Julia Ärzte zum Verlieben Band 64

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

WARUM SO KÜHL, DR. O'DOHERTY? von CARLISLE, SUSAN
Lucy ist sofort fasziniert von ihrem neuen Job als Familientherapeutin am Angel’s. Ebenso wie von ihrem attraktiven Kollegen Dr. O’Doherty, der sich jedoch geradezu feindselig verhält. Bei seinen kleinen Patienten zeigt er so viel Herz, warum ist er nur zu ihr so kühl?

HERZENSEINSATZ IN CORNWALL von NEIL, JOANNA
Sekundenlang starrt Notarzt James Benson seine Kollegin Sarah an. Sie will selbst den Jungen aus derMine retten? Ohne Kenntnisse der Höhlen Cornwalls? Nein, das übernimmt er! Aus reiner Verantwortung als ihr Boss. Mehr empfindet er ja nichtfür sie, oder?

SEIT DU BEI MIR BIST von FRASER, ANNE
Sie ist entzückend, wenn sie sich so aufregt, findet Daniel. Eigentlich hat er Colleen nur eingestellt, damit sie seinen kleinen Sohn gesund pflegt und er ruhig arbeiten kann. Doch zur Ruhe kommt er kaum noch, seit die stürmische Irin bei ihm auf Carrington Hall wohnt …


  • Erscheinungstag 14.03.2014
  • Bandnummer 0064
  • ISBN / Artikelnummer 9783733702694
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Carlisle, Joanna Neil, Anne Fraser

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 64

SUSAN CARLISLE

Warum so kühl, Dr. O’Doherty?

Ich brauche keine Beraterin, empört sich Kinderneurochirurg Ryan O’Doherty, als ihm die attraktive Familientherapeutin Lucy Edwards an die Seite gestellt wird. Seine kleinen Patienten rettet er mit Taten und nicht mit großen Worten! Doch die enge Zusammenarbeit mit der warmherzigen Lucy ist ein Muss, wenn er Chefarzt im berühmten „Angel‘s“ werden will ...

JOANNA NEIL

Herzenseinsatz in Cornwall

Seit Sarah bei den fliegenden Notärzten Cornwalls mit ihrer Ex- Jugendliebe James arbeitet, spürt sie, dass die Gefühle für ihn längst nicht erloschen sind. Doch noch ist die Angst groß, erneut von ihrem sexy Kollegen enttäuscht zu werden. Da kommt es zu einem dramatischen Einsatz: Ein Kind ist in einen Schacht gestürzt. James und Sarah eilen als Retter vor Ort …

ANNE FRASER

Seit du bei mir bist

Staatsanwalt Daniel Frobisher hat ein Herrenhaus mit Butler und gibt seinem kranken Sohn eine kahle Kammer? Temperamentvoll stellt Physiotherapeutin Colleen den Vater ihres kleinen Patienten zur Rede – dabei lässt dieser Mann sie keineswegs kalt. Aber sie weiß, dass sie nicht schwach werden darf. Ihre Hochzeit mit einem anderen ist bereits geplant …

ANGEL MENDEZ CHILDREN’S HOSPITAL

DAS TEAM:

Dr. Ryan O’Doherty Kinderneurochirurg
Lucy Edwards Familientherapeuth
   
Nancy Krankenschwester
Dr. Alex Rodriguez Chefarzt der Neurochirurgie
Dr. Layla Woods Chefärztin der Pädiatrie
Dr. Jack Carter ehemaliger Chefarzt der Pädiatrie

 

 

PATIENTEN:

Michelle

Brian Banaslak

Lauren

Daniel Hancock

Amanda Marcella

Miguel Rivera

 

UND:

Mr Matherson Leiter der Personalabteilung
Mr Volpentesta Lucys Vermieter und Restaurantchef
Alexis Lucys Zwillingsschwester
Emily Lucys Nichte
Sam Lucys Schwager

1. KAPITEL

Aufmerksam betrachtete der Kinder-Neurochirurg Dr. Ryan O’Doherty den kleinen Jungen in dem Bett auf der Intensivstation des Angel Mendez Children’s Hospital in New York, während er mit dem Vater sprach.

„Ich habe von dem Tumor so viel wie möglich entfernt. Alles konnte ich leider nicht entfernen, um keine zusätzlichen Schäden zu riskieren.“

Ryan legte großen Wert darauf, die Wahrheit nicht zu beschönigen, wenn er mit den Eltern seiner kleinen Patienten sprach. Er hatte für das Kind getan, was er konnte. Nicht alle wurden geheilt. Das mussten die Eltern einfach akzeptieren.

„Ich verstehe. Dann werden seine Mutter und ich ihn mit nach Hause nehmen und ihm so lange unsere Liebe schenken, wie wir können“, antwortete der Vater tränenerstickt.

Da klingelte auf einmal Ryans Handy. Er tippte auf das Display, um den schrillen Klingelton abzustellen, und las die Nummer. Die Personalabteilung. Das hatte er völlig vergessen. Was konnte bei den Bürokraten schon so wichtig sein, dass er unbedingt dort gebraucht wurde?

Er sah den Vater wieder an. „Der Neurologe wird Ihren Sohn weiter behandeln. Aber ich bin da, falls es nötig sein sollte. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“

„Danke für alles, was Sie getan haben.“

Ryan nickte. Das war schließlich sein Job.

Zehn Minuten später ging er mit langen Schritten durch das Labyrinth grauer Flure zur Personalabteilung. Wie in den meisten Krankenhäusern lagen deren Büros im Keller und in der hintersten Ecke des ältesten Gebäudeteils. Seit er vor fünf Jahren seine Stelle angetreten hatte, war er nicht mehr hier gewesen.

Er wusste nicht genau, weshalb er gerufen worden war. Doch gestern hatte er eine E-Mail erhalten, in der um seine Anwesenheit gebeten wurde. Ryan war sicher, dass die Angelegenheit komplette Zeitverschwendung sein würde. Da man ihn in Kürze zu einer Fallbesprechung erwartete, musste er die Sache schnell hinter sich bringen.

Schließlich kam er durch eine mit Holzfolie beklebte Tür in einen tristen Warteraum, der nur durch farbenfrohe Kinderbilder an den Wänden etwas aufgehellt wurde.

Ryan ging direkt auf die Sekretärin an ihrem Schreibtisch zu. „Dr. O’Doherty. Ich möchte zu Mr Matherson.“ Er lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war. Denn er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es klug war, seine Gefühle zu verbergen.

„Er erwartet Sie“, erwiderte die Sekretärin.

Anstatt sich zu setzen, wartete Ryan neben ihr, als sie ihn über die Gegensprechanlage ankündigte, und schaute sich um.

Eine junge Frau, etwa Ende zwanzig, saß auf einem der Stühle an der Wand und sah zu ihm auf. Ihre großen blauen Augen erinnerten ihn an einen Sommernachmittag. Doch es lag eine tiefe Traurigkeit darin. Rasch wich der melancholische Ausdruck einem direkten Blick, ehe sie wegschaute.

Den Telefonhörer am Ohr, sah die Sekretärin zu der Frau auf dem Stuhl hinüber. Diese hatte die Knöchel gekreuzt und die Hände im Schoß verschränkt. Es war nichts Auffälliges an ihr außer ihren großen Augen und dem dicken Zopf, der ihr über die Schulter fiel. Sie trug ein hellgraues Business-Kostüm und darunter eine dünne apricotfarbene Bluse. Ryan fand sie ein bisschen zu gouvernantenhaft für seinen Geschmack.

Allerdings war ihre Kleidung von guter Qualität. Vermutlich lag es an den ausgedehnten Shopping-Trips mit seinen Schwestern, dass er das beurteilen konnte.

„Ms Edwards, Mr Matherson möchte Sie und Dr. O’Doherty jetzt gerne sprechen.“

Wer war diese Ms Edwards, und was hatte sie mit ihm zu tun? Als sie aufstand, blieb sein Blick an ihr hängen. Sie war groß und gertenschlank, und in ihren Augen lag nun ein resoluter Ausdruck.

Da erschien auch schon Mr Matherson, ein fülliger Mann mit beginnender Glatze. „Dr. O’Doherty und Ms Edwards, bitte kommen Sie in mein Büro.“

Ryan ließ Ms Edwards vorgehen. Sie reichte ihm bis zur Schulter. Das hellblonde Haar hatte sie auf besondere Weise geflochten. Wie hieß das noch gleich? Ach ja, ein französischer Zopf. Auch das hatte er von seinen Schwestern mitbekommen. Selbst mit dem Zopf reichte ihr das Haar bis zur Rückenmitte. Ob es ihr wohl bis zur Taille fiel, wenn sie es offen trug?

Ms Edwards Augen wurden schmal. Hatte sie seine Gedanken womöglich erraten?

„Bitte nehmen Sie Platz.“ Mr Matherson trat an seinen Schreibtisch und wartete, bis die beiden anderen sich auf den dunkelroten Plastikstühlen niedergelassen hatten, ehe auch er sich setzte. „Dr. O’Doherty, dies ist Lucy Edwards. Sie ist gerade neu zu uns gekommen.“

Lächelnd streckte Ryan ihr die Hand entgegen. „Ryan O’Doherty.“

Für einen Sekundenbruchteil zögerte sie, ehe sie ihm die Hand gab. Ihr Händedruck war fest, ihre Finger schmal und weich. Es war nur eine kurze Berührung, aber sie fühlte sich gut an.

Ryan sah Matherson erwartungsvoll an. Er hatte es eilig, denn sein Kollege wartete auf ihn. „Also, weshalb sind wir hier?“

Mr Matherson räusperte sich. „Ms Edwards ist Familienberaterin. Von ihrer letzten Arbeitsstelle bringt sie die besten Referenzen mit. Offenbar war sie diejenige, die regelmäßig von den Familien angefordert wurde.“

Lucy Edwards wirkte verlegen und wurde unwillkürlich ein wenig rot. Es gefiel ihr offensichtlich nicht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Ryan war überrascht. Seiner Erfahrung nach genossen Frauen es, wenn man ihnen Aufmerksamkeit schenkte.

„Unsere Klinik startet ein neues Programm zur Patientenversorgung, in dem jeweils ein Berater und ein Arzt ein Team bilden“, fuhr Matherson in wichtigem Ton fort. „Ms Edwards ist Ihre Partnerin, und Sie werden bei allen Fällen mit ihr zusammenarbeiten.“

Ryan beugte sich vor und fixierte ihn mit einem durchdringenden Blick. „Haben wir so was nicht schon vor ein paar Jahren mal ausprobiert und festgestellt, dass es nicht funktioniert?“

Matherson wirkte zerknirscht. „Ähnlich, aber das hier ist anders. Sie beide sind sozusagen der Betatest. Wenn es funktioniert, werden wir die übrigen Abteilungen dazu veranlassen, das Modell zu übernehmen.“

„Ist das wirklich notwendig? Ich bin sicher, Ms Edwards und ich können unsere Zeit sinnvoller nutzen.“

Entschlossen richtete sie sich auf. „Sprechen Sie bitte nicht für mich.“ Sie sah ihn an. „Doktor O’Doherty, ich kann Ihnen versichern, je enger die Beziehung zwischen Berater und Arzt, desto besser ist es für den Patienten.“

Sie sprach in einem weichen, gedehnten Südstaatenakzent, aber dennoch mit einem stählernen Unterton. Diese Frau hatte also Rückgrat. Interessant.

Lächelnd zog er die Brauen hoch. „Sooo.“ Er zog das Wort in die Länge, um ihren Akzent zu imitieren. „Sie glauben, dass eine enge Zusammenarbeit mit dem Arzt wichtig ist.“

Wieder wurde sie rot.

„Ich wollte damit nicht Ihre Arbeit in Zweifel ziehen“, setzte Ryan hinzu. „Ich bin lediglich der Ansicht, dass es nicht nötig ist, sich persönlich über jeden Patienten zu unterhalten. Immerhin bespreche ich mit meinen Patienten ganz andere Dinge als die, mit denen Sie sich befassen. Sie können also gerne Ihre Eintragungen in der Patientenakte über alles machen, was ich wissen sollte. Die werde ich dann lesen.“ Er stand auf.

Zu seiner Überraschung erhob sich auch Ms Edwards, um ihm die Stirn zu bieten. „Unsere Beziehung ist rein professioneller Natur“, erklärte sie gepresst. Sie atmete tief durch, ehe sie hinzufügte: „Die Patienten und ihre Angehörigen brauchen Trost und Zuwendung, die Sie Ihnen nicht geben können.“

Da hatte sie allerdings recht.

„Das ist mein Job, und ich bin gut darin.“ Energisch straffte sie die Schultern.

„Mag sein, aber ich werde meine Zeit nicht mit Besprechungen verschwenden, obwohl uns ein hervorragendes Computersystem als Kommunikationsmittel zur Verfügung steht. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.“

„Dr. O’Doherty.“ Mr Matherson warf ihm einen strengen Blick zu. „Ich weiß nicht, ob Sie wirklich verstehen, worum es hier geht. Dies ist ein Versuchsprogramm, das der Vorstand einstimmig beschlossen hat. Ihre Kooperation diesbezüglich wird mit Sicherheit wohlwollend zur Kenntnis genommen.“

Ryan presste den Mund zusammen. Matherson spielte auf die Tatsache an, dass man ihn bei der Besetzung der Chefarztstelle der Neurochirurgie übergangen hatte, und eine Kooperation sich gut in seinem Lebenslauf machen würde. Eigentlich hätte die Position ihm zufallen sollen, doch der Vorstand hatte stattdessen Alex Rodriguez eingestellt.

Mit schmalen Lippen musterte Ryan sein Gegenüber. Na schön, wenn dieses alberne Projekt ihm Pluspunkte einbringen konnte, würde er eben mitspielen. Oder zumindest so tun als ob.

Achselzuckend meinte er: „Okay.“ Er sah Ms Edwards an. „Also sind wir jetzt wohl ein Team.“

Misstrauisch erwiderte sie seinen Blick. Würde sie es ihm durchgehen lassen, so wenig wie möglich für das Projekt zu tun? Vielleicht steckte hinter dieser unscheinbaren Frau mehr, als er ursprünglich gedacht hatte. Jedenfalls wäre es eine Herausforderung, sie zum Lächeln zu bringen.

„Gut, dann wäre das geregelt“, erklärte Mr Matherson erfreut. An Ryan gewandt, sagte er: „Falls Sie jetzt wieder in die Neurochirurgie hochgehen, würden Sie Ms Edwards freundlicherweise den Weg zeigen?“

Lucy schaute auf den egozentrischen Arzt, der einen halben Schritt vor ihr ging. Es war schon schwer genug gewesen, ihr gesamtes bisheriges Leben hinter sich zu lassen, um einen neuen Job in einer unbekannten Stadt anzutreten. Aber mit einem Mann zusammenzuarbeiten, der es ihr übel nahm, dass sie ihm aufgedrängt wurde, machte die Sache fast unmöglich. Aber da sie keine andere Wahl hatte, musste sie dafür sorgen, dass dieses Projekt irgendwie funktionierte.

Als sie die Personalabteilung verließen, hielt Dr. O’Doherty ihr die Tür auf. Immerhin hatte er wenigstens gute Manieren. Auch seine breiten Schultern, die durchdringenden blauen Augen und seine hohe Gestalt waren Lucy nicht entgangen. Nur selten begegnete sie Männern, die sie noch überragten.

Während sie ihm folgte, ärgerte sie sich zunehmend mehr über seine ablehnende Einstellung. Er ging, als könnte er die Personalabteilung gar nicht schnell genug hinter sich lassen. Dennoch war Lucy froh, dass er sie durch die langen Flure führte, da sie keine Ahnung hatte, wo sie sich in diesem riesigen Krankenhaus befand.

Heute Morgen, als sie im Central Park an der Straße vor dem Haupteingang stand, war sie nicht einmal imstande gewesen, die Anzahl der Stockwerke zu zählen. Das Gebäude erstreckte sich über einen ganzen Straßenzug. Trotz der einschüchternden Größe des Krankenhauses gefiel ihr dessen Mischung aus neuer und alter Architektur. Und die leuchtend gelbrote Markise vor dem Eingang strahlte eine angenehme Wärme aus.

Lucy war es gewohnt, in großen Krankenhäusern zu arbeiten. Aber dies hier überstieg alles, was sie bisher kannte.

Nach einer Weile blieb Dr. O’Doherty schließlich vor einer Reihe von Aufzügen stehen und drückte den entsprechenden Knopf. Die abweisende Haltung des Mannes überraschte sie nicht. Typisch Chirurg. Und noch typischer für einen Neurochirurgen.

„Ich merke, dass Ihnen dieses Projekt nicht sonderlich zusagt“, meinte sie daher.

Er drehte sich zu ihr um. „Richtig.“

„Ich möchte meinen Anteil daran für uns beide so schmerzlos wie möglich gestalten.“

Der Aufzug kam, und sie traten in eine bereits sehr volle Kabine. Dabei ließ sich eine Berührung zwischen Dr. O’Doherty und Lucy nicht vermeiden, was ein seltsames Prickeln in ihrem Körper verursachte.

Auf der Fahrt nach oben standen sie so dicht nebeneinander, dass sie seine Körperwärme auf der entsprechenden Seite deutlich spürte. Zum ersten Mal seit Monaten schien die arktische Kälte in ihrem Innern sekundenlang nachzulassen. Diese kehrte jedoch zurück, sobald die Lifttüren sich öffneten und O’Doherty ausstieg. Lucy folgte ihm und hielt dann inne.

Er blieb stehen. „Gibt es ein Problem?“

„Nein, ich bin nur immer wieder erstaunt, wie sehr sich die Patientenbereiche vom Verwaltungstrakt eines Krankenhauses unterscheiden. Diese hellgelben Wände wirken so, als würde man aus dem Schatten ins Sonnenlicht kommen.“

„Ist mir noch nie aufgefallen.“

Das wunderte sie nicht.

„Finden Sie von hier aus Ihr Büro?“, fragte er.

Lucy blickte sich um und erkannte ein gerahmtes Kindergemälde an der Wand gegenüber. „Ja, ich weiß jetzt, wo ich bin.“ Da er sich abwandte, setzte sie hinzu: „Wie sollen wir bei der gemeinsamen Patientenbetreuung nun vorgehen, Dr. O’Doherty?“

Er drehte sich um. „So, wie ich es immer gemacht habe. Lesen Sie die Patientenakten, Ms Edwards.“

„Laut Mr Matherson reicht das nicht aus. Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, erwarte ich, dass Sie Ihren Anteil an dem Projekt erfüllen. Ihre Patienten sind jetzt auch meine, und ich möchte ihnen die bestmögliche Betreuung zukommen lassen.“

Er kam einen Schritt näher und sah sie mit seinen blauen Augen durchdringend an. „Glauben Sie, ich würde das nicht tun?“

„Sie sind bestimmt ein äußerst fähiger Chirurg, doch es gibt immer Möglichkeiten, die Patientenversorgung außerhalb des OPs noch zu verbessern.“

„Ms Edwards, wollen Sie etwa meine Professionalität infrage stellen?“

„Nein, aber ich werde mich auch nicht von Ihnen aufs Abstellgleis schieben lassen. Ich wurde vom Krankenhaus engagiert, um hier meine Arbeit zu machen. Daher erwarte ich, dass Sie das zumindest anerkennen.“

Ryan maß sie mit seinem Blick, ehe er verärgert entgegnete: „Meine Visite ist um fünf, und zwar pünktlich.“ Damit ließ er sie stehen.

Lucy ging an einigen Patientenzimmern vorbei, um den großen Schwesterntresen an der Ecke herum und wich dann einem Kind aus, das von seinem Vater in einem kleinen Wagen gezogen wurde. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Jedes kleine Kind, das sie sah, erinnerte sie an Emily.

Erleichtert erreichte sie schließlich den Flur, wo sich ihr Büro befand. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, wieder in einem Kinderkrankenhaus zu arbeiten. Aber dies war die einzige offene Stelle gewesen, als sie unbedingt von zu Hause wegmusste.

Im Gegensatz zu dem hellen, offenen und modernen Patientenbereich war das Büro kaum mehr als eine Kammer. Lucy teilte sich den Raum mit zwei weiteren Familienberatern, die der Neurologie zugeteilt waren. An einer Wand standen drei Schreibtische dicht nebeneinander, und wenn alle Berater sich hier aufhielten, mussten sie sich aneinander vorbeidrängen. Lucy störte das nicht weiter. Sozialarbeiter und Berater wurden oft so untergebracht.

Sie schaute auf die Uhr. Bis zu Dr. O’Dohertys Visite dauerte es noch ein paar Stunden. Daher hatte sie Zeit, sich mit seinen Fällen vertraut zu machen. Er sollte keinen Grund zur Beschwerde bekommen, was ihre Aufgaben betraf. Auch wenn er dem Projekt ablehnend gegenüberstand, wollte Lucy möglichst stressfrei mit ihm zusammenarbeiten.

Eine ihrer Kolleginnen, eine dunkelhaarige Frau mit einem freundlichen Lächeln, kam herein, als Lucy gerade hinausgehen wollte.

„Hey, wie läuft’s denn so?“, erkundigte sich Nancy.

„Gut, danke.“

„Ich habe gehört, Sie sind Dr. O’Doherty zugeteilt worden.“

Auf Lucys fragenden Blick hin ergänzte sie: „Der Krankenhaus-Flurfunk. Sogar aus dem Untergeschoss verbreiten sich Neuigkeiten schnell.“

„Ach so.“ Lucy griff nach ihrem Notizbuch.

„Ryan ist ein Schatz. Wir arbeiten alle sehr gerne mit ihm. Er hält sich zwar meistens etwas abseits, aber die Schwestern schwärmen für ihn. Und nicht nur eine von ihnen ist in ihn verknallt.“

Lucy konnte sich nicht vorstellen, dass das jemals ein Thema für sie sein würde.

„Bei den Patienten in unserer Abteilung bricht es einem oft das Herz, aber Ryan macht es für alle Beteiligten leichter“, fuhr Nancy fort. „Er ist ein großartiger Arzt, und auch nett anzuschauen.“

Da musste Lucy ihr recht geben. Trotzdem war ihr erster Eindruck von ihm nicht besonders positiv.

„Na ja, dann werde ich mir vor der Visite jetzt mal ein paar Patientenakten ansehen.“ Sie lächelte Nancy zu und verließ das Büro.

Obwohl sie sich von Krankenhaus-Tratsch möglichst fernhielt, hatten Nancys Bemerkungen ihr Interesse geweckt. Je mehr Lucy über Dr. O’Doherty wusste, desto besser. Am Schwesterntresen setzte sie sich an einen freien Computerplatz, tippte ihr Passwort ein und rief Dr. O’Dohertys Patientenliste auf. Zu allen machte sie sich ihre Notizen. Als sie fast fertig war, hörte sie im Korridor das Lachen einer tiefen Männerstimme, gefolgt von dem hohen Kichern eines Kindes.

„Dr. O’Doherty ist wieder in Aktion“, sagte eine Krankenschwester neben Lucy lächelnd.

Sekunden später kam er mit einem langsamen Galopp in Sichtweite, ein kleines Mädchen auf dem Rücken. Den weißen Arztkittel hatte er abgelegt, und das hellblaue Polohemd spannte sich über seiner breiten Brust. Der Mann schien gut durchtrainiert zu sein. Das glückstrahlende Mädchen hatte ihm die Arme eng um den Hals geschlungen. Ihr Kopf war mit einer weißen Mullbinde verbunden.

Am Schwesterntresen blieb Ryan stehen. „Ms Edwards, darf ich Ihnen Prinzessin Michelle vorstellen?“

Das Mädchen kicherte fröhlich.

„Sie hat heute ihr Hemd ganz alleine zugeknöpft und durfte sich deshalb was wünschen.“ Über die Schulter schaute er die Kleine an. „Prinzessin Michelle, willst du Ms Edwards erzählen, was du dir gewünscht hast?“

„Ich wollte Pferdchen reiten“, sagte Michelle schüchtern.

„Na, das ist doch ein schöner Wunsch.“ Lucy lächelte. „Wie weit reitest du denn? Über den Berg oder den Fluss?“

Lachend zeigte die Kleine mit dem Finger. „Bis zum Ende vom Flur.“

„Ah ja.“

„Das Pferd darf nämlich nicht zu weit vom Stall weg.“ Ryan zwinkerte der jungen Schwester zu, die seinen Blick scherzhaft erwiderte.

Lucy, die von diesem kleinen Flirt ausgeschlossen war, wunderte sich, dass ihr das einen Stich versetzte. Für Dr. O’Doherty gehörte sie offenbar nicht zu seinem inneren Kreis.

Der leicht singende Tonfall in seinem Brooklyn-Akzent verstärkte sich. „Jetzt muss ich mit der Prinzessin weiterreiten und sie dann wieder nach Hause bringen. Es ist fast Abendbrotzeit.“ Er blickte über die Schulter. „Was sagt man, damit das Pferdchen losgaloppiert?“

„Hüh!“, rief Michelle und kicherte begeistert.

Ein Lächeln huschte über Lucys Gesicht.

„Hey, Ms Edwards, ist das etwa ein Lächeln, was ich da sehe?“ Ryan hob die Brauen. „Ich habe mich schon gefragt, ob das möglich ist.“

Sie lächelte tatsächlich. Das kam in den letzten Monaten selten vor. Wie hatte dieser Kerl das bloß geschafft? Auch wenn seine Liebenswürdigkeit Lucy nicht mit einschloss, schienen ihm seine kleinen Patienten doch am Herzen zu liegen.

Pferd und Reiter galoppierten den Korridor hinunter und kehrten dann wieder um. Sie winkte ihnen zu, wobei ihr das Herz wehtat. Bald würde Emily so alt sein wie Michelle. Aber leider würde Lucy ihre kindliche Freude nicht mitbekommen.

Eine halbe Stunde später fragte sie eine der Schwestern, wo Dr. O’Doherty seine Visite normalerweise begann. Die Schwester wies nach rechts. Dort kam eine Gruppe von sechs Leuten aus einem Patientenzimmer, angeführt von Dr. O’Doherty. Lucy blieb zwei Schritte entfernt stehen.

Er schaute über eine Assistenzärztin hinweg, die ehrfurchtsvoll zu ihm aufsah, und bedachte Lucy mit einem finsteren Blick. „Alle mal herhören, das ist Ms Edwards.“

Sein Gefolge wandte sich zu ihr um.

„Sie ist unsere neueste Familienberaterin. Bitte stellen Sie sich später vor. Wir müssen uns jetzt unseren Patienten widmen.“ Flüchtig presste er die Lippen zusammen, fuhr jedoch ruhig fort: „Achten Sie bitte darauf, dass sie immer über alle Fälle informiert ist.“ Mit seinen durchdringenden blauen Augen fixierte er sie. „In Bezug auf den Patienten, den Sie gerade verpasst haben, muss ich Sie nachher noch auf den aktuellen Stand bringen.“

Sie senkte den Blick.

Dann ging es weiter zum nächsten und übernächsten Patienten. Schließlich blieb Ryan vor einer Tür stehen und wandte sich an Lucy. „Hier liegt Brian Banasiak. Ich habe ihm vor drei Tagen ein Blutgerinnsel entfernt. Dies ist ein Fall, bei dem ich denke, es könnte sinnvoll sein, wenn Sie an dem Fall mitarbeiten.“

Könnte? Seine herablassende Art ärgerte sie, doch sie ließ sich nichts anmerken. Bei ihrer früheren Arbeitsstelle galt sie als diejenige, die immer zurate gezogen wurde, wenn eine Familie Probleme hatte, mit der Krankheit eines Kindes fertig zu werden. Ihre Rolle wurde als wichtig für die allgemeine Patientenversorgung angesehen.

Dr. O’Doherty hingegen schien ihre Aufgabe im Vergleich zu seiner anspruchsvollen Arbeit als höchst untergeordnet zu betrachten.

„Nach meinen Informationen hat er sein Schädeltrauma durch einen Autounfall erlitten“, erklärte sie ruhig. „Ich werde mit den Eltern die Vorteile der Therapie zu Hause besprechen und ihnen Unterstützung für den Hausunterricht vermitteln. Diese Eltern haben einen langen Weg vor sich. Es ist immer schwierig, sich daran zu gewöhnen, dass ein vorher völlig normales Kind auf einmal auf Hilfe beim Essen und Anziehen angewiesen ist.“

Der verblüffte Ausdruck von Dr. O’Doherty, ebenso wie von den anderen, fühlte sich gut an.

Er nickte. „Danke, Ms Edwards. Sie haben Ihre Hausaufgaben anscheinend gemacht.“

„Die Eltern sind sehr um ihr Kind bemüht und werden sicher alles tun, was nötig ist, damit Brian wieder gesund wird. Ich werde gleich morgen früh mit ihnen reden, um herauszufinden, welche Unterstützung sie noch brauchen.“

Dr. O’Doherty nickte zustimmend, ehe er nach einem kurzen Klopfen an der Tür das Zimmer betrat. Zusammen mit der Gruppe trat Lucy mit ans Bett des Jungen. Seine Eltern stellten sich auf die gegenüberliegende Seite, doch der Arzt beachtete sie gar nicht.

„Brian, wie geht es dir heute?“, erkundigte er sich.

Der Achtjährige lächelte schwach. Den gesamten Kopf hatte er weiß bandagiert. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, und sein Gesicht wirkte von den Nachwirkungen der Operation noch leicht aufgedunsen.

„Ach, ganz gut“, antwortete der Junge ohne große Begeisterung.

„Deine Krankenschwester hat mir erzählt, dass du mein Starpatient bist“, meinte Dr. O’Doherty. „Also klatsch mich ab.“

Mit einem kleinen Lächeln hob Brian seine kleine Hand und schlug sie kräftig auf die des Arztes.

Dieser zog seine Hand zurück. „Aua! Ich merke, du wirst stärker.“

Brians Lächeln wurde breiter.

„Jetzt schau ich mir mal deinen Kopf an“, sagte Dr. O’Doherty. „Vielleicht kannst du einen kleineren Verband kriegen.“

„Der hier juckt.“ Der Junge zog die Nase kraus.

„Ja. Das bedeutet, dass es dir schon besser geht. Mal sehen, ob wir das Problem in den Griff bekommen.“

Als der Arzt den Verband entfernte, beobachtete Lucy die Eltern. Ein heftiges Trauma konnte starke Emotionen auslösen. Das wusste sie selbst nur allzu gut. Vor ihrem eigenen war sie geflüchtet.

„Wird er wieder Fahrrad fahren können?“, fragte Brians Mutter. „Müssen wir uns Sorgen machen, dass er stürzt?“

Dr. O’Doherty sah sie nicht einmal an. „Ms Walters, meine Fachkrankenschwester, kann Ihnen diese Fragen beantworten.“ Er wickelte die Bandage weiter ab.

Die Mutter sah aus, als hätte er sie gerade geohrfeigt, und wich vom Bett zurück.

Nachdem Dr. O’Doherty die Operationswunde untersucht hatte, sagte er zu der Krankenschwester, die ihn begleitete: „Ich denke, wir können jetzt einen Verband mit einer Mullkompresse anlegen.“ Er schaute den Jungen an. „Du siehst dann zwar weniger wie ein Pirat aus, aber es juckt nicht mehr so doll.“

Diesmal erschien ein echtes Lächeln auf Brians Gesicht.

„Bis morgen.“ Bevor er hinausging, schüttelte der Arzt dem Jungen den großen Zeh.

Die Mutter folgte ihm in den Korridor. „Dr. O’Doherty, wir wüssten gerne, was uns als Nächstes erwartet.“ Ihr stiegen Tränen in die Augen.

„Meine Krankenschwester wir Ihnen all Ihre Fragen beantworten.“

Lucy presste die Lippen zusammen. Wo war der ganze Charme von eben geblieben?

„Wird er je wieder so, wie er mal war?“, fragte die Mutter flehentlich.

„Ich mache keine solchen Versprechungen“, gab er kurz zurück.

Erneut zuckte sie zusammen.

Der Mann konnte wunderbar mit seinen Patienten umgehen, aber bei den Eltern fehlte es ihm eindeutig an Einfühlungsvermögen. Wieso verhielt er sich plötzlich so kalt?

Lucy trat vor und legte der Frau einen Arm um die Schultern. „Mrs Banasiak, ich bin Lucy Edwards, die Familienberaterin. Ich denke, ich kann einige Ihrer Fragen beantworten.“

Die Mutter war sichtlich erleichtert. Mit einem Blick auf Dr. O’Doherty sagte sie zu Lucy: „Ich danke Ihnen.“

Ohne einen einzigen Blick zurück ging der Arzt mit seinen Leuten im Schlepptau weiter. Lucy blieb da, um mit Brians Mutter zu sprechen. Deren Tränen rührten ihr Herz. Dies waren die Leute, die sie brauchten, und das tat gut.

Vor der Zimmertür der letzten Patientin hielt Ryan inne und wartete, bis die Gruppe sich um ihn versammelt hatte. Ms Edwards fehlte. Er sprach über den Fall, während er immer wütender wurde. Sie konnte schließlich zu jeder anderen Zeit mit den Eltern der Kinder reden.

„Wie schön, dass Sie uns wieder beehren“, bemerkte er ironisch, als sie nach einer Weile erschien.

Ohne ihn anzusehen, erwiderte sie leise: „Ich musste die Eltern beruhigen.“

Er öffnete die Tür und trat ein. „Hallo, Lauren“, sagte er. Die Zehnjährige saß im Bett und sah fern. „Ich glaube, du kannst morgen nach Hause. Na, wie findest du das?“

Die Großmutter, die sich um das Mädchen kümmerte, sagte: „Das ist ja wunderbar. Was müssen wir tun, um sie auf die Schule vorzubereiten, wenn es so weit ist?“

Eine sanfte, aber feste Stimme neben ihm antwortete: „Ich werde Ihnen dabei helfen.“

„Das ist Lucy Edwards“, meinte Ryan zu der Großmutter. „Sie ist meine Familienberaterin.“

Ein leicht angespannter Zug um Ms Edwards Mund war der einzige Hinweis darauf, dass sie die Bezeichnung „meine“ keineswegs schätzte. Ryan wusste nicht, wie er diesen Fauxpas elegant wieder gutmachen sollte. Deshalb sprach er einfach weiter mit der älteren Dame. Bei Ms Edwards würde er sich später entschuldigen.

Diese stille Frau mit der leisen Stimme war nicht „seine“ irgendetwas. Sie war nicht mal sein Typ. Er mochte freizügigere Frauen, die weniger nachdenklich waren und mehr lachten. Lebhaft, übermütig und garantiert nicht an einer ernsthaften Beziehung interessiert.

Er verließ das Zimmer, während Laurens Großmutter eine ganze Reihe von Fragen an Lucy richtete.

Dann wurde er zu einem anderen Patienten gerufen und ging danach zum Schwesterntresen zurück. Da Ms Edwards jedoch nicht dort war, musste Ryan nach ihrem Büro fragen. Bisher hatte er den Familienberatern nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Nur selten kam es zu einem persönlichen Kontakt, wenn es Fragen gab oder einer von ihnen eine Eintragung in einer Patientenakte vornahm.

Er klopfte leicht an die unscheinbare Tür, deren Schild ihm zeigte, dass er hier richtig war. Die Tür wurde von einer Frau geöffnet, die er kannte.

„Hi, Ryan. Was gibt’s?“

„Hallo, Nancy. Ich bin auf der Suche nach Ms Edwards.“

„Ja?“ Aus dem Zimmer hörte er ihren typischen gedehnten Tonfall.

Ryan blickte an Nancy vorbei, und Ms Edwards sah ihn fragend an.

„Dann verschwinde ich mal“, meinte Nancy. „Ich habe jetzt sowieso Feierabend. War nett, Sie zu sehen, Ryan.“

„Gleichfalls.“ Lächelnd ließ er sie hinausgehen. „Kann ich kurz reinkommen?“

Ms Edwards nickte zögernd. Sie saß am hintersten Schreibtisch.

Ryan schloss die Tür hinter sich, ehe er sich auf den nächsten Stuhl setzte und die Familienberaterin mit einem liebenswürdigen Lächeln ansah. „Ich wollte mich nur dafür entschuldigen, dass ich Sie vorhin ‚meine‘ Familienberaterin genannt habe. Da habe ich mich falsch ausgedrückt. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Ihre Züge entspannten sich etwas. „Dr. O’Doherty …“

„Bitte nennen Sie mich Ryan. Ich bin eigentlich ziemlich locker. Darf ich Sie auch Lucy nennen?“

Sie nickte langsam. „Äh, Ryan, ich weiß, Sie sind kein Fan dieses Patientenversorgungsprojekts. Aber mir wäre es wirklich sehr lieb, wenn wir so konfliktfrei wie möglich zusammenarbeiten könnten.“

Es gefiel ihm, wie sie seinen Namen aussprach. Es klang freundlich und warmherzig. „Ich werde meinen Teil dazu beitragen, aber es muss ein paar Grundregeln dafür geben.“

Sie zog die fein geschwungenen Augenbrauen zusammen. „Als da wären?“

„Ich bin es gewöhnt, dass die Leute, die für mich arbeiten, pünktlich sind und während der Visite bei mir bleiben. Ich kann nicht jedes Mal warten.“

„Dr. O’Doherty, ich arbeite nicht für Sie, sondern für das Krankenhaus und letztendlich für die Patienten. So wie ich Mr Matherson verstanden habe, handelt es sich um eine gemeinschaftliche Patientenversorgung. Das heißt, wir arbeiten zusammen.“

„Mein Operationsplan, der mir vom Krankenhaus vorgegeben wird, bedeutet, dass ich keine Zeit habe herumzustehen und auf Sie zu warten“, entgegnete er.

„Und meine Arbeit, die sowohl das Krankenhaus als auch die rein menschliche Anteilnahme vorschreibt, besteht darin, den Patienten und seine Angehörigen in einer schweren Situation zu unterstützen. Mein Job ist es, der ganzen Familie zu helfen. Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich meine Arbeit tun lassen.“

Finster gab Ryan zurück: „Ich bin Chirurg und bringe Probleme in Ordnung. Um meinen Job gut zu machen, muss ich weder meinen Patienten noch ihren Angehörigen die Hand halten.“

„Nein, müssen Sie nicht. Allerdings wäre es schön, wenn Sie es gelegentlich mal versuchen.“

Er wirkte angespannt. „Die Eltern meiner Patienten sollen die Wahrheit erfahren.“

„Das bestreite ich ja nicht. Ich stelle nur die Art und Weise infrage, wie Sie diese formulieren.“

„Ich dachte, deshalb sind Sie hier?“

„Ja, aber Eltern wie die von Brian möchten gerne eine beruhigende Auskunft vom Arzt selbst hören.“ Zum ersten Mal hielt Lucy seinem Blick länger als eine Sekunde stand.

Ryan erhob sich. „Gut, verstanden.“

„Wann ist Ihre erste OP morgen früh?“, fragte sie.

„Um sieben. Warum?“

„Ich möchte dabei sein, wenn das Kind abgeholt wird. Da benötigen die Eltern die meiste Unterstützung“, erklärte sie. „Viele wollen reden. Sie haben Angst. Ich bringe sie hinunter in den Warteraum.“

Noch nie hatte er sich darüber Gedanken gemacht, wie schwierig es für die Eltern war, mitzuerleben, wie ihr Kind in den Operationssaal gebracht wurde. Das wollte er auch gar nicht. Ryan öffnete die Tür.

„Es ist schwer loszulassen“, sagte Lucy wehmütig.

Sprach sie aus eigener Erfahrung? Ihre Augen verdunkelten sich. Zum Glück erholte sie sich jedoch schnell, und der hoffnungslose Ausdruck wich ihrer üblichen professionellen Miene.

„Ja, wahrscheinlich.“ Er machte die Tür hinter sich zu. Was hatte diese Frau mit den ernsten, traurigen Augen zu verbergen?

2. KAPITEL

An diesem Abend kam Lucy später nach Hause als geplant. Mit vier Frühterminen pro Woche musste sie abends lange im Krankenhaus sein, um sich vorzubereiten. Hinzu kam die Zeit, die sie für Hin- und Rückfahrt brauchte. An die Freiheit eines eigenen Wagens gewöhnt, empfand sie das New Yorker U-Bahn-System als frustrierend. Viel zu oft nahm sie die falsche Bahn. Diesen Aspekt der Arbeit in einer Großstadt hatte sie vorher leider nicht bedacht.

Ihr stämmiger, dunkelhaariger Vermieter stand vor dem Gebäude und rief „Hallo“, als sie die Treppe zu ihrem Einzimmer-Apartment hinaufgehen wollte.

„Hi, Mr Volpentesta“, antwortete sie fröhlicher als sonst.

Dafür wurde sie mit einem breiten Lächeln belohnt.

Lucy stieg hinauf in die dritte Etage über dem italienischen Bistro. Das Treppensteigen störte sie nicht, es war eine gute sportliche Übung. Sie hatte schon immer auf vernünftige Ernährung und körperliche Fitness geachtet. Das war ein Grund dafür gewesen, weshalb die Schwangerschaft mit Emily ihr keine Probleme bereitet hatte. Unwillkürlich schnürte es ihr die Kehle zu.

Emily. Der Schmerz saß tief, aber irgendwie musste sie darüber hinwegkommen.

Sie schloss auf und betrat ihr Apartment. Durch ein großes Fenster fiel Licht in den Raum. Das Bett stand auf der gegenüberliegenden Seite, und es gab auch eine kleine Sitzgruppe. In einer Ecke befand sich eine Küchenzeile. Funktional, aber winzig. Und in der anderen Ecke waren das Bad sowie ein kleiner Einbauschrank.

Mit den paar Dingen, die Lucy mitgebracht hatte, war es ihr gelungen, es sich hier gemütlich zu machen. Obwohl die Wohnung nicht dem Standard der meisten Menschen entsprach, mochte Lucy die multikulturelle Gegend mit den zahlreichen Bäumen, die die Straßen säumten. Sie war froh, überhaupt irgendetwas Bezahlbares gefunden zu haben.

Ihre Schwester Alexis konnte nicht verstehen, weshalb sie unbedingt so weit wegziehen wollte. Doch Lucy hatte nicht die Absicht, ihr jemals den wahren Grund dafür zu nennen. Es hatte sie fast umgebracht, aber sie musste einfach weg. Es war für alle das Beste so, auch wenn sie ihre Schwester und Emily furchtbar vermisste. Alexis und ihre Familie sollten glücklich werden. Immer dabei zu sein und sich sehnlichst zu wünschen, dass sie auch ein Teil dieser Familie wäre, hatte ihr gar nicht gut getan.

Sie legte ihre Handtasche auf den Tisch, der offenbar aus dem Bistro unten stammte, und stellte den Wasserkocher an. Süßer Eistee war ihr Lieblingsgetränk. Sogar bei dem jetzigen kalten Frühlingswetter konnte sie auf dieses Überbleibsel aus ihrer Heimat nicht verzichten.

Lucy ging zum Bett, wo sie ihr Business-Kostüm mit einem Jogginganzug tauschte und in dicke Socken schlüpfte. Als die Straßenlaterne unter ihrem Fenster anging, verlieh sie dem Apartment einen warmen Schein, der Lucys Einsamkeit noch verstärkte. Auf dem Weg zum Herd knipste sie eine Lampe an. Dann goss sie das heiße Wasser über Teebeutel und Zucker, bevor sie eine Dosensuppe aus dem offenen Küchenregal holte.

Von dem Haus ihrer Schwester, wo sie von allen geliebt wurde, war sie in ein schäbiges Zimmer in einer riesigen anonymen Stadt gezogen. Sie ließ sich auf einen der beiden Sessel fallen und stützte den Kopf in die Hände.

Hör auf damit. Reiß dich zusammen. Du wirst das schon überstehen. Du musst dein eigenes Leben leben.

Am Nachmittag des folgenden Tages kam Lucy in das Zimmer von Daniel Hancock. Dort saß Ryan lässig auf einem Stuhl, wie jemand, der dem Jungen regelmäßig Besuche abstattete. Er hatte dem Sechzehnjährigen letzte Woche einen Stammhirntumor entfernt.

„Ah, Ms Edwards, Sie sind genau diejenige, die wir brauchen.“ Ryan hörte sich an, als wäre er wirklich erfreut, sie zu sehen, was sie sofort misstrauisch machte.

Vom Fußende des Bettes her lächelte sie Daniel zu. „Was kann ich für die Herren tun?“

„Ich habe Daniel gerade gesagt, dass er nicht gleich wieder in die Schule gehen darf. Er muss erst einige Zeit Hausunterricht bekommen, bis die Wunde verheilt ist“, meinte Ryan. „Könnten Sie das organisieren?“

„Ich kümmere mich darum.“

„Wussten Sie schon, dass Daniel der Star des Baseball-Teams in seiner Highschool ist?“

„Ja, das habe ich gehört.“

Wegen des Kontrollverlusts über seine Handbewegungen hatte Daniels Zukunft auf dem Spiel gestanden. Doch dank Ryans Eingriff war sein Traum wieder in greifbare Nähe gerückt. Auch wenn es dem Mann zuweilen an Einfühlungsvermögen fehlte, war er zweifellos ein großartiger Neurochirurg.

Er stand auf und sagte in scherzhaftem Ton zu Daniel: „Ich hoffe, dass ich dich eines Tages für die Yankees spielen sehe. Ich werde dir eine Verordnung für eine Lehrerin schreiben, die nett ist und Baseball mag. Wie findest du das?“

Der Junge lächelte schwach, schien sich jedoch zu freuen. Ryan gab ihm die Hand. Es gefiel Lucy, dass er Daniel als gleichwertigen Gesprächspartner behandelte. Damit gab er ihm das Gefühl, trotz seiner Hilflosigkeit eine gewisse Kontrolle über die Dinge zu haben. Wieso hatte Ryan am Abend zuvor nicht dasselbe bei Brians Mutter getan?

Lucy folgte ihm nach draußen.

„Wissen Sie, es könnte tatsächlich ganz hilfreich sein, dass Sie uns jederzeit zur Verfügung stehen“, meinte er.

„Es ist nicht mein Job, nach Ihrer Pfeife zu tanzen.“

„Mag sein, aber bis jetzt funktioniert es doch ganz gut.“ Mit einem belustigten Lächeln ging er davon.

Und sie hatte geglaubt, der Umzug nach New York würde ihr das Leben leichter machen!

Ein paar Stunden später sehnte Lucy sich danach, endlich nach Hause zu gehen und zu schlafen. Stattdessen musste sie Ryan suchen, damit er einige Formulare unterschrieb. Sie wusste zwar ungefähr, wo sich sein Dienstzimmer befand, war aber noch nie dort gewesen. Durch eine automatische Tür kam sie in einen kurzen Flur, von dem mehrere Räume abgingen. Suchend las sie die Namensschilder, bis sie Ryans Zimmer fand.

Sie hatte gehört, dass Ryan die Chefarzt-Stelle nicht bekommen hatte, worüber die meisten Pflegekräfte sich wunderten. Alle hatten geglaubt, der Posten wäre ihm sicher. Allerdings war der Beliebtheitsfaktor dafür offenbar nicht entscheidend gewesen. Sogar im OP, wo großer Druck herrschte, wurde Ryan wegen seiner Fähigkeiten und seiner gewinnenden Art von allen Mitarbeitern geschätzt. Lucy wünschte nur, dass er auch ihr gegenüber diese Freundlichkeit an den Tag legen würde.

Seine Zimmertür stand einen Spaltbreit offen. Lucy klopfte und wartete. Keine Antwort. Die Formulare mussten heute Abend oder spätestens morgen früh unterschrieben sein. Daher beschloss sie, die Unterlagen einfach auf den Schreibtisch zu legen und Ryan eine Nachricht zu hinterlassen.

Vorsichtig trat sie ein. Ryans Arztkittel hing über dem Schreibtischstuhl. Merkwürdig. Ob er schon gegangen war? Aber wieso stand dann die Tür offen?

Lucy legte die Dokumente auf den Schreibtisch und nahm einen Stift, um einen Zettel zu schreiben.

Da kam Ryan plötzlich aus einer Seitentür herein.

Erschrocken zuckte sie zusammen. „Oh.“ Er trug kein Hemd, und sie musste schlucken. Es war keine gute Idee gewesen, in sein Zimmer zu kommen.

Die Hose saß tief auf seinen Hüften, der Gürtel war offen. Lucy konnte ihren Blick nicht von seiner muskulösen Brust abwenden, die mit ein paar feinen Härchen bedeckt war.

„Was tun Sie hier?“, fragte er schroff. Aus einer Schreibtischschublade holte er ein frisches Hemd, streifte es über und begann es zuzuknöpfen.

Lucy beobachtete seine langen, schmalen Finger. Sie hatte gehört, wie geschickt er mit einem Skalpell umging. Wie wäre es wohl, von ihm gestreichelt zu werden? Sie schüttelte den Kopf. Was war denn das für eine Frage? Für Ryan O’Doherty zu schwärmen, war das nun wirklich Letzte, was sie gebrauchen konnte.

„Lucy, wollten Sie irgendwas Bestimmtes, oder sind Sie bloß hier, um mich anzustarren? Oder um herumzuschnüffeln?“ Seine Stimme klang scherzhaft, enthielt aber dennoch einen misstrauischen Unterton.

Sie richtete sich auf und trat vom Schreibtisch zurück. „Ich schnüffele nicht herum!“

Belustigt verzog er die Mundwinkel. „Also starren Sie? Bis jetzt haben Sie mir nämlich noch nicht verraten, weshalb Sie hier sind.“

„Sie müssen diese Formulare unterschreiben, damit ich den Hausunterricht für Daniel organisieren kann, bevor er entlassen wird.“ Sie deutete auf die Unterlagen. „Die Papiere müssen morgen abgegeben werden. Das heißt, falls Sie ihm immer noch eine hübsche Lehrerin zukommen lassen wollen. Soweit ich weiß, sind die bis morgen Nachmittag alle vergeben“, erklärte sie zuckersüß.

„Ms Edwards, Sie überraschen mich. Ich wusste gar nicht, dass Sie auch Humor haben.“

Ryan hätte eigentlich wütend sein müssen, dass Lucy ohne Erlaubnis sein Zimmer betreten hatte. Dies war sein privater Raum, und so sollte es auch bleiben. Durch ihren erstaunten Ausdruck und die geweiteten Augen, als sie ihn so halb bekleidet erblickte, verrauchte sein Ärger jedoch schnell. Sie hatte sich nicht sofort abgewendet, sondern ihre Augen waren dunkler geworden und an seiner Brust hängen geblieben. Es war keiner ihrer schüchternen Blicke, vielmehr eine anerkennende Musterung. Eine Wohltat für Ryans Ego, und die männliche Genugtuung darüber war stärker als der Ärger.

„Wenn Sie die unterschreiben, bin ich gleich wieder weg“, meinte Lucy.

Ryan war enttäuscht. Er fand, dies war das unterhaltsamste Erlebnis, das er seit Langem gehabt hatte. Wer hätte gedacht, dass er diese ruhige, gewöhnliche Frau einmal interessant finden würde? Nein, gewöhnlich war das falsche Wort. An ihr war überhaupt nichts Gewöhnliches.

Er nahm die Papiere zur Hand, um sie zu überfliegen, ehe er seine Unterschrift darunter setzte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Lucy sich umschaute.

Sie betrachtete die Regale mit Büchern, Bildern und Baseball-Fanartikeln. Dann ging ihr Blick zur gegenüberliegenden Wand, wo ein Foto von einem Yankees-Spiel hing. Ryan legte den Stift weg und hockte sich auf die Schreibtischkante. Inzwischen schaute Lucy sich die gerahmten Bilder auf dem Schreibtisch an.

„Das sind meine Nichten und Neffen“, sagte Ryan. Dann zeigte er auf ein Foto mit zwei dunkelhaarigen Frauen. „Meine Schwestern.“ Nur selten gab er solche persönlichen Dinge von sich preis. Kein Wunder, dass Lucy in ihrem Job so gut war. Sie hatte irgendetwas an sich, das die Leute dazu veranlasste, ihr ihre Geheimnisse anzuvertrauen.

Unwillkürlich schnürte sich seine Kehle zusammen. Sein Geheimnis sollte sie jedenfalls nicht erfahren. „Ist sonst noch was?“ Seine Stimme klang abweisender, als er beabsichtigte. Er gab Lucy die Formulare.

Wieder ganz professionell antwortete sie: „Ich faxe sie noch durch, bevor ich nach Hause gehe.“

Ryan blickte ihr nach, als sie den Raum verließ. Warum freute er sich auf einmal darauf, morgen zur Arbeit zu kommen?

Das rhythmische Geräusch seiner Laufschuhe begleitete Ryan, der gerade eine Biegung auf dem Weg zurück zum Krankenhaus nahm. Als er Lucy auf einer Parkbank sitzen sah, verlangsamte er seine Schritte. Den Kopf hatte sie in den Nacken gelegt und das Gesicht der Sonne zugewandt. Der blonde Zopf glänzte im Licht. Sie hatte ihre dicke Strickjacke ausgezogen und die Beine vor sich ausgestreckt.

Lucy war eine attraktive Frau, die offenbar gerne unscheinbar wirkte, um nicht aufzufallen. Bei Ryan hatte das jedoch nicht funktioniert.

Beim Näherkommen sah er, dass sie die Augen geschlossen hatte. Er wollte sie nicht stören, aber in diesem Moment setzte sie sich auf und öffnete die Augen wieder.

„Hey“, sagte sie ein wenig schläfrig.

„Hey.“ Ihre Unbefangenheit gefiel ihm. Sobald sie ganz wach war, würde sie sich sicher sofort verschließen.

„Sie waren laufen“, stellte sie fest.

Verschwitzt, in Sweatshirt und Laufshorts stand Ryan vor ihr. „Ja. Einer der Vorteile der Arbeit im Angel’s besteht darin, dass der Park in der Nähe ist.“

„Das finde ich auch. Ich vermisse jetzt schon die Seen, Wälder und die Weitläufigkeit der Vororte von Atlanta. Die Möglichkeit, in den Park zu gehen, hilft ein bisschen.“ Sie zog ihre Jacke an.

Was hatte sie zu einer so drastischen Veränderung veranlasst? Eine solche Frage konnte er allerdings nicht stellen, wenn er nicht bereit war, selbst etwas von sich zu erzählen. „Hatten Sie schon Gelegenheit, den Central Park zu erkunden?“, meinte er daher.

Lucy lachte. „Ich hätte viel zu viel Angst, mich zu verirren. Deshalb entferne ich mich nie außer Sichtweite des Krankenhauses.“

Lächelnd erwiderte er: „Vielleicht kann ich ja mal eine Führung mit Ihnen machen. Wir können ja eine Brotkrümel-Spur legen, falls nötig.“

„Wenn ich dabei bin, ist es nötig.“

„Na, dann überlasse ich Sie jetzt weiter Ihrem Sonnenbad.“

„Nein, ich muss auch wieder rein. Ich will noch was essen, ehe ich zu Ihnen in die Sprechstunde komme“, antwortete sie.

„Das brauchen Sie nicht.“

Sie stand auf und sah ihn an. „Wieso nicht? Ich dachte, diese Diskussion hätten wir hinter uns.“

Besänftigend hob Ryan die Hand. „Heute Nachmittag kommen ausschließlich Patienten, die entlassen wurden, bevor Sie bei uns angefangen haben.“

Ihre Miene entspannte sich. „Ach so. Aber ich möchte trotzdem gerne dabei sein.“

Damit ging sie zum Krankenhaus, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen. So etwas war ihm außer mit seinen beiden Schwestern noch nie passiert.

Lucy blickte sich in der Ambulanzklinik um. Der Warteraum hatte große Panaromafenster mit Aussicht auf den Central Park, und die Wände waren mit lächelnden Tiergesichtern bemalt. Die orangefarbenen Möbel und der hellgrüne Teppich vermittelten eine freundliche Atmosphäre. In einer Ecke gab es mehrere Spieltische. Ein Ort, an dem Kinder sich wohlfühlen konnten.

Ryan wartete bereits im Foyer.

„Tut mir leid, dass ich zu spät dran bin“, stieß sie außer Atem hervor. „Egal, wie viel Zeit ich mir nehme, ich verlaufe mich jedes Mal.“

Er lachte. „Allmählich gewöhne ich mich dran.“

„Aber ich werde schon besser. Mittlerweile komme ich zur Arbeit, ohne dass ich immer eine Station zurückfahren muss. Meine sportliche Betätigung kriege ich jedenfalls.“

Er musterte ihre Figur. „Das sehe ich.“

Ein Gefühl der Wärme durchströmte sie. Es war schön, anerkennend von einem Mann angesehen zu werden. In den vergangenen Tagen hatte sich zwischen ihr und Ryan eine recht angenehme Zusammenarbeit entwickelt.

Alle Patienten heute kamen zur üblichen Nachsorgeuntersuchung sechs Wochen nach der Operation. Danach waren sie entlassen. Sofern keine weitere Operation nötig war, würden weder Lucy noch Ryan sie dann wiedersehen. Vielleicht gab er sich deshalb keine große Mühe, die Angehörigen seiner Patienten kennenzulernen.

„Das ist die letzte Patientin.“ Ryan zog den entsprechenden Ordner aus dem Halter an der Tür. „Amanda Marcella. Drei Jahre alt.“

Er klopfte kurz, ehe er den Untersuchungsraum betrat. Lucy folgte ihm, und er stellte sie vor.

„Wie geht es Amanda?“, erkundigte er sich dann bei der viel zu jungen Mutter.

„Ganz gut, glaube ich.“

Das kleine Mädchen hatte einen Shunt, eine äußere Drainage, an der rechten Kopfseite. Behutsam entfernte Ryan die Bandage. „Der Shunt liegt nicht richtig. Die Wunde muss regelmäßig überprüft und neu verbunden werden“, erklärte er.

„Ich tu so was nicht gerne. Das muss mein Freund machen“, antwortete die Mutter in jammerndem Ton.

Ryan blickte auf. „Es bleibt Ihnen keine andere Wahl. Sie haben die Verantwortung für Ihr Kind.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er hinaus.

Als sie den gequälten Ausdruck des Mädchens sah, kam Lucy zu ihr. „Gibt es sonst noch jemanden, der Ihnen helfen kann?“

Mit Tränen in den Augen schüttelte die junge Frau den Kopf. „Meine Eltern haben mich rausgeschmissen, als ich mit Amanda schwanger war. Ich versuche es, so gut ich kann, aber ich bin einfach keine gute Krankenschwester.“

Da kehrte Ryan mit einer Krankenschwester zurück, die chirurgisches Nahtmaterial mitbrachte. „Ich werde den Shunt jetzt mit ein paar Stichen festnähen, damit er nicht verrutscht. Aber er muss trotzdem regelmäßig gereinigt und bandagiert werden.“ Eindringlich sah er die Mutter an.

Ihre Augen wurden groß, und sie verzog erschrocken das Gesicht. Merkte er denn nicht, dass er dem Mädchen Angst einjagte? War ihm das völlig gleichgültig?

„Wir warten am besten solange draußen“, schlug Lucy vor.

Die junge Mutter nickte erleichtert, und Lucy ging mit ihr in den Flur.

„Ich weiß, Dr. O’Doherty will, dass ich Amandas Kopf versorge, aber das schaffe ich einfach nicht. Es macht mich so traurig, das zu sehen.“

„Das ist völlig verständlich“, tröstete Lucy sie.

Nach ein paar Minuten öffnete Ryan die Tür, und die beiden Frauen kehrten in das Zimmer zurück.

Ryan wandte sich an Amandas Mutter. „Die Schwester wird Ihnen zeigen, wie Sie die Stelle verbinden müssen. Und wenn Sie Amanda nächste Woche wieder herbringen, erwarte ich, dass die Wunde gut versorgt worden ist.“

„Okay“, murmelte sie und nahm der Krankenschwester ihr jammerndes Kind ab.

Als Ryan den Raum verließ, drückte Lucy der Mutter aufmunternd den Arm und folgte ihm hinaus.

„Ich verabscheue es, wenn ich eine Operation durchführe und der Patient sich erholt, aber die Eltern sich nicht gut genug um ihr Kind kümmern“, sagte er gepresst.

„Können wir kurz miteinander reden?“, fragte Lucy.

Er warf ihr einen entnervten Blick zu, war jedoch einverstanden. Sobald sie ein leeres Zimmer gefunden hatten, meinte Lucy zu ihm: „Ryan, Sie dürfen nicht so hart zu der Mutter sein. Sie ist ja selbst fast noch ein Kind, und sie hat Angst. Sie muss zu Hause ohne jede Hilfe ein krankes Kind ver­sorgen.“

„Sie hat eine Pflicht ihrem Kind gegenüber.“

„Ihr Kummer ist so groß, dass sie es nicht ertragen kann, die Wunde ihrer Tochter anzuschauen. Sie fürchtet sich davor“, entgegnete Lucy. „Ist es Ihnen noch nie passiert, dass Sie dachten, Sie könnten etwas nicht bewältigen?“

Er wurde blass, fasste sich aber schnell wieder. Hatte sein kühles Verhalten in Bezug auf die Eltern seiner Patienten vielleicht eine persönliche Ursache?

„Und was schlagen Sie jetzt vor?“, fragte er knapp.

„Ich glaube, es ist nicht die richtige Lösung, das Mädchen zur Wundversorgung zu zwingen. Sie braucht Unterstützung, die versuche ich zu organisieren. Wenn Sie ihr eine Verordnung für eine häusliche Krankenpflege zweimal die Woche ausstellen könnten, wäre das sicher das Beste für sie und das Kind.“

Erstaunt sah Lucy, das Ryan lächelte. „Ich fühle mich zwar ein bisschen manipuliert, aber ich denke, diesmal haben Sie recht. Ich werde die Verordnung ausstellen.“ Mit der Patienten­akte in der Hand ging er hinaus.

Am Klopfen an ihrer Bürotür merkte Lucy, dass Ryan davor stand. Ihre Kolleginnen waren längst nach Hause gegangen. Lucy war jedoch noch dabei herauszufinden, welche Pflegeleistungen für Amanda Marcella zustanden. Sie machte auf.

Ryan lächelte. „Hi. Ich wollte fragen, ob Sie Lust haben, heute Abend mit mir essen zu gehen. Als eine Art Dankeschön für Ihre Hilfe heute Nachmittag, und um mich zu entschuldigen, weil ich Sie anfangs nicht besonders freundlich behandelt habe.“

Mit seinem Lächeln könnte er Drachen erschlagen und das Herz einer Prinzessin erobern, dachte Lucy.

„Ich tue nur meinen Job, dafür ist kein Dank nötig“, erwiderte sie höflich. „Ich weiß Ihre Einladung zu schätzen, aber ich glaube, ich fahre lieber nach Hause.“

„Meinen Sie nicht, Sie könnten einem hart arbeitenden Kollegen ein paar Minuten beim Essen Gesellschaft leisten?“ Sein Lächeln wurde breiter.

Sie erlag seinem Charme. „Na ja, für ein paar Minuten, warum nicht? Ich habe auch Hunger. Aber darf ich das Lokal aussuchen?“

„Klar. Solange es kein vegetarisches Restaurant ist. Ich will nämlich Fleisch und Käse.“

Lucy lächelte. „Da gibt’s Fleisch und tolle Salate.“

„Perfekt. Gehen wir.“

Er wartete im Korridor auf sie, doch Lucy schimpfte mit sich. Was fiel ihr ein, ausgerechnet mit Ryan O’Doherty essen zu gehen? Er war ihr viel zu sympathisch. Sie legte einen Schal um und zog ihren Mantel an, bevor sie hinausging. Als sie abschließen wollte, stellte sie fest, dass Ryan verschwunden war.

Die meisten kleinen Patienten schliefen schon. Nur eine Mutter sprach leise mit ihrem Kind, und Lucys Herz zog sich zusammen. Würde der Schmerz wegen Emily jemals aufhören?

Sie blickte sich um und sah Ryan am Schwesterntresen, wo er mit einer Krankenschwester plauderte. Dann schaute er lächelnd zu Lucy herüber.

Dieses Lächeln vertrieb ihren Kummer. Wenn sie mit ihm zu tun hatte, musste sie auf der Hut sein. Der Mann konnte mit seinem Charme jede Frau um den Finger wickeln. Alle Schwestern blickten ihm sehnsüchtig hinterher, wenn er vorbeikam.

Lucy ging auf Ryan zu. Als sie ihn erreicht hatte, meinte er: „Ich wurde gerade angepiept und muss noch mal kurz auf die Säuglingsstation, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

Nein, das ging nicht. Es würde ihr zu sehr weh tun, die kleinen Babys dort zu sehen. Und sie wollte auf keinen Fall in Tränen ausbrechen. „Ach, wir können uns doch auch unten im Foyer treffen, ja?“

„Ich dachte, Sie würden gerne die Familie kennenlernen, wenn sie da ist.“

„Ich warte lieber erst mal ab, ob Sie den Fall zugeteilt bekommen.“

Ryan musterte sie prüfend. „Na schön. Dann komme ich runter ins Foyer, sobald ich kann.“

Erleichtert blickte Lucy ihm nach. Sie war einfach noch nicht bereit, sich mit der Säuglingsstation zu konfrontieren.

Im Taxi grinste Ryan belustigt, als Lucy dem Fahrer die Restaurantadresse wiederholen musste. Der Mann verstand ihren gedehnten Südstaatenakzent nicht gleich. Ryan hingegen mochte ihn. Ihre langsamere, weichere Art zu sprechen war irgendwie beruhigend.

Lucy hatte etwas an sich, das entspannend wirkte. Sie war nicht autoritär, und dennoch hörten die Leute ihr zu. Außerdem vermittelte sie jedem den Eindruck, dass letztendlich alles gut ausgehen würde. Das hatte Ryan an ihrem Umgang mit den Angehörigen seiner Patienten gemerkt.

Sie saß neben ihm auf dem Rücksitz und schaute aus dem Fenster.

„Waren Sie vorher schon mal in New York?“, fragte er.

„Einmal als Kind mit meinen Eltern. Aber davon ist mir nicht viel in Erinnerung geblieben.“

„Bestimmt haben Sie nie daran gedacht, dass Sie mal hier leben würden, oder?“

Sie sah ihn an. „Nein, nie. Aber Sie mit Ihrem Akzent haben wahrscheinlich noch nie woanders gelebt.“

„Ich bin aus Brooklyn, geboren und aufgewachsen“, erklärte er stolz.

„Darum haben Sie das Baseball-Foto in Ihrem Dienstzimmer.“

„Ja, ich bin ein großer Yankees-Fan. Kennen Sie sich mit Baseball aus?“

„In Atlanta kommt man nicht an den Braves vorbei“, antwortete Lucy. „Mein Schwager hat Jahreskarten, deshalb bin ich schon bei einigen Spielen gewesen.“

„Ich habe Jahreskarten für die Yankees. Vielleicht hätten Sie ja Lust, mal mitzukommen?“ Ryan war unbehaglich zumute. Wie kam er denn darauf? Das klang doch viel zu sehr nach einem Date.

Das Taxi hielt an.

„Volpentesta? Das ist eine der besten Pizzerien in der ganzen Stadt. Für jemand, der erst so kurz in New York ist, wissen Sie aber gut Bescheid, wo man hier anständig essen kann.“

Lächelnd stieg Lucy aus. Als sie ihren Anteil an der Fahrt bezahlen wollte, meinte Ryan: „Das übernehme ich. Es war schließlich meine Idee.“

Während er zahlte, wartete sie auf dem alten, unebenen Gehweg. Als Ryan sie leicht am Rücken berührte, versteifte sie sich für eine Sekunde, entspannte sich jedoch sofort wieder. Dann hielt er ihr die Tür zum Restaurant auf.

„Irgendjemand hat Ihnen gute Manieren beigebracht. Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass Sie mir die Tür aufhalten“, stellte Lucy fest.

Der dumpfe Schmerz in seiner Brust verstärkte sich für einen Moment. „Mein Vater war ein Gentleman alter Schule. Das ist eben die Art der O’Dohertys.“

„Die war bei unserer ersten Begegnung aber irgendwie verschüttet“, gab Lucy zurück.

„Hey, ich habe Ihnen doch den Weg nach oben gezeigt.“

„Ja, aber Sie hätten mich am liebsten in den Aufzugschacht fallen lassen.“

„So schlimm?“

„Allerdings.“

„Na, dann will ich versuchen, es beim Essen wieder gutzumachen.“

Sie lächelte. „Ich bin drüber weg, also machen Sie sich keine Sorgen.“

Ein Mann, fast so rund wie groß, kam auf sie zu, die Arme herzlich ausgestreckt. Mit starkem italienischem Akzent fragte er: „Miss Lucy, wie geht es Ihnen heute?“

Jetzt lächelten sogar ihre Augen. Ryan versetzte es einen Stich der Eifersucht. Was müsste geschehen, damit sie ihn ebenso anlächelte? Doch darüber wollte er nicht weiter nachdenken.

„Sehr gut, danke, Mr Volpentesta. Wir hätten gerne einen Tisch.“

„Für Sie jederzeit, meine Liebe.“

Verblüfft sah Ryan sie an. Selbst an Werktagen musste man hier normalerweise lange auf einen Tisch warten. Und sie hatte nicht einmal reserviert.

Das Lokal war ein echtes italienisches Ristorante, inklusive rot karierter Tischdecken und einer Kerze auf jedem Tisch. Der Raum war dunkel und gemütlich, aber hell genug, dass Ryan ohne Weiteres Lucys unglaublich ausdrucksvolles Gesicht erkennen konnte.

Sie trug nur wenig Make-up. Gelegentlich legte sie jedoch Lipgloss auf, und das Haar war immer entweder aufgesteckt oder geflochten. Mehr als einmal hatte er sich vorgestellt, wie es aussehen würde, wenn es ihr offen um die Schultern fiel.

Schon lange hatte er keine Frau mehr so interessant gefunden. Lucy erinnerte ihn an Irish Coffee: frische süße Sahne und darunter eine angenehme Schärfe. Sie zog ihn auf seltsame Weise in den Bann.

„Kommen Sie, meine Liebe.“ Mr Volpentesta führte sie an einen Tisch für zwei im hinteren Teil des Lokals.

„Woher kennen Sie ihn?“, wollte Ryan wissen.

„Ich wohne hier oben drüber“, erwiderte Lucy.

„Gute Wahl“, meinte er. Dann rückte er Lucy einen Stuhl zurecht und wartete, bis sie Platz genommen hatte.

„Ihr Vater hat nichts ausgelassen.“ Sie breitete ihre Serviette aus.

„Er war sehr gründlich.“

„War?“

„Er ist gestorben.“ Ryan konnte den Schmerz in seiner Stimme nicht ganz verbergen.

Lucy legte ihm die Hand auf den Arm und sah ihn ernst an. „Das tut mir leid.“

Zum ersten Mal fühlte er sich von einem anderen Menschen tatsächlich getröstet. Wie kam es, dass diese Südstaatenschönheit ihn so berührte? „Schon gut.“

Glücklicherweise kam da der Kellner, um ihre Bestellung aufzunehmen, und brachte ihnen eine Flasche des Hausweins.

Lucy bestellte einen Salat.

Als der Kellner ging, lehnte Ryan sich vor. „Wissen Sie eigentlich, was für eine Sünde es ist, in einem solchen Restaurant bloß einen Salat zu essen?“

„Ich habe keinen großen Hunger.“

Nachdenklich sah er sie an. „Ich vermute, Sie essen nicht genug.“

Achselzuckend spielte sie mit ihrem Besteck herum.

„Kein Kommentar?“

„Nein.“ Womit sie bestätigte, dass er recht hatte.

Ryan suchte nach einem möglichst unverfänglichen Gesprächsthema. „Sind Sie in Atlanta aufgewachsen?“

„Sozusagen, aber die meiste Zeit in einem Internat im Nordosten von Georgia.“ Auf seinen fragenden Blick hin fügte sie hinzu: „Meine Eltern ließen sich scheiden, und es war einfacher, Alexis und mich wegzuschicken.“

Ryans Mutter war gestorben, als er noch klein war. Bevor sein Vater krank geworden war, hatte er sich um ihn und seine Schwestern gekümmert. „Alexis?“

„Meine Zwillingsschwester.“

„Sie sind also ein Zwilling, interessant. Dann stehen Sie einander sicher sehr nahe. Mein Vater hat oft gesagt, dass die Familie das Wichtigste im Leben ist.“

Ein Schatten flog über Lucys Gesicht. „Für manche mag das wohl stimmen.“ Ihr Tonfall klang resigniert.

„Ach, das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen.“ Ryan trank einen Schluck Wein.

„Alexis und ich waren unsere eigene Familie.“

Er wechselte das Thema. „Wissen Sie, ich finde, wir sind ein besseres Team, als ich ursprünglich dachte.“

„Obwohl ich so langsam spreche, bin ich also doch ganz nützlich“, meinte sie scherzhaft.

„Ich mag Ihren Akzent, ehrlich. Er erinnert mich an heiße, träge Tage und eiskalte Getränke.“

Lucy senkte den Blick. „Jetzt machen Sie mich verlegen.“ Dann sah sie Ryan an. „Da Sie nun etwas von mir wissen, wie wäre es, wenn Sie mir auch was über sich erzählen?“

„Brooklyn, und immer wieder Brooklyn“, erwiderte er. „Medizinstudium an der New York University, Assistenzarzt im Angel’s, und da bin ich geblieben.“

„Verstehe. Daher also der typische Akzent mit dem gelegentlichen irischen Einschlag.“

„Richtig. Mein Vater war Ire in zweiter Generation, und mein Akzent ist lange nicht so stark wie seiner.“

Als ihr Essen serviert wurde, atmete Ryan tief den köstlichen Duft seiner Pizza ein. „Herrlich.“ Herzhaft biss er in ein Stück. Lucy beobachtete ihn, schaute dann jedoch auf ihren Salat. „Was ist?“, fragte er.

Sie blickte hoch. „Ich habe noch nie einen Mann getroffen, der sein Essen so genießen kann wie Sie.“

Er lachte. „Ich habe Ihnen ja gesagt, ich bin hungrig. Und das hier ist eine verdammt gute Pizza. Danke, dass Sie mich mitgenommen haben.“

„Gern geschehen.“

„Möchten Sie mal probieren?“ Er hob das Stück Pizza in seiner Hand. „Kommen Sie, Sie sollten wenigstens die Kochkunst Ihres Vermieters würdigen.“

„Na ja, ein Happen kann nicht schaden.“

Ryan beugte sich über den Tisch und hielt ihr das Stück an den Mund. Sie biss gleich neben der Stelle hinein, wo er abgebissen hatte. Irgendwie viel zu intim. Als hätten sich ihre Lippen berührt. Doch er war fasziniert von Lucys verzückter Miene, sobald sie den köstlichen Geschmack der Pizza kostete. Mit der Zungenspitze fuhr sie sich über die Lippen, um jeden Krümel noch zu erwischen, sodass ihr Mund feucht und frisch aussah.

Da sein Körper sofort reagierte, machte Ryan eine unbehagliche Bewegung. Lucys unschuldiger Ausdruck zeigte ihm, dass sie keine Ahnung hatte, wie unglaublich erotisch sie wirkte.

„Noch eins?“ Zu gern wollte er diesen sinnlichen Anblick noch einmal erleben.

„Es war wunderbar, aber nein, vielen Dank.“

Schade, aber vielleicht besser so. Er nahm einen weiteren Bissen, um sich abzulenken, was jedoch nicht viel half. Sie war ihm ein Rätsel. In ihrer schlichten Kleidung wirkte sie, als hätte sie wenig Ahnung vom Leben. Doch das stimmte nicht.

Beim Essen drehte sich das Gespräch um die neuesten Kinofilme, bis Lucys Aufmerksamkeit plötzlich von etwas auf der anderen Seite des Lokals angezogen wurde. Ryan drehte sich um. Dort hielt eine Mutter ihr etwa sechs Monate altes Baby. Was hatte Lucy bloß mit Babys?

„Stimmt was nicht?“, fragte er.

Ihre Augen hatten sich verdunkelt. „Ich vermisse nur gerade meine Familie.“

Er konnte es nachvollziehen, wenn man jemanden vermisste, den man liebte. Aber allzu intensiv sollte man sich mit diesen Gefühlen nicht befassen, fand er.

„Ich denke, ich mach mich jetzt mal auf den Heimweg“, sagte er daher. „Wir müssen morgen beide früh raus. Aber vorher bringe ich Sie zu Ihrer Tür.“

„Nein, gehen Sie nur. Ich muss sowieso noch mit Mr Volpentesta sprechen. Ich übernehme die Rechnung.“

„Kommt nicht infrage. Ein O’Doherty-Gentleman zahlt immer die Rechnung.“

Wenig später stieg Lucy die Stufen zu ihrem Apartment hinauf. Nachdem sie gerade mit Ryan in dem belebten Restaurant gesessen hatte, erschien ihr die Wohnung noch weniger einladend als sonst. Die Einsamkeit war erdrückend. Durch ihren Umzug nach New York hatte Lucy alles hinter sich gelassen, was ihr wichtig war. Vielleicht wünschte sie sich aus lauter Verzweiflung, dass sie und Ryan Freunde werden könnten.

Trotz des etwas schwierigen Anfangs hatten sie in den letzten Tagen ein gewisses Verständnis füreinander entwickelt. Er tat seine Arbeit, und sie versuchte, ihm möglichst nicht in die Quere zu kommen. Im Job waren sie zur Zusammenarbeit gezwungen, was sie nicht unbedingt zu Freunden machte. Vielleicht änderte sich das ja noch.

Lucy schloss die Tür zum Apartment auf, machte das Licht an und zog die Vorhänge zu. Da sie es nicht gewohnt war, so dicht mit anderen Menschen zusammenzuleben, vergaß sie das häufig.

Das Essen mit Ryan war eine nette Abwechslung gewesen. Solange sie bei Alexis und Sam wohnte, hatten sie abends immer gemeinsam gegessen. Diese Gemeinschaft, das Gefühl dazuzugehören, fehlte ihr hier.

Heute Abend mit Ryan hatte Lucy eine ähnliche Verbundenheit gespürt. Ob es ihm wohl ähnlich ging?

3. KAPITEL

Am Freitagabend war Lucy noch keine halbe Stunde zu Hause, da rief Ryan sie an.

„Lucy, wir kriegen gleich einen Notfall herein. Wir müssen uns in der Notaufnahme treffen.“

„Gut, bin schon unterwegs.“

Hastig schlüpfte sie wieder in Jeans und einen warmen cremefarbenen Pullover und schlang sich einen dunkelblauen Schal um den Hals. Während sie hinauseilte, zog sie ihren Mantel an.

Am Anmeldetresen der Notaufnahme fragte sie, in welchem Zimmer sich Dr. O’Doherty befand.

„Sind Sie die Mutter?“

„Nein, ich bin die Familienberaterin für die Neurochirurgie. Dr. O’Doherty erwartet mich.“

„Er ist in Raum dreizehn.“ Die Schwester deutete den Flur entlang.

Als Lucy ihn gefunden hatte, klopfte sie und steckte den Kopf zur Tür herein.

Autor

Susan Carlisle
<p>Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
Mehr erfahren
Joanna Neil
Joanna Neil startete ihre Karriere als Autorin von Liebesromanen auf ganz unkonventionellem Wege. Alles begann damit, dass Joanna Neil einen Werbespot für Liebesromane sah und von diesem Zeitpunkt an wie verzaubert war.
Sie fing an, die Romane zu verschlingen, und war überwältigt. Je mehr sie las, umso mehr hatte sie...
Mehr erfahren
Anne Fraser
Anne wurde in Schottland geboren, ist aber in Südafrika aufgewachsen. Nachdem sie die Schule beendet hatte, kehrte Sie sie wieder an die Geburtsstätte ihrer Eltern, nach Schottland, zurück. Sie schloss dort eine Ausbildung als Krankenschwester ab, bevor sie auf die Universität ging, um englische Literatur zu studieren. Nach der Geburt...
Mehr erfahren