Julia Ärzte zum Verlieben Band 199

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UND PLÖTZLICH IST ES ... LIEBE von BECKY WICKS

Als Sadie auf einer einsamen schottischen Insel als medizinische Beraterin arbeiten muss, nimmt ihr bester Freund Dr. Owen Penner dort auch einen Job an. Natürlich nur, damit sie sich nicht so allein fühlt! Aber warum knistert es dann so ungeahnt sinnlich zwischen ihnen?

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  • Erscheinungstag 11.01.2025
  • Bandnummer 199
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533447
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Becky Wicks

1. KAPITEL

Nur anderthalb Stunden von Glasgow entfernt liegt die Isle of Bute – eine wunderschöne Insel im Firth of Clyde, auf der die Stille nur durch Vogelgezwitscher und das Summen der Bienen unterbrochen wird …

In der Küche rumorte es, und Sadie blickte von ihrem Laptop auf. Durch die geöffnete Tür sah sie, wie Owen Penner seine Nase neugierig in ihren Kühlschrank steckte. Sie waren seit zehn Jahren gut befreundet, er war oft bei ihr zu Besuch und würde schon etwas Passendes finden.

So vertiefte sie sich wieder in den Online-Reiseführer.

„Hier steht“, sagte sie laut, „dass die Insel fast unbekannt ist, obwohl sie so schön sein soll. Kannst du dir vorstellen, wie still es sein muss im Vergleich zu London? Oder Boston? Bist du sicher, dass du das aushältst?“

„Wo ist der Orangensaft?“, fragte Owen.

„Ich hab keinen.“

„Du hast immer Orangensaft.“

Sadie seufzte. „Den hat Callum sonst gekauft. Owen, du klingst nicht so, als ob du für unsere neue Stelle bereit bist. Es sind nur noch zwei Wochen.“

„Doch, doch.“ Sein Ton änderte sich abrupt, er schloss die Kühlschranktür und kam zu ihr ins Esszimmer marschiert. „Volle Aufmerksamkeit vorhanden.“

Er salutierte und ließ sich neben ihr auf den Stuhl fallen.

Sadie zog ihren Pferdeschwanz zurecht, in dem sie ihr honigfarbenes Haar zusammengefasst hatte. Sie musste ein Lächeln unterdrücken, als ihr Owens Duft in die Nase stieg. Den hatte sie die ganze Zeit vermisst, während er sich in Amerika in funktioneller Neurologie hatte weiterbilden lassen. Jetzt gehörte er zu den wichtigsten Neurologen Londons und besaß ohne Zweifel eines der beeindruckendsten Gehirne, die es auf diesem Planeten gab.

Während seiner Zeit in Boston hatte er nicht nur sein Gehirn trainiert, sondern auch seinen Körper: Mit seinen ebenso fitten amerikanischen Kollegen, die sie auf seinen Posts gesehen hatte, war er oft im Fitnessstudio gewesen. Und jetzt, da der Frühling vor der Tür stand, wusste er garantiert, wie gut er in diesem neuen grünen T-Shirt aussah.

Sie hatte ihm sogar ein Kompliment gemacht. Männer bekamen heutzutage einfach nicht genug Komplimente, was sich wohl, wie sie gelesen hatte, negativ auf ihre mentale Gesundheit auswirkte. Und für mentale Gesundheit interessierte sie sich sehr seit … nun ja, seit dem Tod ihres Bruders. Deshalb wollte sie generell mehr Komplimente machen.

Bei Callum war es jedoch schon zu spät gewesen.

Stolz bemerkte sie, dass sie endlich an ihren Ex denken konnte, ohne wütend zu werden oder sich vor lauter Angst verkriechen zu wollen. Vier Jahre ihres Lebens hatte sie mit Callum vergeudet. Vier ganze Jahre, nach denen er ihr einfach so gesagt hatte: Es funktioniert nicht mehr:

Und das kurz bevor sie ihre ersehnte Stelle im renommierten, hochwertigen Rothesay Recovery antreten sollte. Dort wurden gut betuchte Menschen mit psychischen und körperlichen Problemen behandelt, und sie sollte sich sechs Monate als medizinische Beraterin um sie kümmern.

Nach der Trennung hätte sie fast darauf verzichtet, weil die Einrichtung so abgelegen war, dass sie befürchtet hatte, all die Stille würde sie verrückt machen. Aber dann hatte Owen gesagt, er würde mitkommen.

„Also, lies vor.“

Sie schob ihm den Laptop hin und sah zu, wie er mit seinem T-Shirt die Brillengläser trocken wischte, um sich ein paar Bewertungen begeisterter Gäste durchzulesen. Auf der Website war dazu das riesige, schlossähnliche Gebäude zu sehen, in dem das luxuriöse Rothesay Recovery untergebracht war.

Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie dort zusammenarbeiten würden. Sie waren noch nie in derselben Institution tätig gewesen, und nun würden sie gemeinsam auf eine abgelegene Insel an der Westküste Schottlands reisen.

Ursprünglich hatte er einen ausgiebigen Urlaub in Thailand machen wollen – so schwer wie in den USA mit ihrem schrecklichen Gesundheitssystem hatte er noch nie gearbeitet.

„Die Isle of Bute“, sagte sie, „ist mit Kho Samui vermutlich nicht zu vergleichen. Und die Klinik ist kein Resort.“

Owen scrollte durch die Fotos der Website, die die schottischen Hügel zeigten. „Es klingt so, als wolltest du mich abschrecken“, sagte er und zog eine Grimasse. „Mach dir keine Sorgen, Sadie, ich bin mit ganzem Herzen dabei.“

„Das wäre aber das erste Mal“, sagte sie spöttisch. Von Herzensdingen wollte er nie etwas wissen, ihr bester Freund, ein überzeugter Junggeselle.

Owen setzte sich langsam die Brille wieder auf und wischte einen Augenblick auf seinem Telefon herum.

„Ich habe es nicht so gemeint“, sagte sie schnell.

Er zuckte nur mit den Schultern.

Wenn sie so darüber nachdachte: Er hatte schon lange nichts mehr von einer neuen Frau erzählt. Falls er in Amerika jemanden kennengelernt hatte, hatte er das nicht erwähnt. Sadie hatte längst aufgegeben, seine jeweils aktuelle Freundin kennenlernen zu wollen, weil sie doch nie länger als fünf Minuten blieben. Beziehungen waren nichts für ihn, und das konnte er ja so handhaben, wie er wollte. Nicht alle waren wie sie und bevorzugten serielle Monogamie.

Sadie betrachtete sein Profil, während er sich weiter durch die Website klickte.

„Warum lächelst du?“, fragte er plötzlich.

Sie wurde rot. Sie hatte nämlich gerade gedacht, dass seine Arme neuerdings wie die eines Superhelden aussahen. Aber vor allem war sie stolz darauf, einen der wichtigsten Neurologen Londons ihren besten Freund nennen zu dürfen. Im Privatleben war Owen vielleicht ein Playboy, aber im Berufsleben hatte er mehr Leben gerettet, als er jemals selbst zugeben würde.

In der herkömmlichen Neurologie ging es darum, Krankheiten zu finden. Oft konnte man ein Problem erst diagnostizieren, wenn die Krankheit bereits einigermaßen fortgeschritten war. Owen war jetzt aber in funktioneller Neurologie weitergebildet und wusste genau, wie er Menschen beraten und behandeln konnte, die alternative Methoden zur traditionellen Neurologie suchten. Er war in der Lage herauszufinden, welche Gehirnbereiche geschädigt waren und wie man sie heilen konnte.

Und all das mit seinem sprudelnden Charme, in den sich bereits zahllose Menschen verliebt hatten.

Sie war wahrscheinlich die einzige Frau in ihrem Freundeskreis, mit der er noch nie geflirtet hatte. Inzwischen war es ganze zehn Jahre her, dass sie sich während des Studiums über den Weg gelaufen waren. Einmal hatten sie mit den anderen in der Küche gesessen und gelernt. Er hatte sie gefragt, ob sie auch noch einen Kaffee wolle. Dabei warf er lässig seinen Füller auf den Tisch – der um sich spritzte und Sadies weiße Jeans von oben bis unten mit Tinte bekleckerte.

Sie hatte ihn angeschrien, er hatte sich entschuldigt und ihr am nächsten Tag ein Mittagessen ausgegeben. Dabei hatte er sie zugetextet und zum Lachen gebracht, sodass sie sich fragte, warum sie vorher noch nie viel miteinander gesprochen hatten. Schließlich waren sie schon im vierten von sieben Studienjahren.

Aber es war auch eine schwierige Zeit für Sadie gewesen. Sie hatte um ihren Bruder Chris getrauert, und schon damals hatte Owen ihr mit seinem sonnigen Gemüt geholfen, ihre Trauer zu überwinden. Zweiundzwanzig war sie gewesen, und selbst jetzt fühlte sie sich manchmal immer noch wie ein Schatten der Person, die sie vor Chris’ Tod gewesen war.

„Wie gesagt, ich glaube, es wird sehr still dort“, sagte sie nun und schob die traurigen Gedanken zur Seite.

„Vielleicht wird mir das auch guttun“, sagte Owen mit einem Schulterzucken.

Aber er sah sie neugierig an. Owen wusste nicht viel über Chris’ Tod – zumindest nicht, dass ihr Bruder sich das Leben genommen hatte. Sie hatte ihn damals in dem Glauben gelassen, dass es ein Unfall gewesen war. Ihre Trauer hatte sie damals noch so im Griff gehabt, dass sie nicht darüber sprechen konnte. Denn ihr Bruder hatte sich betrunken und sein Motorrad in einen Steinbruch gefahren.

Sie war froh gewesen, kurz danach mit dem Studium anfangen und sich in ihren Büchern vergraben zu können. Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, was irgendwie an ihr vorbeigegangen war. Sie hatte an nichts anderes denken können als an ihre Schuldgefühle. Sie hätte doch merken müssen, dass ihr lebensfroher, offenherziger Bruder sich geändert hatte!

Medizin und Psychologie hatte sie unter anderem deshalb studiert, um mit den ganzen Schuldgefühlen zurechtzukommen. Die Arbeit im Krankenhaus hatte ihr jedoch nicht gereicht, sodass sie noch eine Zusatzausbildung gemacht hatte. In ihrer Arbeit als Consultant spielte mentale Gesundheit immer noch eine wichtige Rolle.

Owen holte sie aus ihren Gedanken.

„Muss ich mir für Schottland etwa einen Kilt kaufen?“, fragte er.

Sie lachte schnaufend. Andererseits würde er heiß aussehen in einem Kilt.

Warum dachte sie plötzlich auf diese Weise über ihn?

Sie war wirklich nur drei Sekunden davon entfernt gewesen, ihre Bewerbung für das Rothesay Recovery abzusagen. Aber dann hatte Owen gesehen, dass an der Klinik für dieselben sechs Monate noch eine Stelle für eine neurologische Fachkraft ausgeschrieben war.

Ich kann doch mitkommen. Das hatte er wie nebenbei gesagt, während sie ihre Takeaway futterten. Außer du willst nicht, dass ich mich an deinen Traumjob dranhänge.

Warum sollte ich das nicht wollen?

Und so saßen sie nun hier und sahen sich die Website der Einrichtung an.

„Wir waren noch nie zusammen unterwegs, oder?“, fragte sie. „Zumindest nicht außerhalb von London.“

Sie trank einen Schluck Kaffee und betrachtete seinen Drei-Tage-Bart. Hier und da sah man ein paar graue Haare, die er hasste. Er war doch erst zweiunddreißig. Aber Owen war zweifellos der attraktivste Mann, den sie kannte. Callum hatte sich ständig von ihrer Freundschaft bedroht gefühlt.

Einmal waren sie in Richmond auf einem Boot auf dem Fluss unterwegs gewesen, als er Owen vorgeworfen hatte, in sie verliebt zu sein. Sie und Owen hatten einen ihrer Dialektwettbewerbe abgehalten, in dem sie herausfinden wollten, wer welche Dialekte am besten nachmachen konnte. Callum fand es dämlich. Owen hatte die Augen verdreht, woraufhin Callum total wütend geworden war. Dann, am selben Abend, hatte Owen in einem Pub ein Mädchen aus Malaysia getroffen. Sadie hatte mit Callum in einer Ecke gesessen und ihm versichert, dass sie keineswegs mit Owen flirtete und nichts für ihn empfand.

Und das war auch nur gut so: Wenige Tage später hatte er sich von seiner Pub-Bekanntschaft schon wieder getrennt und damit gezeigt, dass er nicht der Typ für eine Beziehung war.

Owen kniff die Augen zusammen, während er überlegte, ob sie schon einmal außerhalb von London zusammen unterwegs gewesen waren. So, wie ihre Beziehung rein freundschaftlich war, so war ihr Bewegungsradius niemals über Londons Außenbezirke hinausgegangen.

Aber nun überlegten sie, wie ihre neuen Patienten und Patientinnen sein würden und ob sie wohl in dem See, der zur Klinik gehörte, angeln gehen dürften.

„Wenn du noch nie angeln warst …“, sagte sie.

„Und du noch nie weiter gewandert bist als bis Primrose Hill …“

Er machte sein Shrek-Gesicht, indem er das Kinn zurückzog und die Zähne in seine Lippe hieb. Sie musste lachen. Er konnte einfach nicht hässlich aussehen, sosehr er es auch versuchte.

2. KAPITEL

Owen zog den Schal fester und den Reißverschluss seiner Jacke so hoch, wie es nur ging. Vor der Fähre stürzten sich Möwen ins Wasser. Das Schiff war auf dem Weg nach Rothesay, dem Hauptort der Isle of Bute.

Wie es wohl gewesen wäre, in diesem Moment ohne Hemd und mit einem Cocktail in der Hand an einem Strand in Thailand zu sitzen, während die Palmen über ihm Schatten warfen?

Aber dann sah er zu Sadie hinüber, die sich in ihren eigenen Schal verkrochen hatte, und ihm wurde klar, dass er wirklich lieber mit ihr im kalten Schottland war als mit irgendjemand anders unter der thailändischen Sonne.

Es regnete nicht einmal, auch wenn Schottland nicht gerade für sein gutes Wetter bekannt war, und für Ende März war es immer noch eisig. Aber schön. Und Sadie war auch schön, und es lief doch alles gut.

Moment, was war denn das für ein Gedanke: Sadie war schön?

Natürlich war sie schön, daran gab es nichts zu rütteln, genauso wie man sagen konnte: Schottland ist schottisch.

„Guck nur!“, rief sie mit ihrer riesigen Sonnenbrille auf der Nase und zeigte auf die Insel vor ihnen.

Entlang der Küste standen elegante viktorianische Gebäude, hübsch wie auf einer Postkarte. Das Wasser war blau wie in Thailand, und er entdeckte sogar Bäume, die wie Palmen aussahen.

„Genauso habe ich mir das vorgestellt“, sagte sie. „Ich kann kaum glauben, dass wir hier sind, Owen.“

Er kaute auf seiner Wange herum und schaute zu, wie die honigbraune Strähne, die sich aus Sadies Zopf gelöst hatte, ihr um das Gesicht flatterte. Dass seine fleißige, treue und kürzlich verlassene Freundin sich nur wegen dieses Idioten Callum eine solche Gelegenheit wie hier hätte entgehen lassen, hatte ihn wütend gemacht. Deshalb war er mitgekommen.

„Ich muss doch sehen, wo Whisky und Haggis herkommen“, sagte er.

Sadie lächelte. „Ich meine es ernst. Ich bin dir wirklich dankbar.“

Dann blickte sie auf den Boden und schniefte verlegen.

Das mit Callum war also vorbei. Umso besser. Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, wann sie ihr großes Herz jemand anderem schenken würde. Sie hatte immer langfristige Beziehungen, als ob sie Angst hätte, allein zu sein. Ganz anders als er selbst. Und er wollte es ihr auch nicht so direkt sagen, aber warum meinte sie eigentlich, immer einen Mann zu brauchen?

Sadie war eine der bestbezahlten medizinischen Consultants in ganz Großbritannien. Sie wusste, wie man mit Menschen umging und ihr Leben tatsächlich besser machte. Er war stolz auf sie, und sie brauchte keinen Kerl – sie meisterte ihr Leben doch sehr gut selbst.

Am Hafen wartete ein Chauffeur auf sie. Er hieß Caleb und half ihnen mit ihren Taschen.

Wie abgelegen sie leben würden, begriff er erst jetzt richtig: Das Gebäude des Rothesay Recovery stammte aus dem 19. Jahrhundert. Behandelt wurden bis zu zwölf Patienten und Patientinnen, die für diese Zeit auch dort untergebracht waren. Fünfzehn weitere medizinische Fachleute kümmerten sich um alle Bedürfnisse der Kranken und lebten ebenso wie die zahlreichen Bediensteten in einem Teil der Klinik.

Owen hatte sich vorgenommen, an seinen freien Tagen die Wälder zu erforschen, in idyllischen Seen zu schwimmen und malerische Wanderungen durch die teils bergige Landschaft zu unternehmen und dabei den einen oder anderen Abstecher zu einer Whisky-Destillerie zu machen.

Hier draußen würde es nicht viele Möglichkeiten geben, Frauen kennenzulernen. Außerdem verbrachte er viel lieber seine Zeit mit Sadie. In Amerika hatte er sie so sehr vermisst, dass er, gerade zurück in London, sofort sein Gepäck hatte fallen lassen. Es war schön gewesen, sie wiederzusehen, auch wenn sie viel über Callum gejammert hatte. Trotz ihrer schlechten Laune hatte sie den ganzen Abend versucht, ihn und seine neuen Muskeln nicht zu offensichtlich anzustarren.

Seine Kollegen in Boston waren ständig im Fitnessstudio gewesen, und ihm hatte es nach einer Weile auch gefallen. Auf jeden Fall war es ein besserer Zeitvertreib gewesen, als fremde Frauen anzusprechen. Keine dieser Frauen war Sadie gewesen. Er hatte sich immer auf ihren sonntäglichen Video-Call gefreut und sogar ein paar Dates sausen lassen, weil er lieber mit ihr hatte sprechen wollen, insbesondere nachdem sie zum ersten Mal erwähnt hatte, dass sie direkt nach seiner Rückkehr nach Rothesay reisen wollte. Da war ihm gar nichts anderes übrig geblieben, als mitzukommen.

Die Aufregung rieselte ihm die Arme hinunter, als sie sich beide ins Taxi setzten. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der sechsmonatige Aufenthalt würde definitiv kein Urlaub sein.

„Arbeiten Sie in der Klinik?“, fragte der Chauffeur. „Ich habe gehört, da ist grad ein Schauspieler zu Gast. Der, dessen Sohn bei dem Film-Stunt gestorben ist, wissen Sie, wen ich meine?“

„Conall McCaskill?“, fragte Sadie.

Sie warf Owen einen so begeisterten Blick zu, dass er ein Grinsen unterdrücken musste.

„Ja, genau der“, sagte der Fahrer.

Man hatte ihnen noch nicht gesagt, wer gerade zu Gast war. Owen hatte angenommen, dass sie zuerst Verschwiegenheitsvereinbarungen unterzeichnen mussten.

„Wirklich traurig“, murmelte Caleb und schüttelte den Kopf. „Ich habe gehört, dass er angefangen hat, ziemlich viel zu trinken. Da werden Sie beide bestimmt einiges zu tun haben.“

Owen lauschte und bemerkte währenddessen, wie das Licht in Sadies Haar spielte. Sie beide, hatte der Typ gesagt. Er wäre nicht der Erste, der dachte, dass sie ein Paar waren. Aber das war grundfalsch.

Einmal hatte er daran gedacht, und wenn er gewollt hätte, hätte er sich in Gedanken sofort wieder auf die Tanzfläche zurückversetzen können, aber meistens versuchte er, nicht zu viel darüber nachzusinnen. Er war jung und betrunken gewesen, und Sadie hatte ihn zurückgewiesen.

Kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, waren sie in einen Club gegangen, und sie hatte ihn an diesem Abend immer wieder auffordernd angesehen, aber sobald er versucht hatte, sie zu küssen, war sie wie ein Pfeil von der Tanzfläche geschossen, und sie hatten es beide nie wieder erwähnt.

Wenn sie zusammengekommen wären, hätte er eh alles kaputt gemacht, und das würde heute nicht anders sein. Er war nicht gemacht für etwas Ernstes – insbesondere nicht mit einer guten Freundin wie Sadie.

Er biss die Zähne zusammen, als er an den Tag auf dem Boot in Richmond dachte, als Callum ihm vorgeworfen hatte, in Sadie verliebt zu sein. Sie hatten doch nur Quatsch gemacht mit diesen Dialekten. Er hatte über Callums Vorwurf gelacht und Sadie ebenfalls. Aber am Abend im Pub hatte er gehört, wie die beiden sich gestritten hatten. Wieder und wieder hatte Sadie gesagt: Owen ist nur ein Freund. Das ist alles, und das wird sich auch nie ändern. Glaub mir.

Das hatte wehgetan zu hören, weil es ihn an seine Mutter erinnert hatte. In Josephine Penners Augen waren die Penner-Männer nutzlos und würden sich nie ändern, und ihre stetige Wut auf ihren immer wieder untreuen Ehemann hatte sich wohl auf ihn übertragen. Er würde sich niemals auf eine Beziehung einlassen, aus der er nicht wieder herauskommen würde. Es würde keine Hochzeitsglocken geben, keine Babys, keine gemeinsame Wohnung und keine Ausflüge zu Ikea. Nein, danke. Dieser Pärchenkram endete doch für alle Beteiligten immer nur im Elend.

„Ich habe etwas über dieses Hotel gelesen“, sagte Sadie und unterbrach seine Gedanken. Die schottische Sonne machte ihre rosigen Wangen nur noch rosiger. Sie kurbelte das Fenster herunter. Die Luft war süß und frisch und vermischte sich mit ihrem vertrauten Parfüm.

Caleb hinter dem Steuer hatte kurz vor einem leeren, verlassenen Hotel angehalten.

„Das ist das Glenburn Hotel“, sagte er.

„Das perfekte Setting für eine Geistergeschichte“, sagte Owen.

„Hier gibt’s viele Geister“, sagte Caleb. „Besonders da, wo Sie hinwollen.“

„Ach was!“ Sadie holte erschrocken Luft. „Es gibt doch keine Geister … Gibt es hier Geister?“

„Man erzählt sich von einer Weißen Dame“, erwiderte der Fahrer.

Owen stupste sie an und musste grinsen, als er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck sah. „Du glaubst doch nicht an Geister, oder?“

„Hör bloß auf.“ Sie stupste ihn zurück, aber deutlich stärker, sodass sie anfingen, sich gegenseitig zu knuffen und laut zu lachen.

Er hatte Sadie nie viel über seine Kindheit erzählt. Seine Mutter zog sich regelmäßig zum Weinen ins Bad zurück, wenn sein Vater wieder einmal wegen eines spontanen Meetings oder Termins das Haus verlassen musste. Dabei wusste sogar er, dass diese Termine nichts mit dem Unternehmen zu tun hatten, das seine Eltern gemeinsam aufgebaut hatten. Leap war eine bahnbrechende Webdesign-Plattform, die die beiden gemeinsam als CEOs leiteten.

Wenn Owen nicht gewesen wäre, hatte seine Mutter seinen Vater vielleicht niemals geheiratet. Vielleicht hätte er ihr Leben niemals ruiniert. Wenn sie sich nicht so endgültig an diesen Mann gebunden hätte, hätte sie sich nicht verpflichtet gefühlt zu bleiben und all die kleinen Lügen und Herabsetzungen zu ertragen.

Owen hingegen hatte im Laufe der Jahre gelernt, wann es Zeit wurde, eine Frau zu verlassen. Und zwar lange, bevor es ernst werden konnte.

Sadie war ihrer Familie auch nicht besonders verbunden. Zumindest erwähnte sie ihre geschiedenen Eltern kaum, und ihr Bruder war bei einem Motorradunfall gestorben, in dem Sommer, bevor sie an der Uni angefangen hatte. Sie sprach nicht darüber, und er fragte sie nicht.

Er mochte und brauchte ihre Herzlichkeit, ihr Verständnis und ihre Fähigkeit, ihn aufzuheitern. Andere Frauen kamen und gingen, aber die Freundschaft zu Sadie würde er niemals aufs Spiel setzen.

„Da sind wir.“

Caleb hielt vor einem riesigen Eisentor, drückte einen Kopf, und Sekunden später fuhren sie eine lange Auffahrt entlang. Sadies griff nach Owens Arm. Er versuchte, den Blitzschlag zu ignorieren, den ihre plötzliche Berührung verursachte.

„Schau mal, der Brunnen! Oh, und ein Gewächshaus, das ist bestimmt die viktorianische Farnkrautpflanzung … Und guck, diese Türmchen, unglaublich, wie ein Schloss!“

Ihre Aufregung war ansteckend. Owen lächelte. Thailand schien weiter entfernt denn je – hier würde es definitiv auch interessant werden.

Ein junger Mann mit dunklem Seitenscheitel empfing sie in der großen Eingangshalle. Er trug elegante weiße Dienstkleidung, und auf seinem Namensschild stand: Fergal, Empfangsmitarbeiter.

Sadie zuckte zusammen, als Owen nach ihrem Arm griff, weil ein zweiter Mitarbeiter ihre Koffer auf einen Wagen stellte und über den schwarz-weiß gekachelten Boden wegrollte.

Owen ließ sie schnell wieder los. Warum fühlte es sich plötzlich an, als brauchte er ständig ihre Aufmerksamkeit? Er schaltete den Profimodus ein und folgte Fergal durch das Gebäude.

„Das Haus ist von 1844“, sagte der Mann stolz, „mit etwa drei Morgen Land, auf dem auch unsere therapeutischen Farnkrautpflanzen in einem viktorianischen Glashaus stehen. Unsere Bewohner und Bewohnerinnen mögen das sehr. Sie sind gerade alle dort, um die Pflanzen umzutopfen. Von Ihren Zimmern aus haben Sie einen Blick auf das Meer und den Golfplatz. Die besten Räume sind natürlich für unsere Gäste reserviert.“

Hinter Fergals Rücken sah Owen Sadie an: Pflanzen umtopfen? Sie runzelte die Stirn: Benimm dich! Aber ihr Mund zuckte lächelnd.

„Ihre Räume sind im zweiten Stock im rechten Flügel“, erklärte Fergal und führte sie eine prachtvolle Treppe hoch. „Aber das zeige ich Ihnen später. Jetzt möchte Dr. Calhoun Sie kennenlernen.“

Im ersten Stock zog Fergal eine große Holztür auf und führte sie in ein Zimmer mit dickem olivgrünem Teppich. Owen spürte Sadies Schulter an seinem Arm. Dann erblickte er die oberste Klinikkoordinatorin und Geschäftsführerin, Dr. Christine Calhoun. Sie saß hinter einem schweren Eichenholztisch und stand nun auf. Sie wirkte wie die Lady eines Herrenhauses und schien in ihren Fünfzigern zu sein.

„Dr. Penner, Dr. Mills, herzlich willkommen“, sagte sie. „Wir freuen uns, Sie hier zu haben.“

Sie blickte zwischen ihm und Sadie hin und her. Ob sie auch dachte, dass sie ein Paar waren?

„Am besten legen wir gleich los. Ich muss Ihnen noch ein paar Dinge erklären, die ich am Telefon nicht sagen konnte.“

„Wegen Conall McCaskill?“, fragte Sadie.

Die Klinikleiterin sah sie zweifelnd an und bat sie beide, sich zu setzen. Schnell legte sie ihnen die Vertraulichkeitserklärung auf den Tisch.

„Auf der Insel ist es schwer, Geheimnisse zu bewahren, selbst mit verdunkelten Autofenstern“, sagte sie. „Mr. McCaskill ist vor Ort, ja, das haben Sie wohl schon gehört. Und sein Fall ist recht interessant. Tatsächlich hoffen wir, dass Sie uns helfen können, einen Durchbruch zu erzielen. Seine Frau Maeve hat um zusätzliche Unterstützung gebeten. Bislang redet er mit niemandem und kann seine posttraumatische Belastungsstörung selbst noch nicht anerkennen. Unser Team freut sich auf Sie und Ihre Fähigkeiten.“

Sadie und er nickten gleichzeitig. Das war eine Aufgabe für sie.

3. KAPITEL

„Mr. McCaskill?“ Sadie klopfte leise an die offene Tür.

Owen und sie betraten das Zimmer. Conall McCaskill saß still in einem Ledersessel neben den bodentiefen Fenstern seiner modernen Suite. Vielleicht lag es an der Trauer oder dem braunen Pullover mit V-Ausschnitt und der dunklen Armeehose, aber er sah viel älter aus, als sie ihn sich vorgestellt hatte.

Hinter ihm war die Tür des Bades nur angelehnt, sodass man einen gigantischen Paradiesvogelbaum in einem Terrakottatopf und eine Badewanne mit Löwenkopffüßen sah. Luxus im Vergleich zu ihren eigenen Räumen. Nicht dass ihr Zimmer ungemütlich war, aber sie hatte schlecht geschlafen, weil die ganze Nacht über irgendwo ein altes Rohr geklopft hatte.

Owen holte zwei Stühle, sodass sie sich links und rechts vor Conall McCaskill setzen konnten. Er lächelte den Mann an. „Wie geht es Ihnen, Sir?“

Charmant, wie nur Owen es sein konnte.

Sadie musste ein Grinsen unterdrücken, hatte sie ihn doch vorhin noch erwischt, wie er auf der Treppe ein Selfie gemacht hatte, genauso wie sie nur wenige Momente zuvor. Ihre Dienstkleidung war so anders als das, was sie gewohnt waren. Sie trug einen engen cremefarbenen Rock und eine taillierte weiße Bluse mit einem goldenen RR-Logo. Owen hatte ein elegantes weißes Anzughemd und cremefarbene Anzughosen, die sich perfekt um seinen Hintern … Was? Sie unterbrach ihre eigenen Gedanken. Warum dachte sie bitte schön an Owens Hintern?

Irgendwas hatte er an sich. Irgendetwas, das sie vermisst hatte, während er in Amerika gewesen war. Aber nein, sie war einfach nur froh, dass er wieder da war und sie zum ersten Mal zusammenarbeiteten.

„Wir gehen gerade herum und stellen uns vor. Wir sind neu hier. Ich bin Owen Penner, und das ist Sadie Mills.“

Stille. Conall McCaskill hielt seinen Blick weiter auf die Statue einer Meerjungfrau gerichtet, die den Brunnen vor dem Fenster zierte. Sadie hatte schon öfter mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu tun gehabt. PTSD zeigte sich bei allen Menschen anders. Aber sie hätte nie geglaubt, dass der Held ihres liebsten Actionfilms Surrender darunter leiden würde. Sie hätte sich den Film noch einmal angesehen, wenn sie früher gewusst hätte, dass Conall McCaskill hier Patient war.

Das hätte sie auch mit Owen zusammen machen können, ihre Füße gemütlich auf seinem Schoß, wie sie ihre Filme schon im College geschaut hatten – außer einmal, als Callum hereinspaziert war und Owen böse befohlen hatte, auf seiner Seite des Sofas zu bleiben.

Owen erklärte, warum sie hier waren: Er wollte herausfinden, warum Conall McCaskills Beschwerden so schlimm waren, und eine Strategie zur Beruhigung der hyperaktiven Bereiche seines Hirns finden. Und Sadie würde ihm helfen, erneut Sinn in seinem Leben zu finden, wenn man das so sagen konnte – damit er im Alltag besser zurechtkam und vielleicht eines Tages sogar wieder Filme drehen konnte.

Leicht würde das nicht werden. Der erste Psychologe, mit dem McCaskill gesprochen hatte, hatte wohl gar nicht gewusst, was er tun sollte. Seine Frau Maeve, die selbst berühmt war, hatte dann darauf bestanden, dass er zu Fachleuten ging.

Der müde Mann, der vor Sadie saß, hatte nichts mit dem muskulösen, harten Superstar zu tun, den sie aus dem Kino kannte. Und er schien auch nicht besonders begeistert, dass sie hier waren.

„Ich brauche keine Hilfe.“ Es war mehr ein Bellen als eine Antwort.

Sie betrachtete seine berühmte Nase und die kräftigen Kiefer. Er war erst Mitte sechzig, aber der tragische Tod seines Sohnes hatte ihn deutlich altern lassen.

„Sie haben eine schreckliche Tragödie hinter sich“, sagte sie.

„Das stand ja überall im Internet. Nicht mal eine Stunde hat es gebraucht, bis die ersten Fotos veröffentlich wurden.“

Ein Windstoß kam aus dem geöffneten Fenster und fuhr in die grauen Strähnen des Schauspielers.

„Ein Stunt, der schiefgegangen ist“, sagte Owen.

Dabei sah er sich die Unterlagen an. Was eigentlich nicht nötig war – sie hatten beide die Berichterstattung verfolgt. Sechs Monate war es jetzt her, und hin und wieder hörte man noch etwas darüber, zum Beispiel, dass der Stuntkoordinator bald vor Gericht kommen würde.

Scott McCaskill war zweiunddreißig gewesen und Stuntman für die Filmindustrie. Er hatte eine Verfolgungsszene gedreht, in der er für seinen Vater einsprang, und die Bremsen hatten nicht funktioniert. Der arme Kerl war in einen Baum gerast, und das Auto war explodiert. Und Conall hatte all das mitangesehen.

„Wir haben gehört, dass Sie das alles noch nicht richtig verarbeiten konnten“, sagte Sadie. Sie schlug die Beine übereinander und sah, wie der Schauspieler mit seinen stahlblauen Augen einen winzigen Augenblick ihre Knie betrachtete. „Es war bestimmt schwierig, Ruhe zu finden.“

„Deswegen haben sie mich ja hier eingesperrt“, sagte er knapp.

Owen stand auf und ging zum Fenster. „Ich weiß noch, wie ich Sie zum ersten Mal in Surrender gesehen habe.“

Er verschränkte die Arme und betrachtete nun ebenfalls die Meerjungfrau am Brunnen. Wie oft er wohl ins Fitnessstudio gegangen war, um solch einen Bizeps zu bekommen? Und wie hatte er genug Zeit dafür gehabt, zwischen all den Dates, die er in Boston gehabt haben musste?

„Sie waren ein echter Held, Mr. McCaskill. Das wusste ich damals schon.“

„DC Shawn war eine Figur. Der war der Held. Nicht ich.“

„Aber ungefähr zur gleichen Zeit gab es auch diese Werbung, in der es darum ging, Straßenhunde in Vietnam zu retten. Ich habe eine Freundin, die sich damals von ihrer Mutter zum Kino fahren ließ, um einen Pappaufsteller von Ihnen abzustauben. Sie musste sich anstellen, so lang war die Schlange. Alle wollten Sie – Sie, und nicht Ihre Figur – im Wohnzimmer. Den Helden der Hundewelpen.“

„Heute nicht mehr.“

Sadie blinzelte. Das war ihre Mutter gewesen, die das für sie getan hatte. Sie musste Owen davon erzählt haben, obwohl sie selten über ihre Familie sprach. Es schmerzte, daran zu denken, wie schön es vor Chris’ Tod gewesen war. Aber der Held der Hundewelpen – wie hatte sie das vergessen können?

Sie setzte sich auf die Stuhlkante und rückte näher an Conall McCaskill heran.

„Ich weiß noch, dass ich mein Taschengeld gespendet habe“, sagte sie. „Wenn mein Dad jetzt hier wäre, würde er noch genau wissen, wie sehr wir ihn angebettelt haben, einen Hund zu holen. Mein Bruder hat gar nicht mehr aufgehört damit.“

Sie verstummte. Conall McCaskill schien zu warten, dass sie noch etwas sagte, aber Owen sah sie mitleidig an, was sie gar nicht leiden konnte. Warum hatte sie nur ihren Bruder erwähnt? McCaskill machte sie nervös.

„Und ich weiß noch“, sagte sie und fuhr sich durch die offenen Haare, „dass ich Surrender erst gucken durfte, nachdem ich mein Zimmer aufgeräumt hatte. Ich war so schnell fertig wie noch nie. Dabei war Aufräumen das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte.“

„Du bist immer noch der unordentlichste Mensch, den ich kenne“, sagte Owen trocken.

Verblüfft sah sie ihn an. Wenn sie woanders gewesen wären, hätte sie ihm jetzt in die Seite geboxt. Doch zu ihrer Überraschung wurde McCaskills Gesichtsausdruck endlich ein wenig weicher.

Mann, Owen war gut. Natürlich musste man einem Promi erst einmal Honig um den Bart schmieren. Erst wenn er sich ausreichend geschmeichelt fühlte, würden sie sich weiter vorwagen. Owen war eben immer genau der Richtige, um die Stimmung aufzulockern. Jetzt erzählte er, dass seine Freundin und ihre Mutter den Pappaufsteller von DC Shawn nach Hause transportiert bekamen, aber die ganze Zeit der Pappkopf aus dem Fenster ragte.

Was den Owens Kommentar zu ihrer Unordentlichkeit anging, so würde sie sich später beschweren. Und ja, vielleicht war sie seit der Trennung von Callum wirklich ein wenig chaotischer geworden. Ein paarmal hatte Owen sich um den Abwasch gekümmert, während sie mit einem Bottich Eiscreme auf dem Sofa gegessen und sich selbst bemitleidet hatte. Einmal hatte er ihr Bett gemacht, und sie hatte mit rot geweinten Augen im Türrahmen gestanden. Er hatte ihren alten Teddybären aufs Kopfkissen gesetzt, und ihr war aufgefallen, dass Callum in all der Zeit nie das Bett gemacht hatte.

„Was ist eigentlich mit Ihnen beiden?“, fragte Conall McCaskill schließlich und sah Sadie an.

Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie die ganze Zeit den in der Sonne stehenden Owen angeschaut hatte, der in seiner hellen Dienstkleidung wirklich gut aussah.

„Was meinen Sie damit?“, fragte Owen ausweichend.

„Schicken die jetzt Paare her? Ich weiß, dass ein paar alleinstehende Ärzte fanden, es wäre hier zu abgelegen. Die sind schnell wieder gefahren.“

„Wir sind kein Paar“, sagte Sadie rasch, während ihr das Herz im Brustkorb herumsprang. „Wir sind befreundet. Wir kennen uns schon ewig.“

Conall McCaskill sah sie forschend an, vom Kinn bis zum Haaransatz. Seine vertrauten blauen Augen schienen nach einem Grund zu suchen, ihr nicht zu trauen. Owen runzelte die Stirn und musste das Muster der Schuppen auf dem Meerjungfrauenschwanz inzwischen in- und auswendig kennen.

Sie wechselte schnell das Thema und sprach über ihren Behandlungsplan. Sie wollte täglich Übungen für die Hand-Augen-Koordination machen, und Conall McCaskill sollte sich an eine bestimmte Ernährung halten, die PTSD-Patienten deutlich öfter half, als man gedacht hatte. Owen hatte Forschungsergebnisse dazu aus den USA mitgebracht.

„Befreundet, hm?“, murmelte Conall McCaskill, der sich vorbeugte, als er sah, dass seine Schnürsenkel offen waren. Er versuchte, sie neu zu binden, und unterdrückte einen Fluch. Seine Feinmotorik funktionierte offenbar nicht sehr gut.

„Genau.“ Sadie stand auf, damit er nicht das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.

Wobei er sie ja auch fast unverschämt gemustert hatte. Vielleicht war sie einfach von seiner Berühmtheit beeindruckt. Der Typ war ein echter Hollywoodstar gewesen. Sie wusste gleich mehrere Menschen, die ausflippen würden, wenn sie ihnen erzählte, wen sie hier behandeln sollte.

Owen drehte sich zu ihnen um. „Wir sind hier, um Ihnen zu helfen, Sir.“

Allerdings sah er dabei Sadie an, und sie meinte, immer noch Mitleid in seinem Blick zu spüren. War er nur hier, weil er Mitleid mit ihr gehabt hatte? Wegen ihrem Bruder, wegen Callum, wegen …

Nein. Sicherlich nicht. Doch nicht Owen. Owen tat alles nur für sich selbst.

Außer wenn er sich um mich kümmert … Dann ist er völlig selbstlos. Es gab schon so viele Frauen in seinem Leben, aber für mich ist er immer da gewesen.

Sadie schob diese neue Erkenntnis ganz weit weg von sich, bevor sie noch anfing, an ihrer rein platonischen Beziehung zu zweifeln.

Als Nächstes besuchten sie Vivek Kumar, einen reichen Geschäftsmann, der nervös seine Hände knetete.

Letzten Winter war er während einer Geschäftsreise nach Colorado auf vereisten Treppenstufen ausgerutscht und auf den Kopf gefallen. Seitdem hatte er Schwierigkeiten mit dem Sprechen und der körperlichen Koordination.

„Und ich höre immer noch, wie das Eis unter meinem Kopf knackst“, sagte er mitleidserregend.

Durch ein paar Untersuchungen fand Sadie heraus, wie gut der Patient sich an Anweisungen halten und in verschiedenen Richtungen durch das Zimmer laufen konnte. Immer wieder ging er nach links statt nach rechts. Owen machte sich hastig Notizen und entwickelte vermutlich schon einen eigenen Plan, den sie in die Behandlung integrieren konnten.

Mit ihm zusammenzuarbeiten, Patienten zu heilen, machte ihr jetzt schon Freude. Allerdings fand sie es seltsamerweise genauso schön, seinen Arm um ihre Schultern zu spüren, so wie heute Morgen. Nur eine Sekunde hatte das gedauert, und es war seine ganz normale Art der Begrüßung gewesen. Trotzdem hatte die Berührung heißes Verlangen in ihr geweckt – und das hatte sie sehr überrascht.

Sie war sich nicht sicher, ob er etwas bemerkt hatte, aber er hatte ihr schnell tollpatschig durch die Haare gewuschelt wie einem kleinen Hund. Ihre Gesichtsfarbe war erst nach dem Frühstück wieder normal gewesen.

Ein paar Stunden später wollten sie sich zum ersten Mal das berühmte Gewächshaus mit seinen Farnpflanzen ansehen, in dem dieses seltsame Umtopfen stattfinden sollte.

„Wie hast du letzte Nacht geschlafen?“, fragte Owen.

„Warum?“

Unter den wenigen Menschen, die bereits um den großen runden Tisch im Gewächshaus saßen, entdeckte Sadie sofort ihre Patientin Portia DeMagio. Sie hatten heute früh schon kurz gesprochen, und die Frau hatte gesagt, dass sie sich nicht wohlfühle. Nun war sie doch in das feuchte Glashaus gekommen und drückte sich eine Hand gegen die Stirn.

Die schmale, elegant gekleidete Sexualforscherin lebte mit ihrem Ehemann, einem Filmregisseur, in Edinburgh und war wegen ihrer Cluster-Kopfschmerzen hier. Oft litt sie wochen- oder monatelang, bis die Schmerzen wieder für eine ganze Weile weggingen. Ein chirurgischer Eingriff war nicht angebracht, und Sadie überlegte, wie sie Portias aktuellen Behandlungsplan besser anpassen konnten.

Owen blieb stehen. „Ich habe mich nur gefragt, ob du in der Nacht etwas gehört hast.“

Vivek Kumar war ebenfalls da und ließ seinen großen, schweren Körper langsam auf einen Hocker zwischen den Farnen und Blumen nieder.

„Ja, da hat die ganze Zeit etwas geklopft, ein Rohr oder eine Tür“, sagte sie.

Vivek merkte, dass er zu weit weg vom Tisch saß, rückte heran und landete zu nah neben Portia – sein Raumverständnis hatte deutlich gelitten. Sadie half ihn mit dem Hocker, und Portia lächelte nachsichtig.

„Ich habe aber nicht herausgefunden“, sagte sie an Owen gewandt, „wo das Geräusch herkam.“

„Ich habe das nämlich auch gehört.“ Kein Wunder, Owens Zimmer lag direkt neben ihrem. „Ich dachte, dass du vielleicht ein Fenster aufgelassen hast.“

„Nein, habe ich nicht.“

Er beugte sich vor und grinste. Seine Lippen kitzelten sie am Ohr. „Vielleicht war es der Geist …“

„Lass das“, zischte sie.

Eine der Trainee-Pflegerinnen namens Parminder blickte auf. Sie verteilte gerade Schaufeln und die kleinen Farnpflänzchen in Plastiktöpfen, die die Gäste hier umtopfen sollten. Eine Achtsamkeitsübung.

„Lass was?“, fragte Parminder und zog ihre perfekt gezupften Brauen hoch.

Sadie war bereits aufgefallen, dass sie Owen immer ein wenig zu lang anschaute – was sie mehr ärgerte, als sie je zugegeben hätte. Es war doch Owens Sache, was er machte und mit wem. Nur weil er mit ihr hier war, hieß das ja nicht, dass er ihr Tag und Nacht seine Aufmerksamkeit schenken musste. Es würde bestimmt nicht lange dauern, bis ihm Parminders Schwärmerei auffiel.

„Ich habe nur vermutet“, sagte Owen, „dass es in unserem Flügel einen Geist gibt.“

Vivek verdrehte die müden Augen. „Es gibt keine Geister.“

„Genau“, bestätigte Sadie und setzte sich auf den metallenen Hocker neben Owen. Sie nahm sich eine der kleinen Schaufeln. „Owen beliebt zu scherzen.“

Parminder räusperte sich und blickte nervös zwischen ihnen hin und her. „Während meiner ersten Nacht hier habe ich etwas im Garten gesehen. Zuerst dachte ich, es wäre einer der Gäste, aber es war echt spät, und sie schließen ja nachts immer die Türen ab.“

„Dann war es wahrscheinlich der Gärtner.“

„In einem langen weißen Kleid?“

Sadie schluckte. Im gleichen Moment landete ein Vogel auf der Glaskuppel des Gewächshauses, und sie zuckte erschrocken zusammen. Natürlich gab es keine Geister, aber allein der Gedanke, hier draußen etwas Paranormalem zu begegnen, verursachte ihr Übelkeit.

„Viele Leute tragen lange weiße Kleider“, sagte sie wie nebenbei und stieß ihre Schaufel in einen der Pflanzenkübel, um ihren Puls zu beruhigen. „Selbst Owen hatte schon mal eins an. Weißt du noch, bei der Halloween-Party im Imperial College? Du bist als Zombiebraut gegangen.“

Owen lachte. Vivek und Parminder sahen sie beide neugierig an, ganz ähnlich wie Conall McCaskill vorhin.

„Ihr wart zusammen auf dem College?“, fragte Parminder.

Sadie nickte mit erhobenem Kinn und fragte sich, warum sie plötzlich Besitzansprüche anmeldete, als wäre Owen ein Knochen und sie ein gefährlicher Wachhund. Sie wollte gerade noch eine lustige Geschichte über ihren alten Collegefreund erzählen, als Portia DeMagio sich erneut an den Kopf griff und die Schaufel fallen ließ. Die Frau kippte nach vorn und in ihre Blumenerde.

„Um Himmels willen!“ Vivek sprang auf, bevor sich sonst jemand bewegen konnte, aber Owen half ihm, sich wieder hinzusetzen, während Sadie und Parminder sich um Portia kümmerten und sie aufrecht hinsetzten. Ihr Mund war weit geöffnet.

„Sie ist völlig weg.“ Owen runzelte die Stirn und kam zu ihnen herüber.

Unterdessen wischte Sadie ihr sorgsam den Dreck aus dem Gesicht. Wenn Portia nur gehört hätte und im Haus geblieben wäre, wo sich doch die ersten Symptome schon gezeigt hatten.

„Sie meinte, sie merkt normalerweise frühzeitig, wenn so eine schwere Attacke ansteht“, flüsterte sie Owen zu.

„Mit den Medikamenten, die sie nimmt, sollte sie solche Ausfälle eigentlich gar nicht mehr haben“, antwortete er.

Parminder funkte nach Hilfe, und ein Pfleger kam mit Sauerstoff herbeigeeilt. Portia blinzelte bereits wieder, kam zu sich und entschuldigte sich für ihre Ohnmacht, aber Owen wollte davon nichts hören. Auf ihrer Stirn glänzte der Schweiß.

„Wir zwei müssen einen Termin machen, Portia“, sagte er streng. „Ihre aktuellen Medikamente wirken offenbar nicht.“

„Bis jetzt hat noch überhaupt nichts gewirkt“, sagte sie durch die Sauerstoffmaske.

Owen drückte ihr zuversichtlich die Hand. „Wir kriegen das schon hin. Deswegen sind wir ja hier.“

Er half Portia den Kiesweg hinauf und verschwand im Haus. Sadie hörte noch, dass Portia sich wieder und wieder entschuldigte, und fragte sich, wie sie bisher mit ihrer Krankheit zurechtgekommen war. Sie schien sich zu schämen. Ob ihr Ehemann dachte, dass das hier ihre letzte Chance war? Wie oft hatte er sie wohl schon voller Angst vom Boden aufgehoben?

Cluster-Kopfschmerzen waren nicht lebensbedrohlich, aber sie hatte einmal die Beschreibung eines Kranken gelesen: Als ob mein Hirn von einem wütenden Kobold mit einer Machete angegriffen wird.

Sie und Owen würden ihr helfen. Allerdings musste sie daran arbeiten, nicht mehr so viel auf Owens neuen trainierten Körper zu starren. Wie hatte er nur so heiß aus Boston zurückkommen können, dass er sie ständig ablenkte?

4. KAPITEL

Nach zwei Wochen auf der Insel und einigen Ausflügen auf dem See hatte Owen den Dreh mit dem Angeln ganz gut raus. Wer sich ihm allerdings immer noch widersetzte, war Conall McCaskill.

Ganz egal, wie sehr er versuchte, den alten Schauspieler während der Sitzungen zum Reden zu bringen – er antwortete immer nur mit einem Grunzen und starrte ansonsten an ihm vorbei oder auf die Uhr, um zu zeigen, dass er wirklich keine Lust auf diesen Kram hatte.

Das war fast so verwirrend wie die Tatsache, dass er sich seit Neuestem zu Sadie hingezogen fühlte. Vielleicht lag es daran, dass sie zusammenarbeiteten und er sah, wie sie mit den Patienten und Patientinnen umging. Seit dem Vorfall im Gewächshaus kümmerte sie sich noch intensiver um Portia und saß jeden Abend bei ihr im Zimmer, während sie las oder in ihr Tagebuch schrieb. Sadie wollte sie nicht allein lassen, damit der nächste Schub Portia nicht wieder unvorbereitet traf.

Vielleicht lag es auch daran, dass sie sich wegen Amerika so lange nicht gesehen hatten … oder dass er seit einer ganzen Weile keinen Sex gehabt hatte … Letzte Nacht hatte er von ihr geträumt, und der Traum ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Owen warf die Angelschnur in den See. Er saß im Motorboot des Rothesay Recovery. Das große Haus thronte am Ufer, aber sie waren ein kleines Stück rausgefahren. Sadies und Conalls Köder hüpften bereits auf dem blauen Wasser. Natürlich sah Sadie in ihrer Dienstkleidung verdammt süß aus. Ihr Körper war genauso in Schuss wie ihr Hirn.

Genau, ihr Hirn, denk an ihr Hirn. Er ärgerte sich über seine unanständigen Gedanken und die Träume. Ihr Körper war tabu.

Aber es war immer noch besser, als an seinen Vater zu denken. Vorhin hatten sie telefoniert, und sein Vater hatte am Schluss ganz nebenbei erwähnt, dass er sich verlobt hätte.

Owen biss die Zähne zusammen. Jay Penner hat es erneut getan. Die Tinte auf seiner letzten Scheidungsurkunde war noch nicht einmal trocken, und er hatte sich schon wieder verlobt. Diese Michaela würde seine vierte Frau sein. Oder seine fünfte? Owen hatte den Überblick verloren.

„Waren Sie schon öfter angeln?“ Sadies Stimme unterbrach seine Gedanken. Sie versuchte sich an Smalltalk mit Conall, den sie praktisch auf das Boot gezwungen hatten.

„Ein paarmal mit meiner Kollegin aus Ascension 2“, antwortete er gelangweilt.

Owen hielt sich bewusst zurück. An diesem Vormittag hatte er die Aufgabe, die Laune des Schauspielers und seine Motorik zu beobachten. Hatte sie sich verbessert, seit er antientzündlich aß? Alkohol hatte er seit über einem Monat nicht getrunken, aber Owen vermutete, dass seine restliche Ernährung ihm bei seiner PTSD nicht geholfen hatte.

Posttraumatische Belastungsstörungen waren hinterhältige Dinger. Manchmal meinte er, an seiner Mutter ebenfalls Symptome zu erkennen – verursacht durch ihren Ex. Seinen Vater.

Als Owen elf Jahre alt gewesen war, hatte Jay Penner ihn und seine Mutter für eine Frau verlassen, die er während eines Erste-Klasse-Flugs aus Hongkong kennengelernt hatte. Edwina hieß sie. Und mit jeder neuen Beziehung und jeder neuen Hochzeit, die sein Vater feierte, hatte seine Mutter nur noch mehr gelitten.

Es half auch nicht, dass sie beide das Web-Unternehmen nicht aufgeben wollten, das sie gemeinsam aufgebaut hatten. Aber vor allem schien sich seine Mutter gern zu quälen: Sie verachtete ihren Ex, konnte sich aber auch nicht von ihm lösen. Irgendwo tief im Inneren liebte sie ihn wohl noch.

„Na, schon ein paar Seeungeheuer gefangen, Owen?“, rief Sadie. Sie trug eine neue Sonnenbrille, die ihr gut stand.

Conall grunzte verärgert, als sie ihre Leine mit einem lauten Schrei über die Reling warf.

„Noch nicht viele“, antwortete er.

Als er seinem Vater von seiner neuen Stelle hier oben in Schottland erzählte und dass er mit Sadie arbeiten würde, hatte Jay Penner etwas Zustimmendes vor sich hin gemurmelt – das sich aber nicht auf Schottland bezog, sondern auf Sadie und ihr gutes Aussehen. Er hatte wohl ein paar Fotos von ihr auf Owens Social-Media-Kanälen gesehen. Persönlich getroffen hatten sie sich noch nie – das wäre Owen viel zu peinlich gewesen.

Owen lauschte dem Smalltalk zwischen Sadie und Conall, der immer noch nicht lockerer geworden war. Verrückt, wie ein Telefonat mit seinem Vater ihn immer wieder aus der Bahn werfen konnte. Er wusste genau, wie er Owen wütend machen konnte. Dass der Mann immer noch nicht gelernt hatte, dass eine Ehe etwas anderes war als Mikrowellenfutter!

Wahrscheinlich würde bald auch seine Mutter anrufen und ihm das sagen, was sie immer sagte: Wehe, wenn du das Leben irgendeiner Frau so ruinierst, wie dein Vater meins ruiniert hat!

Was er alles schon von ihr gehört hatte. Dass die Penners – auch schon sein Großvater und Urgroßvater – immer viel Geld und wenig Gewissen hatten. Dass sie trotzdem gedacht hatte, sie könne ihren Vater zähmen. Dass das aber Unfug war, weil das niemandem je gelingen würde. Seine Mutter bereute immer noch, sich so intensiv auf jemanden eingelassen, ihn geheiratet und ein Kind mit ihm bekommen zu haben.

Sadies Ruf brachte ihn zurück in die Gegenwart. Sie hatte ihre Angelschnur einholen wollen, und jetzt hing ihr der Haken im Haar. Er unterdrückte ein Lachen, legte seine eigene Angel zur Seite und kletterte zu ihr hinüber. Er selbst war ja schon kein großer Angler, aber sie war noch viel schlimmer.

In ihren vollen honigfarbenen Haaren suchte er vorsichtig nach dem Köder.

„Danke, das kann ich selbst“, sagte sie plötzlich und berührte seine Finger, mit denen er gerade versuchte, das Haar wieder glattzustreichen. Es war so weich und seidig, dass er gar nicht aufhören wollte.

Er räusperte sich. „Vor dir müssen die Fische wirklich keine Angst haben.“

„Sehr lustig“, sagte sie und versuchte vergeblich, ihr Gesicht hinter ihren Haaren zu verbergen. Ihre Wangen leuchteten im Sonnenlicht.

Conall hörte nicht auf zu grinsen. „Habe ich Ihnen schon erzählt, wie ich meine Frau kennengelernt habe?“

„Nein“, sagte Sadie verblüfft. Sie zupfte an ihrer Angel herum, während Owen sich wieder auf seinen Platz setzte. Sein Herz schlug viel zu laut, nur weil er Sadie berührt hatte.

„Maeve war Produktionsassistentin bei einem meiner Filme. Das hübscheste Mädchen weit und breit. Und tiefschwarzen Humor hatte sie.“ Conall sah Owen an, als ob sie da etwas gemeinsam hätten. „Sie war die Einzige am Set, die mich wie einen Menschen behandelte, nicht wie einen großen Star, dem man immer zu Diensten sein musste. Das hat mir gefallen.“

Owen wickelte seine Angelschnur auf. Er musste nicht nachfragen, warum Conall in diesem Moment seine Frau erwähnte. Sicherlich hatte er das Gefühl, dass Owen und Sadie sich wie ein Ehepaar verhielten. Und das war wohl nicht ganz falsch. Sie hatten keinen Sex – das war doch immer so, wenn man verheiratet war, oder nicht? Aus wilder Leidenschaft wurde Gewohnheit. Die Anziehung verschwand.

Seine Mutter hatte schon über seinen Vater gemeckert, als sie noch zusammen waren. Owen waren diese Tiraden immer furchtbar unangenehm gewesen, und am schlimmsten war es, als einmal ein Schulfreund zum Essen da war und sie nicht aufhörte zu schimpfen.

„Ich glaube einfach nicht, dass Maeve mich hergeschickt hat“, sagte Conall. „Gerade sie.“

„Sie hofft, dass Sie wieder gesund werden“, sagte Sadie sanft.

„Sie trauert doch selbst. Ich habe gesagt, sie soll mitkommen.“

Aber sie hat sich nicht jeden Abend bis zum Umfallen betrunken, dachte Owen.

Sadie fragte Conall, wie sein Kennenlernen mit Maeve weitergegangen war. Sie war einfach neugierig, aber nicht nur, weil sie mit einem bekannten Schauspieler sprach, sondern auch, um mehr über seinen Zustand zu erfahren. Sie wussten inzwischen, dass Conall unter Anhedonie litt, die es ihm unmöglich machte, Freude zu empfinden oder auszudrücken.

Für seine Frau musste das schlimm sein.

Maeve McCaskill hatte die Filmbranche vor Jahren aufgegeben, um eine erfolgreiche Reihe teurer Kochutensilien und Kochbücher auf den Markt zu bringen, die sie hauptsächlich über ihren YouTube-Kanal bewarb. Sie war ein großer Hit mit ihren Kochshows und machte ihr Geld zudem mit Werbeeinnahmen, weil sie zwischendurch erzählte, wie diese Heißluftfritteuse oder jenes Muffinblech sie besonders begeisterte.

Owen interessierte das kein bisschen, aber Sadie war ein großer Fan und hatte sogar eine der Schürzen, die Maeve verkaufte. Unglaublicherweise war diese Schürze rosa und hatte Rüschen, und Sadie sah aus wie eine Hausfrau aus den Fünfzigern – und gleichzeitig extrem süß. Einmal, als sie beide zu viel von einem Gin-Holunderbeeren-Mix intus hatten, hatte sie in der Küche in dieser Schürze herumgetanzt, und ihm war es schwergefallen, ihr sie nicht vom Leib zu reißen und sie auf die Arbeitsfläche zu heben.

Verdammt, jetzt stellte er sich vor, wie es sein musste, Sex in Sadies Küche zu haben. Es war ja nicht so, dass er noch nie darüber nachgedacht hatte. Er war schließlich ein Mann. Aber sie war nicht interessiert, und er würde sich hüten, damit anzufangen. Sie würde nur sagen, dass sie nicht als weitere Trophäe in seinem Regal landen wollte.

So ärgerlich das war – er schätzte ihre Ehrlichkeit. Sie verstellte sich nicht und war damit anders als die anderen Mädchen, die ihn ansprachen, ob in London oder Boston. In Amerika war er auch deswegen ins Fitnessstudio gegangen, um seine Ruhe zu haben …

„Stimmt’s, Owen?“

„Hm?“ Er drehte sich um.

„Ich habe Mr. McCaskill vorgeschlagen, seine Frau zu der Jahresgala hier im Rothesay einzuladen. Du weißt schon.“

Owen erinnerte sich vage an ein paar Plakate.

„Und Mr. McCaskill glaubt, dass seine Frau nicht kommen will“, fuhr Sadie fort.

„Warum sollte sie nicht kommen wollen?“, fragte Owen.

Es war interessant, Sadie beim Beobachten zu beobachten. Jedes schiefe Lächeln des Mannes, jedes Grunzen und Seufzen war ein Teil seiner Geschichte, die er ihnen nicht verraten wollte. Jede Kleinigkeit half ihnen herauszufinden, wie sie ihm helfen konnten, auch wenn er sich dessen gar nicht bewusst war.

„Glauben Sie wirklich, dass sie nicht kommen will?“, fragte Sadie vorsichtig. „Oder wollen Sie gar nicht, dass sie Sie hier sieht? Sie müssen sich nicht schämen. Wir alle brauchen irgendwann Hilfe.“

Conalls Gesicht verschloss sich wieder. Man konnte die Spannung in der kühlen Morgenluft fast spüren, als seine Hände sich langsam zu Fäusten ballten.

„Sie wissen doch überhaupt nicht, was wir alles durchgemacht haben“, grummelte er. „Fahren Sie mich zurück.“

Plötzlich war da ein aggressiver Ausdruck in Conalls Augen. Owen stand langsam auf und stellte sich wie zufällig zwischen Conall und Sadie. Der Blick erinnerte ihn an die Figur des DC Shawn, kurz bevor er eine Handgranate auf ein herannahendes Kriegsschiff schmiss.

„Sir“, sagte Sadie, „wenn Sie …“

„Sie sollen mich zurückfahren!“ McCaskill kniff die Lippen zusammen, seine Augen dunkel wie ein Gewitter. Seine erweiterten Pupillen zeigten Owen, dass ihr kleiner Ausflug wirklich vorbei war. Owen spürte, wie Sadie nach seinem Handgelenk griff und bestätigend zudrückte.

„Okay“ sagte er schnell. „Wir fahren zurück.“

Conall wurde an dem hölzernen Anlegesteg von Parminder in Empfang genommen, und Owen und Sadie entschieden sich, noch einmal auf den See hinauszurudern. Sie hatten noch zwei Stunden Zeit bis zu ihrem nächsten Termin, und Owen hatte vorgeschlagen, ihr das Angeln beizubringen, obwohl sie behauptete, dass er es genauso wenig konnte wie sie selbst.

Aber sie war still und dachte offensichtlich noch über Conall nach … oder darüber, wie er ihr den Angelhaken aus dem Haar geholt hatte … Na ja, wahrscheinlich war das nur für ihn so interessant gewesen. Ihr Duft konnte ihn umhauen.

„Conall trinkt ja schon eine Weile nichts mehr“, sagte sie, „aber die Anhedonie hat noch nicht nachgelassen.“

Ihre Angelschnur hing über dem Bootsrand, und die Sonne spielte auf ihrem Gesicht.

„Das habe ich bemerkt.“

Du hast ja keine Probleme damit, Freude zu zeigen und das Leben zu genießen“, sagte sie.

Jetzt funkelten ihre Augen wieder, aber Owen fand ihre Bemerkung nicht witzig. Er warf seine Angel ein wenig heftiger aus, als er es beabsichtigt hatte. „Kommt drauf an, von welcher Art Freude wir sprechen.“

Sadie musterte sein Gesicht. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“

„Du glaubst immer so viele Sachen über mich zu wissen, Sadie Mills.“

Sie schnaufte. „Ich glaube das nicht nur zu wissen. Dir ist Vergnügen wichtig, und du bist immer auf der Suche danach.“

„Und was ist daran bitte schön schlimm?“

Sadie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber schloss ihn dann doch wieder. Es ärgerte ihn, dass sie ihn so sah – als einen Lebemann wie sein Vater, nur mit dem Unterschied, dass er garantiert niemanden heiraten wollte. Und bis vor Kurzem war das vielleicht auch so gewesen. Aber seit Boston war er mit keiner einzigen Frau zusammen gewesen und hatte stattdessen die ganze Zeit Sadie vermisst.

„Wenn du damit sagen willst“, erwiderte er nun, „dass ich gern schöne Dinge in meinem Leben habe – zum Beispiel, dass ich meine Zeit gern mit dir verbringe, dass ich gern hier bin, dass ich den Menschen helfen will … Dann ja, dann ist mir Vergnügen wichtig. Aber wenn du damit sagen willst, dass ich mit zu vielen Frauen schlafe …“

„Aber … genau das machst du doch, oder?“

„Nicht mehr. Nur zu deiner Information.“

Sadie warf erneut ihre Angel aus und starrte auf das Wasser. „Tut mir leid.“

Na toll. Sie hatte nur herumwitzeln wollen, und er hatte eine große Sache daraus gemacht. Aber er hatte sich wirklich geändert. Er achtete viel mehr darauf, mit wem er seine Zeit verbrachte und wer oder was seine Aufmerksamkeit wert war.

Sadies seidiges Haar flatterte im Wind. Er saß so nah neben ihr, dass die Strähnen ihn im Gesicht kitzelten. Er schloss die Augen und genoss das Gefü...

Autor

Scarlet Wilson
<p>Scarlet Wilson hat sich mit dem Schreiben einen Kindheitstraum erfüllt, ihre erste Geschichte schrieb sie, als sie acht Jahre alt war. Ihre Familie erinnert sich noch immer gerne an diese erste Erzählung, die sich um die Hauptfigur Shirley, ein magisches Portemonnaie und eine Mäusearmee drehte – der Name jeder Maus...
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Louisa Heaton
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