Julia Ärzte zum Verlieben Band 52

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Es war doch nur ein Kuss! von Lennox, Marion
Hektik, Tränen und Hoffnung: Nach ihrer ersten Nacht im Sydney Harbour Hospital sehnt sich Krankenschwester Lily nach ein wenig Zärtlichkeit. Gerne erwidert sie den heißen Kuss von Dr. Luke Williams - und ahnt nicht, welch schlimme Folgen diese eine Umarmung hat …

Verliebt in den feurigen Dottore von Hardy, Kate
Affäre ja - Liebe nein! Seine Kollegin Susan fasziniert ihn, doch von einer Beziehung will Dr. Marco Ranieri nichts wissen. Gut, dass Susan das genauso sieht! Bis sich alles ändert - und Marco plötzlich vor der schwersten Entscheidung seines Lebens steht …

Sechs Wochen bis zum Glück von Matthews, Jessica
Er will sie nicht verlieren, er darf sie nicht verlieren! Gabe ist fassungslos, als ihm Leah die Scheidungspapiere überreicht. Liebt sie ihn nicht mehr? Er bittet sie um sechs Wochen Zeit. Zeit, in der er um Leah kämpfen wird. Denn ein Leben ohne sie gibt es für ihn nicht mehr …


  • Erscheinungstag 26.09.2012
  • Bandnummer 0052
  • ISBN / Artikelnummer 9783954461981
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marion Lennox, Jessica Matthews, Kate Hardy

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN, BAND 52

MARION LENNOX

Es war doch nur ein Kuss!

Nicht schon wieder! Lily wollte den Lästermäulern ihres Dorfes entgehen – und wird schon an ihrem ersten Tag als Krankenschwester Mittelpunkt des Klatsches im Sydney Harbour Hospital. Nur, weil sie nach einer harten Nacht die Umarmung von Dr. Luke Williams erwidert hat, entfacht sie einen Sturm der Empörung. Einen Sturm, der ihre Liebe zu zerstören droht …

JESSICA MATTHEWS

Sechs Wochen bis zum großen Glück

„Sechs Wochen. Das ist alles, worum ich dich noch bitte.“ Sechs Wochen, um ihre Ehe zu retten? Leah weiß, dass sie ihrem Mann nie geben kann, was er sich wünscht: eine Familie. Dennoch begleitet sie Gabe auf seiner Hilfsmission, um den Ärmsten der Armen zu helfen. Immer voller Angst vor dem Tag, an dem sie ihrer großen Liebe für immer „Adieu“ sagen muss …

KATE HARDY

Verliebt in den feurigen Dottore

Eine Affäre mit dem italienischen Kollegen? Susan kann sich sowieso nicht vorstellen, dass ein Mann sich mit ihr eine gemeinsame Zukunft aufbauen will – also sagt sie Ja zu Marcos Angebot. Die Ärztin genießt das erotische Prickeln unter der Sonne Capris, bis es sie wie ein Schlag trifft: Sie ist schwanger. Und Marco will auf gar keinen Fall Vater werden …

1. KAPITEL

Luke Williams hatte seit Tagesanbruch operiert. Er wollte nur noch ins Bett.

Stattdessen musste er sich mit hysterischen Teenagern herumschlagen. Dass der Chefarzt und die Unfallärztin – verbal – die Duell-Pistolen ausgepackt hatten, machte es nicht besser.

„Du sagtest multiple Verbrennungen. Vier Jungen. Jetzt sieh sie dir mal an. Ich habe die halbe Nacht damit verbracht, ein Kind mit kollabierter Lunge zu stabilisieren, und dann weckst du mich wegen einer Lappalie …“

Lukes Chef schäumte vor Zorn, aber Dr. Evie Lockheart ließ sich nicht einschüchtern.

„Mir wurden vier Kinder angekündigt, die in der Fleischfabrik in einen Kessel mit heißem Fett gefallen waren. Meinst du nicht, das ist Grund genug, Luke und dich herzuholen? Ich wollte die Besten.“

„Luke hat auch anderes zu tun. Schlafen, zum Beispiel. Und heiß? Das Zeug kann höchstens lauwarm gewesen sein. Das hättest du prüfen müssen.“

„Und kostbare Zeit verschwenden? Komm wieder runter, Kennedy!“

Luke schnappte nach Luft. Hier rasselten zwei starke Persönlichkeiten aneinander: Evie Lockheart aus der Familie des Krankenhausgründers und Finn Kennedy, der wortkarge Leiter der Chirurgie am Sydney Harbour Hospital, dem man besser nicht in die Quere kam. Beide hochintelligente, hervorragende Mediziner, für die der Beruf an erster Stelle stand. Das bot Stoff für Konflikte. Und dieser Konflikt drohte auszuarten.

Einen Moment lang überlegte Luke, ob er sich verdrücken sollte.

Nein.

In Gedanken überschlug er die Fakten: Schulferien. Ein Fleisch verarbeitender Betrieb in einem Vorort von Sydney, ungenügend gesichert. Vier Bengel, fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, die sich gegenseitig zu einer Mutprobe anstifteten: auf Inlineskatern über die Planken, die auf einem 8000-Liter-Bottich lagen. Wer ist am schnellsten?

Die Jungen hatten Glück gehabt, dass die Fettschmelze gerade erst in Gang gesetzt worden war. Im Grunde waren sie in ein etwas zu heißes Bad gefallen. Kinder und Eltern boten ein Bild des Jammers, wie er durch das Fenster des Stationszimmers sah. Eine blonde Krankenschwester wischte behutsam Talg vom Bein eines Jungen, doch die Haut darunter schien nur leicht verbrüht.

Luke beschloss zu bleiben. Wenigstens, bis die Lage sich beruhigt hatte. Fragte sich nur, was er zuerst tun sollte. Den Streit schlichten? Sich die Jungen ansehen? Der Krankenschwester einen zweiten Blick gönnen?

Sie ist süß, dachte er. Ein paar vorwitzige blonde Locken waren aus der Haube gerutscht, und noch während Luke die junge Frau beobachtete, schob sie sie wieder zurück. Dann sah sie auf, in seine Richtung.

Ihre Blicke trafen sich, und Luke entdeckte ein Lachen in ihren Augen, das sie aber schnell unterdrückte.

Sie hatte bestimmt gesehen, was hier los war, auch wenn sie die Auseinandersetzung nicht hören konnte. Lachte sie über die beiden Streithähne? Lieber nicht, warnte er sie stumm. Noch nicht einmal er könnte sich das leisten, und er arbeitete seit fast zehn Jahren hier. Trotzdem hätte er fast zurückgelächelt.

„Falls es dir entgangen sein sollte“, holte Evie zum nächsten Schlag aus, „herrscht im gesamten Krankenhaus wegen der Noro-Epidemie Pflegenotstand. Ich habe nicht genug Krankenschwestern, um jeden dieser Jungen erst zu säubern und durchzuchecken, bevor ich dich verständige. Bei Verdacht auf Brandwunden und schweres Trauma ist es mein Job, Kollegen hinzuzuziehen.“

„Sie sind nicht traumatisiert“, konterte Finn scharf.

Körperlich vielleicht nicht so sehr, dachte Luke und betrachtete wieder die Jungen, die wie begossene Pudel dasaßen. Nach dem ersten Schrecken hatte sich der Zorn der Eltern über ihnen entladen. Zwei der Jungen weinten. Luke ahnte, wie demütigend das für sie sein musste in einem Alter, in dem Männlichkeit so wichtig war.

„Wenn du glaubst, dass deine Position dir das Recht gibt …“, knurrte Finn Kennedy die Lockheart-Erbin an.

Luke stöhnte stumm auf. Jetzt geht’s richtig los. Die kleine blonde Krankenschwester war im Lagerraum verschwunden. Gute Idee, dachte er und überlegte, ob er ihr folgen sollte.

Nein. Finn war sein direkter Vorgesetzter. Evie war die Enkelin des Krankenhausgründers. Falls ihm also sein Job lieb war, blieb er, wo er war.

Allerdings machte er sich in Wirklichkeit keine Sorgen um seine Stelle. Als Leiter der Plastischen Chirurgie hatte er sich einen Ruf erworben, der ihn praktisch unkündbar machte. Aber Finn war nicht nur sein Chef, sondern auch sein Freund. Und in den letzten Wochen war Luke aufgefallen, dass bei Finn schnell die Sicherung durchbrannte.

Zwischen ihm und Evie hatte es schon am ersten Tag geknallt. Obwohl sie als Ärztin in der Hierarchie weit unter ihm stand, hatte sie es gewagt, eine seiner Entscheidungen anzuzweifeln. Als klar war, dass sie sich geirrt hatte, entschuldigte sie sich, aber Finn ließ noch einen arroganten Kommentar vom Stapel, der ihre Familie betraf, und seitdem waren ihre Begegnungen … nun ja, interessant.

Doch jetzt ging selbst Finn zu weit. Luke gefiel nicht, was sich da zusammenbraute, und er machte sich Sorgen um seinen Freund.

Gedankenverloren blickte er wieder zum Fenster … Die Schwester hatte er hier noch nie gesehen. Sie war hübsch. Tolle blaue Augen. Sie erinnerten ihn an klares, lichtdurchflutetes Wasser an einem heißen Sommertag. Eintauchen und alles andere vergessen … Es muss ihr erster Tag sein, überlegte er. Diese Augen wären ihm aufgefallen.

Wo war sie jetzt?

Vielleicht suchte sie einen Wasserschlauch, um die Streithähne zu trennen?

„Unter dem ganzen Dreck könnten sie Verbrennungen zweiten und dritten Grades haben“, zischte Evie.

„Dann gäbe es Anzeichen für einen Schockzustand. Die vier brauchen eine anständige Dusche, mehr nicht.“

„Und hinterher eine gründliche Untersuchung. Soll ich dich dann noch mal holen?“

„Sie werden uns nicht brauchen. Ich tippe auf Verbrennungen ersten Grades … höchstens.“

„Können wir das zusammen herausfinden?“

Blauauge war direkt aus dem Lagerraum ins Kriegsgebiet marschiert und stand nun vor ihnen, die Arme voll mit knisterndem Plastik. „Entschuldigung“, meinte sie munter, als wäre ihr die geladene Stimmung nicht bewusst. „Natürlich habe ich hier nichts zu sagen, aber in den letzten zwei Jahren war ich in einem Krankenhaus auf dem Land. Da ist jeder eingesprungen, wo er gebraucht wurde. Wir haben vier Kinder und vier Mediziner, wenn Sie mich dazuzählen. Was halten Sie davon, wenn jeder sich Schutzkleidung überzieht, sich einen der Jungen schnappt, ihn unter die Dusche stellt und bei der Gelegenheit checkt, was er abbekommen hat? Die Arbeit auf mehrere Schultern verteilen?“

Wow. Luke traute seinen Ohren nicht. Wusste sie, wem sie hier Ratschläge erteilte? Dem leitenden Chefarzt der Chirurgie. Dem Chefarzt der Plastischen Chirurgie. Einem Mitglied der Lockheart-Familie … drei der einflussreichsten Ärzte am Sydney Harbour.

Sie trug nicht einmal die Schwesternkleidung des Krankenhauses. Eine Vertretungsschwester?

Erwartungsvoll hielt sie ihnen die Schutzanzüge entgegen.

Was blieb ihnen anderes übrig, als sie zu nehmen? Alle Krankenschwestern waren beschäftigt. Entweder mit Noro-Patienten oder den Burschen, die vorhin nach einer Prügelei eingeliefert worden waren. Luke hatte sie gesehen, als er sich nach Dienstschluss auf den Nachhauseweg machen wollte. Allesamt sternhagelvoll mit Platzwunden, die genäht werden mussten.

Unterm Strich war Evie allein mit einer einzigen Krankenschwester, als die fettbeschmierten Jungen mit Verdacht auf schwere Verbrennungen hier eintrafen. In der Notaufnahme, wo es von hysterischen Patienten und besorgten Angehörigen wimmelte. Und über allem dieser bestialische Gestank nach Hammeltalg. Kein Wunder, dass sie um Hilfe gerufen hatte – auch wenn sie ein bisschen weit oben angefragt hatte.

Vielleicht hatte die Schwester recht, so ginge es am schnellsten. Und außerdem, diese Augen … „Ich nehme den mürrischen Dicken“, sagte er und griff nach einem Anzug.

Evie sah ihn sichtlich sprachlos an. „Du …“

„Du hast mich gerufen“, unterbrach er sie ruhig. „Weil du mich brauchst, oder?“ Luke nahm sich einen zweiten Schutzanzug und warf ihn Finn zu. „Es wird uns gut tun. Stress abbauen. Willst du dir den Kleinen mit den Sommersprossen vorknöpfen?“

Finn fing die wasserdichte Hülle auf. Er sah immer noch verdattert aus.

„Ich kümmere mich um den schlaksigen Kerl“, sagte Blauauge und gab den letzten Overall an Evie weiter.

Im Zimmer herrschte fast bedrohliches Schweigen. Anscheinend unempfänglich dafür zog Blauauge seelenruhig ihren Anzug an, bückte sich und schlüpfte in die Überziehstiefel. Feine blonde Locken bedeckten ihren schlanken Nacken. Hübsch, dachte Luke wieder. Wirklich hübsch.

War das der Grund, weshalb er es ihr nachtat und ebenfalls in Overall und Stiefel stieg?

Nein. Ihr Vorschlag war vernünftig. Davon abgesehen hatte er sein Testosteron im Griff. Er ließ sich nicht von einem hübschen Gesicht und weiblichen Rundungen verlocken. Nicht mehr.

„Ich sage der Putzkolonne Bescheid und bitte sie, hier sauber zu machen, während wir unter der Dusche sind“, sagte Blauauge, als alle Schutzanzüge trugen. Sie öffnete die Tür und stellte damit den Kontakt zwischen Ärzten und Patienten her.

Ohne dass Finn sein Okay gegeben hat. Luke konnte einen Anflug von Bewunderung nicht unterdrücken.

„Ross, du gehst mit Dr. Williams, du, Robbie, mit Dr. Lockheart, Craig mit Dr. Kennedy und Jason, du kommst mit mir“, erteilte sie mit klarer, freundlicher Stimme Anweisungen und wandte sich dann an die Eltern. „Ihre Kinder sind in guten Händen, sie werden von den besten Fachärzten unseres Krankenhauses untersucht. Könnten Sie inzwischen locker sitzende Kleidung für sie besorgen? Bestimmt hat einer der Supermärkte in der Nähe rund um die Uhr geöffnet. Ist das so okay für Sie?“

Bevor jemand antworten konnte, wurden sie gestört. „Verzeihung …“ Wie ein verschrecktes Kaninchen tauchte die Rezeptionistin in der Notaufnahme auf. Natürlich ist sie nervös, dachte Luke. Jeder in diesem Krankenhaus wurde nervös, wenn Finn Kennedy in der Nähe war. Aus gutem Grund. „Die Polizei ist hier“, verkündete sie.

Bevor sie noch mehr sagen konnte, drängten sich zwei Beamte an ihr vorbei.

Oh, oh. Denen ist nicht klar, dass sie gerade in Finn Kennedys Hoheitsgewässer eingedrungen sind. Luke unterdrückte ein grimmiges Lächeln.

„Gegen diese Burschen liegt eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung vor“, sagte der Ältere und musterte die vier Unglücksraben strafend. „Der Pfleger draußen meinte, sie scheinen nicht schwer verletzt zu sein. Lassen Sie uns den Papierkram erledigen, damit wir mit unserer Arbeit weitermachen können.“

Luke hielt den Atem an. Finn war sowieso kurz davor zu explodieren, und das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

„Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung?“ Eiszapfen klirrten in seiner Stimme.

„Genau, Sir.“ Der Cop sah die Gefahr nicht kommen – bis sich der geballte Zorn des Chefarztes über ihm entlud.

„Diese Kinder sind in heißes Fett gefallen“, stieß Finn wütend hervor. „Lebensgefährliche Umstände in einer ungesicherten Umgebung. Leicht zugängliche Fenster. Sie wissen so gut wie ich, dass ein einfaches Vorhängeschloss nicht annähernd vor einem solchen Risiko schützt. Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung? Sagen Sie dem, der hier Anzeige erstatten will, dass er sich auf einen Besuch vom Gewerbeaufsichtsamt gefasst machen kann. Und Sie verschärfen die Situation unnötig! Diese Kinder sind traumatisiert genug. Verlassen Sie das Krankenhaus, bevor ich jemanden mit entsprechendem Einfluss anrufe, der Sie vor die Tür setzt!“

Als die Polizisten sich erstaunlich schnell zurückzogen, wandte er sich Luke zu. „Worauf wartest du noch? Die Jungen müssen unter die Dusche. Tu, was die Schwester sagt. Sofort.“

Es hatte auch sein Gutes, ein Niemand zu sein. Es war völlig egal, wem man auf die Füße trat. Man blieb trotzdem ein Niemand.

Da drinnen im Stationszimmer war es hoch hergegangen, aber Lily hatte keine Angst gehabt, dass der Ärger sich gegen sie richtete. Sie wollte nur, dass sich endlich jemand um die vier Jungen kümmerte. Was konnte ihr schon passieren? Es gab andere Krankenhäuser.

Himmlisch! Sie hatte das herrliche Gefühl, frei zu sein. Sie war entkommen.

Sicher, irgendwann würde sie sich auch wieder in Lighthouse Cove blicken lassen, der kleinen Gemeinde, in der jeder hinter vorgehaltener Hand über ihre Mutter tuschelte und über sie gleich mit. Lily war klar, dass ihre Flucht nicht von Dauer sein würde. Ein Versprechen musste man halten. Doch zurzeit verlor sich ihre Mutter in einer dramatischen Affäre mit dem Gemeindepfarrer, Tratsch und Klatsch blühten, und Lily war heilfroh, dass sie in Sydney untergetaucht war. In der Anonymität der Großstadt fühlte sie sich wie im Paradies.

Sie hatte sich bei einer Agentur für Pflegepersonal eingetragen, man schickte sie dorthin, wo sie gebraucht wurde. Und wenn sie jemandem auf die Füße trat und die Herren Doktoren beschlossen, dass sie ihre Dienste nicht mehr benötigten, kein Problem!

Fast hätte sie leise vor sich hin gelacht, als sie Jason in die Duschkabine begleitete und drei überaus wichtige Doktoren im Schlepptau hatte, die mit ihren Patienten die nächsten Kabinen ansteuerten.

Zwei von ihnen blickten mit versteinerter Miene vor sich hin, der Dritte … nicht. Luke Williams, der Chefarzt der Abteilung für Plastische Chirurgie, war groß, schlank und durchtrainiert. Von der Sonne aufgehellte Strähnen durchzogen sein dichtes braunes Haar, und in seinen tiefgründigen grünen Augen funkelte ein unterdrücktes Lachen. Lily fing seinen Blick auf und hätte schwören können, dass er lachte. Aber der Moment war schnell vorbei, seine Miene wurde wieder ausdruckslos. Der Mann wusste genauso gut wie sie, dass lautes Lachen völlig fehl am Platz wäre.

In ihrem Leben konnte sie davon umso mehr gebrauchen. Sie lächelte vor sich hin. Es tat gut, mit einem attraktiven Arzt wie Luke Williams zu lachen. Wenn auch eher heimlich …

„Tut das weh?“, unterbrach Jason ihre kleine Tagträumerei.

Sie schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. „Wahrscheinlich nur deinem Stolz. Du musst dich ganz ausziehen. Hast du Schmerzen?“

„Es brennt“, gab er zu. „Ein bisschen.“

Der Fabrikbesitzer hätte dafür sorgen müssen, dass sie das Zeug gleich abspülen, dachte Lily. Stattdessen drohte er ihnen mit der Polizei, und da suchten sie natürlich das Weite. Ihre Eltern hatten sie sofort ins Krankenhaus gebracht, aber die Talgschicht war noch auf der Haut. Wäre das Fett richtig heiß gewesen, hätte sich die Hitze durch die Hautschichten gefressen und schwerste Verbrennungen hinterlassen.

Die Jungen hatten großes Glück gehabt. Sie waren durch ein Fenster eingestiegen, hatten die breiten Planken gesehen, die auf dem Kessel lagen, um Verschmutzungen abzuschöpfen. Wer auf die Idee gekommen war, auf Inlineskatern darauf entlangzuflitzen, wusste Lily nicht, aber zuerst war sie sprachlos gewesen angesichts so viel Dummheit. Es kam, wie es kommen musste … einer der Jungen strauchelte, klammerte sich im Fallen an seinen Kumpel, die Planke verrutschte und schickte auch die anderen beiden Jungen baden.

Lily stellte die Dusche an, legte Jasons Hände auf die Haltegriffe und zückte eine Schere.

„Meine Unterhose lasse ich aber an“, jammerte er.

„Da ist nichts, was ich nicht schon gesehen hätte“, antwortete Lily. „Und wenn du dir empfindliche Teile verbrüht hast, muss das behandelt werden.“

Jason wimmerte wieder.

„Das machen wir schon“, meinte sie munter. „Die Jeans ist hin, den Gestank kriegt man nicht mehr raus. Wir können sie ruhig zerschneiden. Skaten über dampfendem Fett, was für eine Aktion … Wie lange skatest du schon?“

Luke war in der Kabine nebenan auch dabei, die Kleidung seines Patienten aufzuschneiden. Vorhin noch hatte Ross seinen Eltern heulend geschworen, es sei nicht seine Schuld gewesen. Seine bescheuerten Kumpel hätten ihn gezwungen, Craig hätte ihn geschubst.

Unter der Dusche beruhigte er sich etwas. Seine Beine waren gerötet, also Verbrennungen ersten Grades, nicht schlimmer als ein starker Sonnenbrand.

„Wir müssen checken, ob weiter südlich alles okay ist“, erklärte er knapp.

Der Junge schwieg. Gut so, dachte Luke. Das machte die Untersuchung leichter, und außerdem konnte er dann ungestört der Unterhaltung nebenan lauschen.

„Ich skate, seit ich zwölf bin“, sagte Blauauge gerade.

„Mädchen können nicht skaten“, hörte er Jason antworten.

„Willst du mich auf den Arm nehmen? Wenn du in einer Woche zur Nachuntersuchung kommst, bring deine Inliner mit, okay? Ich verschaffe mir ein bisschen freie Zeit, und wir treffen uns auf dem Krankenhausparkplatz. Dann sehen wir mal, wer von uns skaten kann.“

„Was? Sie sind nicht schneller als ich. Nie im Leben!“

„Ich bin kein blutiger Anfänger, mein Lieber.“ Blauauge lachte auf. Es war ein hinreißendes kehliges Lachen. „Ich kann Barrel Rolls, Grapevines, Heel Toes, Flips, was du willst.“

„Das ist ’n Witz, oder?“

„Wo denkst du hin? Inlineskaten war lange Zeit das Wichtigste in meinem Leben.“ Blauauge klang auf einmal sehr ernst. „Allerdings bin ich nie über einen Kessel mit heißem Fett gefahren.“

„Das schaffen Sie bestimmt.“ Plötzlich schwang unverhohlene Bewunderung in der Stimme des Teenagers mit, und Luke konnte ihm nur recht geben. Wenn die Kleine Evie und Finn dazu brachte, Schutzkleidung anzuziehen und Patienten zu duschen, dann war sie auch zu sehr viel mehr fähig.

Es reizte ihn, mehr über sie herauszufinden.

Keine gute Idee.

Sie war Agenturschwester, eine Notbesetzung, die vielleicht schon morgen in einem anderen Krankenhaus der Stadt einspringen musste. Es war durchaus möglich, dass er sie nach heute Abend nie wiedersah.

Aber … hatte sie nicht mit Jason für nächste Woche einen Termin abgemacht? Das konnte nur bedeuten, dass die Agentur sie hier für mehr als eine Nachtschicht einsetzte.

Ihr Lachen gefiel ihm.

Vergiss es, sagte er sich. Hüte dich vor einem netten Lachen. Und vor blauen Augen.

Er dachte an Hannah.

Er dachte immer an Hannah. Die Erinnerung beschwor zwar nicht länger den schneidenden Schmerz herauf, der ihn anfangs zerrissen hatte. Aber Luke würde nie vergessen, dass er durch eigene Schuld das Kostbarste verloren hatte, das einem Mann geschenkt werden konnte. Einen flüchtigen Moment lang hatte ihn die neue Krankenschwester neugierig gemacht, aber sein Interesse erstarb so schnell, wie es gekommen war. Zurück blieb die innere Leere, die seine Frau und sein kleiner Sohn hinterlassen hatten.

Ross und Jason durften nach Hause gehen. Robbie und Craig wurden stationär aufgenommen, weil sie sich Verbrennungen zweiten Grades zugezogen hatten. Evie verarztete sie, bevor sie auf die Station kamen. Luke übernahm den Papierkram, während Lily den Eltern von Ross und Jason erklärte, wie sie die Verbrühungen behandeln sollten.

Danach füllte sie das Formular für den Polizeibericht aus. Luke hörte, wie sie Fragen stellte und die Jungen dazu brachte, Aussagen zu unterschreiben. Es sah ganz so aus, als würde sie dafür sorgen, dass die Schmelzkessel in Zukunft abgedeckt und keine Anzeigen gegen Kinder erstattet wurden, nur weil sie … Kinder waren.

Lily war schon eine besondere Krankenschwester.

Die meisten Vertretungsschwestern waren alleinerziehende Mütter, die stundenweise arbeiteten, wenn jemand auf ihre Kinder aufpasste. Oder Krankenschwestern, die sich damit ihre Weltreise finanzierten. Oder ältere Frauen, die ihre Rente aufbessern wollten.

Lily jedoch schien in keine dieser Schubladen zu passen. Sie war höchstens Ende zwanzig, erfahren und kompetent. Ihr selbstbewusstes Auftreten ließ ihn vermuten, dass sie schon eine Station geleitet hatte. Und so wie sie mit Jason geredet hatte … eine junge Mutter, für die der Job nur Mittel zum Zweck war, hörte sich anders an.

Ich muss ins Bett, dachte er müde. Morgen früh stand eine lange OP-Liste auf dem Plan. Trotzdem beschloss er, die Unterlagen persönlich in die Verwaltung zu bringen – und sah sich bei der Gelegenheit das Fax an, das die Agentur geschickt hatte.

Lily Maureen Ellis, so hieß sie. Sechsundzwanzig Jahre alt. Ausgebildet in Adelaide. Hervorragend ausgebildet. Luke überflog ihre Referenzen … hey, sie hat Erfahrung in Plastischer Chirurgie. Und noch einiges mehr: Intensivmedizin, Pädiatrie, Geburtshilfe. Er kannte das Krankenhaus, wo sie gelernt hatte. Die Frau schien ziemlich gut zu sein.

Dem Datenblatt war auch zu entnehmen, dass sie Adelaide vor zwei Jahren verlassen hatte, um in Lighthouse Cove im australischen Busch die Pflegedienstleitung eines kleinen Krankenhauses zu übernehmen. Luke kannte Lighthouse Cove, eine malerische Kleinstadt weniger als eine Stunde Fahrtzeit von Adelaide entfernt.

Was hatte Lily Maureen Ellis dazu getrieben, ihre Sachen zu packen und sich als Agenturschwester in Sydney zu verdingen? War sie einem Mann gefolgt? Lebte ihr Freund hier?

„Warum zum Teufel bist du nicht im Bett?“

Luke fuhr zusammen. Lautlos wie ein Panther war Finn hinter ihm aufgetaucht. „Warum bist du nicht im Bett?“, konterte er. „Hast du Evie noch mehr Kummer gemacht?“

„Ich habe ihr keinen …“

„Doch, hast du. Du bist gereizt, vor allem ihr gegenüber. Was ist los?“

„Nichts.“

„Hast du Kopfschmerzen? Tut dir der Arm weh?“

„Warum sollte ich Kopfschmerzen haben?“

„Erzähl du es mir“, sagte Luke sanft. „Du reibst dir die Schläfen, rollst die Schultern und gehst bei jeder Gelegenheit in die Luft.“

„Dr. Lockheart hätte uns nicht wecken dürfen“, murrte Finn.

„Sie hatte vier Patienten mit Verdacht auf schwere Brandverletzungen und als einzige Hilfe eine Vertretungsschwester. Sei ein bisschen nachsichtig.“

„Sie macht mich wahnsinnig.“ Finn nahm ihm das Blatt ab. „Das ist also die Kleine, die Schutzkleidung verteilt.“

„Sie hat Mumm.“

„Bitte, verschone mich damit“, sagte Finn herablassend. „Ich habe genug von aufmüpfigen Frauen. Und warum lesen wir ihren Lebenslauf?“ Er warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Na ja, wird auch Zeit …“

„Nein.“

„Hannah ist seit vier Jahren tot, Luke.“ Finns Tonfall wurde milder. „Ein Mann kann nicht ewig trauern.“

„Sagt das gesamte Krankenhaus“, erwiderte Luke grimmig. „Das macht mich wahnsinnig.“

„Gönn dir eine Affäre.“ Er deutete auf das Fax. „Dann können sie dir den Buckel runterrutschen. Fang an zu leben.“

„Hannah durfte nicht leben.“

„Es war nicht deine Schuld.“

„Wessen dann?“, antwortete Luke gereizt. „Sie war in der vierzehnten Woche, und ich wusste nicht mal, dass sie schwanger ist.“

„Du hast siebzig Stunden in der Woche gearbeitet und warst kurz vor dem Examen. Hannah wusste, unter welchem Druck du standst. Als Krankenschwester wusste sie auch, was mit ihr los war. Wer sich, im vierten Monat schwanger, in seinem Schlafzimmer einschließt und still leidet … tut mir leid, für mich hat das einen Beigeschmack. Sie hatte es satt, dass du wieder einmal im OP aufgehalten wurdest.“

„Hör auf.“

„Womit, schlecht über Tote zu reden? Ich sage es, wie es ist. Wenn du aus Frust eine Dummheit begehst, die dich vom Leben abhält …“

„Sagt einer, der sich selbst vom Leben abhält.“

Finn erstarrte. Luke war klar, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Finns Bruder war im Krieg getötet, er selbst verwundet worden. Es hatte eine komplizierte Beziehung zu der Frau seines Bruders gegeben, dann ein paar Affären. Um zu vergessen, vermutete Luke.

Sollte er ihm das ins Gesicht sagen? Lieber nicht. Nicht um zwei Uhr morgens, wenn sie beide unter akutem Schlafmangel litten, und vor allem nicht, weil eine hübsche blonde Krankenschwester unerwartet hinter Finn an der Tür aufgetaucht war. Höflich wartete sie auf eine Gelegenheit, sich bemerkbar zu machen.

„Hier geht es nicht um mich!“, fuhr Finn ihn an. „Und was dich betrifft …“ Er wedelte mit dem Lebenslauf. „Eine Vertretungsschwester, heute hier, morgen dort. Etwas Besseres kann dir nicht passieren. Vergnüg dich mit ihr, bis sie wieder weg ist, und dann kannst du mit deinem Leben weitermachen.“

Die blauen Augen weiteten sich.

Luke unterdrückte ein Aufstöhnen.

„Verzeihung“, sagte das Vergnügungsobjekt in bemüht neutralem Ton. „Die Pager scheinen hier unten nicht zu funktionieren. Dr. Lockheart hat mich gebeten, Sie zu suchen, Dr. Williams. Nicht Sie, Dr. Kennedy.“ ‚Halten Sie den Mann aus meiner Abteilung fern‘ waren Dr. Lockhearts Worte. „Aber es wurde ein kleines Kind eingeliefert. Gesichtsverletzungen durch Hundebisse. Dr. Lockheart bittet Sie, sofort zu kommen, Dr. Williams. Es ist sehr ernst.“

2. KAPITEL

Jessie Blandon war auf dem Weg in den OP – niemand konnte sagen, ob er ihn lebend erreichte.

Er war vier Jahre alt. Mitten in der Nacht aufgewacht, wollte er zu seiner Mutter. Jessie tappte durchs Wohnzimmer. Der Rottweiler vom Freund der Mutter lag auf dem Sofa.

Das Gesicht des Jungen war übel zugerichtet. Dass er noch nicht verblutet war, grenzte an ein Wunder.

Lily hatte keine Zeit, auch nur einen Gedanken an das zu verschwenden, was sie gerade unfreiwillig aufgeschnappt hatte. An Lukes Seite eilte sie zurück in die Notaufnahme.

„Erzählen Sie“, verlangte er knapp.

Sie beschrieb, was sie gesehen hatte, und seine Miene verfinsterte sich. „Hunde und Kleinkinder … verdammt“, murmelte er.

Oh ja. Lily hatte die Mutter und ihren Freund gesehen, als der Kleine hereingerollt wurde. Sie wirkten wie betäubt. Wahrscheinlich war der massige Hund sonst ruhig und friedlich, aber im Schlaf gestört hatte er das getan, wozu Hunde erzogen wurden: angreifen und verteidigen.

In Lighthouse Cove hatte sie solche Fälle nicht erlebt. Schwerverletzte kamen direkt nach Adelaide. Aber sie besaß die Ausbildung, um Hilfe zu leisten. Die langen Jahre, in denen sie zwischen Lighthouse Cove und dem Adelaide Central Hospital gependelt war, weil sie sich noch um ihre Mutter kümmern musste, waren hart gewesen. Fachlich jedoch hatte es sich gelohnt.

Deshalb konnte sie auch zustimmend nicken, als Luke Williams fragte: „Sie haben doch bei Professor Blythe gelernt und Erfahrung in Plastischer Chirurgie? Helfen Sie uns hierbei?“

Sie war nicht sicher, ob sie dem Jungen das Leben retten würden, aber sie vertraute auf ihre Fähigkeiten. Sie war gut, aber nur, wenn auch dieser Mann gut war.

Alles hing von Luke Williams ab.

Er enttäuschte sie nicht. Im Gegenteil, seine Professionalität war bewundernswert. Es ging um Leben und Tod. Jede vergeudete Minute verringerte Jessies Lebenschancen, und dennoch war bei Luke nicht das geringste Anzeichen von Hektik oder Stress zu bemerken.

Zuerst sorgte er dafür, dass Jessie keine Schmerzen spürte. Im Handumdrehen war ein Anästhesist zur Stelle, der den Jungen ins künstliche Koma versetzte. Luke Williams gab kurze, präzise Anweisungen und fand sogar die Zeit, mit dem Paar zu sprechen, das draußen wartete.

„Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass er überlebt. Das kann niemand. Aber er ist in den besten Händen, und wir werden alles Menschenmögliche tun, um ihn zu retten. Bis dahin möchte ich Sie bitten, einen guten Freund anzurufen, damit er ein paar von Jessies Lieblingssachen herbringt. Hat er ein besonderes Kuscheltier, eine Schmusedecke? Die Sanitäter werden die Polizei verständigt haben. Sagen Sie Ihrem Freund, dass er nur ins Haus gehen soll, wenn die Polizei den Hund unter Kontrolle hat.“

„Mein Hund ist ein Lämmchen“, sagte der Mann, aber seine Stimme zitterte.

„Nein“, entgegnete Luke scharf. „Er ist ein Hund. Und Ihr Sohn …“ Er schloss kurz die Augen, und als er sie wieder öffnete, entdeckte Lily flüchtig einen gequälten Ausdruck darin. „Jessie“, sagte er. „Wir werden alles tun, um Ihren Jessie zu retten.“

Als Lily heute Abend im Sydney Harbour erschienen war, hatte sie damit gerechnet, unauffällig ihren Dienst zu tun und nach Dienstschluss wieder zu verschwinden, um morgen auf einer anderen Station einzuspringen.

Was sie nicht im Geringsten erwartet hatte, war, dass sie Teil eines hoch spezialisierten Teams sein würde, das um das Leben eines kleinen Jungen kämpfte.

Die seltsame Unterhaltung, derer sie in der Verwaltung Zeugin geworden war, verdrängte sie fürs Erste. Aus irgendeinem Grund hatte sich Luke für ihre Unterlagen interessiert. Ob sie ihn und Finn wegen sexueller Belästigung melden sollte, war im Moment unwichtig. Entscheidend war vielmehr, dass er ihre Qualifikationen kannte. Sie war der Aufgabe gewachsen, und das hatte er dem Team auch mitgeteilt.

Luke hatte nicht weniger als ein Wunder zu vollbringen, wollte er dem Kind aufwendige Hauttransplantationen über Jahre hinweg und ein Leben mit Immunsuppressiva ersparen. Falls es am Leben blieb.

Lilys erster Eindruck von diesem Mann war, dass er … nun ja, ein Schürzenjäger war. Er hatte sie angelacht, sie gemustert. Und dass er mit dem Chef der Chirurgie so über sie redete …

Im Moment konzentrierte er sich völlig auf seine Arbeit. Jessies Gesicht war wie ein Puzzle, das er zusammensetzen musste, bevor die Blutversorgung zusammenbrach. Jeder noch so kleine Hautfetzen musste gereinigt und vorsichtig an seine Stelle gesetzt werden.

Lily erinnerte sich an einen Fall, der drei Jahre zurücklag. Damals hatte sie einem Professor in Adelaide assistiert, der versucht hatte, die Lippen eines Mannes zu retten. Sie wandte sich an eine der Juniorschwestern. „Gehen Sie, suchen Sie Dr. Lockheart“, bat sie. „Sagen Sie ihr, wir brauchen vielleicht medizinische Blutegel. Oberste Priorität.“

„Dazu bin ich nicht befugt …“ Die junge Frau blickte unsicher zu Luke hinüber, aber der war in seine Aufgabe vertieft.

Wir dürfen ihn nicht ablenken, dachte Lily. Auch der Narkosearzt, der Oberarzt und die leitende OP-Schwester waren beschäftigt. „Sagen Sie einfach nur, dass die Blutegel dringend benötigt werden.“ Sie musste ja nicht betonen, dass die Vertretungsschwester sie geordert hatte. „Notfalls nehme ich das auf meine Kappe.“

Was ziemlich ungemütlich werden konnte. Medizinische Blutegel wurden nur in wenigen medizinischen Einrichtungen im ganzen Land bereitgehalten. Um sie so schnell wie möglich herzuschaffen, musste ein Hubschrauber eingesetzt werden, und das bedeutete immense Kosten.

Okay, dann feuert mich doch, dachte sie und wandte sich wieder dem Operationsfeld zu. Elaine, die ältere Kollegin, brauchte Unterstützung. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Finger anfingen zu zittern und sie den Absaugkatheter nicht mehr würde ruhig halten können.

„Lily, machen Sie weiter“, befahl Luke, der anscheinend auch gespürt hatte, dass die Schwester in Stress geriet.

Mit ruhiger Hand übernahm sie das Instrument.

Zwei Stunden später stellte sich heraus, dass ihre Entscheidung gerechtfertigt war. Der Hautlappen bedeckte wieder das Nasenloch und die linke Seite der Lippen. Luke arbeitete am Lid des kleinen Jungen, kontrollierte jedoch die Lippen und fluchte plötzlich vor sich hin.

„Das Blut gerinnt“, sagte er. „Wir brauchen eine Drainage. Verdammt, ich dachte nicht, dass es soweit kommt.“

„Wir haben Blutegel da, falls Sie sie brauchen“, meinte Lily, und eine der Schwestern machte sich daran, den Behälter zu öffnen.

„Wie zum …?“ Luke sah verwundert auf. „Hat Dr. Lockheart sie bestellt?“

„Nein, Lily“, erklärte die Juniorschwester lächelnd, während sich die Stimmung im OP spürbar aufhellte. „Sie ist nicht schlecht für eine Agenturschwester, was?“

„Sie ist sogar großartig“, sagte Luke und sah Lily an. Ganz kurz nur, aber intensiv hielt er ihren Blick fest, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte.

Auch Lily blickte wieder auf das Operationsfeld, aber unter dem Mundschutz war sie rot geworden.

Sie ist großartig.

Sein Blick hatte sie aus der Fassung gebracht.

Luke Williams ist ein Frauenheld, sagte sie sich. Und du bist hier Krankenschwester auf Zeit, kennst niemanden, willst niemanden kennenlernen.

Aber sein Blick …

Als sie in diese grünen Augen sah, war mit ihr etwas passiert. Ein lustvolles Prickeln, tief in ihrem Bauch …

Zu verwirrend. Lily wollte arbeiten, anonym bleiben und einfach tun, was anstand.

Um fünf Uhr morgens war sie restlos fertig.

„Gehen Sie nach Hause“, sagte Dr. Lockheart zu ihr. „Wir haben Sie heute Nacht ziemlich gefordert. Ich weiß, dass Ihr Dienst erst um sechs endet, aber niemand erwartet, dass Sie bis dahin bleiben.“

„Und falls Sie sich am Harbour um eine Festanstellung bewerben möchten, wir nehmen Sie sofort“, erklärte Elaine warmherzig. „Dr. Williams möchte Sie dauerhaft in sein chirurgisches Team aufnehmen.“

Dauerhaft … das Wort passte nicht in ihre Lebensplanung. Lily gab eine vage Antwort und ging, um sich umzuziehen und ihre Sachen aus dem Spind zu holen.

Nach Hause.

Das Problem war nur, dass sie keins hatte. Jedenfalls nicht vor zehn Uhr. Sie war erst gestern in Sydney angekommen, buchstäblich auf der Flucht vor dem Drama, in dem ihre Mutter die Hauptrolle spielte.

Selbst als pflichtbewusste Tochter konnte Lily nicht anders – sie fand ihre Mutter unmöglich. Ihre Mum fiel von einem Drama ins nächste, und in Lighthouse Cove hatte man keine gute Meinung von ihr. Die meisten hielten sie für Abschaum. Was sie nicht ist, dachte Lily traurig. Ihre Mutter brauchte … viel Aufmerksamkeit. Von Männern. Leider kannte sie keine Grenzen.

Und mit ihrer letzten Affäre hatte sie den Bogen überspannt. Auch für Lily. Vor zwei Tagen stürmte die Pfarrersfrau, die den Verwaltungsrat des Krankenhauses leitete, in die Klinik und verpasste Lily eine schallende Ohrfeige.

„Halten Sie Ihre Mutter von meinem Mann fern. Diese Schlampe … Glauben Sie, Sie können hier als ehrbare Krankenschwester arbeiten, wenn Ihre Mutter sich aufführt wie die Stadthure?“ Zwei Patienten hatten sie von Lily wegzerren müssen, bevor sie zitternd vor Wut schluchzend zusammenbrach.

Lily hatte noch beherzt zugepackt, um sie zu stützen, damit sie sich nicht verletzte. Dankbarkeit konnte sie dafür jedoch nicht erwarten.

„Gehen Sie mir aus den Augen“, zischte die Frau. „Verlassen Sie unser Krankenhaus, und verschwinden Sie aus unserer Stadt!“

Sie hatte kein Recht gehabt, sie zu feuern. Lilys Mutter setzte sich über Moral und Anstand hinweg, nicht Lily selbst. Doch in einer kleinen Gemeinde verwischten solche feinen Unterschiede schnell.

Lily saß im Schwesternzimmer, ihr war übel, sie hatte Bauchkrämpfe und wusste, dass sie mit diesem Stress keine Minute länger leben konnte. Über denselben Kamm geschoren wie ihre Mutter, fühlte sie sich himmelschreiend ungerecht behandelt. Bisher hatte sie gute Miene zum bösen Spiel gemacht, aber damit war jetzt Schluss.

Auf dem Nachhauseweg hielt sie noch einmal an, um einzukaufen. Schon allein den Laden zu betreten, war ein Albtraum. Jeder sah sie anklagend an.

Als sie mit ihrer Karte bezahlen wollte, streikte der Apparat. Kein Guthaben stand auf dem Display. Lily konnte es nicht glauben. Ihre Mutter hatte ihre Kreditkarte benutzt?

Fassungslos fuhr sie nach Hause und fand dort den Pfarrer vor, einen schwabbeligen, rotgesichtigen Mann, der sich sichtlich schämte, aber ihrer Mutter total verfallen war.

„Sei ein liebes Mädchen und mach dich für eine Weile rar, ja?“, sagte ihre Mutter. „Wir brauchen Zeit für uns. Alles okay“, beschwichtigte sie, als Lily nach Worten suchte. „Wir wollten nach Paris fliegen, mein Schatz, aber unser Geld reicht nicht. Vielleicht kann Harold sich noch ein bisschen mehr von seinen Verwandten leihen, dann können wir buchen. Wir lieben uns, die anderen begreifen das nur nicht.“

Lily hatte genug. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so schnell gepackt. Dann fuhr sie siebzehn Stunden durch, achthundertfünfzig Meilen von Adelaide nach Sydney. Ab und zu hielt sie am Straßenrand, konnte aber immer nur ein paar Minuten schlafen, so aufgedreht war sie. Am späten Nachmittag erreichte sie Sydney, zunehmend von der Sorge geplagt, wie sie mit ihrem bisschen Geld überleben sollte. Kurz entschlossen marschierte sie in die nächste Agentur für Pflegepersonal – wo man ihr buchstäblich um den Hals fiel.

„Ihre Referenzen sind ja ganz hervorragend“, meinte die Sachbearbeiterin anerkennend. „Wenn Sie wollen, können Sie schon heute Abend arbeiten. Im Sydney Harbour werden händeringend Leute gesucht.“

Lily suchte sich eine billige Pension, lud ihr Gepäck ab und buchte die Unterkunft ab dem nächsten Tag. Um zehn Uhr morgens konnte sie rein.

Jetzt sah sie auf ihre Armbanduhr. Noch fünf Stunden. Aber sie war so müde, dass sie im Stehen schlafen könnte. Und sie hatte wieder diese Bauchschmerzen.

Blicklos starrte sie auf ihren Spind, während sie versuchte, nachzudenken. Bei der Vorstellung, sich noch fünf Stunden in irgendeiner Kneipe herumdrücken zu müssen, wurde ihr erst recht schlecht. Hier muss es doch Dienstzimmer für die Nachtschichtler geben, überlegte sie.

Schlafen, zwei Stündchen nur. Bis sie frühstücken gehen und in ihr Zimmer einziehen konnte.

Er hatte eine Stunde, um darüber nachzudenken, ob er alles richtig gemacht hatte. Eine lausige Stunde, dann klingelte das Telefon an seinem Bett.

„Es gibt Probleme.“ Finn war am anderen Ende der Leitung. Wer sonst … schlief der Mann denn nie?

Allerdings hatte er ihn bisher nie ohne schwerwiegenden Grund geweckt. Luke schnappte sich seine Hose, bevor Finn die nächsten Worte ausgesprochen hatte.

„Jessie“, sagte er. „Wie’s aussieht, hat er einen angeborenen Herzfehler. Jetzt droht Herzversagen. Kommst du, oder soll ich mich darum kümmern?“

„Bin schon unterwegs.“

Sie wurde wach, und da war er. Luke Williams, der attraktive Chefarzt mit den tiefgründigen Augen. Und er sah aus, als hätte er den Tod gesehen.

Das Dienstzimmer war winzig. Ein breites durchgesessenes Sofa, ein Fernseher, ein Couchtisch mit ein paar alten Zeitschriften, mehr stand nicht darin. Lily hatte sich in einer Ecke des Sofas zusammengerollt und wie ein Stein geschlafen. Bis jetzt.

Der Mann bemerkte sie nicht. Gedankenverloren starrte er auf die schwarze Mattscheibe.

Noch nie hatte sie jemanden so trostlos gesehen. „Was ist los?“, flüsterte sie.

Er zuckte zusammen. „Was tun Sie hier?“

„Ich kann erst um zehn in meine Unterkunft. Deshalb habe ich mich eine Weile hingelegt. Was ist passiert? Etwas mit Jessie?“

„Er ist tot. Herzstillstand. Er hatte einen Herzfehler, das hat uns niemand erzählt. Aber wer hatte auch die Zeit, seine Unterlagen durchzusehen? Die Aufnahmeschwester war so erschüttert, dass sie kaum einen Blick auf die Akte geworfen hat. Wir haben ihn zusammengeflickt, wir haben gedacht, er schafft es, und die ganze Zeit war sein Herzchen eine tickende Zeitbombe.“

„Wir hatten keine Wahl“, sagte sie bewegt.

„Doch. Wenn ich davon gewusst hätte … ich hätte erst dafür gesorgt, dass sein Herz stabil ist. Hauttransplantationen später.“

„Was wäre das für ein Leben gewesen?“ Ohne die sofortige Operation hätte Jessie ein jahrelanges Leiden vor sich gehabt, mit zahlreichen Transplantationen, mit einem Gesicht, das nicht sein eigenes war.

„Wenigstens hätte er gelebt. Ich …“

Sie ertrug seinen Schmerz nicht länger. Ohne nachzudenken, nahm sie seine Hände.

Als er sie ansah, begriff sie, dass es nicht nur um dieses Kind ging. Luke hatte sicher nicht zum ersten Mal einen Patienten verloren. Lily ahnte, dass eine andere Tragödie dahintersteckte.

„Ich habe ihn getötet.“

„Der Hund hat ihn getötet. Sie haben versucht, ihn zu retten.“

„Ich hätte …“

„Nicht. Tun Sie sich das nicht an.“

Ein Schaudern ging durch seinen großen, starken Körper. Lily konnte nicht anders, sie zog ihn in ihre Arme. Seine breiten Schultern bebten, während er sich seinem Kummer ergab, und Lily hielt ihn einfach nur fest.

Er hatte die Arme um sie gelegt, und ohne es zu wollen, spürte sie selbst plötzlich Halt in dieser Umarmung.

Nach den Geschehnissen der letzten Tage fühlte sich Lily wie ausgebrannt. Ihre Mutter … der Pfarrer … Dass sie ihren Job verloren hatte. Die geballte Abneigung der Stadt.

Lily wollte ihn trösten, brauchte Trost aber genauso sehr wie er.

Er durfte nicht hier sein. Er sollte diese Frau nicht in den Armen halten.

Aber daran dachte er kaum. Er dachte an Jessie, einen kleinen Rotschopf, vier Jahre alt.

Mit ihm war die Vergangenheit schlagartig wieder da gewesen wie eine verlorene Seele, die keine Ruhe fand. Vor vier Jahren war er in die Wohnung gekommen, nach einer OP, die vierzehn Stunden gedauert hatte. Erschöpft, aber glücklich hatte er nach Hannah gerufen: „Ich bin zu Hause. Wir haben es geschafft, sie wird überleben. Hannah …?“

Er fand sie im Schlafzimmer.

Bauchhöhlenschwangerschaft stand später im Obduktionsbericht. Vierzehnte Woche.

Neben ihr lag ein Brief an ihre Mutter in Kanada.

Heute Abend werde ich Luke endlich sagen, dass wir ein Kind bekommen. Ich warte schon die ganze Zeit auf den richtigen Moment … vielleicht bei einem romantischen Essen zu zweit. Aber er arbeitet so viel, dass wir uns kaum sehen. Das muss er jetzt ändern, ich möchte, dass er Zeit für uns hat. Und ich wünsche mir, dass es ein Junge wird. Hoffentlich hat er rote Haare, so wie ich. Ich möchte ihn Jessie nennen.

Heute Abend, vier Jahre später, war er nicht in der Lage gewesen, einen rothaarigen Jungen namens Jessie zu retten.

Die Frau in seinen Armen hielt ihn fest. Sie roch sauber nach Krankenhaus. Doch dann nahm er den Hauch eines lieblichen Parfums, einen schwachen Duft nach Rosen wahr. Gleichzeitig spürte Luke, wie ihr feines, seidiges Haar sein Gesicht streifte.

Er war hierhergekommen, um sich wieder zu fangen. Er hatte zwei Stunden, bevor seine erste OP auf einer langen Liste anfing. Bis dahin musste er sich im Griff haben.

Jessie.

Hannah.

Die Frau, die ihre Arme um ihn geschlungen hatte, erbebte, und er dachte: Sie ist genauso erschüttert wie ich. Luke lehnte sich ein Stück zurück und blickte ihr forschend ins Gesicht.

Dunkle Schatten verdüsterten ihre wunderschönen blauen Augen. Er begriff, dass sie ihren eigenen Albtraum durchlebte. „Lily …?“

„Halt mich einfach“, sagte sie. „Bitte.“ Und dann zog sie ihn wieder an sich.

Lass sie los, riet ihm sein Verstand. Mit dem Du, wie selbstverständlich ausgesprochen, hatte sie eine Grenze überschritten.

Aber Luke konnte nicht. Er hielt sie an sich gedrückt, und je mehr Sekunden verstrichen, umso stärker erwachte etwas anderes in ihm.

Ein Mann und eine Frau. Verlangen, das wie schwelende Glut sich ausbreitete und nur auf den Funken wartete, der das Feuer auflodern ließ.

Dumm. Verrückt. Leichtsinnig?

Es spielte keine Rolle.

Er schob die Hände unter ihre Bluse, spürte warme, samtige Haut. Ihre Brüste drückten gegen seine Brust. Ihr biegsamer Körper strahlte eine Hitze aus, die ihn benommen machte. Luke dachte an nichts anderes mehr, er musste Lily küssen, musste diese weichen, bebenden Lippen berühren.

Und dann eroberte er ihren Mund, verzweifelt, hungrig und getrieben von einer Gier nach Leben, die alles andere verblassen ließ.

„Luke …“

„Halt mich nur fest“, verlangte er jetzt, und sie tat es.

Versunken in einen leidenschaftlichen Kuss, der ihre innere Kälte überwand, klammerten sie sich aneinander.

Bis zwei Minuten später eine Pflegeschülerin ins Zimmer platzte, auf der Suche nach Lektüre für ihre Kaffeepause. Sie sah einen Mann und eine Frau in eindeutiger Umarmung.

Sprachlos begriff sie, wen sie vor sich hatte: Luke Williams, Chefarzt der Plastischen Chirurgie, ein Einzelgänger, der auf Avancen nicht einmal reagierte.

Er küsste eine Vertretungsschwester. Hatte die Hände unter ihrer Bluse. Oh, und was für ein Kuss …

Die verdutzte Zeugin keuchte ungläubig auf und trat schleunigst den Rückzug an. An ihre Lektüre dachte sie nicht mehr. Wer brauchte schon Zeitschriften, wenn das wahre Leben viel spannendere Geschichten schrieb? Direkt vor ihrer Nase …

Was für Neuigkeiten! Sie konnte es kaum erwarten, davon zu erzählen.

3. KAPITEL

Lily hatte sich für vier Wochen am Sydney Harbour Hospital verpflichtet. Das war genau drei Wochen und sechs Tage zu lang, wie ihr gleich klar wurde, als sie am Abend ihren Dienst antrat.

Von der Floristin im Blumenladen in der Eingangshalle über Pfleger, Krankenschwestern und Assistenzärzte in der Notaufnahme, wo sie eingeteilt war … jeder schien zu wissen, was am Morgen passiert war.

Sie kannten sie nicht, aber sie kannten Luke Williams. Die Gerüchteküche hatte den Siedepunkt überschritten. Dass sie sich nur getröstet hatten, dass daraus unbeabsichtigt ein leidenschaftlicher Kuss geworden war, das konnte niemand genau wissen. Was aber alle zu wissen glaubten, war eindeutig: Sie und Dr. Williams hatten im Dienstzimmer wilden Sex gehabt.

Es hatte Lily ihre gesamte Willenskraft gekostet, zur Nachtschicht zu kommen. Aber dank ihrer Mutter war sie so gut wie pleite, sie brauchte den Job. Lass sie reden, machte sie sich Mut. Man hat dich in den Armen des Chefarztes erwischt, na und? In vier Wochen bekam sie ihr Geld ausbezahlt und konnte weiterziehen.

Meinst du?, meldete sich eine feine gehässige Stimme. Was hast du dir dabei gedacht, dich diesem Mann in die Arme zu werfen? Du bist nicht besser als deine Mutter!

Nein. Lily straffte die Schultern. Sie war emotional am Boden gewesen und hatte sich an jemandem festgehalten, dem es genauso ging. Kein Grund, ihr schräge Blicke zuzuwerfen.

Sie taten es trotzdem. Alle.

„Hallo, hallo!“ Elaine, die leitende OP-Schwester, begrüßte sie mit einem herzlichen Lachen. Als sie Lilys Miene sah, lächelte sie verständnisvoll. „Machen Sie nicht solch ein Gesicht, Kindchen. Viele Frauen hier hätten nichts gegen ein Rendezvous mit Luke Williams im Dienstzimmer. Der Mann ist eine wandelnde Ritterrüstung. Ich weiß zwar nicht, wie Sie das geschafft haben, aber Sie haben ordentlich daran gekratzt. Dem Himmel sei Dank! Vielleicht kann er jetzt endlich vergessen.“

„Was vergessen?“

„Wissen Sie das nicht?“ Die ältere Schwester beugte sich vor. „Vor vier Jahren ist Lukes Frau gestorben, an einer Bauchhöhlenschwangerschaft. Seitdem lässt er niemanden an sich heran. Bis jetzt. Sie sind die Erste, die seine Festungsmauern überwunden hat.“

„Normalerweise tue ich …“

„Es interessiert niemanden, was Sie normalerweise tun, Liebes“, unterbrach Elaine sie sanft. „Für uns zählt nur, dass unser großartiger Dr. Williams mit einer Agenturschwester ins Bett gestiegen ist.“

„Wir haben nicht …“

„Was Sie getrieben haben oder nicht, ist unwichtig“, kam die unverblümte Antwort. „Tratsch gibt in diesem Krankenhaus den Ton an, und in diesem Fall sind wir begeistert. Jetzt kann Luke nicht mehr den Unnahbaren spielen. Ihre Freizügigkeit war genau das, was er brauchte. So …“ Elaine richtete sich auf. „Im Hafen hat es einen Bootsunfall gegeben, wir erwarten zwei Männer mit Rückenverletzungen und eine junge Frau mit schweren Gesichtswunden. Sie müssten jede Minute kommen. Ich vermute, man wird Sie wieder im OP brauchen. Machen Sie sich fertig?“

„Ich … Ja.“ Wenigstens ein Vertrauensbeweis. Sie hatte erwartet, dass man sie wie eine Aussätzige behandeln würde. Stattdessen übertrug man ihr Verantwortung.

„Sie haben sich gestern Nacht bewährt“, meinte Elaine. „In mehr als einer Hinsicht. Aber lassen Sie die Finger von den anderen Kollegen, jedenfalls, solange Sie im Dienst sind. Bei unserem Luke haben Sie uns einen großen Gefallen getan, doch wir wollen es ja nicht übertreiben.“

Und damit war das Thema erledigt.

Fast hätte er im Dienstzimmer Sex mit der neuen Schwester gehabt. Wie in den Arztserien, wenn sie es in den Besenkammern trieben.

Aber so war es nicht gewesen.

Seine Kollegen amüsierten sich königlich deswegen. Mediziner pflegten einen besonders schwarzen Humor, das war eine Berufskrankheit. Der Tod des kleinen Jessie letzte Nacht hatte alle erschüttert, sodass Lukes ungewöhnliches Verhalten eine willkommene Ablenkung bedeutete.

Sogar Finn hatte seinen Senf dazugegeben. „Wurde auch Zeit“, murmelte er. „Führ sie zum Essen aus, wie es sich gehört, und mach’s dann noch mal.“

Wie bitte? Er verabredete sich nicht mit Frauen. Nie.

Und er dachte nicht daran, jetzt damit anzufangen.

Trotzdem ging sie ihm nicht mehr aus dem Sinn … Lily. Sie hatte ihn ans Licht geholt, als er sich wie in einem tiefen, dunklen Loch gefangen fühlte. Ihre Wärme, ihr Duft hatten ihm Kraft gegeben. Was wäre geschehen, wenn man sie nicht gestört hätte? Er sollte dankbar sein, dass es so gekommen war, aber seltsamerweise empfand er Bedauern. Und er machte sich Sorgen um sie. Der Tratsch im Krankenhaus war gnadenlos.

Nach seiner letzten Operation suchte er in Lilys Unterlagen nach ihrer Adresse. Das entsprechende Feld enthielt nur den Eintrag „Noch unbekannt“. Selbst wenn er wollte, könnte er sie nicht finden. Vielleicht tauchte sie auch nach allem, was gewesen war, gar nicht wieder auf.

Als es draußen bereits dämmerte, meldete sich Evie bei ihm. „Deine Lady ist da. Sie hat einen Vertrag für vier Wochen unterschrieben. Möchtest du vielleicht bei uns in der Notaufnahme vorbeisehen?“ Evie lachte.

„Könnte sein.“

„Um dich mit ihr bekannt zu machen?“ Sie lachte noch lauter.

„Wie kommst du darauf, dass ich sie nicht kenne?“, sagte er, bevor er sich zurückhalten konnte.

„Ihr kennt euch? Ich dachte, es wäre Lust auf den ersten Blick gewesen.“

„Halte dich zurück. Ich komme.“

„Die Dame ist beschäftigt“, erklärte Evie. „Wir rennen uns hier die Hacken ab. Aber um sechs hat sie Dienstschluss, dann kannst du sie mit nach Hause nehmen.“

Sie begegneten sich früher. Die Patientin mit den Gesichtsverletzungen brauchte einen plastischen Chirurgen, wenn sie nicht für ihr Leben lang entstellt sein wollte. Luke fand sich im OP wieder, mit Lily als zweiter OP-Schwester.

Es ging nicht um Leben oder Tod. Nur ein paar feine Narben sollten Becky Martin später daran erinnern, dass Übermut, zu viel Alkohol und ein PS-starkes Motorboot sich nicht vertrugen. Die junge Frau war mit einem blauen Auge davongekommen.

Die Stimmung im OP-Saal war nicht mit der letzte Nacht zu vergleichen. Entspannt fand Luke sie trotzdem nicht. Jeder beobachtete ihn … und Lily. Die Blicke, die sie tauschten, was und wie sie es zueinander sagten, alles wurde genau registriert.

Lily wirkte mitgenommen, aber sie arbeitete professionell und bewies Fähigkeiten, die ihm die Arbeit erleichterten. Trotzdem hätte er sie lieber nicht dabeigehabt. Er sah es nicht gern, wenn sein Team abgelenkt war – und das war es, durch Lily.

Das ist nicht fair, dachte er missmutig. Sie wollte mich trösten, und dafür bezahlt sie jetzt. Über ihn amüsierten sich die Kollegen, aber Lily hatte gleich den Ruf weg, dass sie leicht zu haben war. Luke gefiel das gar nicht.

Er setzte die letzte Naht und trat vom OP-Tisch zurück.

„Gut gemacht, Luke“, meinte sein Anästhesist. „Du hast dir eine Pause verdient. Ich habe gehört, das Dienstzimmer ist frei. Schwester Ellis, vielleicht sind Sie ja auch frei?“

Die Juniorschwester fing an zu kichern.

Ich muss mit Lily reden, dachte Luke. Ich muss mich bei ihr entschuldigen.

Er brauchte Schlaf, Lily hatte die ganze Nacht Dienst. Luke beschloss, zum Schichtwechsel wiederzukommen und dann mit ihr zu sprechen.

Luke verschwand, und sie konnte sich endlich wieder richtig auf ihre Arbeit konzentrieren. Zu sagen, dass der Mann sie ablenkte, war noch untertrieben! Und die Kommentare der werten Kollegen waren unerträglich.

Lily fühlte sich gedemütigt, aber nicht nur das. Die Magenkrämpfe wurden schlimmer, und jetzt war ihr auch noch übel. Sie hatte Lighthouse Cove verlassen, weil die Anspannung sie krankmachte. Nur zwei Tage in Sydney, und sie hatte es geschafft, den Stress noch zu erhöhen …

„Sie sehen blass aus.“ Elaine musterte sie kritisch. „Hoffentlich haben Sie sich nicht dieses Virus geholt. Das halbe Krankenhaus war betroffen, aber wir dachten, das Schlimmste ist vorbei. Wie fühlen Sie sich?“

„Ich bin einfach nur müde. Ich hatte eine harte …“ Lily fing Elaines Blick auf und verstummte. „Ich meine …“

„Nein, nein, ich verstehe schon.“ Die ältere Schwester lächelte nachsichtig. „Sie und Luke … ich kann mir vorstellen, dass Sie müde sind. Aber wie ich von Dr. Blain gehört habe, der es wiederum von Dr. Lockheart weiß, kennen Sie Luke schon länger. Warum haben Sie sich von mir über ihn erzählen lassen, wenn Sie beide doch alte Freunde sind?“

„Ich …“ Sie verstand gar nichts mehr, aber da redete Elaine schon weiter.

„Er erzählt nicht viel von sich, das wissen wir schon. Aber wenn er mit jemandem zusammen ist, der genauso gestrickt ist, dann brechen für uns saure Zeiten an“, meinte sie augenzwinkernd. „Man sagt, dass er Sie um sechs abholen und nach Hause bringen will. Falls Sie bis dahin durchhalten“, fügte sie besorgt hinzu. „Sie sehen ja ganz elend aus. Wissen Sie was, Sie bleiben bis zum Schichtwechsel im Stationszimmer und kümmern sich um den Papierkram. Wenn es Sie wirklich erwischt hat, haben Sie bei den Patienten nichts zu suchen.“

„Ich bin nur müde – und ich brauche niemanden, der mich nach Hause bringt.“

„Es ist ja nicht irgendwer, sondern Luke Williams! Also, ran an die Büroarbeit, meine Liebe, und danach lassen Sie sich von Ihrem Schatz ins Bett packen.“

Lily hätte sich am liebsten in einer dunklen Ecke verkrochen. Wie ein Häufchen Elend saß sie über den Krankenakten, niedergeschlagen und geplagt von Übelkeit und Bauchkrämpfen.

Luke fand sie im Spindraum, als sie ihre Sachen holte.

Ich könnte es einrichten, dass ich in den nächsten vier Wochen nichts mit ihr zu tun habe, dachte er. Es wäre für ihn ein Leichtes, die Dienstpläne so abzufassen, dass sie bei seinen OPs nicht dabei war.

Finn benutzt Frauen, um zu vergessen. Vielleicht sollte ich das auch tun.

Nur … Lily selbst war nicht so einfach zu vergessen. Ihre Anteilnahme, ihre Großzügigkeit, das Lächeln in den Tiefen ihrer wundervollen Augen, ihre sanften Berührungen …

Außerdem hatte die Angelegenheit ihr einen gewissen Ruf eingebracht. Da war es das Mindeste, dass er sich bei ihr entschuldigte.

Er öffnete die Tür, und sie drehte sich um. Lily war kreideweiß. Täuschte er sich, oder schwankte sie, als würde sie gleich umkippen? Mit drei langen Schritten war er bei ihr. „Hey …“, meinte er sanft, während er sie stützte.

„Ist schon gut.“ Sie entwand sich ihm und ließ sich auf die Holzbank vor den Spinden sinken. „Mir war nur ein bisschen schwummrig.“

„Du bist doch nicht schwanger, oder?“

Sie warf ihm einen Blick zu, den er verdient hatte. Fast wäre Luke zusammengezuckt.

„So weit sind wir nicht gekommen, Superman. Vom Küssen wird man nicht schwanger, ganz egal, für wie heiß du dich hältst!“

„Entschuldige“, bat er aufrichtig. „Das war blöd von mir. Und beleidigend. Aber du bist krank.“

„Vermutlich habe ich mir dieses scheußliche Virus eingehandelt, das das halbe Krankenhaus niedergestreckt hatte. Ihr hättet ein Banner mit Totenschädel und gekreuzten Knochen über dem Eingang anbringen sollen mit der Aufschrift: ‚Ihr, die Ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!‘“

„Oder euren Mageninhalt.“

„Hör auf“, stieß sie matt hervor.

„Komm, ich bringe dich nach Hause.“

Sie starrte ihn finster an. „Nein. Dein Wagen hat bestimmt Ledersitze.“

„Stimmt. Aber wir können bei der Notaufnahme vorbeigehen und ein paar Spucktüten holen. Ich hatte es letzte Woche, ich kann mich nicht anstecken.“

„Vielleicht habe ich es von dir.“

„Ein Grund mehr, dass ich mich bei dir entschuldigen muss.“ Luke nahm sie bei den Ellbogen und zog Lily hoch. „Wir verabreichen dir eine Dosis Metoclopramid gegen die Übelkeit, und dann bringe ich dich nach Hause und ins Bett.“

„Nein.“

„Nein?“

„Ich meine … ja, bitte“, sagte sie schwach. „Aber erst brauche ich zehn Minuten im Bad.“

Auf dem Weg zu der Adresse, die sie ihm gegeben hatte, sprachen sie kein Wort. Luke sah, dass Lily immer noch mit Brechreiz kämpfte und sich nur mit Mühe zusammenriss. Also sagte er nichts, sondern konzentrierte sich aufs Fahren.

Schließlich hielt er vor einer heruntergekommenen Pension. Luke sah auf das schäbige Gebäude und dann auf Lily, die die Tür öffnete und sich aus dem Wagen quälte.

„Sag bloß, du wohnst hier?“

„Nein. Das heißt, ja, aber nur vorläufig. Danke, dass du mich hergebracht hast.“ Auf wackligen Beinen ging sie auf den Eingang zu.

Im Handumdrehen war er aus dem Auto und hatte sie nach wenigen Schritten eingeholt.

„Bitte, lass mich. Ich muss …“

„Ich kenne das Haus. Als ich noch Assistenzarzt war, hatten wir durchschnittlich ein Mal pro Woche einen Junkie mit Überdosis bei uns, der aus dieser Bruchbude kam.“

Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen. „Es ist ja nur, bis ich mein erstes Geld bekomme. Es hat ein Badezimmer. Bitte …“

Lily verschwand fluchtartig hinter einer struppigen Hecke, und er hörte, wie sie sich würgend übergab. Luke folgte ihr in den Garten, der genauso verkommen war wie das Haus. Sie war totenblass, der kalte Schweiß stand ihr auf der Stirn, und sie zitterte am ganzen Körper.

Luke überlegte nicht lange. Als der Anfall vorbei war, schwang er Lily auf die Arme und trug sie zu seinem Wagen. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, verfrachtete er sie auf den Beifahrersitz. „Wie ist deine Zimmernummer?“

„Z…zwölf, aber …“

„Gib mir den Schlüssel.“

„Luke …“

Ohne auf ihren Protest zu achten, nahm er ihr die Handtasche ab und holte den Schlüssel heraus.

„Keine Diskussion, und rühr dich nicht vom Fleck“, befahl er und marschierte zum Eingang.

Selbst wenn Lily gewollt hätte, sie hätte sich nicht rühren können. Ihre Beine gehorchten ihr nicht, ihr war hundeelend.

Sie wollte sterben.

Warum saß sie in Lukes Wagen?

Weil sie zu nichts anderem fähig war.

Sie schloss die Augen, und kurz darauf war er wieder da. Der Anblick ihres Koffers in seiner Hand machte sie wieder munter … ein bisschen jedenfalls. „Was …?“ Lily versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Ohne Erfolg.

„Hier bleibst du nicht“, bestimmte Luke grimmig. „Da drinnen wimmelt es von kaputten Typen.“ Plötzlich veränderte sich seine Miene. Er glitt hinters Steuer und schob ihr den Ärmel hoch.

Schlagartig lichtete sich ihre Benommenheit. Hielt er sie etwa für drogenabhängig? Als er auch noch ihre Pupillen prüfte, hatte Lily genug. Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Luke wich aus und umfasste ihre Handgelenke.

„Nicht doch“, sagte er sanft.

„Ich trinke Sekt, jedes Mal, wenn ich eine Gehaltserhöhung bekomme“, stieß sie hervor. „Ich bin süchtig nach Liebesromanen und Schokolade. Ich hatte zwei Mal in meinem Leben mit der Polizei zu tun – weil ich zu schnell gefahren war und im Parkverbot gestanden habe. Aber ich nehme keine Drogen!“ Sie kämpfte mit den Tränen, als sie ihm ihre Hände entriss und nach dem Türgriff tastete.

„Warte.“ Er beugte sich vor und zog Lily zu sich herum. „Es tut mir leid.“

„Mir auch. Lass mich raus.“

„Ich bringe dich nach Hause.“

„Ich bin zu Hause.“

„Zu mir nach Hause.“

„Du willst keinen Junkie bei dir zu Hause.“

„Du bist kein Junkie. Ich habe dich gekränkt, darf ich das wieder gutmachen?“

„Nicht nö…“ Ihr Magen verkrampfte sich, der heftige Brechreiz blendete alles andere aus.

Luke hielt ihr eine Spucktüte hin, aber es kam nichts mehr. Ihr Magen war leer.

Er wartete, bis der Anfall vorbei war, und präsentierte eine Packung Feuchttücher. „Spucktüten und Feuchttücher aus der Notaufnahme“, sagte er, während er mit einer Hand ihr Kinn sanft festhielt und Lily mit der anderen das Gesicht abwischte. Sie war so schwach, dass sie kein Wort hervorbrachte. „Du kriegst Knöllchen, ich stehle Feuchttücher. Kriminell, alle beide. Machen wir es wie Thelma und Louise? Mal sehen, ob wir es über die Grenze schaffen?“

„Ich … Nein.“

„Dachte ich mir.“ Luke schnallte sie an. „Wir finden etwas Besseres für dich.“

Um acht stand seine erste OP auf dem Plan, und er schaffte es, nicht mehr als eine Viertelstunde zu spät zu kommen. Heute Morgen hatte er nur Privatpatienten, kosmetische Eingriffe.

Die Frau auf dem OP-Tisch war ins Ausland geflogen, um sich die Wangen aufpolstern, die Nase verkleinern und Fett aus den Oberschenkeln absaugen zu lassen. Sie hatte nicht viel bezahlen müssen, und entsprechend sah das Ergebnis aus. Ihre Nase war deformiert, die Nasenscheidewand perforiert. In der rechten Wange war das Implantat verrutscht, wodurch ihr Gesicht seltsam schief wirkte. Und ihre Schenkel waren eine einzige Wellenlandschaft, Dellen und Beulen zogen sich durch das Gewebe.

Aber die Beine waren heute nicht dran. Luke wollte zuerst die Implantate entfernen. Da sie von minderwertiger Qualität waren, musste man jederzeit damit rechnen, dass sie platzten, und das galt es zu verhindern. Danach kam die Nase an die Reihe.

Die Patientin würde weitere Eingriffe über sich ergehen lassen müssen, und er konnte nicht versprechen, dass sie hinterher wieder so aussah wie vorher.

Kosmetische Chirurgie konnte das Selbstvertrauen stärken, wenn der Operateur brillant war. In diesem Fall hatte sie in einer Katastrophe geendet.

Die Operation, die Luke als Kind gehabt hatte, war brillant gewesen.

Seine Kindheit war von einem Muttermal überschattet, das dunkelrot wie ein Feuermal fast die Hälfte seines Gesichts bedeckte. Seine Eltern fanden nur, das bilde den Charakter. Als Luke vierzehn war, schritt sein Onkel Tom ein.

„Ich habe den besten plastischen Chirurgen engagiert, den ich mir leisten kann“, erklärte er Lukes Vater. „Der Junge muss das Ding loswerden, ob es euch passt oder nicht.“

Sein Onkel war Junggeselle, ein wortkarger Mann, der jeden Dank ablehnte. Aber er und sein Schönheitschirurg hatten Lukes Leben verändert und in ihm den Wunsch geweckt, solche Wunder auch für andere Menschen zu vollbringen.

Die Farm seines Onkels war auch heute noch eine Oase der Ruhe für Luke. Zwei Wochen lang war er nicht dort gewesen, und sie fehlte ihm. Vielleicht könnte ich ein paar Tage freinehmen, überlegte er. Lily meine Wohnung überlassen.

„Na, dann erzähl mal von deiner Dame der Nacht.“

Luke fuhr zusammen, als Finns tiefe Stimme von der Tür her ertönte. Allmählich sollte ich mich daran gewöhnt haben, dass er sich anschleicht. „Meiner was?“

„Dein One-Night-Stand. Obwohl es eigentlich schon Morgen war. Hast du vor, noch einen Morgen dranzuhängen?“

„Das geht dich nichts an.“ Er dachte an Lily, wie sie zusammengerollt unter seiner Bettdecke lag, so krank, dass sie kaum mitbekommen hatte, dass er gegangen war. Luke war eine Stunde bei ihr geblieben, bis die Übelkeit nachgelassen hatte. Obwohl er wusste, dass sie nur Schlaf brauchte, widerstrebte es ihm, sie allein zu lassen.

Und noch etwas widerstrebte ihm … dass alle in diesem Krankenhaus dachten, sie wäre sein One-Night-Stand.

Sydney Harbour Hospital. Sydney Scandal Central würde besser passen … Zentrale der Skandale, Brutkasten für pikante Gerüchte, die in Windeseile die Runde machten. Hier arbeiteten Top-Mediziner unter hohem Druck, zusammengeworfen in Teams, die emotional belastende Situationen verkraften mussten. Tratsch war ein gutes Ventil. Bisher hatte Luke sich da heraushalten können.

Auch wenn es ihn ärgerte, dass er ständig beobachtet wurde. Auch wenn er mitbekam, dass sie Wetten abschlossen, welche Frau seinen Eispanzer zuerst knacken würde.

Aber jetzt redeten sie nur noch über Lily. Lily, die in seinem Bett lag – was nicht lange ein Geheimnis bleiben würde. In Kirribilli Views, seinem Apartmenthaus, wohnten auch viele Kollegen, und heute Nachmittag kam seine Putzfrau. Sobald sie mit Staubwischen fertig war, wusste ganz Sydney Bescheid.

„Sie ist kein One-Night-Stand“, hörte er sich sagen. „Das habe ich Dr. Lockheart schon gesagt. Ich kenne Lily seit Jahren.“

„Seit Jahren?“ Das klang ungläubig.

„Was glaubst du, warum sie hier ist? Wir wollten sehen, ob es mit uns klappt.“

„Und dann treibt ihr es im Dienstzimmer?“

„Okay, das war nicht besonders klug“, gab Luke zu. „Sie hatte nach der Arbeit auf mich gewartet. Ich …“ Er schloss kurz die Augen. „Der Kleine war gerade gestorben. Ja, ich weiß, was wir gemacht haben, war unangemessen, aber …“

„Du hast eine Beziehung. Was zum …?“

„In diesem Krankenhaus denkt jeder, er wüsste alles über mich“, meinte Luke matt. „Aber das stimmt nicht.“

Die Tür zu seinem Büro stand offen. Ihre Stimmen waren bis in den Flur zu hören. Was Luke ganz recht war. Wenn alle glaubten, dass Lily und er ein Paar waren, so würden sie sie mit mehr Respekt behandeln.

„Deine Geliebte fängt hier an zu arbeiten, und du hältst es nicht für nötig, uns aufzuklären?“ Finn war verärgert.

„Warum sollte er?“ Evie stand an der Tür.

„Er hat uns getäuscht.“

„Wieso, nur weil er uns nicht erzählt, mit wem er ins Bett geht?“, konterte Evie kampflustig. „Was geht dich das an?“

„Wir sind ein Team.“

„Ach ja? Dann hast du aber seltsame Methoden, deine Teamkollegen zu behandeln.“ Evie kam in Fahrt. „Lass Luke in Ruhe. Es ist seine Sache.“

„Wenn er seine …“

„Luke ist dein Freund“, sagte Evie und schloss die Tür. „Willst du es für ihn noch schlimmer machen?“

„Meine Patientin wartet.“ Zwischen den beiden würden gleich wieder die Fetzen fliegen, und Luke hatte wenig Lust, zwischen zwei Stühle zu geraten.

„Ich freue mich so.“ Evie umarmte ihn herzlich. „Lily ist eine großartige Krankenschwester. Ich finde zwar auch, dass du uns von ihr hättest erzählen können, aber …“ Sie warf Finn einen abfälligen Seitenblick zu. „… ich verstehe, warum du es nicht getan hast. Sie war heute Morgen bei Dienstschluss sehr blass. Geht es ihr gut?“

„Anscheinend hat sie sich hier mit Noro angesteckt. Ich werde mit der Verwaltung sprechen, die sollen sie für die Zeit der Krankmeldung weiterbezahlen.“

„Muss sie sich denn krankmelden?“

„Ja.“

„Wo ist sie jetzt?“, fragte Finn barsch.

„Zu Hause. In meinem Bett.“

„Wunderbar!“, rief Evie erfreut aus. „Lily und Luke. Oh, wie romantisch.“ Diesmal zwinkerte sie Finn zu. „Vielleicht sollten Sie sich auch eine feste Beziehung zulegen, Dr. Kennedy.“

„Träum weiter.“

„Ich dachte, du triffst dich mit jemandem?“, meinte Luke erstaunt.

„Man hat ihn mit Mariette aus der Buchhaltung gesehen“, spöttelte Evie. „Das scheint mir nicht viel Zukunft zu haben.“

„Misch dich nicht ein“, warnte Finn mühsam beherrscht.

„So wie du dich nicht in Lukes Liebesleben einmischst?“ Evie lächelte süffisant. „Also wirklich, Dr. Kennedy. Darf ich Sie zum OP begleiten, Dr. Williams?“

„Ja“, sagte Luke erleichtert.

„Dann kannst du mir von Lily erzählen. Lass nichts aus. Wann ihr euch das erste Mal gesehen habt, wann du sie das erste Mal geküsst hast … das ganze romantische Märchen.“

Märchen, dachte Luke. Da hat sie recht – alles nur Märchen.

Lily wachte auf, weil jemand hinter der Tür staubsaugte.

Sonnenlicht spielte auf ihrer Tagesdecke. Meine Tagesdecke?

Sie lag in einem breiten Doppelbett, auf daunenweichen Kissen und in weißer, frisch duftender Bettwäsche. Der Raum war groß und in kühlen, hellen Grautönen gestrichen, an den Fenstern hingen schlichte weiße Gardinen. Maskulin, funktional, kein Schnickschnack … eindeutig das Zimmer eines Mannes.

Am besten waren die breiten, bis auf den Boden reichenden Fenster, durch die man einen atemberaubenden Blick auf den Hafen von Sydney hatte. Lily sah die Manly-Fähre dahintuckern und die strahlend weißen Segel des berühmten Opernhauses.

Ein Sonnenstrahl kitzelte sie an der Nase.

Die Krämpfe hatten aufgehört. Lily bewegte sich vorsichtig. Auch die Übelkeit war verschwunden. Ich bin gestorben und im Himmel gelandet.

Nein, sie war in Luke Williams’ Bett.

Jemand klopfte an die Tür.

„Ja, bitte?“ Lily zog die Decke bis zum Kinn hoch.

Doch anstelle von Luke erschien eine pausbäckige kleine Frau in geblümter Kittelschürze und lugte ins Zimmer. „Sind Sie wach, meine Liebe? Ich möchte Sie nicht stören, aber als ich vorhin nach Ihnen sah, habe ich festgestellt, dass Sie das Wasser nicht angerührt haben. Dr. Williams möchte bestimmt, dass Sie ausreichend trinken. Soll ich Ihnen einen Tee bringen?“

„Oh, das wäre schön.“

„Mit viel Zucker!“ Ein strahlendes Lächeln ging über das rundliche Gesicht. „Ich bin Gladys Henderson, und ich putze für Dr. Williams. Er ist ein wunderbarer Mann, aber ich muss wohl mit ihm schimpfen, dass er Sie uns solange vorenthalten hat. Natürlich freuen wir uns für Dr. Williams … er ist so nett, und wir haben die ganze Zeit gedacht, dass er immer zur Farm seines Onkels fährt. Er redet nicht viel, und ich dachte, er denkt nur an seine arme Frau. Aber sie ist seit vier Jahren tot, wie schön … nicht, dass sie tot ist, das meinte ich nicht. Ich wollte sagen, wie schön, dass er wieder jemanden hat. Ach, ich rede schon wieder so viel, nicht, dass Ihnen noch schwindlig wird. Ich koche Ihnen jetzt eine hübsche Tasse Tee und schüttele Ihnen die Kissen auf. Den trinken Sie brav und legen sich wieder schlafen, bis der Doktor nach Hause kommt. Oh, Liebes, ich bin ja so froh. Es geht doch nichts über eine romantische Liebesgeschichte!“

4. KAPITEL

Luke musste länger operieren als erwartet. Es gibt immer Komplikationen, dachte er. Man schickte ihm die verpfuschten Fälle, Patienten, die an die Schwarzen Schafe unter seinen Kollegen geraten waren. Dann musste er retten, was zu retten war, oft mit unbefriedigendem Ergebnis. Eine Arbeit, die ihm keinen Spaß machte.

Seine Leidenschaft galt anderen Operationen, denen, die dem Leben eines Menschen einen neuen Sinn gaben … bei Geburtsfehlern, nach Unfällen oder entstellenden Krebserkrankungen.

Anfangs hatte er sich geweigert, kosmetische Operationen zu übernehmen. Doch die Grenzen zwischen Eitelkeit und Leid ließen sich manchmal nicht klar erkennen, und dann konnte er nicht Nein sagen.

Als er das Krankenhaus an diesem Mittwoch schließlich verließ, beschlich ihn wieder das Gefühl, dass er seine Zeit besser nutzen könnte. Dass es für ihn noch mehr geben sollte im Leben.

Zum Beispiel, nach Hause zu kommen, zu Hannah und seinem kleinen Jungen?

Nein. Er vermisste Hannah nicht mehr so wie früher. Wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass seine Ehe … schwierig gewesen war. Aber trotzdem fehlte ihm etwas. Etwas, das hätte sein können, ohne dass er genau wusste, was es war.

Luke hielt auf seinem Parkplatz in der Tiefgarage und stieg aus.

Lily war wach, als Luke leise die Tür öffnete und ins Zimmer sah. Sie setzte sich auf und versuchte, würdevoll auszusehen.

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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Jessica Matthews

Jessica Matthews wuchs auf einer Farm im Westen von Kansas, USA auf. Sie verbrachte ihre Zeit am liebsten mit Lesen. Ihrem Lehrer in der 8. Klasse erzählte sie, dass sie eines Tages Schriftstellerin werden wolle. Wissenschaftliche Lehrbücher und Forschungsunterlagen ersetzten die Liebesromane, Mysteries und Abenteuergeschichten, als sie Medizinisch-Technische Assistentin wurde....

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Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert? Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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