sind?“

„Das macht ihn eben zu einem guten Chef. Die beste Idee taugt nichts, wenn man sie nicht in die Praxis umsetzen kann. Du bist diejenige, die den Laden am Laufen hält, und das ist es, was eine echte Führungskraft ausmacht.“

Lark fand es schön, diese Worte aus seinem Mund zu hören, denn während des Gesprächs mit Pete hatte sie das Gefühl gehabt, permanent angegriffen und herabgesetzt zu werden, wenn auch auf äußerst höfliche Art. Eine Träne kullerte über ihre Wange, doch Lark wischte sie achtlos fort.

Will aber verstand es stets, andere zu trösten, und anscheinend war auch Lark nicht ganz immun gegen sein Talent. Er näherte sich ihr, legte seinen Arm um ihre Schultern, und Lark fühlte sich gleich viel, viel besser.

Schon längst war sie mit seinen Berührungen vertraut. Immer wieder waren sie im Laufe der letzten vier Jahre versehentlich im Flur zusammengestoßen. Ein paarmal hatte Will sie aufgefangen, wenn sie gestolpert war, und Lark konnte schon längst nicht mehr zählen, wie oft sie ihn am Arm gepackt hatte, um ihn von einer Impulshandlung abzuhalten, die sie nicht miteinander abgesprochen hatten. Auf der letzten Weihnachtsfeier hatte Will ihr sogar einen Kuss auf die Wange gegeben. Doch dieses Mal war es anders. Seine Umarmung schenkte ihr Wärme, sie war ein besonderes und einmaliges Zeichen seiner freundschaftlichen Zuneigung.

Und gerade hatte sie herausgefunden, dass sich Wills Umarmungen wirklich toll anfühlten. Er drückte sie nicht zu fest und raubte ihr dennoch den Atem. Er klammerte nicht und war einfach nur für sie da und umfing sie.

„Und was sollen wir jetzt machen?“ Sie riskierte es, ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen, und spürte, wie schnell sein Herz schlug. Auch das beruhigte sie, denn es fühlte sich an, als wäre er ganz und gar bereit, sie zu beschützen.

„Wir machen das, was wir besprochen haben, auch wenn ich den Eindruck hatte, dass du nicht gänzlich davon überzeugt warst …“

„Du warst es auch nicht.“

Sein Schmunzeln wirkte noch verführerischer, wenn sie es nicht nur hören, sondern auch spüren konnte. Sie sollte sich wohl besser von ihm lösen, doch es fühlte sich einfach viel zu schön an. Dabei wusste sie, dass es ihr wahrscheinlich viel mehr bedeutete als ihm.

„Ich war wohl nicht sehr überzeugend. Obwohl ich wirklich versucht habe, meine Zweifel zu vergessen und mir nichts anmerken zu lassen. Pete hat ganz genau erklärt, in welchen Rollen er uns sieht, und jetzt verlangt er, dass wir sie tauschen. Nicht nur, was die Arbeit angeht, sondern auch, was unser ganzes Verhalten betrifft …“

„Er hat nicht ganz unrecht. Wir sind wirklich sehr verschieden.“

„Er hat vollkommen unrecht, denn er glaubt, dass uns diese Rollen einschränken, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Aber jetzt sind wir unter uns, und wir machen alles auf unsere Art, genau so, wie du es vorgeschlagen hast.“

Lark nickte. Will war sich seiner Sache offenbar sicher, und sie würde ihn beim Wort nehmen. „Und was ist unsere Art?“

„Sowohl die Stiftung als auch die Patienten profitieren von unserer Arbeitsweise, und ich finde nicht, dass wir uns hineinreden lassen sollten. Wir könnten uns aber einen Spaß daraus machen und uns genauer mit dem befassen, was jeder von uns am Wochenende treibt. Wenn unser Privatleben doch angeblich so großen Einfluss auf unsere Arbeit hat – warum nicht?“

Lark überlegte. Ein gemeinsames Wochenende mit Will klang … wundervoll. Es war aber sicher nicht das, was Pete im Sinn gehabt hatte.

„Das heißt also … Ich gehe von nun an am Wochenende aus, treffe Leute und rasple Süßholz?“ Um am Ende einen Mann mit nach Hause zu nehmen und eine heiße Nacht mit ihm zu verbringen? Also das würde ihr definitiv nicht leichtfallen, denn in den vergangenen Jahren hatte sie kaum Zeit gehabt, um mit irgendjemandem anzubandeln. Will schien jedoch keine Probleme damit zu haben. Zwar hielten seine Beziehungen für gewöhnlich nicht länger als einen Monat, aber es gab genug davon.

Er schien zu ahnen, was ihr durch den Kopf ging, und warf ihr einen Blick zu, aus dem milder Tadel zu sprechen schien. „Da siehst du mal, wie schlecht du mich eigentlich kennst.“

Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen. „Okay. Dann überrasch mich! Und vielleicht überrasche ich dich auch.“

Lark konnte nicht anders, sie musste ihn noch etwas fester drücken, und Wills Atem stockte. Es war zu viel, zu schön, zu tröstlich, und plötzlich war sie sich der Nähe seines Körpers nur allzu sehr bewusst. Am liebsten hätte sie eine flapsige Bemerkung gemacht, um sich aus der Situation zu retten. Ein Flüstern hätte genügt, um die Grenze endgültig zu überschreiten und alle seine Bewegungen und Reaktionen kennenzulernen. Stattdessen klopfte sie ihm auf die Schulter und wich zurück.

Selbst das war wundervoll. Der Ausdruck in seinen Augen gab ihr das Gefühl, der einzige Mensch im Universum zu sein. So viel Verständnis lag in seinem Blick, so viel Wärme und zugleich ein wenig Bedauern, weil der Moment verstrichen war. Und das war er definitiv, denn Lark war sich nicht sicher, ob sie eine weitere Umarmung riskieren konnte.

Will räusperte sich. „Okay, also dieses Wochenende muss ich an einer Cocktailparty meiner Eltern zugunsten eines Hospizes teilnehmen. Nächstes Wochenende veranstalten sie einen Spendenabend für die Migränestiftung. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mit Howard hinzugehen. Ich kann unmöglich ohne Begleitung dort auftauchen.“

Bestimmt wäre es kein Problem für ihn. Sie hatte schon öfter beobachtet, wie er wildfremde Menschen um den Finger wickelte, und beschloss, lieber bei dem zu bleiben, worin sie gut war. „Ich habe nichts vor, das auch nur ansatzweise so glamourös wäre.“

Er lächelte. „Das liegt allein im Auge des Betrachters. Partys verlieren schnell ihren Reiz, wenn man zu viele von ihnen besucht …“

Montags um sieben war im Café immer viel los. Lark hielt einem anderen Gast die Tür auf, der ihr mit einem vollen Becher entgegenkam, und als sie Wills breitschultrige Silhouette am Ende der Schlange entdeckte, erschien ihr die bevorstehende Woche gleich viel weniger bedrohlich.

„Hey …“ Sie tippte rasch auf seine rechte Schulter, stellte sich links neben ihn und wartete ab, bis er sie endlich entdeckt hatte. Der Trick funktionierte jedes Mal.

„Da bist du ja!“ Seine morgendliche Begrüßung klang jedes Mal so, als hätte er sich schon lange auf ihre Begegnung gefreut.

Ein ungewohnt wohliges Schaudern lief Lark über den Rücken. „Du wirkst etwas müde.“ Er hatte offensichtlich ein paar lange Nächte hinter sich, aber Lark verkniff sich die Frage, was er getrieben hatte. Auch das war ungewohnt.

„Ja. Gestern hatte meine Mutter Geburtstag, und wir haben eine große Party gefeiert.“

Die Bradleys feierten Partys zu jedem Anlass. William Bradley senior lud oft Kunden seiner Maschinenbaufirma ein, und Priscilla Bradley arbeitete für eine große Anzahl an Wohltätigkeitsverbänden. Lark und Robyn hatten einmal eine Silvesterparty besucht, die im Haus von Wills Eltern in Hertfordshire stattgefunden hatte, und Lark hatte gestaunt, dass ein einziges Paar so viele Leute kennen konnte.

„Und, hatte deine Mutter einen schönen Tag?“

„Sie hatte einen fantastischen Tag.“ Will hob eine Braue. „Bestimmt könntest du Pete von den Partys meines Vaters erzählen. Wenn er schon glaubt, du wärst in einer Rolle gefangen, die von deiner Familie diktiert wird, wäre meine Familie erst recht ein gefundenes Fressen für ihn.“

Das stimmte wohl. Den meisten Leuten fiel auf, wie unterschiedlich die drei Brüder waren. Will galt als gut aussehend und charmant, Edward war der ruhige Geschäftsmann und Joel der Akademiker. Diese Rollenverteilung wurde Wills brillantem Intellekt jedoch in keiner Weise gerecht. Er hatte viele Jahre in sein Medizinstudium investiert und konnte seinen Eltern jederzeit mit klugem, wohlüberlegtem Rat zur Seite stehen.

„Ich werde mir Pete bestimmt nicht vom Hals schaffen, indem ich ihn auf dich ansetze.“

„Wie nobel von dir.“ Er lächelte. „Und, wie war dein Wochenende?“

Lark zuckte die Achseln. „Nicht besonders. Am Samstag war ich bei Howard. Es geht ihm besser, und er kann schon wieder einige neue Wörter sagen. Seine Frau meinte, dass er bald mit der Reha beginnt.“

„Prima. Das freut mich für ihn.“

„Und ich habe eine neue Wandfarbe für mein Wohnzimmer ausgesucht.“ Lark kramte das Einzige aus ihrer Erinnerung, das ihr einigermaßen erwähnenswert schien.

„Wirklich? Und, für welche Farbe hast du dich entschieden?“

Irgendwie hatte Will es geschafft, Larks Wochenende spannender als sein eigenes klingen zu lassen. Als sie schließlich das Büro betraten, unterhielten sie sich über die hellen Farbtöne, die Lark für ihre Zimmerdecken ausgesucht hatte. Will verstummte, als das Telefon klingelte. Lark beugte sich über den Empfangstresen und nahm den Hörer ab.

„Guten Tag, hier ist die Migränestiftung. Wie können wir Ihnen helfen?“

Will wartete geduldig ab, bis sie das Gespräch beendet hatte.

„Es geht um eine Patientin, die ich letzte Woche untersucht habe“, sagte Lark, nachdem sie aufgelegt hatte. „Ich habe ihr ein paar Tipps gegeben, wie sie mit ihrer Migräne besser umgehen kann. Ihr Mann behauptet, es sei ihr zunächst besser gegangen, aber seit dem Wochenende sei sie völlig außer Gefecht.“

„Liegt vielleicht daran, dass sie sich nach einer stressigen Woche entspannt hat.“ Will sah zu ihr auf. „Oder was meinst du?“

„Wäre möglich. Allerdings wurde ihr in der vergangenen Woche auf der Straße das Handy gestohlen. Sie hat noch versucht, es festzuhalten, doch der Dieb hat sie mit dem Ellbogen gestoßen. Und nun sprechen ihre Kopfschmerzen nicht auf die üblichen Medikamente an …“

„War sie schon beim Arzt?“

Lark schüttelte den Kopf. „Das wollte sie nicht. Aber vielleicht handelt es sich überhaupt nicht um eine Migräne. Ich werde einen Hausbesuch machen.“

„Soll ich dich begleiten?“

Das wäre sinnvoll. Will untersuchte täglich Patienten auf Kopf- und Halsverletzungen. Als Arzt konnte er auch ein Rezept ausstellen, wenn es nötig war.

„Ich sollte dann wohl lieber hierbleiben. Pete meinte, dass er uns übers Wochenende eine E-Mail mit einer Liste schicken will …“ Noch während Lark diese Worte aussprach, wurde ihr klar, dass sie die Prioritäten völlig falsch gesetzt hatte.

„Na und? Willst du etwa auf eine E-Mail warten, wenn du mich stattdessen zu einer Patientin begleiten könntest? Ich weiß, dass du dir Sorgen machst …“

„Ja, das tue ich“, unterbrach Lark ihn und nahm ihre Jacke. „Du hast recht. Es wird nicht besser, wenn ich nur herumsitze und abwarte.“

Hoffentlich hatte der letzte Kollege, der das E-Auto der Stiftung benutzt hatte, daran gedacht, es wieder aufzuladen!

3. KAPITEL

Als Will und Lark später in die Räume der Stiftung zurückkehrten, standen ihre vollen Kaffeebecher noch immer auf dem Empfangstresen. Es war gut gewesen, dass sie gemeinsam die Patientin besucht hatten! Tatsächlich hatte sie sich bei dem Vorfall mit dem Handydiebstahl eine Kopfverletzung zugezogen, und sie hatten sie für eine weitere Untersuchung ins Krankenhaus gebracht. Will zog sich nun in sein Büro zurück, um ein paar Anrufe zu machen, und Lark ging Howards Post durch.

Eine Stunde später schaute sie in Wills Büro vorbei. Sie brachte zwei volle Kaffeetassen mit, dieses Mal stammte der Kaffee aber aus der Maschine in der Küche. Will telefonierte noch immer, winkte Lark jedoch zu sich und hob den Zeigefinger, um ihr zu signalisieren, dass sein Gespräch fast beendet war. Lark stellte die Tassen auf den Couchtisch und nahm Will gegenüber auf dem Sofa Platz.

„Ich habe nachgedacht“, sagte Will, nachdem er aufgelegt hatte. „Howard ist unser Freund. Er wird unsere Hilfe und Unterstützung brauchen, sobald er aus der Reha entlassen wird.“

„Natürlich. Er hat einen schweren Schlaganfall erlitten, und es ist für ihn noch ein weiter Weg bis zur Genesung.“

„Das ist das Wichtigste. Das Einzige, worauf es ankommt. Der ganze Ärger mit Pete und dem Stiftungsrat, die ganze Verwirrung, die Konkurrenzsituation und das Gerede über festgelegte Rollen … Das alles ist zweitrangig, und wir haben schon zu viel Zeit und Energie damit verschwendet. Es muss auf der Stelle aufhören.“

„Jawohl, Chef. Wie du meinst.“

„Lark, es ist mir ernst damit …“

Sie starrten einander an. Lark hatte einen Witz gemacht, einen dieser Sprüche, die sie sich andauernd gegenseitig an den Kopf warfen. Doch Will reagierte jetzt anders darauf. Vielleicht, weil sich gerade alles um ihn herum veränderte. Abermals erschien ihm Lark wie das unveränderliche Zentrum seines Lebens. Er sah auch ihre Verletzlichkeit und hatte das Gefühl, sie beschützen zu müssen.

Im Grunde spielte es keine Rolle, wie es passiert war. Es war einfach passiert, und nun war er dabei, sich ein wenig in sie zu verlieben. Wenn die Liebe noch zart und frisch war, musste man behutsam miteinander umgehen. Viel behutsamer als in einer Freundschaft.

Lark wusste das alles genauso gut wie er. Eine einzige lockere Bemerkung hatte gerade die Veränderung in ihrer Beziehung offengelegt.

„Entschuldige“, sagte er schließlich. „Ich wollte nicht selbstherrlich rüberkommen. Diese ganze Sache belastet mich.“ Vor allem, da das Wort Liebe für Will stets mit Verlust verbunden war.

„Keine Sorge. Ich weiß es zu schätzen, dass du kein Blatt vor den Mund nimmst, und du hast recht, es muss aufhören. Wenn wir keinen Schlussstrich ziehen, wird diese ganze Sache alles behindern, was wir tun.“

„Und die Lösung wäre?“ Er lächelte.

„Andauernd geht es ihnen um unsere persönliche Entwicklung, also spielen wir nach ihren Regeln. Und zwar in unserer Freizeit, nicht bei der Arbeit. Wir übernehmen die Kontrolle. Und für das kommende Wochenende haben wir bereits einen Plan.“

„Da soll noch mal jemand behaupten, ich wäre hier der Einzige mit guten Ideen.“ Gleichgültig, wie sich ihre Beziehung veränderte, sie waren Freunde. Freunde und Kollegen. An diesen beiden Rollen mussten sie festhalten.

Am Nachmittag empfingen sie Patienten, so wie immer. Will schlug vor, nach Feierabend noch etwas länger im Büro zu bleiben, um Petes Liste durchzugehen. Der Unternehmensberater hatte verschiedene Vorschläge zu einem möglichen Rollentausch gemacht, doch keiner davon erschien Will besonders reizvoll. Einer der Punkte besagte, dass sie sich beim Teekochen abwechseln sollten, was sie ohnehin bereits taten, sodass ihm diese Übung absolut sinnlos erschien.

Lark sah von ihrem Laptop auf, nachdem sie Petes Liste gelesen hatte. Die Abendsonne fiel durchs Fenster und zauberte ein goldenes Funkeln in ihre Augen. Larks großer, tadellos aufgeräumter Schreibtisch dominierte ihr Büro. In der Ecke stand ein kleines Sofa mit Blumenmuster.

Will saß Lark gegenüber, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. „Vermutlich könnten wir problemlos ein halbes Dutzend Punkte von der Liste streichen.“

„Ja. Ich ärgere mich ein bisschen über den Vorschlag mit dem Tee. Ich soll also genauso oft Tee kochen wie du, richtig?“

Lark hatte nichts gegen den Vorschlag an sich, genauso wenig wie Will. Sie störte sich eher an der Annahme, Lark sei grundsätzlich fürs Teekochen zuständig und Will fürs Trinken.

„Vielleicht sollten wir uns auch beim Plätzchenbacken abwechseln.“

Der Witz erzielte die gewünschte Wirkung, und Lark lächelte. „Nein, ich denke, Plätzchen sind ohnehin vom Tisch. Du weißt doch, dass ich nicht backe.“

„Also … Da wir ein halbes Dutzend Punkte direkt von der Liste gestrichen haben, sollten wir uns besser aufs Wochenende konzentrieren. Wir sollten Pete zeigen, dass wir es auf unsere Art machen.“

„Okay. Das heißt also, ich begleite dich zur Party deiner Eltern?“

„Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass ich dich begleite.“

Will konnte nicht anders, er sah Lark schon vor seinem geistigen Auge: Sie hatte sich bei ihm untergehakt, zog sämtliche Blicke auf sich und glänzte bei ihrem öffentlichen Auftritt. Seit letztem Freitag, als er sie vor Pete in Schutz genommen hatte und Lark in seinen Armen dahingeschmolzen war, konnte er an nichts anderes mehr denken. Es war ihm unbegreiflich, warum er sich seiner Gefühle für sie nicht schon viel früher bewusst geworden war.

„Bist du dir sicher?“ Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu.

„Ganz sicher. Und was hast du am Wochenende vor? Hast du nicht erzählt, dass du deine Wohnung streichen willst?“

„Das hatte ich ursprünglich geplant. Glaub mir, Will, du solltest nicht dein Wochenende opfern, um meine Wände zu streichen.“

„Warum willst du sie überhaupt streichen? Ich dachte, ihr hättet das Haus erst vor ein paar Jahren renoviert, als ihr es gekauft habt.“

„Das haben wir auch. Aber wir konnten uns nicht auf die Farben einigen, also haben wir einen Kompromiss gemacht und alles in neutralen Cremetönen gestrichen. Jetzt, wo ich das Haus für mich habe, wird es Zeit, dass ich ein paar neue Farben ausprobiere.“

„Perfekt. Du willst also alles völlig neu gestalten.“

„So könnte man es sagen. Ich werde hart arbeiten und mich überall mit Farbe bekleckern. Hast du schon mal irgendetwas gestrichen?“

„Nein.“ Will fand, dass Bodypainting nicht zählte, und es war sicher klüger, wenn er es nicht erwähnte. „Ich schlage vor, ich weihe dich in unsere Partypläne ein, und dafür zeigst du mir, in welcher Farbe du deine Zimmer streichen willst.“

Lark schüttelte langsam den Kopf, und Will wäre am liebsten über den Schreibtisch gehüpft und hätte sie mit einem Kuss zum Schweigen gebracht. Aber erstens war er sich nicht sicher, ob er einen solchen Sprung überhaupt machen konnte, ohne dabei die akribische Ordnung auf ihrem Tisch zu zerstören. Und zweitens war es nicht seine Art, Frauen zum Schweigen zu bringen, schon gar nicht Lark.

„Wenn du glaubst, dass es zu schwer für mich ist …“ Er sagte es, um Lark ein wenig aus der Reserve zu locken.

„Nein. Ich bin nur besorgt um mein Wohnzimmer“, gab sie zurück.

„Ich werde deine Anweisungen bis ins kleinste Detail befolgen. Wir müssen endlich etwas unternehmen, Lark. Howard kennt Sir Terence schon ewig und weiß sicher, wie man mit ihm umgehen muss, und ich glaube, wir haben es ihm bisher nicht hoch genug angerechnet, dass er uns vor solchen Dingen bewahrt hat. Vielleicht ist nun der Zeitpunkt gekommen, um unsere Arbeitsweise zu hinterfragen. Nicht, weil einer von uns hinter Howards Posten her wäre, sondern weil sich das Gleichgewicht verändert hat.“

Larks Miene verfinsterte sich. „Ich vermisse Howard. Er fehlt mir wirklich sehr …“

„Ja, mir auch. Und wir werden noch eine Weile ohne ihn klarkommen müssen.“

„Glaubst du wirklich? Du kennst dich mit Schlaganfallpatienten besser aus als ich. Er kommt doch zurück, oder?“

Will versuchte, die Angelegenheit ganz nüchtern zu betrachten. „Howard hat vieles, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Er verfügt über einen starken Willen und wird sein Lebenswerk bestimmt nicht kampflos aufgeben. Du kennst ihn doch.“

„Ja, das tue ich. Ich wollte es nur einmal von dir hören. Es ist etwas anderes, wenn es um einen Freund geht, findest du nicht?“

„Da hast du recht. Aber da wir seine Freunde sind, ist es unsere Aufgabe, an ihn zu glauben. Das heißt, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun müssen, um die Stiftung am Laufen zu halten. Wir müssen dafür sorgen, dass sie in möglichst gutem Zustand ist, wenn Howard zurückkehrt. Und wir müssen uns dem Problem mit Sir Terence stellen – nicht nur uns, sondern auch Howard zuliebe.“

Lark vergrub ihr Gesicht in den Händen – eine Geste, die Will gut von ihr kannte. Sie dachte über alles nach, betrachtete das Problem von verschiedenen Seiten und wägte alles sorgfältig ab. Es war das Beste, abzuwarten, auch wenn Will gerne noch angemerkt hätte, dass sie mit dieser Taktik nicht nur ihre eigene Kompetenz beweisen, sondern einander auch besser kennenlernen konnten. Doch er musste der Versuchung widerstehen, denn seine Vernunft sagte ihm, dass sie sich bereits gut genug kannten und dass es riskant wäre, noch mehr zu verlangen.

Plötzlich sah sie zu ihm auf. „Hast du einen Overall?“

Er lächelte. „Nein. Aber vielleicht kannst du mir eine gute Marke empfehlen …“

„O nein. Wenn du glaubst, dass du im Gegenzug bei meinem Kleid mitreden darfst, irrst du dich. Kommt überhaupt nicht infrage.“

Wie schade. Sie lächelte und erwartete anscheinend, dass Will einen enttäuschten Ausdruck aufsetzte. Es fiel ihm nicht schwer, es echt wirken zu lassen.

Etwas in ihrer Miene wurde weich. Ihre Augen glänzten wie flüssiges Gold, und ein neues Gefühl durchströmte Will. Plötzlich wollte er nichts anderes, als Lark in seinen Armen zu halten.

„Netter Versuch, Will.“ Sie öffnete ihre Schublade und holte ein paar Farbkarten heraus. „Soll ich dir zeigen, was dich erwartet?“

4. KAPITEL

Will rief Pete an und bat darum, den nächsten Termin am Freitag entweder auf den Morgen oder auf den Abend zu verschieben, denn die Nachmittage waren ausschließlich für Patienten reserviert. Pete meinte, früh am Abend würde es ihm am besten passen, und Will und Lark gingen mit neuer Entschlossenheit in das Gespräch. Will riss die Gesprächsführung auf subtile Art an sich, versicherte Pete, wie nützlich sie das Konzept hinter seinen Vorschlägen fänden und dass es sie dazu inspiriert habe, seine Vorschläge weiterzuentwickeln. Pete lauschte aufmerksam, und im Anschluss machte sich Lark daran, ihre Pläne fürs Wochenende zu erläutern.

Es funktionierte. Pete biss an und zeigte sich interessiert, und Lark war nach diesem Gespräch zufrieden und hatte nicht länger das Gefühl, persönlich angegriffen zu werden. Wieder einmal hatte Will sein magisches Talent entfaltet.

Nur dass es keineswegs magisch war. Wills Charme wirkte nicht aufgesetzt, weil er es niemals darauf anlegte, charmant zu sein. Die gemeinsame Arbeit hatte Lark gelehrt, dass Will wirklich nett war und Menschen aufrichtig mochte. Er schätzte sie und hörte ihnen zu. Dasselbe machte er auch mit Pete, genau wie mit allen anderen.

„Weißt du … Ich glaube, Pete hat uns viel zu bieten. Ein paar seiner Ideen könnten wirklich interessant sein, wenn man sie nur richtig umsetzen würde“, überlegte Will, während sie die Betonstufen zur Tiefgarage hinabstiegen. Das Wochenende hatte offiziell begonnen, und Will fand, sie sollten ihre kostbare Freizeit nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln verschwenden.

Lark dachte über seine Worte nach. „Hast du wirklich das Gefühl, dass deine Familie dich unterschätzt?“ Pete hatte ihm vorhin dieselbe Frage gestellt, doch Will war ihr mühelos ausgewichen.

„Meine Eltern haben meine Karriere stets unterstützt – genau genommen haben sie mich immer in allem unterstützt, was ich machen wollte.“

„Aber es ist dein Charme, den sie am meisten an dir schätzen.“

Er zuckte die Achseln. „Dad hat schon immer behauptet, ich könnte wohl mit allem davonkommen. Für so manipulativ halte ich mich allerdings nicht.“

„Ich finde nicht, dass du manipulativ bist. Und es ist ganz sicher nicht dein Charme, den ich bei dir am meisten schätze!“

Diese blauen Augen! Der aufrichtige Ausdruck, der in ihnen lag, verlieh ihren Witzen und den scherzhaften Komplimenten, die sie einander machten, eine ganz neue Qualität. Sogar ganz einfache Worte schienen eine tiefere Bedeutung zu erhalten.

„Danke, Lark!“

Lark wohnte in einem Außenbezirk von London, und während der gesamten Fahrt musste Will an ihre schönen Worte von vorhin denken. Er empfand es tatsächlich als abschätzig, wenn man ihn als charmant bezeichnete, denn es würdigte in keiner Weise die harte Arbeit, die er in seine Karriere investiert hatte. In den Augen seines Vaters war Will stets alles leichtgefallen. In seiner Familie galt er als der Charmante, dem alles zuflog, während seine Brüder sich alles hatten erarbeiten müssen.

Es war bestimmt nicht böse gemeint. Sein Vater versuchte nicht absichtlich, Wills Erfolg kleinzureden. Es war eben eines dieser typischen Probleme. Jedes Familienmitglied bekam eine Rolle zugewiesen, und Wills Rolle bestand darin, charmant zu sein – und sich aufgrund dessen stets ein bisschen minderwertig zu fühlen. Neue Leute kennenzulernen und sie anschließend zu vergessen.

Es fiel ihm nicht leicht, doch seit er Eloise verloren hatte, war es für ihn der einzige Weg, um einigermaßen in Frieden zu leben. Will war ein unbeholfener Teenager gewesen, zum ersten Mal verliebt, und Eloise hatte ihm die Sprache verschlagen. Bei ihrem ersten Kuss hatte er sich ungeschickt angestellt und war rot angelaufen, doch Eloise hatte ihm verziehen und ihm beigebracht, wie man richtig küsste. Sie war sechs Monate älter gewesen als er und längst viel weiter in solchen Dingen.

Noch immer musste er lächeln, wenn er daran dachte, wie süß und unschuldig sie damals gewesen waren. Achtzehn Monate später zogen sie gemeinsam nach London. Eloise studierte Englische Literatur, und Will schrieb sich für ein Medizinstudium ein. Zusammen verloren sie ihre Unschuld, in Eloises viel zu schmalem Bett im Studentenwohnheim. Und in jener Nacht war Will klar geworden, dass sie die Richtige war. Die Einzige. Was ihnen an Erfahrung fehlte, machten sie mit jugendlicher Abenteuerlust wieder wett, und so erlebten sie viele besondere, unvergessliche Momente.

London war gut zu ihnen. Eloise fand einen Job, während Will sein Studium fortsetzte. Inzwischen waren sie keine verliebten Teenager mehr, sondern junge Berufsanfänger, die noch immer ihr ganzes Leben vor sich hatten und sich nicht vorstellen konnten, es ohne den anderen zu verbringen.

Doch dann geschah das Undenkbare. Eine Verkettung unglücklicher Zufälle, die in einer Tragödie mündete. Wenn Eloise sich nicht umgedreht hätte, um Will zum Abschied zu winken, und wenn ein ungeduldiger Fahrer an jenem Tag nicht zu spät dran gewesen wäre – vielleicht wäre sie dann nicht überfahren worden. Will hätte nicht spüren müssen, wie sich ihr Griff um seinen Arm lockerte, während er um ihr Leben kämpfte, und Eloise wäre nicht mitten auf der Straße gestorben, noch bevor der Rettungswagen eintraf.

Alle reagierten sehr verständnisvoll. Sowohl sein akademischer Betreuer als auch der Leiter der Notaufnahme untersuchten Eloise, und beide versicherten Will, dass ihre Verletzungen zu schwer gewesen seien und selbst der erfahrenste Arzt nichts mehr für sie hätte tun können. Will habe zum Schluss das Richtige getan und sie einfach nur festgehalten. Man sagte ihm, er solle sich so viel Zeit nehmen, wie er benötigte, und seine Eltern bestanden darauf, dass er für eine Weile bei ihnen blieb. Will fühlte sich zwei Wochen lang wie betäubt und redete kaum ein Wort, und anschließend kehrte er nach London zurück.

Mit der Zeit lernte er, wie er nach außen hin glücklich wirken konnte. Er schlief schlecht, konnte es jedoch gut vor anderen verbergen – ganz im Gegensatz zu der Migräne, die ihn an seinen freien Tagen heimsuchte, wenn ihn die Erschöpfung einholte und für zwölf Stunden am Stück außer Gefecht setzte. An Eloises erstem Todestag versprach er ihr, sein übertriebenes Arbeitspensum zurückzufahren und besser auf seine Schlafenszeiten zu achten, und endlich ließen die kräftezehrenden Kopfschmerzen und die Übelkeit nach.

Irgendwann fing er wieder an, auf Partys zu gehen, denn nach wie vor erhielt er zahlreiche Einladungen. Dabei stellte er fest, wie sehr es ihm half, sich auf das Leben anderer Leute zu konzentrieren. Es lenkte ihn von der Tatsache ab, dass er sich in seinem eigenen Leben nur etwas vormachte. Im Laufe der Jahre baute er sich St...

Autor