Julia Ärzte zum Verlieben Band 99

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VERLIEBT IN DEN HOLLYWOOD-DOC von FORBES, EMILY
Ihr erster Tag in der glamourösen Hollywood-Klinik! Doch Abis Zusammenarbeit mit ihrem viel zu attraktiven Boss Dr. Damien Moore gestaltet sich schwierig. Bis die junge Ärztin unerwartet Hilfe bekommt: von Damiens süßer Tochter, die ihr vertrauensvoll ihr kleines Herz schenkt …

DAS GESCHENK EINER SPANISCHEN NACHT von MARINELLI, CAROL
Schuld ist nur der Mond über Barcelona: Überraschend findet Cat sich während eines Medizinkongresses in den Armen ihres charmanten Kollegen Dominic wieder! Mit Folgen, die ihre Seele tief verletzen könnten - oder endlich ihr Lachen zurückbringen …

ALLE WOLLEN DR. FINELLI von GEORGE, LOUISA
Ein wunderschöner nackter Männerpo auf ihrem Computermonitor? Offensichtlich wurde Dr. Matteo Finelli beim Umziehen heimlich fotografiert. Nun soll Rechtsanwältin Ivy Leigh den sexy Arzt aus Italien über die Gefahren des Internets aufklären. Doch sie kann nur an das Foto denken …


  • Erscheinungstag 05.05.2017
  • Bandnummer 0099
  • ISBN / Artikelnummer 9783733709495
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Emily Forbes, Carol Marinelli, Louisa George

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 99

EMILY FORBES

Verliebt in den Hollywood-Doc

Die neue Ärztin in seinem Team ist Dr. Damien Moore ein Rätsel. Abi Thompson ist hochqualifiziert, aber in Stresssituationen steht in ihren Augen die nackte Panik. Was hat sie nur erlebt, bevor sie in seiner Klinik angefangen hat? Und was kann er tun, um ihr zu helfen: sie zärtlich küssen, bis sie sich ihm endlich anvertraut?

CAROL MARINELLI

Das Geschenk einer spanischen Nacht

Dominic ist von der schönen Kollegin fasziniert, die auf dem Medizinkongress in Barcelona einen Vortrag hält. Er will diese Cat Hayes unbedingt persönlich kennenlernen, vielleicht einen Wein mit ihr trinken. Mehr nicht, denn zu groß ist seine Trauer um seine Frau, die vor zwei Jahren starb. Aber der Abend hält eine romantische Überraschung bereit …

LOUISA GEORGE

Alle wollen Dr. Finelli

„Gefällt Ihnen nicht, was Sie sehen?“ Dr. Matteo Finelli versteht nicht, warum die Rechtsanwältin des Krankenhauses sich so aufregt. Gut, jemand hat heimlich ein Foto von seinem nackten Po ins Netz gestellt. Na und? Aber diese Ivy Leigh scheint über alle Maßen erregt darüber zu sein. Oder warum sonst funkeln ihre schönen Augen so herausfordernd?

1. KAPITEL

Die berühmten weißen Buchstaben blitzten in ihrem Sichtfeld auf, als Abi die Straße in die Hollywood Hills hinauffuhr. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto höher stieg ihr Puls, ihre Unruhe wuchs, und ihre Hände fühlten sich klamm an. Eine Panikattacke drohte sie zu überwältigen, und sie packte das Lenkrad fester, um nicht die Kontrolle über den Wagen zu verlieren.

Sie hätte nicht gedacht, dass es so schlimm sein würde. Sie hatte sich vorbereitet, hatte sich auf diesen Tag eingestellt. Sie musste es schaffen.

Anfangs war sie versucht gewesen, sich ein Taxi zu nehmen. Ihre innere Diskussion endete schließlich mit der Erkenntnis, dass sie unabhängiger war, wenn sie den Mut aufbrachte, selbst zu fahren. Auf ein Taxi müsste sie erst warten. Also hatte sie Jonty ins Auto gesetzt und war mit ihm die Strecke abgefahren, um sicherer zu werden.

Mit Jonty zusammen hatte sie sich zuversichtlich gefühlt, heute hingegen war sie allein unterwegs.

Noch eine letzte Biegung, dann konnte Abi die steile, kurvenreiche Straße verlassen und auf den Mitarbeiterparkplatz der Hollywood Hills Klinik einbiegen. Wieder leuchtete über ihr das Hollywood-Wahrzeichen auf, hob sich strahlend weiß von der grünbraunen Hügelkette ab.

Am Tor angekommen, zog Abi ihre Karte durch und wartete nervös darauf, dass es sich öffnete. Der Parkplatz war ein sicherer Ort, mit hohem Zaun und einem stabilen Tor, und zu ihrer Erleichterung entdeckte sie große Lampen und Überwachungskameras. Abi seufzte froh, als sie ihren gebrauchten zweitürigen Jeep zwischen zwei schnittigen, makellos glänzenden Sportwagen abstellte.

Einen Moment blieb sie reglos sitzen, um sich zu sammeln. Es hatte sie all ihre Willenskraft gekostet, sich heute Morgen hinters Steuer zu setzen, und jetzt brauchte sie noch ein bisschen mehr, um aussteigen zu können. Eine neue Stelle, neue Kolleginnen und Kollegen – das würde sie bis an ihre Grenzen bringen. Abi befand sich in der Wiedereingliederungsphase, versuchte zu lernen, mit dem alltäglichen Stress des Lebens zurechtzukommen. Alles Unerwartete, Unvorhergesehene konnte sie durcheinanderbringen.

Sie schloss die Augen, holte tief Luft und spielte durch, was ihre Psychologin sie gelehrt hatte. In Gedanken sah sie sich ins Gebäude gehen, aufrecht, selbstbewusst, und am Empfang stehen und sich vorstellen.

Es wird alles gut. Die Umgebung war sicher, sie hatte einen Plan, und sie musste daran glauben, dass alles nach diesem Plan verlief.

Abi griff nach ihrer Handtasche, atmete wieder tief durch und öffnete vorsichtig die Fahrertür, sorgsam darauf bedacht, den Lack des neben ihr parkenden Autos nicht zu beschädigen.

Immerhin hast du es bis hierher geschafft, sagte sie sich. Durch den Berufsverkehr von Los Angeles. Stumm redete sich Abi gut zu, während sie dem Hinweisschild Richtung Klinik folgte. Ein kurzer Pfad führte sie zum Haupteingang des Gebäudes, und als sie um die Ecke bog, hielt sie unwillkürlich den Atem an.

Die Aussicht war unglaublich. Kein Smog trübte den klaren blauen Februarhimmel – einer der Vorteile in der Winterzeit –, und Abi konnte über Los Angeles hinweg bis zur Küste blicken, wo der Pazifik in der Morgensonne schimmerte. Sie wandte sich wieder der Klinik zu, einem lang gestreckten, eleganten hellen Bau, der nach Westen hinaus blitzblank funkelnde Fenster zeigte. Der Vorplatz zwischen der Fensterfront und der halbrunden Auffahrt wurde von herrlich bepflanzten Beeten und perfekt gestutzten Hecken gesäumt.

Am Eingang stand ein niedriges, dezent gestaltetes Schild mit silbernen Buchstaben auf weißem Untergrund: Hollywood Hills Klinik.

Trotz des Namens hatte Abi den Eindruck, ein Fünf-Sterne-Luxusresort zu betreten. Das Schild brauchte nicht besonders groß zu sein. Wer hier eintraf, wusste genau, wo er war. Niemand kam ungeplant oder unangemeldet.

Ihr Bewerbungsgespräch hatte sie telefonisch geführt, und obwohl sie sich über die Klinik und das Management informiert hatte, übertraf die Wirklichkeit ihre Vorstellungen bei Weitem. Anlage und Gebäude der Hollywood Hills Klinik strahlten Noblesse, Reichtum und Exklusivität aus.

Abi sah ihr Spiegelbild in der Glasfassade, rückte automatisch die dunkelblaue Kostümjacke zurecht und vergewisserte sich, dass sie die Bluse richtig in den Bleistiftrock gesteckt hatte. Die Zivilkleidung fühlte sich im Vergleich zu dem festeren Stoff ihrer Uniform, die nicht so leicht verrutschte, zu glatt und zu leicht an. Ihre flachen Absätze klackten auf dem Gehweg. Sie fragte sich, ob sie vielleicht nicht elegant genug angezogen war. Den teuren Wagen auf dem Parkplatz nach zu urteilen, waren ihre Kolleginnen und Kollegen um einiges kultivierter als sie. Plötzlich kam sie sich vor wie eine Landpomeranze, die zum ersten Mal eine Großstadt besuchte.

Du bist in L. A. aufgewachsen, sagte sie sich. Du bist eine ausgezeichnete Ärztin und wirst eine geschätzte Mitarbeiterin sein.

Sie musste nur ihren Job gut machen, alles andere war zweitrangig. Sie brauchte diese Stelle, weil ihr Geld nicht ewig reichen würde, und ihre Psychologin hatte ihr geraten – eindringlich sogar –, ihre Reserven und Grenzen zu testen.

Die Türen glitten geräuschlos auseinander, und Abi betrat ein weitläufiges, modernes Foyer. Der Empfang befand sich vor einem breiten Fenster, das den Blick auf die Stadt freigab. Auf der gegenüberliegenden Seite lag ein großer Hof mit einer kunstvollen Brunnenanlage und überdimensionalen Skulpturen. Weitere Skulpturen und dezent beleuchtete Bilder zeitgenössischer Kunst schmückten die Eingangshalle. Das Ganze wirkte wie eine Kunstgalerie, der man ein stilvolles Hotel angeschlossen hatte.

Abi näherte sich dem Empfang, einer langen Marmorplatte, über der zwei funkelnde Kronleuchter hingen und an dessen linkem Ende ein üppiges Blumenbouquet prangte.

Nichts deutete darauf hin, dass man sich in einer medizinischen Einrichtung befand. Selbst die Frau hinter dem Empfangstisch sah aus, als wäre sie einem Hochglanz-Modemagazin entstiegen. Perfekte, seidig schimmernde Bobfrisur, makelloses Make-up. Abi fühlte sich mehr und mehr wie die Cousine vom Land, die sich kaum einen Schritt weitertraut, weil sie nicht glamourös genug ist.

Sie versuchte, die Gedanken beiseitezuschieben, stellte sich vor und erklärte, dass Freya Rothsberg sie erwarte. Die Klinik gehörte Freya und ihrem Bruder James. James war ein international anerkannter Facharzt für Plastische Chirurgie, der sich auf Schönheitsoperationen spezialisiert hatte. Und Freya kümmerte sich, nach allem, was Abi gehört hatte, um die Öffentlichkeitsarbeit der Hollywood Hills Klinik. Mit ihr hatte Abi auch das Bewerbungsgespräch geführt.

„Herzlich willkommen!“, ertönte eine helle Frauenstimme. Das musste Freya sein.

Sie war ungefähr in Abis Alter, also Anfang dreißig, und gleich groß. Aber das war auch schon alles an Ähnlichkeit. Je näher sie kam, umso stärker fielen die Unterschiede auf. Freya bot den Anblick einer Frau, die in die sonnengeküsste Glamourwelt von L. A. und den Hollywood Hills gehörte: dunkle lockige Haare, die ihr in natürlichen Beach Waves auf die Schultern fielen, leuchtend blaue Augen und selbst im Winter leichte Sonnenbräune. Sie hatte den typischen Cheerleader-Look – schlank, fit, durchtrainiert –, und Abi konnte sich nicht vorstellen, dass in Freya Rothsbergs Leben jemals irgendetwas schiefgegangen war.

Im Vergleich dazu fühlte sich Abi wie die blasse Imitation eines L. A.-City-Girls, obwohl sie in Los Angeles geboren und aufgewachsen war. Ihr kinnlanges dunkelbraunes Haar mit einem Stich Mahagoni umrahmte mit fedrigen Strähnen ihr ovales Gesicht, und ihre porzellanhelle Haut schien nie die Sonne gesehen zu haben. Abi fand sich eher nichtssagend und nicht besonders hübsch. Nur ihre Augen waren etwas Besonderes, und sie merkte es an Freyas Reaktion, als ihre Blicke sich trafen. Sie waren von einem warmen Goldbraun wie schimmernder Bernstein, ähnlich den Glasaugen eines Plüschteddybären. Die Farbe war ungewöhnlich, und Abi wusste, dass sich die Menschen als Erstes an ihre Augen erinnerten.

„Hallo, ich bin Freya Rothsberg.“ Sie schüttelte Abi kräftig die Hand. „Wie schön, Sie kennenzulernen! Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier bei uns. Oh, warten Sie, da muss ich Ihnen gleich jemanden vorstellen.“ Ein Mann hatte das Foyer betreten, und sie wandte sich ihm zu. „Damien?“

Er kam auf sie zu, und Abis erster Gedanke war: Göttlich! Kein anderes Wort hätte den Mann besser beschreiben können. Gab es nur schöne Menschen in dieser makellosen Umgebung?

Mit Dreitagebart, braunen, fast schwarzen Augen und dem kurz geschnittenem, vollen schwarzen Haar sah er atemberaubend aus. Dazu war er groß und schlank, athletisch gebaut wie ein Model. Sein Anzug wirkte maßgefertigt, das weiße Hemd stand am Kragen offen und ließ glatte, sonnengebräunte Haut sehen.

„Abi, dies ist Damien Moore, unser Chefarzt für Rekonstruktive Chirurgie“, stellte Freya ihn vor, als er vor ihnen stand.

Der Name war ihr nicht fremd. Dieser umwerfende Mann war ihr neuer Vorgesetzter. Sie ertappte sich dabei, dass sie nach Anzeichen für schönheitschirurgische Eingriffe suchte, und hoffte gleichzeitig, dass er einfach nur gute Gene besaß. Auch wenn sie sich für Plastische Chirurgie entschieden hatte, so fand sie eitle Männer nicht gerade attraktiv. Andererseits sollte es sie wirklich nicht interessieren, was Damien Moore mit seinem Körper oder in seinem Privatleben anstellte!

„Damien, das ist Abi Thompson, die neue Kollegin im chirurgischen Team.“

„Dr. Thompson.“ Er nickte ihr knapp zu. Alles an ihm wirkte dunkel und intensiv. Sehr ernst. Er wirkte kontrolliert – oder war die unterkühlte Begrüßung ein Zeichen dafür, dass sein erster Eindruck von ihr nicht der beste war?

Die Selbstzweifel waren da, bevor Abi gegensteuern konnte. Entspann dich, sagte sie sich. Es besteht kein Grund, dass er dich auf den ersten Blick nicht leiden kann.

Als sie seine ausgestreckte Hand ergriff, durchzuckte es sie wie ein Stromschlag. Es fühlte sich an, als hätte sie sich verbrannt, und sie zog die Hand rasch zurück. Nur mit Mühe konnte sie sich zurückhalten, ihre Handfläche auf Rötungen zu untersuchen.

„Ihr Fachgebiet ist Rekonstruktive und Plastische Chirurgie?“, fragte er, ohne anscheinend auch nur das Geringste gespürt zu haben. Hatte er das sengende Prickeln nicht empfunden? „Sind Sie voll qualifizierte Chirurgin?“

Was zum Teufel wollte er damit sagen? „Natürlich!“, antwortete sie.

„Ihr Lebenslauf ist sehr ausführlich.“

Unterstellte er etwa, dass sie ihn geschönt hatte? Abi begegnete seinem kühlen Blick und spürte, wie ihr altes Temperament sich regte. „Ich warte gern, bis Sie meine Bewerbungsunterlagen geholt haben, dann können wir jeden Punkt zusammen durchgehen.“ Es hätte sie nicht gewundert, wenn Dampf aus ihren Ohren gequollen wäre, und sie wusste, dass ihre bernsteinfarbenen Augen Blitze sprühten. Falls sie jedoch erwartet hatte, dass er sich entschuldigte, so täuschte sie sich.

„Ich habe zwei Jahre lang in einem Feldhospital in Afghanistan Soldaten zusammengeflickt“, fuhr sie fort. „Also Amputationen so durchgeführt, dass sich später Prothesen gut anpassen lassen, Hände repariert, Finger wieder angenäht oder am Straßenrand unter Feuerbeschuss Verwundete versorgt. Ich denke, ich bin in der Lage, hier zu arbeiten. Ihre Einrichtung und auch Ihre Patienten werden mir keine Schwierigkeiten bereiten.“

Ein Feldlazarett mochte mit einer luxuriösen Schönheitsklinik nicht zu vergleichen sein, aber aus Erfahrung wusste sie, dass die Umgebung keine Rolle spielte. Sie war gut in ihrem Job, sogar sehr gut, und das ließ sie sich von niemandem kleinreden.

Ihr entging nicht, dass Freya amüsiert dem Gespräch lauschte und anscheinend ein Lachen unterdrückte. Im nächsten Moment jedoch klingelte ihr Handy, und sie warf einen Blick auf das Display.

„Das ist Mila. Entschuldigt, aber da muss ich rangehen. Wir wollten die letzten Vorkehrungen für die Veranstaltung am Wochenende besprechen. Damien, könntest du Abi kurz durch die Räume führen? Wir sehen uns dann später in der Teepause.“

Ein Anflug von Panik erfasste Abi. „Es macht mir nichts aus, auf Sie zu warten.“ Das war um vieles verlockender, als mit Damien die Klinik zu besichtigen. Damien, der keine hohe Meinung von ihr zu haben schien. Außerdem verunsicherte er sie. Auf diesen Stress konnte sie verzichten, vor allem an ihrem ersten Tag.

Doch Freya hatte sich bereits abgewandt, um zu telefonieren.

„Da müssen Sie wohl oder übel mit mir vorliebnehmen“, sagte er, nachdem sie einander schweigend angestarrt hatten. „Kommen Sie, so können wir uns gleich besser kennenlernen. Und sehen, ob wir gut miteinander arbeiten können.“

Keine verlockende Aussicht. Nervös fragte sich Abi, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, die Stelle am Hollywood Hills anzunehmen. Sie bereute es längst, dass sie kein persönliches Bewerbungsgespräch geführt und sich die Klinik nicht vorher angesehen hatte.

Beruhige dich, redete sie sich gut zu, holte tief Luft und versuchte, sich zu fassen. Sie musste auf jeden Fall professionell und souverän wirken. Nicht auszudenken, wenn sie in den ersten fünf Minuten vor ihrem neuen Chef eine Panikattacke bekam!

„Was haben Sie bei Ihrem Bewerbungsgespräch schon gesehen?“, fragte Damien.

„Ich bin heute zum ersten Mal hier. Das Gespräch erfolgte nur telefonisch.“

„Verstehe. Ich war zu der Zeit nicht hier und hatte gedacht, dass während meiner Abwesenheit alles geregelt wurde. Wollten Sie nicht wissen, wie Ihr künftiger Arbeitsplatz aussieht?“

„Ich kenne den Ruf der Klinik. Das genügt mir.“ In Wirklichkeit hatte die abgeschiedene, gesicherte Lage den Ausschlag gegeben. Abi war noch nicht bereit, in einem großen öffentlichen Krankenhaus zu arbeiten. Sie wollte nicht um ihr Budget kämpfen oder in stundenlangen Besprechungen ihre Zeit verschwenden. Sie war noch nicht stabil genug für Notfälle, Hektik und Schichtdienste. Stattdessen brauchte sie geregelte Arbeitszeiten, einen verlässlichen Tagesrhythmus und ausreichend Schlaf. Und genau das versprach diese kultivierte, friedvolle Umgebung.

Damien brachte sie zu ihrem Sprechzimmer, das mit hellen Eichenmöbeln und Ledersesseln ausgestattet war. Breite Fenster mit Jalousien, die von außen vor Blicken schützten, boten einen grandiosen Ausblick auf Los Angeles. Damiens Büro lag nebenan. Sie teilten sich eine Sekretärin, die ihre Sprechzeiten und OP-Termine verwaltete.

Abi erwartete, dass er sie Jennifer überließ, damit sie die Besichtigung mit ihr fortsetzte. Doch zu ihrer Überraschung führte er sie weiterhin persönlich durch die Klinik. Sie wusste nicht genau, was sie davon halten sollte. War er einfach höflich, oder wollte er die Gelegenheit nutzen, sie über ihre beruflichen Qualifikationen auszufragen?

Und wenn schon, dachte sie. Sie war jeder Frage gewachsen.

Als Nächstes zeigte er ihr den Reha-Bereich, ausgestattet mit Fitnessgeräten und Hydrotherapie-Becken, die von den Physiotherapeuten genutzt wurden. Danach ging es zu den OP-Sälen. Abi staunte nur. Hier war an nichts gespart worden.

„Das ist etwas anderes als das, was Sie gewohnt sind, oder?“, meinte Damien, als er die Schwingtüren zum OP aufstieß.

„Die medizinische Ausrüstung ist top, aber die Armee gibt mit Sicherheit kein Geld für moderne Kunst und Marmorfußböden aus.“

„Unsere Patienten stellen hohe Ansprüche – nicht nur an unsere fachlichen Qualitäten, sondern auch an den Service. Die Reichen von Los Angeles sind es gewohnt, dass sie bei jeder Kleinigkeit bedient werden. Wenn sie durch unsere Tür kommen, erwarten sie die gleiche Aufmerksamkeit, die sie auch beim Betreten eines Hotels oder Restaurants genießen. Sie wollen verwöhnt werden.“

Mit den Erwartungen der Patienten würde sie klarkommen. Das war nichts, verglichen mit dem, was sie erlebt hatte. In der Armee musste man nehmen, was kam. Da konnte man keine Ansprüche stellen. Menschen am Leben zu erhalten und ihnen größtmögliche Bewegungsfreiheit zu geben, das war das Wichtigste. An sich und ihre Fähigkeiten stellte Abi jedoch extrem hohe Ansprüche. Allerdings war es weniger belastend, in dieser Luxusklinik einen Millionär zu operieren als einen Verwundeten unter Feuerbeschuss.

Genau deshalb wünschte sie sich einen Job, der nicht gefährlich war. Sie brauchte Frieden und Sicherheit und eine Arbeit ohne hohen Stress wie in Afghanistan.

Die Umgebung war das eine, die Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete, das andere. Um Stressfaktoren zu minimieren, musste sie sich auf ihre Kolleginnen und Kollegen verlassen können. Es war an der Zeit, Damien selbst ein paar Fragen zu stellen.

„Seit wann sind Sie hier dabei?“

„Seit zwei Jahren.“ Mehr gab er nicht preis. „Hier sind die Beobachtungsräume, und gleich kommen wir zu den Patientensuiten.“

Sie waren erst ein paar Schritte den Flur entlanggegangen, als aus den Deckenlautsprechern eine Durchsage ertönte. „Code blau, Zimmer fünf. Wiederhole, Code blau, Zimmer fünf.“

Damien verlor keine Zeit. War er gerade noch neben ihr gewesen, rannte er jetzt mit langen Schritten den Korridor entlang.

Abi starrte ihm nach.

2. KAPITEL

Die hochgewachsene Gestalt entfernte sich rasch, und schließlich kam Bewegung in Abi. Sie folgte Damien, während noch immer die Stimme über ihrem Kopf mahnte: „Code blau, Zimmer fünf.“

Damien sprintete an zwei Räumen vorbei und drückte die Tür zum dritten mit der Schulter auf. Kurz nach ihm kam Abi in einem der größten Krankenzimmer an, das sie je gesehen hatte. Vor der Wand stand ein breites Bett. Eine Krankenschwester kniete darauf und versuchte, mit Herzdruckmassage eine junge Frau in einem blassrosa Seidenpyjama wiederzubeleben.

„Herzstillstand. Reagiert nicht, keine Atmung, kein Puls“, stieß sie hervor, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Sie war gut, die Kompressionen fest und tief.

Die Schlafanzugjacke war offen, und Abi fiel als Erstes auf, wie dünn die Patientin war. Man sah deutlich jeden Rippenbogen.

„Ellen, das ist Dr. Thompson“, stellte Damien vor, während er hinter das Bett griff und gegen die Wand drückte. Eine kleine Tür, die kaum sichtbar dort eingelassen war, sprang auf, und Damien zog einen Defibrillator aus dem Fach dahinter.

Mit geübtem Griff riss er die Verpackungen auf, und Ellen lehnte sich zurück, damit er die selbsthaftenden Elektroden anbringen konnte.

Abi beobachtete, wie er die Leitungen anschloss, die Maschine startete und auf den „Analyse“-Knopf drückte. Der Herzrhythmus der Patientin erschien auf dem Bildschirm und zeigte ein lebensbedrohliches Kammerflimmern.

Der Defi gab mit Automatenstimme Instruktionen.

CPR unterbrechen. Rhythmus-Analyse.

Schock empfohlen.

Mit jaulendem Ton lud sich der Apparat auf.

Patient nicht berühren.

„Weg vom Bett“, wies auch Damien an und vergewisserte sich, dass Abi und Ellen zurückgetreten waren, bevor er auf den blinkenden roten Knopf drückte.

Die Maschine löste den ersten Schock aus. Keine Veränderung auf dem Monitor.

Reanimation fortsetzen.

„Ellen, können Sie einen Zugang legen, Sauerstoffsättigung feststellen und einen Beatmungsbeutel holen?“ Damien senkte bereits das Bett herab, um die Herzdruckmassage fortzuführen.

Abi streifte sich die Schuhe ab, trat ans Bett und schob sich den Rock hoch, um mehr Beinfreiheit zu haben. Es war wohl doch keine gute Idee gewesen, ein Kostüm anzuziehen! Sie kletterte aufs Bett, überstreckte den Kopf der Patientin, bereit, die Atemspende zu geben, sobald Damien nach dreißig Kompressionen eine kurze Pause einlegte.

Nach zwei Minuten intensiver Wiederbelebungsmaßnahmen wurden sie von der Defi-Stimme unterbrochen.

CPR unterbrechen. Rhythmus-Analyse.

Schock empfohlen.

„Weg vom Bett“, sagte Damien und löste schließlich den zweiten Stromstoß aus.

Die Patientin war bleich, kaltschweißig, und an Mund und Kiefer zeigten sich bläuliche Verfärbungen. Abi und Damien setzten die Wiederbelebungsmaßnahmen fort, nur benutzte Abi diesmal den Ambu-Beutel, um Luft in die Lungen zu pumpen. Weitere zwei Minuten verstrichen.

CPR unterbrechen. Rhythmus-Analyse.

Schock empfohlen.

Und endlich zeigte sich nach dem dritten Schock eine normale Herzrhythmus-Linie. Abi ließ die Schultern sinken und glitt vom Bett. Zu dritt betrachteten sie erleichtert den Herzschlag auf dem Monitor.

Ellen entfernte die Defi-Pads und ersetzte sie durch EKG-Elektroden. Ein zweites Team, wahrscheinlich das Reanimationsteam, kam zum Bett. In der Aufregung hatte Abi nicht gemerkt, dass Verstärkung eingetroffen war. Und sie verschwanden so diskret und ruhig wieder, wie sie gekommen waren. Begleitet von Ellen, rollten sie die Patientin aus dem Raum, sicher, um sie zur Intensivstation zu bringen.

Abi war mit Damien allein.

Jetzt, da das Drama überstanden war, wusste sie nicht, wo sie hinblicken oder was sie tun sollte. Sie versuchte, Damien nicht anzusehen. Stattdessen betrachtete sie ihre Umgebung.

Das überdimensionale Bett war fort, aber der Raum trotzdem nicht leer. Vor einem Panoramafenster, das auf einen Innenhof hinausging, befand sich ein Wohnzimmerbereich mit Teppichböden, Ledersofa, wollweißen Polstersesseln und einem Couchtisch mit schwerer Marmorplatte. Abi trat ans Fenster und spürte dabei den dicken, weichen Teppich unter den Füßen.

Der Hof war von keiner Seite einsehbar, und doch war die Fensterscheibe getönt. Abi konnte nach draußen blicken, aber von draußen niemand herein. An das geräumige Zimmer schloss sich ein Bad an. Die Tür stand einen Spalt offen, sodass Abi einen Marmorwaschtisch mit Spiegel sehen konnte. Nirgends war medizinische Ausrüstung zu entdecken, und sie vermutete, dass man sie in speziellen Wandfächern verborgen hatte so wie den Defibrillator. Das Zimmer hätte auch zu einem Nobelhotel gehören können.

Patient bleibt Patient, dachte Abi. Die Einrichtung konnte noch so komfortabel und mondän sein, letztendlich ging es auch hier in erster Linie darum, das Leben eines Menschen zu verbessern und mitunter auch zu retten, wie gerade eben. Und genau das war ihre Aufgabe. Ob in Zivil oder in Uniform, sie würde das tun, wofür sie ausgebildet war … als Ärztin.

„Danke für Ihre Hilfe.“ Damien stellte sich neben sie. „Das ist noch einmal gut gegangen.“

War das alles, was er dazu zu sagen hatte?

Okay, wahrscheinlich erwartete man von ihr, dass sie selbstverständlich ihren Job machte. Dazu musste man sie nicht beglückwünschen. Dennoch hätte sie gern ein paar anerkennende Worte gehört, vor allem, nachdem er sie vorhin sehr kritisch behandelt hatte. Jetzt zweifelte er doch wohl nicht mehr an ihr, oder?

Sie selbst war froh darüber, wie sie mit der Situation fertiggeworden war. Sie war nicht in Panik geraten, hatte sich nicht gestresst gefühlt, sondern einfach getan, was getan werden musste. Ihre ärztlichen Fähigkeiten hatten nicht im Mindesten gelitten. Es war wie Radfahren – einmal gelernt, vergaß man es nicht wieder.

Ihr Privatleben mochte eine Katastrophe sein, ihr Selbstvertrauen am Boden liegen und sie selbst Mühe haben, in der großen weiten Welt draußen zurechtzukommen, aber in der vertrauten Umgebung eines Krankenhauses schien sie normal zu funktionieren. Eine beruhigende Entdeckung, die allerdings von der Enttäuschung getrübt war, dass Damien von ihr nicht besonders beeindruckt schien.

„Ich möchte eine Bemerkung zurücknehmen“, fügte er hinzu.

„Wie bitte?“

„Als ich vorhin Ihre Kompetenz infrage stellte, hatte ich vorschnelle Schlüsse gezogen, und das tut mir leid.“

„Danke.“ Ihr Tag erstrahlte plötzlich in hellerem Licht.

„Wie Sie eindrucksvoll bewiesen haben, sind Sie in der Lage, auch unter Druck vernünftig zu handeln. Für uns bedeutet das, dass wir Sie in jeder Situation einsetzen können. Ich entschuldige mich noch einmal für meine Vorbehalte“, sagte er, und dann lächelte er.

Abi bekam weiche Knie. Sie sank auf das Sofa und hoffte, dass er es der überstandenen Krisensituation zuschrieb. In Wahrheit war es sein Lächeln, das sie schwach machte. Der ernste, fast düstere Ausdruck verschwand völlig, und auf einmal wirkte er wie ein Mann, der das Leben genießen und aus vollem Herzen lachen konnte.

„Kommen Sie, wir holen uns einen Kaffee und gönnen uns eine kleine Pause.“ Das Lächeln blieb, und Abi fühlte sich noch immer wie verzaubert. „Die Besichtigung können wir auch später fortsetzen.“

Damien hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Sobald ihre Handfläche seine berührte, durchzuckte es sie heiß. Die Luft zwischen ihnen schien zu glühen, zündete ein knisterndes Feuer in ihr, das ihr den Atem aus den Lungen saugte. Mit wackligen Beinen erhob sie sich. Ihre Sicht verschwamm an den Rändern, und Abi wurde schwindlig, als hätte sie ein Glas Champagner zu schnell hinuntergestürzt.

„Alles in Ordnung?“, fragte er und ließ ihre Hand los.

Sofort bekam sie wieder besser Luft. „Ja, sicher“, antwortete sie, strich sich den Rock glatt und schlüpfte in ihre Schuhe. Einen flüchtigen Moment lang schloss sie die Augen, atmete tief durch und folgte ihm dann aus dem Zimmer.

Als sie nebeneinander den Flur hinuntergingen, achtete sie darauf, Abstand zu halten. Auf keinen Fall wollte sie ihn wieder berühren!

Damien hätte seinen Kaffee gern noch schneller ausgetrunken, wollte aber nicht unhöflich wirken. Er hatte Abi in die Personalküche mitgenommen, doch der Raum kam ihm auf einmal viel zu eng vor. Er hatte Mühe zu atmen, was nichts mit dem soeben überstandenen Notfall und alles mit der zierlichen Brünetten zu tun hatte, die ihm jetzt gegenübersaß.

Dass er sie vorhin beinahe abweisend begrüßt hatte, tat ihm sehr leid, zumal er sich nicht erinnern konnte, warum.

Der Duft reifer Pfirsiche stieg ihm in die Nase, und er wusste, dass dieser betörende Duft von ihr ausging. Kein Wunder, dass er kaum Luft bekam. Damien sah ihr in die bernsteinfarbenen Augen und dachte an goldene Sommertage und das warme Leuchten der Spätnachmittagssonne. Er erahnte eine verborgene Energie, spürte aber, dass irgendetwas diese innere Stärke beschädigt hatte. Abi wirkte zerbrechlich, verletzlich. Kurz fragte er sich, was sie wohl erlebt hatte, schob den Gedanken jedoch beiseite. Er hatte genug eigene Probleme und keine Zeit für Ablenkungen. Und ja, das war sie, eine Frau, die einen Mann mehr als ablenken konnte.

Damien brauchte Luft zum Atmen. Hastig leerte er seine Tasse, schob den Stuhl zurück und stand auf. „Finden Sie allein zurück zum Büro? Ich muss mit Freya sprechen.“

Sein überstürzter Aufbruch schien sie zu verwirren, er las es in ihrem Blick. Sie sagte jedoch nichts, sondern nickte nur.

Damien verdrängte die aufkeimenden Gewissensbisse. Er musste wirklich mit Freya reden – über Clementine Jones.

Kurz darauf klopfte er an ihre Tür. „Clementine hatte sich für eine Brustvergrößerung angemeldet“, sagte er, nachdem er ihr von dem Notfall berichtet hatte. „Sie leidet jedoch seit längerer Zeit an einer Essstörung, was den Herzstillstand ausgelöst haben mag. Sie liegt zur Beobachtung bei Geoff, aber sie braucht psychologische Beratung. Ich weiß, dass du nur eine Handvoll Patienten annimmst, aber dieses Mädchen musst du auf deine Liste setzen. Zurzeit spielt sie russisches Roulette, und es ist nur eine Frage der Zeit, bevor sie in einer traurigen Statistik auftaucht.“

Freya nickte. „Gut, ich werde sehen, was ich tun kann.“ Sie sah ihn an. „Dann warst du zuerst bei ihr?“

„Zusammen mit Abi.“

„Ihr habt sie gemeinsam wiederbelebt?“

„Ja.“

„Glaubst du jetzt, dass sie dem Job gewachsen ist?“

Er brauchte Unterstützung, hatte darum gekämpft, einen zusätzlichen Chirurgen zu bekommen, der seine Arbeitslast mittrug. Sein erster Eindruck von Abi war jedoch alles andere als beruhigend gewesen. Damien hielt sie weder für alt noch für kräftig genug, ihm zu helfen. Inzwischen hatte er seine Meinung geändert. „Ich muss zugeben, dass ich zuversichtlicher bin.“

„Gut. James möchte nämlich, dass sie dir morgen im OP assistiert. Sie gewinnt einen Einblick, wie die Dinge hier laufen, und du kannst bei der Gelegenheit sehen, wie sie sich macht. Wenn du mit ihr zufrieden bist, können wir ihr die ersten Patienten überlassen, damit du entlastet wirst.“

Damien konnte es kaum erwarten. Sein Arbeitspensum war immens, und er war erschöpft. Es gab zu vieles, um das er sich kümmern musste. Seit er seine kleine Tochter praktisch allein großzog, zog sich die Schlinge immer enger zu. Er konnte unmöglich rund um die Uhr arbeiten, und er wollte es auch nicht. Abi musste sich bewähren – wenn nicht, musste sie gehen. Ganz einfach.

Abi schwirrte noch der Kopf, als sie ihren Jeep auf die Auffahrt fuhr und den Knopf für die Garagenautomatik drückte. Sie brauchte Ruhe und Zeit, um über ihren Tag nachzudenken: was sie gesehen, was sie getan, wen sie kennengelernt hatte. Sie beschloss, Jonty abzuholen und mit ihm einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen.

Leise quietschend öffnete sich das Garagentor, und sofort sauste Jonty quer über den Rasen auf sie zu. Sie fühlte sich ein bisschen schuldig, als sie sah, wie eilig er es hatte, sie zu begrüßen. Bis heute waren Jonty und sie nie voneinander getrennt gewesen. Ob es berufstätigen Müttern mit ihren Kindern ähnlich erging?

Sie stellte den Jeep ab, schloss die Tür und machte sich auf den Weg zum Bungalow ihrer Vermieter vorn an der Straße. George und Irma waren beide Rentner und Ende sechzig. Vor sechs Wochen war Abi in die kleine Wohnung über der Garage gezogen, und für das freundliche ältere Paar gehörte sie inzwischen zur Familie. Auch ihren Hund hatten sie praktisch adoptiert und angeboten, ihm Gesellschaft zu leisten, während Abi arbeitete. Am liebsten hätte sie ihn mitgenommen, schon um sich sicher zu fühlen, aber in der Hollywood Hills Klinik war ein großer, haarender Golden Retriever bestimmt nicht willkommen.

„Wie war dein Tag, Liebes?“, fragte Irma.

„Nicht ganz wie erwartet, aber es wird bestimmt gut.“ Die Eindrücke von ihrem ersten Arbeitstag beschäftigten sie immer noch. So vieles war neu und anders als in der Armee, wo sie nie gewusst hatte, was sie als Nächstes erwartete. Doch vielleicht brauchte sie genau diese verlässliche Routine, um wieder Fuß zu fassen.

„Ich habe einen großen Topf Chili conCarne gekocht. Möchtest du nicht heute Abend bei uns essen? Du musst müde sein.“

Abi ließ sich gern von Irma verwöhnen. In ihrem Kühlschrank herrschte gähnende Leere, sodass ihr Abendessen ziemlich frugal aus Toast und Tütensuppe bestehen würde. Noch besser als die Mahlzeit war für sie jedoch etwas anderes: Sie war jemandem so wichtig, dass derjenige darauf achtete, dass sie gut aß und sich ausruhte.

Was für viele Menschen zu einem normalen Familienleben dazugehörte, das hatte Abi so nie erlebt. Echte Geborgenheit kannte sie nicht. Zwar hatte ihre Mutter ihr Bestes versucht, aber oft genug kam sie mit der Wirklichkeit nicht zurecht. Und an ihren Vater konnte Abi sich nicht erinnern. Beim Militär war sie zwar versorgt, doch das war mit einem heimeligen Familienleben wohl kaum zu vergleichen.

George und Irma vermissten ihre Kinder, und Abi füllte gern diese Lücke. Es tat ihr gut, sich zugehörig zu fühlen.

„Das klingt sehr verlockend“, antwortete sie. „Ist noch Zeit, dass ich mit Jonty kurz Gassi gehen kann?“

„Natürlich.“

Die Wohnung über der Garage bestand aus einem Schlafzimmer, einem kleinen Bad und einem kombinierten Küchen-Wohn-Bereich, der auf eine schmale Dachterrasse hinausführte. Von dort blickte man auf einen Park, in dem Jonty gern herumstrolchte. Nach Sonnenuntergang machte Abi allerdings einen großen Bogen um die Grünanlage.

Jetzt zog sie sich rasch um, weil sie noch Milch für ihren Frühstückskaffee besorgen musste. Schwarze Joggingleggings, schwarzes Longsleeve, dazu eine leuchtend pinkfarbene Daunenweste. Zum Schluss wand sie sich einen orangefarbenen Schal um den Hals, schob Handy und etwas Kleingeld in die Hosentasche und klippte die Hundeleine an Jontys Halsband und legte ihm die Weste um, die ihn als Begleithund auswies. Zwei Straßenblöcke weiter war ein kleiner Supermarkt, da wollte sie hin.

Auf Empfehlung ihrer Psychologin hatte Abi sich Jonty nach ihrer Rückkehr aus Afghanistan angeschafft. Caroline erzählte ihr, dass viele ihrer Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung sehr von einem Begleithund profitiert hätten. Abi merkte schnell, wie gut es ihr tat, einen treuen Gefährten an der Seite zu haben. Bisher hatte sie weder einen Hund noch ein anderes Haustier gehabt, mochte Jonty jedoch schon bald nicht mehr missen.

Seine Aufgabe war es, sie zu beruhigen und ihr zu helfen, sich außerhalb ihrer vier Wände wieder unbefangen zu bewegen. Trotzdem war sie nervös, und ihr Herz schlug schneller, als sie den Supermarkt betraten. Wenn sie sich nicht einen genauen Überblick über die Lage verschaffen konnte, bekam sie seit jenem Zwischenfall in Afghanistan in fremder Umgebung und unter vielen Menschen Beklemmungen.

Abi warf einen Blick in den Laden, und erst, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass nur wenige Kunden da waren, ging sie mit Jonty hinein. Solange er die Weste trug, die ihn als Begleithund auswies, durfte sie ihn überallhin mitnehmen.

Sie eilte zur Kühltheke, die sich genau entgegengesetzt vom Eingang befand, und wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass der Ladenbesitzer die Milchprodukte näher an der Tür anbot. Sich ganz nach hinten zu wagen, kam immer wieder einer Mutprobe gleich, obwohl Abi genau wusste, wo der Notausgang war.

Ein dunkelhaariger Mann stand vor der geöffneten Glastür und griff ins Regal genau nach der Milchsorte, die auch Abi trank. Flüchtig überlegte sie, ihn zu bitten, ihr auch eine Packung zu geben, doch das hätte bedeutet, einen Fremden ansprechen zu müssen. Selbst mit Jonty an ihrer Seite fiel ihr das noch schwer. Also wartete sie, dass der Mann die Tür schloss und sich entfernte.

„Dr. Thompson!“

Abis Herz machte einen Satz, als die vertraute Männerstimme ertönte. Sie hob den Blick.

Groß und schlank stand er vor ihr. Sein dichtes schwarzes Haar war lässig frisiert, ohne unordentlich zu wirken. Dazu der dunkle Bartschatten auf glatter olivfarbener Haut, fast schwarze Augen, die sie nun intensiv musterten.

Damien war atemberaubend.

Sein ernster Ausdruck verschwand und machte einem charmanten Lächeln Platz. Wie alles andere an ihm, waren auch seine strahlend weißen Zähne makellos.

„Brauchen Sie auch Milch?“, fragte er.

„Für meinen Kaffee.“ Als ob ihn interessierte, was sie mit ihrer Milch machte!

Er nahm eine zweite Packung aus dem Kühlregal und reichte sie ihr, ohne zu fragen, welche Sorte sie bevorzugte. „Wohnen Sie hier in der Gegend?“

„Zwei Straßen weiter.“ Abi deutete nach Osten.

„Wir zwei Richtung Süden.“

Sie fragte sich, wie das „wir“ gemeint war. Er trug keinen Ehering.

Obwohl sie es genau zu wissen glaubte, blickte sie unauffällig zu seiner linken Hand. Weshalb sie sich dessen so sicher gewesen war, konnte sie allerding nicht sagen. Es spielte auch keine Rolle. Die meisten Chirurgen trugen keine Ringe, und außerdem ging es sie nichts an, ob er verheiratet war oder nicht.

„Ist das Ihr Hund?“

„Ja, das ist Jonty.“

„Ein Begleithund?“

„Er gehört zu einem Projekt, an dem ich beteiligt bin.“ Abi sah keine Notwendigkeit, ihn darüber aufzuklären, dass es sich um ein persönliches Projekt zur Stärkung ihrer fragilen Psyche handelte. Er brauchte nicht zu wissen, dass ihre Psychologin es ihr empfohlen hatte. Sie hatte nicht vor, mit ihrem neuen Chef über ihr Privatleben zu reden.

Sie fand es schon schwierig genug, dass er praktisch ihr Nachbar war. Früher war es kein Problem gewesen, Berufsleben und Freizeit miteinander zu verbinden. In der Armee blieb einem kaum etwas anderes übrig. Aber Abi war zurückhaltender, verschlossener geworden, und deshalb hatte Caroline ihr Jonty vorgeschlagen, damit sie ihre Ängste abbaute und sich auch wieder an schöne Erlebnisse im Leben erinnern konnte.

Damien bestand darauf, ihre Milch mitzubezahlen, und sie verließen das Geschäft gemeinsam. Als sie auf dem Bürgersteig standen, zog er ein Schlüsselbund aus der Hosentasche und drückte auf einen Knopf. Abi hörte die Zentralverriegelung entsperren und sah, wie an einem schicken schwarzen SUV die Lichter aufblinkten.

„Kann ich Sie nach Hause fahren?“, bot er an.

Er war also nicht nur eine Augenweide, sondern ein charmanter Kavalier. Abi wusste jedoch genau, wie gefährlich gewinnender Charme bei einem gut aussehenden Mann sein konnte. Sie blickte zu seinem Wagen. Auf dem glänzenden Lack waren weder Kratzer noch Schmutzspritzer zu finden. Das schimmernde, perfekt gepflegte Auto passte zu ihm und war das genaue Gegenteil von ihrem alten Jeep. Abi konnte sich nicht vorstellen, einzusteigen, geschweige denn ihren haarenden, dreißig Kilo schweren Gefährten einzuladen. Hatte er Jonty vergessen?

„Nein, danke. Wir brauchen ein bisschen Bewegung.“ Und Ruhe zum Nachdenken.

Er sah toll aus, ein Mann, bei dem jede Frau schwach wurde, doch das war noch lange kein Grund, sich von ihm nach Hause kutschieren zu lassen. Sie hatte schon vor ihm blendend aussehende, charmante Chefs gehabt, und gerade beim letzten war das nicht besonders gut gegangen. Davon hatte sie sich immer noch nicht richtig erholt …

Abi brauchte Zeit, um wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. All ihre Energie war darauf ausgerichtet zu überleben. Emotionale Stabilität und finanzielle Sicherheit, diese Ziele standen auf ihrer Prioritätenliste ganz oben. Auf Komplikationen konnte sie sehr gut verzichten, und Männer machten das Leben nicht gerade einfacher. Das wusste sie aus Erfahrung.

Abgesehen davon gehörte dieser Mann zu einem „wir“. Ein Grund mehr, Abstand zu halten!

3. KAPITEL

An ihrem zweiten Arbeitstag erschien Abi im schicksten Outfit, das sie besaß, einem Wickelkleid aus schwarzem Jersey und nudefarbenen High Heels. Dazu trug sie eine dünne Goldkette um den Hals, war sich aber nicht sicher, ob das elegant genug war.

Gestern hatte Freya sie vormittags bei Tee und köstlichen Häppchen dem Team vorgestellt. Und tatsächlich war Abi nur von schönen und beeindruckend gut gekleideten Menschen umgeben.

Anscheinend gehörte es zur Geschäftspolitik angesichts der Tatsache, dass in dieser Klinik die High Society von Los Angeles ein und aus ging. Abi hatte nur ihre Zweifel, ob sie den Anforderungen gerecht würde. Mit ihrer Garderobe und ihrem Aussehen konnte sie den anderen nicht das Wasser reichen, also musste sie mit ihren ärztlichen Qualitäten punkten.

Als sie ihr Büro betrat, begrüßte Jennifer sie freundlich und teilte ihr gleich mit, dass Damien für acht Uhr dreißig eine Besprechung angesetzt hätte.

Ein weißer Arztkittel hing hinter ihrer Zimmertür, und Abi zog ihn sofort an. In OP-Kleidung fühlte sie sich am wohlsten, aber der Kittel tat es vorerst auch. Vielleicht konnte sie dafür sorgen, dass sie die meiste Zeit im OP verbrachte. Dort hatte sie sich und alles andere am besten unter Kontrolle.

Bei einem kurzen Blick in den Spiegel entdeckte sie das Monogramm auf der Brusttasche: ein stilvolles Logo mit zwei ineinander verschlungene Hs. Auch in solchen Feinheiten spiegelte sich die Klasse der Klinik wider.

Damiens Tür stand offen, und Abi nahm sich einen Moment, um ihn zu betrachten, bevor sie klopfte. Heute trug er einen dunkelblauen Anzug, dazu ein blassblaues Hemd und eine weinrote Seidenkrawatte mit blauen französischen Lilien. Auch darin sah er aus, als wäre er gerade einem Hochglanz-Modemagazin entstiegen.

Abi zog schützend den weißen Kittel um sich, klopfte und betrat das Zimmer. Ihr Kleid und ihre Schuhe hatten kaum mehr als hundert Dollar gekostet, während Damien wahrscheinlich allein für seine Krawatte das Doppelte ausgegeben hatte.

Dampfender, aromatisch duftender Kaffee stand für sie bereit, und Damien schob ihn ihr über den Tisch zu, während sie in dem weichen Ledersessel am Fenster Platz nahm.

Sein Sprechzimmer war genau wie ihrs geschnitten. Im angeschlossenen Innenhof plätscherte ein Wasserspiel, in dessen Zentrum sich eine avantgardistische Metallskulptur erhob. Alles hier war stilvoll und ästhetisch, und zum ersten Mal seit gestern entspannte sich Abi. Vielleicht war es eine gute Entscheidung gewesen, hier zu arbeiten. Und dass für sie etwas gut ging, wäre mal eine nette Abwechslung!

„Milch?“, fragte er, in Anspielung auf ihre Begegnung am Abend zuvor. Damien hatte eine tiefe Stimme, die etwas heller klang, wenn er lächelte.

Abi hatte bereits festgestellt, dass sie sich veränderte, je nachdem, ob sie es mit dem ernsten Chirurgen, dem freundlichen Kollegen oder dem charmanten Milchkäufer zu tun hatte. Sie fragte sich, wer davon der echte Damien war.

Statt einer Antwort nickte sie, aber da schenkte er ihr bereits Milch ein.

„Wie geht es unserer Patientin von gestern, Clementine?“, erkundigte sie sich. Sie hatte immer wieder an die junge Frau mit dem Herzstillstand denken müssen.

„Ihr Zustand ist stabil. Ich habe gerade mit unserem Kardiologen Geoff gesprochen. Sie muss noch unter Beobachtung bleiben, doch er ist einigermaßen zufrieden mit ihr. Clementine leidet seit Jahren unter Essstörungen, und ihre Eltern dachten wohl, dass sie sie inzwischen in den Griff bekommen hat. Das Mädchen muss sich endlich helfen lassen.“

„Weswegen war sie hier?“

„Wegen einer Brustvergrößerung. James hatte den Eingriff verschoben und Clementine gesagt, dass sie erst zunehmen müsse, weil sie sonst die Narkose nicht verkraften würde. Ich bin skeptisch, ob dieser Zwischenfall irgendetwas verändern wird. Soweit ich weiß, hat sie bereits einige Therapien hinter sich. Freya ist Psychologin und besonders an Patienten mit Essstörungen interessiert. Falls Clementine sich jedoch gegen ein Gespräch mit ihr sperrt, müssen wir sie leider entlassen. Da sie gern hierbleiben möchte und die Eltern einverstanden sind, kann Freya ihr das als Belohnung in Aussicht stellen, wenn sie freiwillig mitarbeitet.“

James Rothsberg war der Leiter der Klinik und ebenfalls Spezialist für Rekonstruktive und Plastische Chirurgie. Abi war froh zu hören, dass er das Wohlergehen einer Patientin an allererste Stelle setzte.

„Führen Sie viele Schönheitsoperationen durch?“

„Wir sind in Hollywood.“

„Das ist mir klar.“

„Aber unsere Arbeit dreht sich nicht nur darum“, fuhr er fort. „Heute stehen jedoch einige auf meiner OP-Liste, und da Sie mir assistieren werden, wollte ich sowieso mit Ihnen darüber sprechen.“

„Es geht um schönheitschirurgische Eingriffe? Das hatte ich nicht erwartet.“ Rekonstruktive Chirurgie war ihr Fachgebiet, Schönheitschirurgie dagegen nicht ihre Stärke.

„Bald werden in Hollywood die Filmtrophäen verliehen, für uns die geschäftigste Saison des Jahres. In zwölf Tagen ist die große Oscar-Nacht. Jeder möchte etwas machen lassen, ohne dass andere wissen, dass etwas gemacht wurde. Allein schafft James es nicht, also helfe ich aus. Keine Sorge, Sie verderben sich damit nicht den Ruf“, fügte er hinzu, und Abi fragte sich, ob er ihren Lebenslauf noch einmal gelesen hatte. „Unsere Berühmtheiten bestehen auf absoluter Diskretion. Sie werden Ihren Namen nirgends erwähnen und erwarten umgekehrt das Gleiche auch von Ihnen.“

Er lächelte, und Abi vergaß fast den nächsten Atemzug. „All Ihre Anerkennung bekommen Sie für rekonstruktive Arbeit, und da gibt es genug zu tun. Wir haben eine Vereinbarung mit der Bright Hope Klinik getroffen, dass wir unentgeltlich benachteiligte Kinder behandeln, die dort aufgenommen wurden. Hinzu kommen Patienten, die man uns für rekonstruktive Eingriffe überweist, sodass Sie sich über Arbeitsmangel nicht beklagen werden.“

Er wurde ernst. „Betrachten Sie es doch mal von der Seite: Die Stars von Hollywood und andere einflussreiche Persönlichkeiten mit ihren Geliebten, Ehepartnern, Freundinnen und Freunden, die alle für beste medizinische Versorgung und höchste Diskretion bezahlen, finanzieren letztendlich unsere karitative Arbeit. The Hills, also James, kommt für alle Kosten auf, wozu natürlich auch Ihr Gehalt gehört, das Ihre Einsätze für Bright Hope einschließt. Uns liegt viel daran, einen Teil unseres Gewinns der Gesellschaft zu spenden, und zwar denen, die es bitter nötig haben. Haben Sie jetzt ein besseres Gefühl, wenn Sie an die heutige OP-Liste denken?“

Abi nickte. Der Aspekt leuchtete ihr ein.

„Okay. Heute stehen zwei Lidstraffungen, ein Halslifting, zwei Fettabsaugungen, eine Brust- und eine Armstraffung an. Ich muss Sie vorwarnen, dass zwei Männer dabei sind. Einer davon ist ein bekannter Schauspieler, der sich einen strafferen Hals wünscht. Der andere hat vor Kurzem seine Frau verlassen und will sich zum ersten Mal mit seiner um einige Jahre jüngeren Freundin in der Öffentlichkeit zeigen. Damit er neben ihr auf dem roten Teppich eine gute Figur macht, wünscht er sich eine Lidstraffung. Denken Sie daran, dass wir hier im Hills absolute Diskretion garantieren, und auch wenn es in Ihrem Vertrag steht, muss ich sicher sein, dass Sie ein Pokerface machen können. Es spielt keine Rolle, was wir persönlich von Schönheitschirurgie halten. Unsere Patienten haben ihre Gründe, und die respektieren wir mit aller gebotenen Zurückhaltung.“

Abi würde nie auf die Idee kommen, sich einer kosmetischen Operation zu unterziehen, aber sie hatte mit anderen Unsicherheiten zu kämpfen. Die Menschen waren verschieden, und sie konnte verstehen, dass manche ihr Selbstvertrauen auf diese Weise stärken wollten.

„Keine Sorge“, sagte sie und trank ihren Kaffee aus. „Damit habe ich kein Problem.“

Die Zeit verging wie im Flug, wie immer, wenn Abi im OP stand. Sie war beeindruckt von Damiens Fähigkeiten und auch davon, wie freundlich und entspannt er mit dem Team umging. Und soweit sie es beurteilen konnte, bestand kaum ein Unterschied zwischen ästhetischer und rekonstruktiver Chirurgie. Mit der einen Ausnahme vielleicht, dass die Nähte winzig und möglichst verborgen ausgeführt wurden. Eine ihrer leichtesten Übungen – auf ihre feinen Nähte war Abi schon immer stolz gewesen.

Sie arbeiteten gerade an der zweiten Oberlidplastik, dem vorletzten Eingriff für heute, als das Telefon klingelte. Die Blepharoplastik war Neuland für Abi. Sie hatte verletzte Lider geflickt, Augenverletzungen genäht und ein Mal sogar ein neues Lid geformt, aber eine Straffung, allein deshalb, damit jemand jünger aussah, war ungewohnt.

Die Instrumentierschwester war ans Telefon gegangen und wandte sich jetzt an Damien. „Dr. Moore, es ist für Sie. Die Schule. Anscheinend wurde Ihre Tochter nach Unterrichtsschluss nicht abgeholt.“

Er hat eine Tochter?

Abi wusste, dass er nicht allein lebte, aber dass er sogar Familie hatte, damit hatte sie nicht gerechnet.

„Können Sie das für mich beenden, Dr. Thompson?“ Damien setzte den letzten Stich.

Sie blickte zur Wanduhr. Es war bereits nach vier Uhr nachmittags. Was hatte er vor?

„Bevor der Verband angelegt wird, muss Heilsalbe auf die Lider aufgetragen werden“, fuhr er fort.

„Das kann ich machen“, bot die OP-Schwester an. Weil sie Abis Erstaunen bemerkt und Mitleid mit ihr hatte? Oder weil sie sich bei Damien einschmeicheln wollte?

Wie auch immer, Abi dachte nicht daran, die Aufgabe abzutreten. „Danke, ich kümmere mich darum“, sagte sie.

„Dr. Moore hier“, sagte Damien, als die Schwester ihm das Telefon ans Ohr hielt. Ärger stieg in ihm auf. Was hatte sich Brooke diesmal ausgedacht? Sie sollte Summer von der Schule abholen. Hatte sie es etwa vergessen? Wozu traf er überhaupt Vereinbarungen mit ihr, wenn sie sich doch nicht daran hielt? Damien tat viel dafür, dass Summer unter der Trennung der Eltern nicht litt und Zeit mit beiden verbringen konnte. Leider besaß Brooke ein seltenes Talent, seine Bemühungen zunichtezumachen.

„Summer ist nicht abgeholt worden“, teilte die Frau am anderen Ende der Leitung ihm mit. „Wir haben sie in den Hort gegeben, und ich wollte Sie informieren, dass er um sechs Uhr schließt.“

„Ich war den ganzen Tag im OP und bin es noch. Bis dahin werde ich nicht fertig sein.“ Ihm war klar, dass das gesamte Team zuhörte, doch für Geheimnisse war es jetzt zu spät. Abi war zwar damit beschäftigt, der Patientin die Augen zu verbinden, aber an ihrer Haltung las er ab, dass sie das Gespräch genauso aufmerksam verfolgte wie alle anderen. Es scherte ihn nicht. Summer ging vor, jetzt und immer.

„Haben Sie Ihre Mutter verständigt? Sie sollte sie abholen.“

„Natürlich, aber sie ist in New York.“

„Wie bitte?“ Die Frau war unmöglich. Was zum Teufel machte sie in New York?

„Sie hätte Sie informiert, sagte sie mir.“

„Nein, das hat sie nicht.“ Wahrscheinlich hatte sie ihm eine SMS geschickt. Egal, wie oft er ihr schon erklärt hatte, dass er nie auf sein Handy schaute, während er im OP stand … Brooke konnte oder wollte sich das nicht merken.

Brooke tanzte nach ihrer eigenen Melodie durchs Leben. Andere Menschen spielten nur am Rand eine Rolle, ihre kleine Tochter eingeschlossen. Brooke befand sich auf einem ihrer Egotrips, und Damien musste wieder einmal die Folgen mildern. „Geben Sie mir fünf Minuten, dann werde ich mir etwas überlegen und rufe Sie zurück.“ Mit einem Nicken bedeutete er der Schwester, das Telefon wieder auf die Station zu legen, und fluchte unterdrückt.

„Was ist los?“, fragte die OP-Schwester.

„Summer ist nicht abgeholt worden“, wiederholte er. Zwei Stunden hatte er jetzt noch im OP zu tun, und nur ein paar Minuten Zeit, um eine Lösung zu finden. Auf keinen Fall würde er hier rechtzeitig fertig sein, um seine Tochter pünktlich abzuholen.

Er ließ den Blick schweifen, während er nachdachte. Im selben Moment hatte Abi den Verband fertiggestellt und sah ihn an. Ihm kam eine Idee.

„Abi, könnten Sie mir vielleicht einen Gefallen tun?“

Damien wirkte besorgt und gestresst. Abi hielt es für besser, wenn er in dieser Verfassung nicht operierte. „Sicher“, antwortete sie, ohne zu zögern, weil sie annahm, dass er sie bitten würde, den letzten Eingriff zu übernehmen.

„Könnten Sie Summer für mich abholen?“

„Was?“ Das musste ein Scherz sein! „Ihre Tochter kennt mich nicht – und außerdem wird man sie in der Schule nicht einer Fremden anvertrauen. Warum kann ich nicht den letzten Fall behandeln, und Sie holen sie selbst ab?“

„Der letzte Fall ist eine Mastopexie. Wie viele haben Sie schon durchgeführt?“ Er klang, als wüsste er die Antwort.

Nicht eine einzige. Sie starrte Damien an, und ihr Schweigen sagte alles.

„Das dachte ich mir. Also würden Sie sie bitte abholen?“

„Warum holt Summers Mutter sie nicht ab?“

„Gute Frage“, entgegnete er seufzend. „So war es abgesprochen, doch anscheinend ist sie auf dem Weg nach New York.“

Anscheinend? „New York? Wussten Sie nichts davon?“ Oder hatte er es nur vergessen? Nein, das passte nicht zu ihm.

Damien schüttelte den Kopf. „Brooke hat in der Schule erzählt, dass sie mir Bescheid gesagt hätte, damit ich etwas organisiere. Leider hatte ich bis eben keinen blassen Schimmer. Es ist das dritte Mal, dass sie so etwas macht.“

„Was haben Sie bei den anderen Malen unternommen?“, fragte sie, während der Anästhesist begann, die Patientin aus der Narkose zu holen.

„Ein Mal bin ich hingefahren, das andere Mal ist sie zu einer ihrer Freundinnen mit nach Hause gegangen. Aber die Schule war vor einer Dreiviertelstunde aus, sodass die Mütter nicht mehr da sind, und ich habe von keiner die Telefonnummer. Bitte, Abi, ich würde Sie nicht bitten, wenn ich andere Möglichkeiten hätte. Meine Tochter ist fünf Jahre alt. Sie wissen doch, wie das in dem Alter ist. Ich möchte nicht, dass sie sich im Stich gelassen fühlt.“

Im Stich gelassen … nichts hätte sie besser dazu bewegen können, ihm zu helfen. Die Worte trafen bei Abi einen Nerv, auch wenn Damien das unmöglich gewusst haben konnte.

Natürlich erinnerte sie sich an jene Zeit, als sie fünf war. Vor allem daran, dass niemand sie von der Schule abholte. Tag für Tag ging sie allein nach Hause. Gute Tage bedeuteten, dass ihre Mutter arbeiten gegangen war. An schlechten fand Abi sie zu Hause auf dem Sofa verkatert oder stockbetrunken.

Abi hatte niemanden gehabt, bei dem sie sich geborgen fühlte. Nicht mit fünf, nicht mit sieben, nicht mit neun Jahren. Erst als sie mit siebzehn zum Militär ging und anfing, Medizin zu studieren, da fand sie so etwas wie ein Zuhause. Später lernte sie Mark kennen und war eines Tages doch wieder allein. Nie, in ihrem ganzen Leben nicht, hatte sich Abi auf jemanden verlassen, sich anlehnen können.

Oh ja, sie wusste genau, wovon Damien redete!

Einen Einwand hatte sie allerdings noch. „Ich würde es tun, aber in der Schule kennen sie mich nicht.“

„Ich sage Bescheid und bitte Freya darum, Ihren Mitarbeiterausweis zu mailen. Dann brauchen Sie sich nur noch auszuweisen. Die Schule liegt keine zehn Minuten von uns entfernt. Wenn Sie Summer mit zu sich nehmen, hole ich sie bei Ihnen ab, sobald ich hier fertig bin. Bitte, ich weiß nicht, was ich sonst machen soll.“

Ein praktischer Vorschlag, allerdings war Abi sich nicht sicher, ob sie die Aufgabe auch bewältigte. Andererseits fiel es ihr schwer abzulehnen, wenn er sie mit diesem flehenden Blick und sichtlich angespannt ansah. Und dann die Erinnerung an damals, als sie fünf war und sich vergeblich gewünscht hatte, dass jemand sie von der Schule abholte. Sie war auf sich allein gestellt gewesen, und sie hatte das Gefühl gehasst. Ausgeschlossen, dass sie einem kleinen Mädchen das Gleiche zumutete!

Sie seufzte ergeben. „Lassen Sie mich kurz telefonieren“, sagte sie, warf Handschuhe und Mundschutz in den Abfalleimer.

Noch konnte sie nicht völlig zustimmen. Sie brauchte eine zweite Meinung, weil sie nicht wusste, ob sie das durchstehen würde.

Abi verließ den OP, holte ihr Handy und wählte die Notfallnummer. Die, unter der Caroline immer zu erreichen war, wie sie versprochen hatte. Sie wusste zwar nicht, wie weit ihre Psychologin den Begriff Notfall fasste, aber Abi brauchte ihre Unterstützung. Unvorbereitet eine neue Umgebung aufzusuchen, die nicht nur weitläufig, sondern voller Menschen war, bedeutete Stress. Sich dann auch noch Fremden vorstellen und mit ihnen reden zu müssen, ohne einschätzen zu können, mit wem sie es zu tun hatte, das kam für Abi wirklich einem Notfall gleich.

Caroline meldete sich beim dritten Klingeln.

„Ich nehme an, dass Sie Ihrem Chef den Gefallen tun wollen“, meinte sie, nachdem Abi ihr alles erzählt hatte.

„Ich täte es nicht für ihn, sondern für seine Tochter. Sie hat auf ihre Mutter gewartet, und ich möchte nicht, dass sie sich völlig verlassen fühlt.“ Abi wusste, dass Caroline sie verstehen würde. Die Psychologin kannte sie praktisch in- und auswendig. Damien war jedoch ein neues Thema, und sie hatte nicht vor, über ihn zu sprechen. Es wäre am sichersten, wenn sie ihn in der Kategorie Arbeitskollege beließ. „Aber ich kenne Summer nicht und auch nicht die Schule und die Mitarbeiter. Und die kennen mich genauso wenig. All das macht mich nervös.“

„Aber die Schule ist in der Nähe Ihrer Wohnung?“

„Ja.“

„Was halten Sie davon, Jonty mitzunehmen? Sie werden sich besser fühlen, und wenn Summer Hunde mag, ist das Eis sofort gebrochen.“

Abi holte tief Luft. Ja, das schaffe ich, dachte sie. „Gute Idee, vielen Dank.“

Als sie auflegte, fühlte sie sich erheblich besser.

Abi parkte ihren Jeep an der Schule, dicht am Eingang. Bevor sie ausstieg, sah sie sich aufmerksam um. Nicht dass ihr hier Gefahr drohte, aber diese prüfenden Blicke hatte sie sich im letzten halben Jahr angewöhnt.

Der Parkplatz war leer, nirgends etwas Verdächtiges zu entdecken. Du bist mitten in L. A. und nicht in Kabul, sagte sie sich. Höchst unwahrscheinlich, hier einem Selbstmordattentäter zu begegnen.

Doch die Angst war stärker. Abi griff zur Beifahrertür und stieß sie auf. Jonty sprang aus dem Wagen, schnupperte. Erst als sie sicher war, dass er völlig entspannt war, atmete sie einmal durch und stieg aus.

Im Sekretariat zeigte sie ihren Ausweis, und die Schulsekretärin führte sie zum Hort, wo gut zwanzig Kinder spielten. Abi erkannte Summer sofort. Drei Mädchen spielten Seilspringen, und eine der Kleinen, die das Seil schwang, sah aus wie eine weibliche Miniaturausgabe von Damien. Sie trug von Kopf bis Fuß Rosa, und ihr dunkles Haar war zu zwei kurzen Zöpfen geflochten, die rechts und links vom Kopf abstanden, doch die Ähnlichkeit mit ihrem Vater war unverkennbar.

„Summer!“, rief die Sekretärin. „Das ist Dr. Thompson. Sie arbeitet mit deinem Vater zusammen und ist hier, um dich abzuholen.“

„Nennen Sie mich gern Abi. Und dies ist Jonty.“

„Ein Hund! Sie haben einen Hund mitgebracht!“ Die drei Mädchen umringten Abi, und Jonty genoss sichtlich die Aufmerksamkeit. Carolines Rat war goldrichtig gewesen.

Abi betrachtete Summer genauer, während sie alle zusammen Jonty streichelten. Sie hatte das gleiche oval geschnittene Gesicht, die dunklen Augen und das wundervolle Lächeln ihres Vaters. Sie war entzückend.

Bereitwillig ging sie mit Abi nach Hause und hüpfte dabei vergnügt neben Jonty die Straße entlang. Keine Spur von dem verlorenen, einsamen Wesen, das Abi sich vorgestellt hatte. Falls sie wusste, dass ihr Vater vergessen hatte, sie abzuholen, so schien es ihr nichts auszumachen. Abi sah eine zufriedene, glückliche Fünfjährige vor sich, die keine Scheu vor Fremden hatte.

Abi öffnete die Wagentür und klappte den Beifahrersitz nach vorn. Jonty sprang auf die Rückbank, Abi stellte den Sitz zurück und wartete darauf, dass Summer einstieg. Doch die blieb, wo sie war, mit schräg geneigtem Kopf, als dächte sie über etwas nach.

„Möchtest du nicht einsteigen?“

„Bist du sicher, dass du Ärztin bist?“

„Ja, warum?“

„Du hast ein altes Auto.“

Summer war sicher schon oft im Hills gewesen und hatte die teuren Schlitten der Ärzte dort gesehen. Ihre Frage war verständlich. Abi hatte nicht das Geld für einen schicken Wagen. Noch nicht. Auch wenn sie in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war und nicht vorhatte, arm zu bleiben, konnte sie sich einfach nicht vorstellen, ein kleines Vermögen für ein Auto auszugeben. Sie hatte andere Prioritäten. An erster Stelle stand ein eigenes Haus, ein sicheres Zuhause, das ihr niemand nehmen konnte. Alles andere kam später. Aber das würde sie jetzt nicht einer Fünfjährigen erklären.

„Für Jonty und mich reicht es. Er verliert überall Haare, und manchmal ist er ziemlich schmutzig. In einem alten Auto ist das nicht so schlimm.“

„Oh, okay. Kannst du das Verdeck abklappen?“ Sie kletterte auf den Sitz und plapperte auf der kurzen Fahrt zu Abis Wohnung munter weiter.

Summer war überhaupt nicht scheu, und obwohl Abi mit ganz anderen Erwartungen in die Schule gefahren war, genoss sie die fröhliche, unbeschwerte Art des kleinen Mädchens.

Zu Hause angekommen, stellte sie jedoch fest, dass sie an eins nicht gedacht hatte: Summer hatte Hunger. Ein schrumpeliger Apfel, eine Packung Müsli und ein bisschen Milch waren alles, was Abi dahatte. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann sie das letzte Mal einen richtigen Lebensmitteleinkauf gemacht hatte. In ihrer Kindheit gab es nie genug zu essen im Haus, sodass sie sich darauf eingestellt hatte, sich mit wenigem zu begnügen. Regelmäßige Mahlzeiten drei Mal am Tag lernte sie erst in ihrer Zeit beim Militär kennen.

Am besten nahm sie Summer mit zu ihren Vermietern. Irma hatte immer etwas Süßes da und meistens frisch aus dem Ofen. Und so war es auch heute. Abi ließ Summer und sich von Irma verwöhnen, und sobald der erste Hunger gestillt war, fragte die Kleine – den Mund voll mit Irmas köstlichen Cookies: „Können wir mit Jonty spazieren gehen?“

„Nur kurz“, antwortete Abi. „Es wird bald dunkel.“

Irma drückte Summer zwei knusprige Kekse für unterwegs in die Hand, und Abi hakte die Leine an Jontys Halsband.

„Ich möchte auch einen Hund“, erklärte Summer, als sie auf dem Gehweg waren. „Oder einen kleinen Bruder.“

„Ein Hund wäre besser. Kleine Brüder können einem ganz schön auf die Nerven gehen.“

„Hast du einen Bruder?“

„Nein, und auch keine Schwester.“

„Wieso weißt du dann, dass sie nervig sind?“

Abi lachte auf. Summer hatte vollkommen recht. „Gute Frage“, entgegnete sie. „Ich hab’s einfach vermutet.“

„Ich bekomme bestimmt einen Hund. Mum will keine Kinder mehr. Sie hat gesagt, dass sie mich auch nicht wollte.“

Abi zog sich das Herz zusammen, und sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Mit Kindern kannte sie sich nicht aus. Sollte sie ihr sagen, dass sie sich bestimmt irrte? Schwierig, da sie nicht alle Fakten kannte. Sie war jedoch sicher, dass das Mädchen sich das nicht ausgedacht hatte. Bestimmt hatte sie die Worte irgendwann aufgeschnappt. Wie furchtbar, so etwas von der eigenen Mutter zu hören! Abi wusste, dass ihre Mutter sie geliebt hatte. Sie war nur nicht in der Lage gewesen, gut für sie zu sorgen. Ihre Sucht und die Umstände hatten es ihr unmöglich gemacht. Welche Entschuldigung hatte Summers Mutter? Und was für eine Rolle spielte Damien dabei?

Ärger kochte in ihr hoch, aber sie wollte sich nichts anmerken lassen. Schließlich würde es Summer auch nicht weiterhelfen.

Stattdessen wechselte sie das Thema und überlegte mit der Kleinen zusammen, was für ein Hund für sie am besten wäre. Natürlich ohne zu wissen, was Damien davon hielt, Hundebesitzer zu werden. Aber das interessierte sie im Moment auch nicht. Wenn seine Tochter ihn mit Fragen wegen eines Hündchens löcherte, so war das nicht ihr Problem. Im Gegenteil, nach heute war Damien ihr etwas schuldig.

Summer lag auf dem Fußboden und spielte mit Jonty, als Abi Damiens Wagen auf der Auffahrt hörte. Sie ging nach draußen auf die Terrasse, um ihm den Weg zu zeigen.

Sobald sie seine Stimme hörte, sprang Summer auf, rannte auf ihn zu und warf sich ihm in die Arme. Dabei zerdrückte sie um ein Haar den Strauß Iris, den Damien in der Hand hielt.

„Daddy, Daddy, Abi hat einen Hund! Komm, ich zeige ihn dir.“

„Einen Moment, mein Schatz. Erst möchte ich die Blumen abgeben.“ Er stellte seine Tochter auf den Boden und reichte Abi die Schwertlilien. „Die sind für Sie.“

„Warum?“

„Als Dankeschön.“

„Das wäre nicht nötig gewesen.“

„Oh doch. Sie haben mir einen Riesengefallen getan, und Sie sollen nicht denken, dass ich das nicht zu schätzen weiß.“

Ihre Wohnung kam ihr viel kleiner vor, seit Damien dicht vor ihr stand. Er duftete gut, wahrscheinlich hatte er nach der Arbeit schnell noch geduscht, bevor er herkam. Seine Nähe verwirrte sie.

„Danke … Ich stelle sie eben ins Wasser“, sagte sie hastig und nutzte die Gelegenheit, ein bisschen auf Distanz zu gehen.

Sie trat an die schmale Küchenzeile, die den Wohnbereich von ihrem Schlafzimmer trennte. Abi öffnete einen Schrank nach dem anderen, bezweifelte allerdings, dass sie überhaupt eine Vase besaß. Bisher hatte sie keine gebraucht, weil ihr noch nie jemand Blumen geschenkt hatte. Ihr Exfreund Mark hatte sie mit teuren Schmuckstücken überhäuft, die sie ungern trug, weil sie ihr entweder zu mondän oder eher passend für reifere Frauen erschienen. Ein Blick auf den Strauß Iris genügte, und sie wusste, welches Geschenk ihr lieber war.

Ganz hinten in einem Hängeschrank fand sie einen alten Porzellankrug, der vermutlich Irma gehörte. Der müsste passen. Sie füllte ihn mit Wasser, arrangierte die Blumen und stellte den Krug auf die Arbeitsfläche. Die Iris waren tiefblau mit einem Tupfer Gelb am Blattansatz und verliehen der Küche einen farbenfrohen Touch. Blumen geschenkt zu bekommen, war etwas anderes, als sich auf dem Wochenmarkt einen Strauß zusammenzustellen. Damiens Geste berührte Abi noch immer.

Sie schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter und setzte sich Damien gegenüber, der sich einen der hohen Hocker unter dem Frühstückstresen hervorgezogen hatte.

„Dad, können wir heute Abend Pizza essen?“ Summer war auf den Hocker neben ihm geklettert, und wieder einmal war Abi verblüfft über die starke Ähnlichkeit von Vater und Tochter.

„Wir holen uns eine auf dem Nachhauseweg.“

„Ich will Pizza essen gehen, und Abi und Jonty sollen mitkommen.“

„Möchten Sie mit uns essen?“, fragte Damien. „Ich lade Sie ein.“

„Nein, vielen Dank.“ Ihr Bedarf an Stresssituationen war für heute gedeckt. Und obwohl die Aussicht, mit den beiden essen zu gehen, verlockend war, schreckte sie allein der Gedanke, einen unbekannten, nicht abgesicherten Ort zu betreten.

„Bitte, Abi, bitte“, bettelte Summer, aber Abi schüttelte den Kopf.

„Sorry, Sie haben bestimmt schon etwas anderes vor.“ Damien interpretierte ihre Ablehnung auf seine Weise. „Wir brechen besser auf, wir haben schon genug von Ihrer Zeit gestohlen. Summer, hol deine Sachen und verabschiede dich bitte.“

„Nein, nein, ich habe nichts vor.“ Sie wollte nicht allein sein, mochte nicht daran denken, wie leer und still die Wohnung sein würde, wenn die beiden gegangen waren. „Ich möchte Jonty nicht allein lassen. Wir könnten uns die Pizza liefern lassen.“

„Sicher?“, hakte er nach, während Summer aufgeregt auf und ab hüpfte, glücklich darüber, dass ihr Wunsch in Erfüllung ging.

„Ja.“

„Ich lade Sie trotzdem ein“, sagte er, als Abi den Prospekt eines Lieferdienstes vom Kühlschrank abnahm.

Sie hatte nichts dagegen und gab gleich darauf telefonisch die Bestellung durch.

„Vielleicht hätte ich mich nicht darauf einlassen sollen“, meinte Damien. „Summer weiß ganz genau, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, weil ich sie nicht von der Schule abgeholt habe. Und das nutzt sie jetzt aus.“

„Meinen Sie wirklich? In dem Alter?“

„Glauben Sie mir, sie weiß genau, wie sie mich packen kann. Ich denke, das hat sie von ihrer Mutter. Sie ist Schauspielerin, und den Hang zum Drama hat Summer definitiv von ihr geerbt.“

„Schauspielerin?“

„Ja, eine ziemlich gute sogar.“

„Ist sie deswegen nach New York geflogen?“

Abi konnte sich ein paar neugierige Fragen nicht verkneifen. Geschäftig holte sie Servietten, Teller und Besteck, sodass Damien hoffentlich nicht auffiel, dass er ausgefragt wurde.

Er nickte. „Man hatte sie zum Vorsprechen für eine neue TV-Serie eingeladen. Und wie immer hat sie alles stehen und liegen lassen und einen Platz in der nächsten Maschine gebucht.“

„Haben Sie seitdem von ihr gehört?“

„Nicht direkt. Sie hat mir eine SMS geschrieben, dass ich Summer abholen möge, aber ich war im OP und habe sie deshalb nicht gelesen. Brooke begreift einfach nicht, dass ich nicht ständig mein Handy checken kann. Sie lebt in ihrer eigenen Welt und versetzt sich nie in die Lage anderer. Es ist nicht das erste Mal, dass sie ihre Pläne spontan ändert, ohne sich mit mir abzusprechen. Für Brooke steht Brooke an erster Stelle, und danach kommt lange Zeit nichts – nicht einmal ihre Tochter.“

Ihr Mitgefühl für Summer wuchs. Abi wusste, wie es war, wenn man der eigenen Mutter praktisch egal war. Ob nun durch Umstände verschuldet oder nicht, spielte letztendlich keine Rolle. Kinder, die so aufwuchsen, fühlten sich ungeliebt und allein gelassen. Und das sollte kein Kind erleben!

„Hat sie gesagt, wann sie zurück ist?“

„Nein. Es würde ihr nie in den Sinn kommen, dass ich das wissen muss.“

„Und Summer?“

„Brooke geht davon aus, dass ich mich um alles kümmere.“

Unglaublich, dachte Abi. Damien und Brooke hatten auf jeden Fall ein Kommunikationsproblem.

Allerdings ging sie das nichts an. Außer, Damien wollte mit ihr darüber reden. Nicht dass sie sich näher auf ihn einlassen wollte, aber sie ertappte sich dabei, dass sie gern mehr über die beiden gewusst hätte. Summer war so süß und Damien ein umwerfender Mann. Unwillkürlich fragte Abi sich, was für ein Typ Frau ihm gefiel. Wenn Summers Mutter Schauspielerin war, musste sie sehr schön sein. Und sie musste etwas an sich haben, dass er ihr ihre geringschätzige Art nachsah. Abi hatte nicht das geringste Verständnis für dieses rücksichtslose Verhalten, in erster Linie wegen Summer.

Damien sprach von ihr immer als „Summers Mutter“. Waren sie geschieden? Hatten nie geheiratet? Welches Verhältnis hatte er zur Mutter seiner Tochter? Abi brannten die Fragen auf der Zunge, aber natürlich konnte sie sie nicht laut aussprechen.

„Haben Sie sie nicht gefragt?“, sagte sie stattdessen.

Damien antwortete nicht. Er betrachtete Summer, und Abi vermutete, dass er darüber nicht vor dem Kind reden wollte.

„Summer, möchtest du Jonty bürsten, während wir auf unsere Pizza warten?“, schlug sie vor.

„Sie wünscht sich einen Hund“, sagte Damien, als Summer mit Jonty die Treppe hinunter in den Hauswirtschaftsraum ging. „Aber ich fürchte, dass wir nicht die Zeit haben, uns um ihn zu kümmern.“

„Ich weiß, sie hat es mir erzählt.“

Damien warf ihr einen Blick zu, und sie las Besorgnis in seinen dunklen Augen. „Was hat sie Ihnen noch erzählt?“

„Eine Sache, die Sie wissen sollten.“ Abi kam um den Küchentresen herum und setzte sich neben ihn. Wollte es ihm leise sagen, wie ein Geheimnis, als könnte sie damit verhindern, dass es der Wahrheit entsprach. „Sie meinte, ihre Mutter hätte sie nie gewollt.“

Nur die Worte zu wiederholen, zerriss ihr fast das Herz, und Damiens Gesichtsausdruck machte es noch schlimmer. Er wirkte traurig und resigniert, jedoch nicht überrascht. Also hatte sie recht gehabt, es stimmte.

„Brooke hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ihr die Karriere am wichtigsten ist. Wir hatten keine Kinder geplant, doch dann wurde sie schwanger. Ich hatte gehofft, dass sie mütterliche Gefühle entwickelt, wenn das Baby erst einmal da ist. Leider war das nicht der Fall, Brooke hat nie eine Bindung zu Summer aufgebaut. Sie zieht sie gern hübsch an und zeigt sich mit ihr, aber ich glaube, die Kleine ist eher ein Accessoire als eine Tochter für sie. Ein Kind verlangt viel Aufmerksamkeit, und Brooke beschäftigt sich lieber mit sich und ihren Bedürfnissen. Ich wusste, dass sie keine Kinder wollte, aber ich kann es nicht fassen, dass sie es Summer gesagt hat.“

„Was ist, wenn sie die Rolle in New York bekommt?“

Die breiten Schultern zuckten. „Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist.“

Er gab sich gelassener, als er war. In Wirklichkeit beunruhigte die Aussicht ihn sehr. Sollte Brooke tatsächlich dauerhaft ans andere Ende des Landes verschwinden, welche Auswirkungen hätte das auf sein Leben? Und noch wichtiger: auf Summer?

Abi schien seine Besorgnis zu spüren. „Und wenn sie Summer mitnehmen möchte?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie hat nicht einen Funken Mütterlichkeit im Leib. Ihre Karriere steht an erster Stelle, für Summer hat sie keine Zeit. Und falls sie doch auf die Idee kommt, werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit Summer bei mir bleibt.“

Damien machte sich immer noch Vorwürfe, dass seine Ehe gescheitert war. Er hatte versagt, und es tröstete ihn wenig, dass zu einer glücklichen Ehe immer zwei Menschen gehörten. Er war jedenfalls für alle Zeiten bedient. Heiraten kam für ihn nicht mehr infrage. Summer und sein Beruf, nur das zählte. In genau der Reihenfolge.

Summer gähnte, als Damien das letzte Stück Pizza aß. Er wischte sich die Finger an der Serviette ab. „Es ist spät, wir sollten fahren.“

Abi und er standen gleichzeitig auf und waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Wie gebannt blickte sie in seine Augen, so dunkel und unergründlich, dass sie nichts preisgaben. Feine Bartstoppeln bedeckten Wangen und Kinn, und zusammen mit seinen markanten Zügen verliehen sie ihm etwas verwegen Männliches. Er wirkte kraftvoll und stark, konnte aber auch sanft und freundlich sein wie im Umgang mit seiner kleinen Tochter. Damien war ein unwiderstehlich attraktiver Mann.

Sie vergaß ihre Vorsätze und jeden einzelnen guten Grund, warum sie Single war und bleiben wollte. Damien ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Sie wollte mehr über ihn wissen. Wo er herkam, warum er geheiratet, was ihn zu seiner Frau hingezogen hatte, und wie die beiden heute zueinander standen. Und sie wollte wissen, wie er schmeckte, wie er sich anfühlte, wie es war, wenn seine Lippen ihre berührten …

Wie von einem unsichtbaren Band gezogen, lehnte sie sich zu ihm hinüber. Bildete sie es sich ein, oder kam er auch näher?

Abi spürte, wie etwas gegen ihr Bein drückte, und sah nach unten. Summer hatte sich zwischen sie gedrängt.

Der Bann war gebrochen. Damien beugte sich vor, nahm seine Tochter auf den Arm, trat zurück. Er hob Summers Schultasche vom Boden auf, und dann verabschiedeten die beiden sich.

Abi stand oben am Treppenabsatz, blickte ihnen nach und musste sich sehr zusammennehmen, ihnen nicht zu folgen.

Bleib auf Abstand, ermahnte sie sich. Okay, er ist ein atemberaubender Mann und wundervoller Vater. Aber auch ein Kollege, und da war sie ein gebranntes Kind. Diesmal wusste sie, dass sein Leben kompliziert war. Diesmal hätte sie keine Entschuldigung, wenn es schiefging. Damiens Verhältnis zu Summers Mutter schien ausgesprochen schwierig zu sein, und Abi hatte sich geschworen, dass ihre nächste Beziehung offen und einfach sein sollte. Sie würde nicht sehenden Auges ins Unglück rennen!

Und bei Damien leuchteten sämtliche Warnlampen rot auf. Ein alleinerziehender Vater mit einer schwierigen Ex und dazu noch ihr Chef.

Lass bloß die Finger davon!

4. KAPITEL

Jemand klopfte leicht an seine Bürotür, und er blickte auf in der Hoffnung, dass es Abi war. Enttäuscht entdeckte er stattdessen Freya. Eigentlich hätte er es wissen müssen, weil Abis Duft sie ankündete, bevor man sie sah.

Sie duftete nach Pfirsichen und Sommersonne, und ihre warmen bernsteingoldenen Augen boten einen aparten Gegensetz zu ihrer hellen Haut. Damien fragte sich, ob sie auch nach Pfirsichen schmeckte. Gestern Abend war er für einen winzigen Moment versucht gewesen, es herauszufinden. Er hätte sie beinahe geküsst.

Vergessen waren in dem Augenblick seine Tochter und der Ärger mit seiner Exfrau. Damien hatte nur Abi wahrgenommen, so sehr fühlte er sich zu ihr hingezogen. Als gäbe es ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Das Verlangen in ihrem Blick hatte er sich nicht eingebildet und auch nicht, dass sie näher gekommen war – oder hatte er sich zu ihr hinübergelehnt? Bestimmt hätten sie sich geküsst, wenn die Wirklichkeit in Gestalt einer ungeduldigen Fünfjährigen sie nicht auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hätte.

Gut so. Damien brauchte all seine Energie und Zeit für seine Arbeit und für seine Tochter. Für mehr war in seinem Leben kein Platz.

Dennoch ging Abi ihm nicht mehr aus dem Sinn. Vieles an ihr war ihm schon sehr vertraut … was doch unmöglich war, da sie sich erst einige wenige Tage kannten. Es war, als hätte sie ihn verzaubert.

„Alles okay bei dir?“, fragte Freya.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er stumm seinen Gedanken nachgehangen hatte. Damien straffte die Schultern. „Ja, alles gut. Was kann ich für dich tun?“

„Ich wollte nur hören, wie Abis erster OP-Tag verlaufen ist. Gab es Probleme, von denen ich wissen sollte?“

„Nein, überhaupt nicht.“ Von seinem eigenen Seelenfrieden einmal abgesehen, aber das ging Freya nichts an.

„Was hältst du von ihr?“

„Ist das der Moment, in dem du von mir hören willst, dass du recht gehabt hast?“

Autor

Emily Forbes
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Louisa George
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Carol Marinelli
Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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