Julia Best of Band 238

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KÜSS MICH, PRINZESSIN!
Nanny verzweifelt gesucht! Und Sean, allein mit seiner kleinen Nichte, hat Glück im Unglück: Die bezaubernde Carly bewirbt sich auf den Job. Aber Sean ahnt nicht, dass an den Haushaltskatastrophen und dem verführerischen Knistern eine waschechte Prinzessin schuld ist!

NIMM MICH, WIE ICH BIN
Aus heiterem Himmel wird Ally gefeuert! Da kommt das Jobangebot ihrer Tante aus Wyoming genau richtig. Sofort stürzt Ally sich in die neue Aufgabe - und erlebt einen aufregenden Frühling, als sie den sexy Chance trifft …

VERRÜCKT VOR LIEBE UND LEIDENSCHAFT
Wie kann ihn ein City-Girl nur so verrückt machen? Riley McMann steht vor einem Rätsel. Schließlich weiß er genau: Holly Stone wird niemals für immer in der Kleinstadt Little Paradise bleiben. Es sei denn, ihm fällt etwas Unwiderstehliches ein, das Holly einfach schwachmacht …


  • Erscheinungstag 09.04.2021
  • Bandnummer 238
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502825
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jill Shalvis

JULIA BEST OF BAND 238

1. KAPITEL

Es kostete Sean O’Mara fünf, wenn nicht sechs Minuten, bis er merkte, dass er ausgenutzt wurde. Allerdings hatte er am Abend vorher auch bis weit nach Mitternacht gearbeitet, und es war gerade erst kurz nach fünf Uhr morgens. Kein Wunder, dass er nicht wusste, wie ihm geschah, und völlig verschlafen dreinblickte.

„Du machst was?“, fragte er langsam nach, um endlich zu begreifen, wieso auf einmal ein Orkan durch sein Haus tobte.

„Ich fliege für zwei Wochen nach England.“ Seine Schwester wies ihre vierjährige Tochter an, im Flur vor dem Zimmer zu warten. Natürlich verschwand Melissa daraufhin sofort in der Küche. Auch seine Schwester verließ den Raum, aber nur um kurz darauf mit einer Menge Gepäck zurückzukehren, das sie aus ihrem Wagen geholt hatte.

Das war gar kein gutes Zeichen.

„England?“, fragte Sean erneut, da er langsam wach wurde.

„Ja.“ Sie sagte es so leichthin, als wollte sie lediglich auf die andere Straßenseite gehen und nicht auf die andere Seite des Planeten fliegen.

„Du hast gar keine Vorstellung, was mir deine Hilfe bedeutet, Sean.“ Sie wäre fast über ihren ganzen Kram gestolpert. „Du wirst mit Melissa keinen Ärger haben. Versprochen. Und ich werde den Auftrag für die Entwürfe so schnell es geht beenden.“

Kein Ärger mit Melissa? Ha! Das war ein Widerspruch in sich. Trotz seines erschöpften Zustandes fühlte er plötzlich die drängende Notwendigkeit, seiner Schwester diese Idee auszureden. Er konnte unmöglich für zwei Wochen die Verantwortung für ein kleines Kind übernehmen. Er hatte sein eigenes Leben, auch wenn sich das ausschließlich um seine Arbeit drehte. Denn Arbeit hatte er mehr als genug. Außerdem, was wohl am wichtigsten war, hatte er keine Ahnung, wie er ein Kind betreuen sollte.

„Und bitte vergiss nicht, sie braucht immer noch Hilfe auf der Toilette, du weißt schon, mit dem Papier“, warnte ihn Stacy.

„Was? Einen Moment mal …“ Sean rieb seine Schläfen, gähnte und streckte sich. Aber er wachte nicht in seinem Bett auf, was leider bedeutete, dass er nicht träumte. „Du kannst sie nicht bei mir lassen.“

„Wieso nicht? Du hast Verantwortungsgefühl. Du kannst kochen. Du bist nett. Meistens jedenfalls. Da kann doch gar nichts schiefgehen.“

„Alles kann schiefgehen! Einfach alles!“ Er suchte verzweifelt nach passenden Beispielen. „Ich kann nicht einmal Goldfische versorgen. Sie sind gestorben. Sieh es dir an.“ Er deutete auf das große Aquarium, das auf einem Tisch neben der Eingangstür stand. „Ich habe vergessen, sie zu füttern. Du begreifst hoffentlich, dass ich bei so etwas weder Verantwortungsgefühl besitze noch nett bin.“

Stacy lächelte ihn nur nachsichtig an. „Das schaffst du schon. Ach, klapp bitte den Toilettendeckel immer runter, sonst versucht sie zu angeln.“

„Aber …“ Sean streckte seinen Hals, um in die Küche blicken zu können.

Auf dem Fußboden saß ein süßes, unschuldiges vierjähriges Kind.

Er wusste jedoch, dass der Schein trog. Trotz ihrer blonden Locken und ihres engelsgleichen Lächelns war Melissa alles andere als unschuldig. Sie konnte ein unglaubliches Chaos anrichten, bevor er auch nur ein Mal blinzelte. In ihrem kurzen Leben hatte sie ihn schon drei Mal gebissen, zwei Mal an seinen Haaren herumgeschnippelt, ohne Erlaubnis, selbstverständlich, hatte in sein Bett gepinkelt, und das fünfzehn Minuten vor einer heißen Verabredung.

Das kleine Monster, um das es ging, sah ihn an und lächelte freundlich. Dabei hielt Melissa ihren Kinderbecher so, dass der Grapefruitsaft über sie und den sauberen Boden schwappte. Vor Freude über dieses unerwartete Ereignis kicherte sie fröhlich.

Seans Magen zog sich vor Angst zusammen. „Ich habe zu arbeiten“, wandte er ein, aber dieser Einwand klang selbst für seine Ohren ziemlich lahm. Doch Kinder waren nun einfach nicht seine Sache. Er war Architekt. Da er seine eigene Firma leitete, bedeutete dies an guten Tagen ein Minimum an vierzehn Stunden Arbeit.

Aber das war keine Überraschung, entstammte er doch einer langen Reihe von Arbeitssüchtigen. Sein Großvater wie auch sein Vater waren beide erfolgreiche Anwälte gewesen, die sich niemals um ihre Kinder gekümmert hatten. Aus eben diesen Gründen hatte Sean selbst keine.

Er wollte seine eigenen Kinder, sollte er denn jemals welche haben, nicht so behandeln, wie er einst behandelt worden war. Seine Arbeit bedeutete ihm alles, weshalb er in seinem Beruf auch der Beste sein wollte.

„Ich erzähl dir mal was Neues“, entgegnete Stacy. „Du arbeitest viel zu hart.“

„Mir gefällt meine Arbeit.“

„Das ist ja bekannt.“ Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu. „Wann hast du dir das letzte Mal einen Tag freigenommen?“

„Nun …“ Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, aber es musste so um die zwei Jahre her sein, als er wegen seiner Exverlobten am Abgrund gestanden hatte.

„Ich tue dir sogar einen Gefallen, Sean, wart’s nur ab. Melissa wird dir zeigen, wie schön das Leben sein kann, wenn du dir nur die Mühe machst, es etwas langsamer angehen zu lassen, und dir auch einmal eine Pause gönnst.“

Man musste kein Wissenschaftler sein, um vorherzusagen, dass er diese Debatte verlieren würde. „Aber …“

„Probier es doch einfach mal aus, Sean. Leg ein Puzzle zusammen. Mal ein Malbuch aus. Diese Tätigkeiten eignen sich hervorragend, um Stress abzubauen.“

Ein Malbuch ausmalen? Allein der Gedanke daran ließ ihn erschauern. Aber plötzlich bemerkte er hinter dem spöttelnden Tonfall seiner Schwester etwas wie Verzweiflung. „Stacy, was ist los?“

Seine Schwester überhörte diese Frage, stützte die Hände in die Hüften und blies sich die Haare aus den Augen, während sie die Unmengen an Gepäck betrachtete. „Ein Reisebett“, zählte sie auf. „Kindertassen. Kleider für jedes Wetter und jede Gelegenheit. Ein Kindersitz für das Auto. Ein Hochstuhl für den Esstisch. Schwimmflügel und Schwimmreifen. Und ein Luftbefeuchter für alle Fälle.“

Für welchen Fall? „Stacy …“

„Ja, ich denke, das wäre alles. Ach ja, hier ist noch eine Liste von Nummern, die du vielleicht brauchst. Arzt, Krankenhaus, Zahnarzt, Versicherung und Versicherungsagent …“

Du lieber Himmel! dachte Sean. Doch trotz seiner aufsteigenden Panik spürte er, dass etwas bei seiner Schwester nicht in Ordnung war. „Hey.“ Er packte sie an den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. „Was ist los?“

Seine Schwester rang sich ein Lächeln ab. „Das habe ich dir doch gesagt.“

„Es geht wirklich nur um deine Arbeit?“

„Wirklich.“ Sie hob demonstrativ drei Finger. „Großes Pfadfinderehrenwort.“

„Dann wirst du doch bestimmt jemand anderen kennen, bei dem Melissa bleiben kann. Einen Freund, oder …“

Er musste nicht mehr weitersprechen, denn er konnte die Antwort seiner Schwester an ihrem Gesicht ansehen.

Sie hatte niemanden außer ihm, zu dem sie gehen konnte.

Ihre Eltern waren seit fünf Jahren tot. Ihr Vater war an einem Herzinfarkt gestorben, zurückzuführen auf achtzehn Stunden Arbeit täglich, zwei Packungen Zigaretten pro Tag und Unmengen von Fast Food. Noch im gleichen Jahr, als Seans und Stacys Vater starb, war ihre Mutter einer Lungenentzündung erlegen.

Natürlich hatte Stacy viele Freunde, allerdings eher solche von der unzuverlässigen Sorte, jedenfalls soweit Sean es beurteilen konnte. Immerhin hatte er in den letzten drei Jahren immer wieder versucht, seine Schwester auf den Pfad der Tugend zu geleiten.

Verdammt, er wusste, dass sie sich an niemanden wenden konnte. Ihre alten Freunde waren unzuverlässig und ihre neuen eben noch zu … neu. Melissas Vater hatte sie vor Langem verlassen.

Stacy blickte ihn ernst an. Sie bemühte sich redlich, tapfer zu sein und ihr Leben allein zu meistern, ohne von ihrem großen Bruder abhängig zu sein. Und was tat er? Er versuchte, sie wegzuschicken. Aber das konnte er unmöglich tun, nicht nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten.

Er seufzte. „Geht schon in Ordnung.“ Er setzte ein müdes Lächeln auf. „Ich mach es.“

„Wirklich?“ Sie strahlte plötzlich über das ganze Gesicht und umarmte ihn voller Erleichterung. „Ich schulde dir was“, flüsterte sie ihm zu. Dann warf sie ihrer Tochter eine Kusshand zu und ging zur Tür. „Ich hab dich lieb, Melissa. Und dich auch, Sean!“ Schon war sie aus dem Haus.

Sean blickte ihr nach, als sie wegfuhr, während aus der Küche noch immer Melissas Kichern drang. Der Himmel mochte wissen, was sie da schon wieder anstellte.

Langsam und mit einem unguten Gefühl, machte er sich auf den Weg dorthin.

Melissa hielt ihm lächelnd ihren leeren Becher entgegen. „Mehr Saft.“

Sean rieb sich die Augen, griff nach einem Schwamm und lernte die erste Lektion des Tages. Grapefruitsaft machte Flecken. Überall und dauerhaft.

Zwei Tage später zeugten dicke Augenringe davon, dass Sean an Schlafmangel litt. Er hatte weder sein Rasierzeug angefasst noch Wäsche gewaschen, und das Haus sah aus, als hätte ein Orkan darin gewütet. Da er unmöglich gleichzeitig in seinem Büro arbeiten und Babysitter spielen konnte, versuchte er, alles von zu Hause aus zu erledigen.

Aber angesichts eines vier Jahre alten Albtraums war dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt.

Das Faxgerät und die beiden Telefone klingelten um die Wette, sodass ihm der Kopf schwirrte. Jede Nacht bestand Melissa darauf, ein, zwei Stunden zu ihm ins Bett zu kommen, um nicht allein schlafen zu müssen. Und wenn er sie in ihr Bett zurückverfrachtete, kam sie hartnäckig wieder zu ihm.

Jetzt fiel ihm plötzlich auf, dass das Kind, im Gegensatz zu seiner klingelnden Technik, sich viel zu still verhielt. „Melissa?“, rief er auf dem Weg zum Telefon.

Keine Antwort.

Das letzte Mal, als sie so ruhig gewesen war, hatte sie den teuren Holzfußboden im Flur mit Seifenblasen überflutet, weil sie das hübscher fand. Er war darauf ausgerutscht und hatte sich der Länge nach hingelegt, was Melissa zu einem wahren Heiterkeitsausbruch veranlasst hatte.

Gegen alle Vernunft hoffte er, dass die Anzeige, die er aufgegeben hatte, Hilfe bringen würde. Die Anzeige lautete: „Kindermädchen für vierzehn Tage verzweifelt gesucht“. Er hoffte, dass sich heute jemand melden würde, aber in seinem Innersten bezweifelte er es.

„Melissa!“, rief er noch einmal, dann nahm er den Hörer ab. Am anderen Ende der Leitung war Nikki, seine Sekretärin.

„Na, schau an. Sie leben noch“, eröffnete sie das Gespräch. „Ich habe hier drei Verträge, die Sie sich ansehen müssen, fünf neue Baupläne zum Überarbeiten …“

„Einen Moment mal.“ Er achtete nicht auf ihr theatralisches Stöhnen, sondern schaltete auf die zweite Leitung um, in der gerade ein Kunde wartete.

Im gleichen Augenblick sprang das Faxgerät an. Die aufgeweckte Nikki sandte ihm die erste Seite des Vertrages, um den er sich kümmern sollte. Während Sean Sam begrüßte, riss er das Fax heraus und lauschte mit einem Ohr nach Lebenszeichen von Melissa.

Allmählich wurde er ein wahrer Meister darin, die unterschiedlichsten Dinge gleichzeitig zu tun.

„Die Pläne für Ihren Bau?“, sagte er zu Sam Snider, seinem Kunden. „Die werden wir wohl bis …“

„Onkel Sean!“ Der Ruf kam aus dem Badezimmer. Melissa war wieder aufgetaucht.

Mit einer Hand deckte er die Sprechmuschel ab. „Ich komme gleich.“

„Jetzt, Onkel Sean! Jetzt!“

„Ich komme gleich“, wiederholte er, dann wandte er sich wieder seinem Gesprächspartner zu. „Wie ich gerade sagte …“

„Aber Onkel Sean, ich bin fertig!“

Toll. Sie war fertig. Er bemühte sich, Sam auf eine Warteschleife zu legen, aber der Mann war so umständlich und langatmig, dass Sean am Ende doch den Hörer in der Hand behielt, während er mit dem anderen Ohr Melissas Geschrei vernahm.

Das Faxgerät warf den zweiten Vertrag aus.

„Onkel Sean!“

Als ob dies noch nicht genug war, klingelte es auch noch an der Tür.

Er brauchte eigentlich einen Klon von sich.

Oder eine Ehefrau.

Vor knapp zwei Jahren war er einmal mit Tina fast so weit gewesen. Aber er hatte keinen Augenblick bereut, doch nicht vor den Altar getreten zu sein.

Bis jetzt.

Sam redete weiter auf ihn ein.

„Wisch mich ab!“, schrie Melissa in einer Lautstärke, dass man sie im ganzen Bundesstaat Kalifornien hören konnte.

„Ich wisch dir den Hintern gleich ab!“

„Bitte?“, fragte Sam erkennbar pikiert.

Sean beugte sich vor und schlug mit dem Kopf gegen die Tischkante, doch außer dass ihm dies fast eine Gehirnerschütterung eingebracht hätte, änderte sich nichts. Er versagte auf ganzer Linie, und mit Versagen konnte er überhaupt nicht umgehen. Ganz langsam zählte er bis zehn, aber sein Leben blieb weiterhin die Hölle auf Erden.

Er verabschiedete seinen reichen Kunden schnell, aber höflich und legte auf. Einen Moment lang verfluchte er die Unterbrechung, die möglicherweise zum Verlust eines lukrativen Auftrags führen konnte, dann lief er ins Badezimmer und half Melissa mit dem Toilettenpapier.

Anschließend eilten sie gemeinsam zur Haustür.

„Ich hoffe, es ist meine Mommy.“ Melissa sprang wie aufgezogen vor ihm herum, sodass ihre blonden Locken durcheinanderwirbelten. Seit sie bei ihm war, hatte sie ihm noch keine Gelegenheit gegeben, sie zu bürsten.

Immerhin hatte er sie dazu gebracht, sich die Zähne zu putzen. Das war ja schon etwas.

„Ich will meine Mommy wiederhaben.“

„Das weiß ich doch.“ Sean vermisste ihre Mutter auch. Gewaltig. „Aber die bleibt noch zwei Wochen lang weg. Die Person an der Tür wird für die Zeit dein Kindermädchen sein.“ Das hoffte er jedenfalls.

Melissa sah ihn groß an. „Wie lange sind zwei Wochen?“

„Vierzehn Tage.“

Das Kind legte den Kopf schräg und sah ihn traurig an. „Das ist viel zu lange.“

Ganz ohne Frage. „Das wird so schnell vorbeigehen, dass du es kaum merkst, Spätzchen. Möchtest du die Tür aufmachen?“

Diese Aussicht zauberte ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht. „Hoffentlich ist es Mary Poppins. Die singt so schön.“

Sean war es egal, ob die Frau, die er einstellte, singen konnte oder schön war. Sie sollte ihm nur beim Babysitten helfen, und zwar sofort.

Er hoffte, es würde der ältere, großmütterliche Typ sein. Der Typ Frau, der Melissa Märchen erzählen konnte und sie knuddeln würde, eben all diese Sachen, für die er keine Zeit hatte. Dann konnte er sich wieder ganz seiner Arbeit widmen, ohne sich schuldig zu fühlen.

Melissa und er öffneten die Tür gemeinsam.

„Hallo.“ Die Frau war weder alt, noch sah sie wie Mary Poppins aus.

Seans erster Gedanke war, dass sie die intensivsten blauen Augen hatte, die er je gesehen hatte. Der Eindruck wurde noch durch die dicken Gläser ihrer Brille verstärkt. Und wenn sie wie jetzt lächelte, blitzen ihre Augen. Es war aber keines dieser Ich-brauche-einen-Job-Lächeln, sondern das süßeste, offenste Lächeln, das er je gesehen hatte. Unendlich erleichtert erwiderte er ihr Lächeln.

„Ich bin Carly Fortune und vielleicht Ihr zukünftiges Kindermädchen.“ Sie reichte ihm die Hand, und bei dieser Bewegung fiel ihr das lange dunkle Haar über die Schulter.

„Ich bin Sean O’Mara, der Mann, der ein Kindermädchen sucht.“ Sie war gar nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte, während er ihre warme, weiche Hand schüttelte. Erstens war sie recht jung. Zwar fielen ihre dunklen Haare ihr gerade ins Gesicht, aber er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie trug einen weiten Sweater, einen knöchellangen Rock und klobige Laufschuhe.

Überhaupt war sie so eingehüllt, dass er nicht sagen konnte, ob sie zierlich oder eher vollschlank war. Da er ein Mann war, achtete er bei Frauen besonders auf das Äußere. Er war nicht sonderlich stolz darauf, aber so war er nun einmal. Bei einer schönen Frau musste er sich einfach umdrehen.

Es war aber nicht so, dass Carly Fortune nicht schön war. Sie wirkte eher wie Sandra Bullock in einer typischen Rolle. Aber sie strahlte Mitgefühl und Lebensfreude aus, Eigenschaften, die sicherlich notwendig waren, wenn man ein Kind betreuen wollte.

Nur dieses seltsame Gefühl, dass sie unter dieser wallenden Kleidung etwas versteckte, bereitete ihm Unbehagen. Tina, dachte er voller Bitterkeit. Dabei war es schon zwei Jahre her, dass ihn die Frau, die eine krankhafte Lügnerin gewesen war, verlassen hatte, und dennoch konnte er keiner Frau gegenübertreten, ohne misstrauisch zu werden.

Doch als Carly Fortune ihn nun so anlächelte, geschah etwas Eigenartiges. In seinem Herzen, das er seit der Enttäuschung mit Tina verschlossen hatte, regte sich ein Gefühl, das er fast schon vergessen hatte.

Carly Fortune bückte sich nach ihrer Reisetasche, wobei ihr die Brille fast von der Nase gerutscht wäre. Bei dieser Bewegung gab der Schlitz im Kleid flüchtig den Blick auf ihre schlanken Schenkel frei. Sean konnte sich nur wundern. Er hätte nicht damit gerechnet, so viel nackte Haut zu erspähen. Aber wie hätte er auch ahnen können, dass sie so wenig unter ihrer verhüllenden Kleidung anhatte? Plötzlich begann sein Herz zu rasen.

„Du bist nicht Mary Poppins.“ Traurig schob Melissa ihre Unterlippe vor. Ihre Augen wurden feucht, und sie klammerte sich an Seans Bein fest. „Ich wollte so gern Mary Poppins.“ Ihre Stimme klang ganz dumpf, weil sie das Gesicht an sein Hosenbein schmiegte und sich mit ihren Fingern in sein Bein krallte.

Sean wollte sie hochheben, aber sie klammerte sich nur noch fester an ihn. Er legte ihr einen Arm auf ihre kleine Schulter. Die kleine Tyrannin wirkte auf einmal sehr verletzlich. Keine Frage, er brauchte Hilfe.

„Hallo, du Süße.“ Mit einem kurzen Blick auf Sean hockte sich Carly neben sie. „Das tut mir aber wirklich leid. Du hast recht, ich bin nicht Mary Poppins. Aber ich habe auch so eine Wundertasche wie sie dabei, mit lustigen Sachen drin. Siehst du?“ Sie hob ihre Reisetasche und schwenkte sie verlockend. Es klapperte und rasselte.

Melissa ließ Seans Bein los. „Ist Mommy da drin?“

„Nein.“ Carly hatte eine volle, ein wenig heisere Stimme. Noch so ein Widerspruch. Es war eine Stimme voller Gefühl, die im Gegensatz zu ihrer fast nonnenartigen Kleidung stand. „Aber ich habe einige hübsche Kleider dabei. Möchtest du sie sehen?“

Melissa blinzelte kurz und gab dann nickend ihr Einverständnis. „Okay.“

Okay. Sie hatte okay gesagt. Sean konnte nicht anders, er musste ständig die Frau angrinsen, die gerade dabei war, ihm das Leben zu retten.

Jedenfalls für die nächsten zwei Wochen.

2. KAPITEL

Carlyne tat etwas, was sie in den sechsundzwanzig Jahren ihres Lebens noch nie getan hatte: Sie zögerte. Dabei war dies doch genau das, was sie wollte – eine Pause von ihrem verrückten, hektischen Leben. Endlich Gelegenheit bekommen, zu erfahren, wie normale Menschen lebten.

Eine Möglichkeit, sich unter das Volk zu mischen.

Also betrat Prinzessin Carlyne Fortier das Haus von Sean O’Mara. Allerdings hielt sie nicht Einzug als elegante, kultivierte Prinzessin, sondern als Carly Fortune.

Das war ihre Idee gewesen. Sie hatte regelmäßig amerikanische Zeitungen gelesen, ganz so, wie sie sich heimlich alte amerikanische Fernsehserien anschaute und aufnahm. Sie war seit Langem mit ihrem Leben unzufrieden, und so hatte sie begonnen, auch die Anzeigenteile der amerikanischen Zeitungen zu studieren. Dabei hatte sie sich immer vorgestellt, wie sie sich dort unerkannt niederlassen und den richtigen Mann finden würde. In ihrer Welt war das unmöglich. Dort gab es keinen Mann für sie, den sie als passend betrachtete. Sie fragte sich, ob sie jemals herausfinden würde, ob sie zu einer guten Mutter taugte.

Da war ihr eine Anzeige aus einer kleinen Zeitung aus Santa Barbara, Kalifornien, ins Auge gefallen. Sean O’Mara suchte ein Kindermädchen. Eine echte Herausforderung.

„Hast du Knetgummi dabei?“, fragte Melissa.

Oje. Nicht nur, dass sie hier in Klamotten herumstand, die jeder Modeschöpfer als Todsünde angesehen hätte, nein, sie sollte auch noch das typisch amerikanische Kindermädchen für eine Vierjährige darstellen!

Ein vierjähriges Mädchen, das sie ausgesprochen ernst anblickte.

Carlyne wusste nichts über Kinder, genauso wenig wie über Knetgummi, aber das würde sich ändern. „Ich fürchte, nein. Aber dafür weiß ich, wo wir es kaufen können.“ Das wusste sie auch nur, weil sie neulich in einem Laden gewesen war, der zu einer bekannten Discounterkette gehörte. Das war die letzte und neueste ihrer so gar nicht königlichen Vergnügungen, die sie für sich entdeckt hatte. Nachdem sie zum ersten Mal in dem Laden gewesen war, hatte sie sich regelrecht in ihn verliebt. Es war das einzige Geschäft, in dem Strumpfhosen neben Verandamöbeln verkauft wurden. „Knetgummi gibt es da in allen Farben“, erklärte sie, stolz, wenigstens das zu wissen.

„Aber Mommy hat immer Knetgummi“, erklärte Melissa trotzig.

Kein Problem. Sie würde einfach Francesca, ihre Privatsekretärin, anrufen, und sich von ihr darüber informieren lassen.

„Melissa, Knetgummi kommt nicht infrage“, erklärte Sean und hockte sich neben seine Nichte.

„Ich will aber Knetgummi!“

„Darüber haben wir doch schon gesprochen, erinnerst du dich nicht daran?“, fragte Sean. „Es macht gar keinen Sinn, mich anzuschreien.“

„Was ist Sinn machen?“

Sean schloss die Augen und fuhr sich mit einer Hand durch sein dunkles Haar. „Das hier ist unser Sorgenkind, Melissa“, wandte er sich an Carlyne, um das Gespräch wieder auf die Arbeit zu lenken.

Nicht, dass sie das Geld oder eine Unterkunft gebraucht hätte. Sie besaß Residenzen in St. Petersburg, Paris und an der spanischen Mittelmeerküste. Was sie wirklich brauchte, war ein Platz, an dem sie ohne einen goldenen Löffel im Mund leben konnte. Zweifelsohne war dieser Job dazu geeignet, ihr das nahe zu bringen, was sie sich unter dem normalen Leben einer amerikanischen Frau vorzustellen hatte. Und genau das wollte sie kennenlernen. Einfach einmal selbst in einem Supermarkt einkaufen gehen und ihre eigenen Besorgungen allein erledigen. Sie wollte wissen, wie es war, irgendwo zu leben, ohne im Scheinwerferlicht zu stehen. Wollte wissen, ob sie als Mutter geeignet war. Amerika erschien ihr der geeignete Ort zu sein, da es für Unabhängigkeit und Freiheit stand, Dinge, die sie sich von ganzem Herzen wünschte.

Wenn Sean sie mit seinen Augen, die so blau waren wie der klare Himmel über den Bergen, ansah, hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass er ihre Verkleidung durchschaute, obwohl sie wusste, dass dies unmöglich war.

Sie war mit den meisten Königshäusern Europas verwandt, entstammte einer langen Reihe russischer und französischer Vorfahren. Es war wie in einem Märchen. Ihre Familie war mit dem russischen Zaren verwandt und hatte früher in Russland gelebt. Als das Zarenreich zerfiel, schaffte ihre Familie es, sich mit ihren Reichtümern und Titeln ins Ausland zu retten, und lebte seither sorgenfrei in Frankreich. Sie war eine Prinzessin ohne Königreich, eine Weltbürgerin, aber leider keine gewöhnliche. Die Leute waren von ihr und ihrer Familie fasziniert, aber seit sie in Amerika unterwegs war, war sie noch von keiner Menschenseele erkannt worden. Dank ihrer Erziehung und ihrem geheimen Bildungsprogramm in Form von Fernsehen sprach sie ein perfektes Englisch.

Sie trug eine dunkle Langhaarperücke und hatte sich stark geschminkt. Damit verbarg sie sowohl ihren blonden Bob als auch ihre makellos weiße Haut. Da sich viele Menschen an ihre leuchtend grünen Augen erinnerten, trug sie himmelblaue Kontaktlinsen. Die riesige Brille mit den dicken Gläsern war eine plötzliche Eingebung gewesen. Ärgerlich nur, dass sie ihr andauernd von der Nase rutschte.

Die unscheinbare Kleidung vervollständigte ihre Maskerade, da Carlyne in der Öffentlichkeit ausschließlich in Designermodellen aufgetreten war. Und nun stand sie wieder in der Öffentlichkeit. Nur diesmal ohne ihre Leibwächter und einen Pulk Paparazzi. Vor Erleichterung lächelnd, trat sie in Seans Haus ein. Beim Spiegel im Flur blieb sie wie angewurzelt stehen. Das, was sie dort erblickte, ließ sie erstarren.

Es war eine Sache, einen Fluchtplan zu entwickeln, aber das Ergebnis ihrer Anstrengungen vor Augen zu haben, war etwas völlig anderes.

Dennoch, es blieb dabei. Sie war schon viel zu lange einsam gewesen. Abgeschnitten vom Rest der Welt. Nicht, dass irgendjemand sie bedauern würde. Denn Prinzessin Carlyne Fortier hatte alles, was man sich wünschen konnte. Gutes Aussehen, Verstand, Reichtum. Doch ihr Aussehen und ihr Reichtum waren nur ererbt, genau wie alle ihre Freunde, denn es waren Freunde der Familie. Ihr Verstand war durch die beste Erziehung, die man für Geld kaufen konnte, geschult worden. In jedem wachen Moment ihres Lebens war sie von Leuten umgeben, die etwas von ihr wollten. Aber ihre Familie nahm sie dennoch nicht ernst genug, um ihr etwa zu gestatten, einer Arbeit nachzugehen. Sie war nichts weiter als eine schöne Verzierung.

Sie fragte sich, was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie arm geboren oder in einer durchschnittlichen Familie aufgewachsen wäre. Wäre sie eine normale Frau mit einer normalen Familie geworden? Hätte sie jetzt schon ein Kind gehabt?

Von daher war es nicht verwunderlich, dass sie ihre Tasche gepackt, ihre Kreditkarten bis auf eine weggelegt, sich bis zur Unkenntlichkeit verkleidet und auf Sean O’Maras Anzeige geantwortet hatte.

Unglaublich, sie hatte es tatsächlich getan. Sie sah ausgesprochen normal aus.

„Alles in Ordnung?“, fragte Sean.

Er stand neben ihr vor dem Spiegel. Sein fast schwarzes Haar reichte bis auf den Kragen seines Hemdes. Sie hatte den Eindruck, dass er sich lange nicht mehr gekämmt hatte. Außerdem war sein Polohemd voller Flecken, aber sie musste zugeben, dass seine Brust beeindruckend breit aussah. Seine Kakihose war sauber, wenn man davon absah, dass sie an den Stellen, an denen Melissa sich an ihn geklammert hatte, völlig verknittert war. Es fiel ihr auf, dass er barfuß ging, etwas, dass sie normalerweise abgestoßen hätte, denn Prinzessin Carlyne bevorzugte gut gekleidete Männer. Und gut gekleidet bedeutete von Kopf bis Fuß.

Dennoch wirkten seine gebräunten Füße irgendwie sexy.

Ebenso wie seine blauen Augen, mit denen er sie ansah. Wahrscheinlich wunderte er sich, wieso sie seit fünf Minuten ihr Spiegelbild anstarrte.

„Onkel Sean!“

Doch der konnte den Blick nicht von Carlyne nehmen. „Um ehrlich zu sein“, begann er schließlich, „weiß ich nicht so richtig, wie ich dieses Bewerbungsgespräch führen soll.“

„Dann sind wir ja schon zu zweit.“ Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie man sich für einen Job bewarb. Bislang hatte sie es nicht nötig gehabt. Aber es gab wohl für alles ein erstes Mal.

„Onkel Sean!“

„Wollen wir uns nicht erst einmal hinsetzen?“ Sean tätschelte den Rücken des kleinen Mädchens, um es zu beruhigen. Es war offensichtlich, dass er nicht an den Umgang mit Kindern gewohnt war. „Haben Sie einen Lebenslauf oder Empfehlungen dabei?“, fragte er geschäftsmäßig.

Carlyne dankte dem Schicksal für die besonderen Fähigkeiten ihrer Privatsekretärin. Francesca hatte ihr nicht nur einen alten Gebrauchtwagen für ihren Aufenthalt besorgt, sie hatte ihr auch einen Lebenslauf und Empfehlungsschreiben gezaubert, die allen Ansprüchen genügen würden. „Habe ich.“ Sie lächelte Sean einnehmend an. „Aber Sie sollten wissen, dass ich noch nie im Haus eines Arbeitgebers gewohnt habe.“

Sie hatte, außer mit ihrer Familie, überhaupt noch nie mit irgendjemandem zusammengelebt. Und das nicht, weil sie erst sechsundzwanzig war, sondern weil es keinem Mann je gelungen war, ihr Herz zu erobern.

„Ich brauche Sie aber die ganze Zeit hier“, erläuterte Sean. „Melissa ist die Tochter meiner Schwester, die gerade verreist ist. Und …“ Er senkte seine Stimme, und Carlyne konnte nicht anders, als seine Tonlage anziehend zu finden. „Ich komme hier nicht mehr klar. Ich habe keine Ahnung, was ich noch machen soll. Ich brauche Hilfe, und das schnell.“

„Sie sind nicht verheiratet?“ Die Frage war Carlyne einfach so herausgerutscht.

„Nein.“ Er sagte dies in einem Ton, als ob schon die Vorstellung abstoßend wäre. „Ich bin unverheiratet. Daher brauche ich auch abends Hilfe im Haushalt, falls ich zu einer Besprechung muss.“

Carlyne verstand. Da musste sie sich nur an ihr eigenes Kindermädchen erinnern. Und an ihr Dienstmädchen. Und an ihren Koch. In ihrer Kindheit hatte sie ihre Eltern nur selten gesehen, schon gar nicht am Abend, wenn diese ihren vielfältigen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgingen. Die meiste Zeit war sie von der Dienerschaft umgeben gewesen. Zwar kannte sie es nicht anders, aber dennoch gefiel es ihr gar nicht, dass dieser Mann sich genauso verhielt.

„Sie haben ja eine Menge Erfahrung“, stellte Sean fest. „Sie haben sogar die Befugnis, zu unterrichten.“

Sie konnte einige hochgradige Abschlüsse vorweisen. Sie sammelte sie wie andere Frauen Schuhe, auch deshalb, weil sie sich darüber klar zu werden versuchte, was sie mit ihrem weiteren Leben anfangen wollte.

„Sehr beeindruckend“, murmelte Sean, während er die Empfehlungsschreiben durchlas. „Erzählen Sie mir von sich.“ Er blickte von den Papieren auf, und sah sie mit seinen faszinierenden Augen an.

Eine Haarsträhne hing ihm in die Stirn, und Carlyne konnte Bartstoppeln auf seinen Wangen und seinem Kinn entdecken. Eigentlich sah er wie ein Rebell aus, aber die aufmerksame Art und Weise, mit der er ihre Papiere durcharbeitete, sprach dagegen.

„Was möchten Sie denn wissen?“

Er wirkte leicht verwirrt, so als sei ihm dies selbst nicht ganz klar. „Etwas über Ihre Familie, zum Beispiel. Wie sind Sie aufgewachsen?“

„Ach, völlig normal, würde ich sagen“, antwortete sie leichthin. Als arme, kleine Prinzessin, deren Eltern niemals Zeit für sie fanden. Ohne enge Freunde. Nichts, was sie ihm hätte erzählen können. Daher flüchtete sie sich in eine Fantasiewelt, von der sie schon als Kind geträumt hatte. „Meine Eltern, meine Geschwister und ich lebten in einem kleinen Haus mit weißem Lattenzaun, und es gab einen Hund.“

„Klingt hübsch.“ Er meinte es anscheinend ernst. „Wieso wollen Sie diese Stelle annehmen?“ Er schaute sie noch immer voller Interesse an, so, als ob es ihm tatsächlich wichtig wäre.

Carlyne musste heftig schlucken, so schuldig fühlte sie sich auf einmal. Sie hatte ihm zwar ihre Wunschträume erzählt, aber es blieben dennoch Lügen. Schuldgefühle waren ebenfalls etwas Neues für sie.

„Onkel Sean!“ Ungeduldig zerrte das kleine Mädchen an seinem Hemd, sodass man seinen flachen gebräunten Bauch sah.

Bei diesem Anblick vergaß Carlyne alles, was sie gerade sagen wollte.

„Einen Moment noch, Mel.“ Für einen Augenblick war er abgelenkt, dann blickte er Carly erwartungsvoll an.

Diese brachte kein Wort heraus, denn es wurde ihr bewusst, was sie im Begriff war zu tun. Sie würde für diesen attraktiven Mann arbeiten und vierzehn Tage lang mit ihm unter einem Dach leben.

„Carly?“

Es dauerte eine Minute, bis Carlyne begriff, dass Sean mit ihr redete, denn niemals hätte sie es früher zugelassen, dass man ihren Namen abkürzte. Genauso wenig, wie sie niemals einen Spitznamen besessen hatte. „Ich möchte es, weil …“ Sie blickte ihm direkt in die Augen, bereit, die volle Wahrheit zu sagen. „Ich möchte es, weil ich einfach muss.“

„Weil Sie müssen“, wiederholte er.

Er blickte sie voller Mitleid an, und sie stöhnte innerlich auf. Bestimmt dachte er nun, dass sie arm und obdachlos war oder sich in einer großen Notlage befand. „Ich möchte diesen Job so sehr.“ Sie konnte nur hoffen, dass er erkannte, wie ernst es ihr damit war. Hoffen, dass er ihr vergeben würde, wenn sie ihm eines Tages die Wahrheit sagen würde. „Ich werde gut auf Melissa aufpassen und es ihr an nichts fehlen lassen.“

„Vielleicht sollten Sie es sich doch noch einmal durch den Kopf gehen lassen“, munkelte Sean. „Sie können mir glauben …“ Er zog demonstrativ an seinem bekleckerten Hemd. „Grapefruitsaft. Es ist wirklich nicht einfach, sich um eine Vierjährige zu kümmern. Ich möchte, dass Sie sich dessen bewusst sind. Meine Arbeit verlangt höchste Konzentration, und sie ist …“ Schuldbewusst sah er Melissa direkt an.

„Ein Albtraum“, sagte das Kind und nickte stolz. „Das sagte meine Mommy immer.“

Sean musste lachen, und dieses Lachen war so voll und natürlich, dass es Carlyne rührte.

Was war nur mit ihr los? Sie hatte schon öfter Männer lachen gehört, hatte Männer weinen sehen. Viel kultiviertere Männer als Sean O’Mara. Reichere Männer, Männer mit besseren Manieren, selbst Männer, die besser aussahen als er.

Aber irgendwas war an diesem Mann, dem es offenbar nichts ausmachte, barfuß und mit ungekämmten Haaren einer Fremden die Tür zu öffnen. Ein Mann mit Ecken und Kanten eben. Einer, dem es egal war, was andere über ihn dachten. Wieder eine neue Erfahrung. Die Männer, die sie bisher gekannt hatte, waren sehr darauf bedacht, was andere von ihnen hielten.

„Ich weiß nicht, ob man darauf stolz sein kann, ein lebendiger Albtraum zu sein“, sagte Sean zu seiner Nichte.

„Ja, aber Onkel Sean …“

„Bitte sei still. Ich spreche noch mit Carly.“ Er blickte sie an. „Wollen Sie den Job immer noch?“

Aus Gründen, über die sie nicht nachdenken mochte, wollte Carly auf jeden Fall bleiben. „Ja.“

Erleichtert atmete er aus. Es kam ihm vor, als sei ihm eine schwere Last von den Schultern genommen worden. „Gut.“

„Onkel Sean!“ Melissa zerrte erneut an ihm herum. „Ich muss ganz eilig aufs Klo!“

„Schon wieder?“ Er sah seine Nichte streng an. Diese ließ ihn los und vollführte einen zappeligen Tanz, der ihm begreiflich machen sollte, wie dringend es war.

„Schnell!“, quengelte sie.

„Du weißt doch, wie das geht.“

Die Hände zwischen ihre Beine gepresst, hüpfte sie von einem Fuß auf den anderen. „Ich will aber, dass du mitkommst.“

„Melissa …“

„Gleich passiert es, gleich passiert es!“ Sie hüpfte noch wilder herum. „Mach schnell!“

Sean stöhnte auf und griff sich das Kind. „Ich bin gleich wieder zurück“, sagte er zu Carlyne. „Machen Sie es sich bequem.“

Während sie so von ihrem Onkel getragen wurde, strahlte Melissa über das ganze Gesicht. „Ich hab zu viel Saft getrunken“, gestand sie.

„Wie soll das gehen?“, fragte ihr Onkel. „Die Hälfte davon ist doch auf meinem Hemd gelandet.“

„Ich wollte nicht kleckern.“

„Hast du aber.“ Ihre Stimmen wurden leiser, je weiter sie sich entfernten. „Du hattest dich geärgert, weil du keine Salami zum Frühstück haben durftest. Hast du das vergessen?“

Carlyne musste plötzlich lachen, was ungewöhnlich war, denn spontane Heiterkeitsbekundungen gehörten nicht zu ihrem Stil.

Sean blieb stehen und drehte sich nach ihr um.

Was hatte der Mann nur für lange Wimpern, schoss es ihr durch den Kopf. Eigentlich zu schön für einen Mann. Ihr Blick glitt über seine hohen Wangenknochen, die gerade, klassische Form seiner Nase und seine wohlgeformten Lippen. Wenn er lächelte und dabei ein wenig die Augen schloss, als wäre er schläfrig, wirkte das ungeheuer erotisch. Ob dieses Lächeln wohl auch andere Frauen so aus der Fassung brachte?

Natürlich war er sich seiner Wirkung bewusst. Ihrer Erfahrung nach waren sich Männer ihrer Wirkung immer bewusst. Zu sehr bewusst. Aber sosehr auch ihr Herz klopfte, Carlyne hatte keineswegs vor, sich ihm zu Füßen zu werfen. Sie war nicht hier, um Freundschaften zu schließen oder einen Liebhaber zu finden. Sie war hier, um sich selbst etwas zu beweisen.

Mit jemandem wie Sean hatte sie allerdings nicht gerechnet, und sie würde ihm schwerlich aus dem Weg gehen können. „Habe ich den Job wirklich?“, fragte sie.

Melissa zappelte auf Seans Arm, aber dieser setzte sie mit Leichtigkeit auf seinen anderen, um Carlyne besser sehen zu können. „Sie haben ihn.“

„Schnell, Onkel Sean, schnell!“

Als sie den Schrecken auf seinem Gesicht sah, musste Carlyne unwillkürlich lächeln. Dann eilte er mit seiner Nichte den Flur hinunter. Ihrem Vater wäre es nicht im Traum eingefallen, seinen Kindern auf der Toilette zu helfen.

Sean war zwar von seiner Verantwortung nicht gerade begeistert, aber er war ein Mann, der seine Pflichten ernst nahm. Carlyne betrachtete ihn nun mit ganz anderen Augen.

Als die beiden außer Sicht waren, verschwand ihr freudiges Lächeln. Was hatte sie gerade erlebt? Sie musste an Sean denken, seine dunkle, verstörende Sinnlichkeit, seine starke Ausstrahlung. Sie erschauerte.

Sean setzte sich an seinen Schreibtisch. Endlich konnte er wieder arbeiten, ohne ununterbrochen durch eine überdrehte Vierjährige gestört zu werden. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, sich sofort in seine Arbeit reinzuknien, stattdessen starrte er aber nur aus dem Fenster.

Melissa rannte herum, so schnell es ihre kurzen Beinchen zuließen. Sie grinste über das ganze Gesicht, und ihr Haar flatterte im Wind.

Fluchend erhob er sich. Bestimmt hatte sie etwas angestellt und lief nun weg. Nicht auszudenken, was sie der neuen Kinderfrau angetan hatte. Doch da kam die erwähnte Kinderfrau auch schon angelaufen. Auch ihre Haare flatterten im Wind. Doch ob ihre Beine lang oder kurz waren, konnte er bei ihrem langen Rock unmöglich sagen. Aber auch sie lachte fröhlich, und es lag etwas in ihrem Lachen, dass ihm ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Sie war nicht schön, aber natürlich. Er mochte solche Frauen.

„Du kriegst mich nicht, du kriegst mich nicht“, kreischte Melissa, wobei sie mit Absicht langsamer wurde und hoffnungsvoll hinter sich blickte.

Sie mochte es, wegzulaufen, und sie mochte es, gefangen zu werden.

Wie er so dastand und die Szene beobachtete, verspürte Sean ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Er hatte nie mit Melissa herumgealbert oder gespielt.

„Du kriegst mich nicht!“, rief Melissa wieder.

Fang sie, Carly! dachte Sean. Gib ihr alles, was ich versäumt habe.

Jetzt schlang Carly die Arme um das kleine Mädchen und wirbelte sie herum. Melissa wirkte vollkommen glücklich. Schließlich fielen die beiden kichernd ins Gras. Melissa kletterte auf Carlys Schoß.

Carly schien für den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, so als ob ihr diese Art der Zuneigungsbezeugung fremd sei, aber dann nahm sie das Kind in die Arme. Dabei strahlte ihr Gesicht eine solche Zufriedenheit aus, dass es ihn fast schmerzte.

Ohne den Blick von den beiden zu nehmen, setzte sich Sean. Verspürte er etwas wie Sehnsucht?

Nein, dass machte keinen Sinn. Überhaupt nicht.

„Was ist mit Abendessen?“

Sean blickte von den Plänen, an denen er gerade arbeitete, auf.

Carly stand in der Tür seines Arbeitszimmers, und er stellte fest, dass ihr Äußeres nicht mehr so makellos wirkte wie am Morgen. Ihr weiter Rock war fleckig vom Spielen mit dem kleinen Mädchen, ihr Shirt war zerknittert, ihr Haar zerzaust.

Aber irgendwie sah sie trotzdem süß aus. Von seiner Schwester und von einigen Freundinnen wusste er, dass „süß“ als eine wenig vorteilhafte Beschreibung galt, aber er fand, dass das nicht stimmte. Was hatte Carly nur an sich, dass er sie andauernd anstarren musste? Er wusste es einfach nicht.

„Was ist mit Abendessen?“, wiederholte sie, wobei sie ihre Brille zurechtrückte. „Melissa ist hungrig.“

„Gut, was wollen Sie machen?“

Carly sah ihn mit großen Augen an. „Ich hatte nicht vor zu kochen.“

„Oh.“ Die Rockmusik, die in dem Radio auf seinem Schreibtisch lief, wurde von den Nachrichten abgelöst. „Und nun etwas Neues aus der Welt der Reichen und Schönen“, begann der Sprecher. „Unbestätigten Berichten zufolge hat sich Prinzessin Carlyne Fortier von ihrer Familie losgesagt. Ihr Großvater hingegen erklärte, dass seine Enkelin sich lediglich auf einer Ferienreise mit unbekanntem Ziel befinde. Unbestritten ist aber, dass die Prinzessin zum ersten Mal seit zehn Jahren nicht an dem internationalen Wohltätigkeitsball für an Muskeldystrophie Erkrankte teilgenommen hat, der gestern in Washington, D.C., stattfand.“

Carly stöhnte auf, sodass Sean die Lautstärke herunterdrehte. „Ist es denn schon Essenszeit?“

„Ja.“ Aber sie starrte wie gebannt auf das Radio.

„Gerüchten zufolge soll die Prinzessin von ihren zahlreichen gesellschaftlichen Verpflichtungen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben worden sein.“ Der Spott in der Stimme des Sprechers war unüberhörbar. „Das muss aber auch ein anstrengendes Leben sein, was, Leute?“

„Hast du eine Ahnung“, murmelte Carly.

Sean missverstand ihre Aufregung und schaltete das Radio ganz aus. „Wo waren wir gerade?“

„Beim Abendessen.“

„Nun, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, hatte ich insgeheim gehofft, dass Sie diese Arbeit übernehmen würden.“ Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf.

Carly zog eine Augenbraue hoch. „Gehört Kochen denn zu meinen Pflichten?“

„Nun, äh, nein.“ Sein gewinnendes Lächeln war wohl etwas eingerostet, und es war lange her, dass er es einer Frau gegenüber aufgesetzt hatte. Als er sich gerade auf Schmeicheleien verlegen wollte, klingelte es an der Haustür.

Sein neues Kindermädchen warf ihm ein übertriebenes Lächeln zu, das dem seinem in nichts nachstand. „Lassen Sie uns einen Kompromiss schließen“, bemerkte sie, sich langsam zurückziehend. „Ich öffne die Tür, und Sie machen das Essen.“

„Was für ein Kompromiss!“, rief er ihr hinterher. Er konnte sie im Flur lachen hören.

„Wer als Erster an der Tür ist“, neckte sie ihn.

Er liebte Herausforderungen, also eilte er ihr nach. Ihr wehender Rock gab erneut einen Blick auf ihre Beine frei. Wieso sie solche Beine versteckte, würde wohl ihr Geheimnis bleiben.

Aber waren nicht alle Frauen ein Geheimnis?

Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sie einzuholen, aber er hielt sich zurück, um ihre Beine zu betrachten, sodass sie die Tür als Erste erreichte. Sie fuhr lachend herum und drückte sich mit ihrem Rücken gegen die Tür.

Ohne nachzudenken, streckte er seine Arme aus, um nicht gegen sie zu prallen. So stand er plötzlich vor ihr, seine Hände gegen die Tür gedrückt.

Sie kicherten beide wie Kinder.

Doch dann berührten sich ihre Körper flüchtig. Er starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an, und ihm war, als würde die Zeit stillstehen. Ihm war, als ob eine Art Elektrizität ihre beiden Körper durchfloss. Auch Carly schien diese Energie wahrzunehmen.

Einer Frau so nah zu sein, war keine neue Erfahrung für ihn. Es war zwar eine Weile her, aber nicht so lange, dass er es nicht durchaus genießen konnte, einen warmen, weiblichen Körper mit all seinen Rundungen an sich gedrückt zu spüren.

Brüste pressten sich gegen seinen Oberkörper. Weiche weibliche Hüften drückten sich an ihn. Nicht ein Blatt Papier hätte zwischen sie gepasst. Ja, er fühlte sich von Carly angezogen, und das konnte ihr kaum verborgen bleiben.

Ihre Augen wurden immer größer.

Sie hatte es gemerkt. Ebenso wie er spürte, dass ihre Brustspitzen trotz all ihrer Kleidung deutlich hart wurden und sich aufrichteten.

Es war ein erstaunliches Erlebnis für sie. Sie öffnete ihren Mund, aber sie sagte kein einziges Wort, nur ein leises Stöhnen war zu hören. Er hätte schwören können, dass es ein Seufzer der Erregung war.

Sean war wie fremdgesteuert. Ganz langsam senkte er den Kopf, sodass sich ihre Lippen fast berührten. Es drängte ihn, Carly zu küssen, ja, es war, als brauchte er ihren Kuss ebenso sehr wie seinen nächsten Atemzug. Und da auch sie ihren Kopf hob und ihre Lippen öffnete, schien es ihr wohl ebenso zu ergehen.

Es klingelte wieder.

Ganz langsam, als würde sich sein Körper dagegen wehren, zog er sich von ihr zurück.

Wieder entfuhr ihr ein verführerischer Seufzer. Kaum bei klarem Verstand, öffnete er die Haustür.

Herein platzte Mrs. Trykowski, slowakische Einwanderin, seine direkte Nachbarin und örtliche Nervensäge. Selbstverständlich wartete sie nicht auf eine Einladung, sondern stürmte einfach an ihnen vorbei ins Haus.

Obwohl sie über achtzig Jahre alt und höchstens eins fünfzig groß war, bewegte sie sich beinahe hüpfend und hatte eine Stimme wie ein Fernfahrer. „Ich habe dir einen Obstkuchen gebacken“, verkündete sie mit ihrem harten Akzent, und ihre raue Stimme bewies jedermann, dass sie seit mehr als einem halben Jahrhundert Kettenraucherin war.

Sie brachte Sean öfters Obstkuchen. Das lag weniger daran, dass er ansonsten verhungern könnte, sondern war in der unglaublichen Neugierde der alten Dame begründet.

Wie zum Beweis schaute sie sich sofort nach irgendwelchen interessanten Veränderungen um. Dann entdeckte sie Carly.

„Ah.“ Ein wissendes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie Sean zuzwinkerte.

„Hören Sie damit auf“, warf er ein. „Sofort.“

„Ich weiß nicht, wovon du überhaupt redest“, antwortete sie ganz unschuldig, während sie Carly aufmerksam musterte.

Wissend, was nun folgen würde, stöhnte Sean hilflos auf.

„Eine Zehn“, verkündete die alte Frau triumphierend.

Sie hatte die unangenehme Eigenschaft, seine Verabredungen nach Punkten zu bewerten.

„Mrs. Trykowski, Carly ist keine …“

„Was meint sie mit zehn?“, fragte Carly.

„Nichts“, versicherte er ihr schnell und warf seiner aufdringlichen Nachbarin einen warnenden Blick zu. „Carly Fortune wird für die nächsten zwei Wochen als Melissas Kindermädchen arbeiten. Nur so lange, bis meine Schwester wieder da ist.“

„Wenn du das sagst.“ Mrs. Trykowski liebte es, die Kupplerin zu spielen, obwohl sie bei Sean damit keinen Erfolg gehabt hatte. „Sie ist eine Zehn“, wiederholte sie begeistert. „Das ist die Richtige, Sean. Glaub mir.“

„Die Richtige für was?“, fragte Carly sichtlich entnervt.

Sean konnte verstehen, dass sie irritiert war, denn ihm ging es nicht anders. Natürlich war Carly eine nette, humorvolle Person. Sie hatte etwas an sich, was ihm gefiel. Doch er kannte sie gerade erst ein paar Stunden. Außerdem würde es für ihn nie wieder die Richtige geben. „Carly, darf ich Ihnen Mrs. Trykowski vorstellen? Sie wohnt nebenan und hat wieder mal vergessen, ihre Medikamente zu nehmen.“

Mrs. Trykowski grinste.

Sean drängte sie zur Haustür. „Die werden Sie wieder in die Zwangsjacke stecken, wenn Sie nicht vorsichtiger sind.“

Aus Carlys Blick sprach reines Entsetzen.

Mrs. Trykowski lachte.

Melissa kam in den Flur gelaufen und führte wieder ihren Toilettentanz auf. „Ich muss schon wieder, Onkel Sean!“

Sean blieb nichts übrig, als vor sich hin zu grummeln. Was war nur aus seinem netten, ruhigen Leben geworden?

3. KAPITEL

Melissa ins Bett zu bringen war eine Wissenschaft für sich. Zuerst brauchte sie ein Glas Wasser für die Nacht, dann musste man ihr unzählige Geschichten erzählen und drei Mal mit ihr auf die Toilette gehen. Danach musste sie nachsehen, ob auch wirklich keine Monster im Kleiderschrank waren, und schließlich endete es mit zahlreichen Umarmungen.

Diese Umarmungen waren auch etwas, woran Carlyne sich gewöhnen musste. Ihre Familie hatte ihr nie so liebevoll eine gute Nacht gewünscht. Genau genommen hatten sie sie fast nie umarmt. Melissa kümmerte sich allerdings überhaupt nicht um Carlynes Zurückhaltung, sondern kletterte einfach auf ihren Schoß, schlang ihre Arme um ihren Hals und drückte sie so fest, dass Carlyne fast die Luft wegblieb.

„Noch einmal“, bettelte die Kleine. „Bitte!“

Irgendetwas Klebriges steckte in Carlynes Haar und ihre Kleidung war mit schmierigen Fingerabdrücken übersät. Sie sehnte sich nach einer Dusche, aber Melissa gab keine Ruhe.

„Ich vermisse meine Mommy“, flüsterte sie.

Carlyne wurde es ganz warm ums Herz, und sie strich Melissa zärtlich über den Kopf. „Ich weiß, Schätzchen.“

„Du riechst so gut.“ Die Kleine presste ihren Kopf an Carlys Nacken. „Wie meine Mommy.“

Carlyne wurde die Kehle eng.

„Nacht“, sagte Melissa schließlich und gab ihr einen weiteren klebrigen Kuss auf die Wange.

Aber das störte Carly nicht länger. „Gute Nacht“, flüsterte sie.

Danach war sie so erschöpft, dass sie müde in ihr Zimmer schlurfte.

Es verwunderte sie, dass es anstrengender war, sich um ein kleines Kind zu kümmern, als an Partys und Benefizgalas teilzunehmen. Aber genau das war es. Nun kam ihr der Gedanke, mehrere eigene Kinder zu haben, eher erschreckend vor. Aber es wäre sicher auch spannend.

Seans Gästezimmer war wesentlich kleiner als die Räume, die sie gewohnt war. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, erwartete sie, einen klaustrophobischen Anfall zu bekommen, aber nichts geschah. Das Zimmer war einfach, aber sauber, mit einer gläsernen Schiebetür, von der aus man den Garten hinter dem Haus überblicken konnte. Es war einfach gemütlich.

Normalerweise hielt sie sich die Abende für sich frei. Das hieß, wenn sie keine gesellschaftlichen Verpflichtungen hatte. Sie sehnte sich nach freier Zeit und war immer darauf bedacht, sich welche zu verschaffen. Dann nahm sie ein langes Bad, ging spazieren und las.

Heute Abend war es nicht anders, nur dass ihr Bedürfnis, sich abzusondern, diesmal nicht so stark wie sonst war. Sie hatte es nur eilig, endlich ihre lästige Verkleidung loszuwerden. Doch dann fühlte sie sich wie magisch von der hellen Mondnacht hinter der gläsernen Schiebetür angezogen.

Sie war weit herumgekommen und hatte viel von der Welt gesehen, aber Santa Barbara in Kalifornien war einer der schönsten Orte, an dem sie je gewesen war. Die Natur hier war üppig, und es duftete herrlich. In der Ferne konnte sie das Rauschen der Wellen hören, die im stetigen Rhythmus gegen die Felsen schlugen.

Dann entdeckte sie im Swimmingpool vor der Veranda Sean.

Sie öffnete die Verandatür und trat heraus. Das dichte, nasse Gras brachte sie auf die Idee, ihre Schuhe auszuziehen, um das Gras an ihren nackten Füßen spüren zu können. Ohne weiter darüber nachzudenken, ging sie zum Pool.

Die Nacht war kühl und klar, und die einzigen Geräusche, die man hörte, kamen von Seans unermüdlichen Schwimmbewegungen.

Ganz still stand Carlyne da und beobachtete ihn mit wachsender Faszination, während er eine Bahn nach der anderen schwamm. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf seinen glatten Rücken, seine breiten Schultern und die muskulösen Arme und Beine. Wieso fühlte sie sich nur so zu ihm hingezogen? Sie hatte im Laufe ihres Lebens schon viele fantastische Männer kennengelernt.

Nun, viele war vielleicht etwas übertrieben. Allein schon deshalb, weil die Männer, die sie kannte, sie langweilten, obwohl sie reich, gebildet und sicherlich ein jeder für sich betrachtet eine gute Partie waren.

Sie hatte das Gefühl, dass nichts an Sean eine Frau je langweilen könnte.

Nicht, dass sie es herausfinden wollte. Sie wollte ihrem Sündenregister keine kurze Affäre hinzufügen, so verführerisch es auch sein mochte, denn sie hatte ganz andere Ziele. Sie wollte herausfinden, wer sie eigentlich war und was sie mit ihrem Leben anfangen wollte.

Sean, der nicht ahnte, dass sie ihn beobachtete, schwamm unentwegt im Licht der Sterne weiter. Schließlich wurde er langsamer und schwamm zu einer Stelle, die ganz nah an ihrem Standort war. Sein kräftiger, durchtrainierter Körper glänzte im Mondschein.

Als Sean nun Carlyne entdeckte, schien er überrascht. Er strich sein nasses Haar zurück und hielt sich am Beckenrand fest. Er atmete schwer von der körperlichen Anstrengung. Wasser rann ihm über das Gesicht. Mit der Zunge nahm er einen Wassertropfen von seiner Unterlippe auf.

„Sie schwimmen wie ein Fisch“, sagte Carlyne und fand ihre Bemerkung ziemlich einfallslos. Dabei wünschte sie sich nichts mehr, als dass er endlich aus dem Pool käme und ihr seinen ganzen Körper zeigte.

„Schwimmen ist ein gutes Mittel, um Stress abzubauen.“

„Haben Sie denn so ein stressiges Leben, Sean?“

Sie wusste selbst nicht, wieso sie diese Frage gestellt hatte. Sie wollte ihn nicht näher kennenlernen und wollte keine Freundschaft schließen, denn das würde alles nur noch schwieriger machen. Dann würde sie sich schuldig fühlen, ihm all diese Lügen aufgetischt zu haben.

Sean schien allerdings auch kein Interesse an einem vertiefenden Gespräch zu haben. „Ziemlich.“ Dann wechselte er das Thema. „Sie sehen etwas mitgenommen aus. Kommen Sie doch in den Pool und schauen, ob es Ihnen auch guttut.“

„Sie meinen, jetzt?“

Zu ihrer Überraschung grinste er sie an. „Nein, nächste Woche. Natürlich jetzt.“

„Nein, danke.“

Er schüttelte den Kopf und verspritzte dabei Wasser. Ein Tropfen traf ihre Brille, die schon wieder dabei war, sich selbstständig zu machen, aber Carlyne traute sich nicht, sie abzunehmen, um sie zu putzen. Sie wollte sich durch nichts verraten.

„Kommen Sie rein.“

„Ins Wasser?“

Er lachte erneut, und im nächsten Augenblick zuckte sein starker Arm hervor, und seine nasse Hand umfasste ihren Knöchel.

Spielerisch zog er an ihr.

Plötzlich wich ihre anfängliche Belustigung nackter Angst. Sie durfte unter keinen Umständen nass werden, denn dabei würde sie ihre Perücke, Brille und Kontaktlinsen verlieren. Am Ende würde auch noch ihre Kleidung wegschwimmen, und Sean würde erkennen, wer sie in Wahrheit war. Sie müsste sich zu erkennen geben, und der Tanz würde wieder losgehen.

Sie müsste wieder nach Hause zurückkehren. Und obwohl sie an diesem Tag so viel wie noch nie in ihrem Leben zuvor gearbeitet hatte, war sie glücklich. Nein, noch war sie nicht bereit, wieder in ihr bisheriges Leben zurückzukehren.

„Kommen Sie schon, Carly.“ Mit seinen Fingern rieb er über ihren Knöchel.

Sie hatte sich nie vorstellen können, dass diese Körperstelle eine erogene Zone darstellte, aber ihre Haut begann dort, wo seine Finger sie streiften, heiß zu prickeln. Carlyne ertappte sich bei dem Wunsch, Sean möge sie am ganzen Körper so berühren.

„Na, los“, bemühte er sich, sie zu überreden. „Schwimmen Sie dem Stress einfach davon.“ Er zog sie wieder am Knöchel.

„Nein!“, entgegnete sie schärfer als beabsichtigt, schob ihre wieder heruntergleitende Brille zurück und fasste sich mit der anderen Hand an den Kopf, um den Sitz der Perücke zu überprüfen.

Sean ließ sie noch immer nicht los. Sein Blick wurde plötzlich ernster. „Sie können nicht schwimmen?“

Fast hätte Carlyne aufgelacht, hatte er ihr doch damit selbst eine Möglichkeit gegeben, sich aus dieser Situation herauszuwinden. „Nein.“ Es überraschte sie, wie leicht ihr das Lügen schon fiel. Zu leicht.

„Das ist nicht ungefährlich.“ Erst jetzt gab er ihren Knöchel frei.

Carlyne erschauerte, aber nicht wegen der kühlen Abendluft.

„Haben Ihre Eltern es Ihnen denn nie beigebracht?“, wollte Sean wissen.

„Nein.“

„Wo, sagten Sie, sind Sie aufgewachsen?“

„Das sagte ich gar nicht.“

Er sah sie eine Weile unbewegt an. „Ich könnte es Ihnen beibringen“, meinte er schließlich.

Sie stellte sich vor, wie sie nur mit einem knappen Bikini mit ihm im Wasser wäre und wie er seine großen Hände über ihren Körper gleiten ließe. „Das ist keine gute Idee“, antwortete sie, doch das Herz schlug ihr bis zum Hals.

„Ich bin ein guter Lehrer.“

Mit dieser heiser, verführerischen Stimme konnte er ihr bestimmt einiges beibringen. Alles. „Nein, lieber nicht.“

Sean drängte sie nicht weiter, sondern nickte nur. Dann schlug er leicht auf die Umrandung des Schwimmbeckens. „Setzen Sie sich doch, und lassen Sie die Beine ins Wasser baumeln. Vielleicht gewöhnen Sie sich so an das Wasser.“

Er dachte, dass sie sich fürchtete. Dabei hatte er keine Ahnung, dass Prinzessin Carlyne Fortier sich vor nichts fürchtete. Außer vielleicht vor großen blauen Augen, einer einschmeichelnden Stimme und Händen, die den Himmel auf Erden versprachen. „Ich denke, ich sollte …“

„Ach, kommen Sie schon. Das Becken beißt nicht.“ Er grinste jungenhaft. „Ich übrigens auch nicht. Außer, man bittet mich darum.“

„Ich bitte Sie nicht darum, nur dass das klar ist.“

„Wollen Sie wirklich nicht einmal Ihre Zehen ein wenig eintauchen?“

„Nein, ich …“, setzte Carlyne an.

Doch er hatte schon ihre Schnürsenkel geöffnet und zerrte an ihren Schuhen. Wenn sie nicht umfallen wollte, musste sie sich dort an den Beckenrand setzen. Das war kein bequemer Platz, und sie saß nicht gerade in eleganter Haltung da. Was mochte Sean, von seiner Position im Pool aus, wohl von ihrer Unterwäsche gesehen haben?

Sie zog ihren Rock enger um sich. Sean streifte ihr erst die Schuhe, dann die Socken ab.

Dann waren ihre Füße auch schon in dem angenehm warmen Wasser des Pools, mehr noch, sie ruhten auf Seans nassen Schultern, sodass ihr plötzlich das Atmen schwerfiel.

Nein, er hat bestimmt nichts gesehen, beruhigte sie sich. Seine ganze Aufmerksamkeit schien ihren Füßen zu gehören, doch dann hob er den Kopf und sah sie an.

Carlyne hatte niemals zuvor einen Blick gesehen, in dem so viel Glut lag. Jedenfalls war ihr niemals ein solcher Blick zugeworfen worden, und sie empfand es als durchaus erregend. Einen Augenblick lang traute sie sich nicht, zu atmen oder zu blinzeln. Dann brachte sie ein zaghaftes Lächeln zustande. „Das ist nett.“

Er ging nicht darauf ein. Es hatte sich eine starke sexuelle Spannung aufgebaut. Obwohl sie sich zusammennahm, wünschte Carlyne sich doch, etwas anderes als einen langweiligen, praktischen weißen Slip zu tragen. Etwas mit Leopardenmuster oder so. Etwas Ungewöhnliches. Etwas, das so sexy wie Sean war.

„Morgen Abend sollten Sie besser Ihren Badeanzug anhaben. Sie können den Pool jederzeit benutzen, und ich bringe Ihnen das Schwimmen bei.“

Das war natürlich nicht möglich. Dennoch empfand sie bei seinem großzügigen und ehrlichen Angebot wieder dieses unangenehme Schuldgefühl.

So spannend und aufregend ihr die Aussicht, sich mit Sean im Pool zu tummeln, auch erscheinen mochte, es kam nicht infrage. Langsam stand sie auf, wobei sie sich bemühte, so graziös wie möglich auszusehen, was ihr aber nicht besonders gut gelang. „Ich muss jetzt gehen.“

Sean schwang sich aus dem Becken, wodurch sie seinen muskulösen Körper besser sehen konnte. Er trug eine blaue Badehose, die wie eine zweite Haut an ihm saß. Bei diesem Anblick kam Carlyne auf merkwürdige Ideen. „Es ist nicht einmal Mitternacht“, neckte er sie erneut und wunderte sich über ihren verstörten Gesichtsausdruck. „Weglaufen hilft Ihnen auch nicht. Ich weiß, wo Sie wohnen.“

Nein, in Wirklichkeit wusste er das nicht. Wie hätte er auch? Sie wollte nur noch in ihr Zimmer und die Tür verschließen. Sie wollte endlich die Perücke loswerden, genauso wie die Brille, die Kontaktlinsen und die restliche Verkleidung. Sie wollte in den Spiegel sehen, um sich daran erinnern zu können, wer sie wirklich war: Prinzessin Carlyne Fortier, die Urlaub von ihrem Leben nahm. Die auf der Suche nach sich selbst war.

„Tut mir leid“, flüsterte sie, nahm ihre Schuhe, drehte sich um und lief weg.

Im Gegensatz zu Aschenputtel ließ sie nichts zurück.

Als Sean im Morgengrauen aufwachte, musste er feststellen, dass Melissa sich wie ein kleiner Hund am Fußende seines Bettes quer über seinen Beinen zusammengerollt hatte und fest schlief.

Seine Beine waren auch eingeschlafen.

Es war wie ein besonders schlimmer Albtraum. Er konnte seiner Nichte einfach nicht entkommen. Eine Moment lang lag er ganz still da und dachte nach. Jetzt, da er sich von Carlys Fähigkeiten überzeugt hatte und auch Melissa sie akzeptierte, wollte er ins Büro gehen. Aber er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Melissa herumschreien würde, wenn sie aufwachte und er nicht da war. Daran änderte auch Carlys Anwesenheit nichts.

Also machte er beim Duschen und Ankleiden besonders viel Lärm, aber als er schließlich fertig war, schlief Melissa noch immer tief und fest wie ein Murmeltier.

Er stieß einen lauten Seufzer aus, hob das Kind aus dem Bett und ging mit ihr nach unten. An Carlys Tür hielt er an und klopfte.

Melissa öffnete schlaftrunken die Augen und schlang ihre Arme um seinen Hals. „Zurück ins Bett“, murrte sie.

„Ich gehe jetzt arbeiten“, erklärte er und streichelte unbeholfen ihren Rücken. „Ich bringe dich zu Carly. Hallo, Carly!“, rief er durch die geschlossene Tür.

„Oh. Eine Sekunde.“ Ihre Stimme klang merkwürdig gehetzt. „Ich komme.“

Endlich öffnete sie die Tür. Sie war wieder stark geschminkt, die Brille saß schief auf der Nase, und ihr Haar sah aus, als hätten Vögel darin genistet.

Sie wirkte gehetzt, entnervt und gleichzeitig seltsam anziehend. Aber es war offensichtlich, dass sie sein Erscheinen nicht gerade erregte.

„Ich muss ins Büro“, erklärte Sean. „Melissa ist gerade aufgewacht, also …“

Wortlos nahm sie ihm das Mädchen ab.

„Heute Abend komme ich wieder …“

Bevor er weiterreden konnte, hatte sie die Tür schon wieder geschlossen.

„Na gut“, sagte er zu dem leeren Flur. „Bis heute Abend.“ Dennoch fühlte er sich recht erleichtert, verließ das Haus und ging zu seinem Wagen. Zum ersten Mal, seit seine Schwester Melissa bei ihm abgesetzt hatte, fuhr er wieder in sein Büro.

Ein wenig fühlte er sich schuldig, so über Melissa zu denken, als ob sie lediglich ein Gepäckstück wäre, aber seine Arbeit war nun einmal sein Leben. Es war ein schönes Gefühl, dahin zurückkehren zu können.

„Hallo, Nikki, ich bin wieder da!“, verkündete er laut, als er das Büro betrat. Kein kleiner Kobold weit und breit! Was für ein erhebendes Gefühl.

Seine Sekretärin sah ihn missmutig an. Ein sicheres Zeichen, dass alles wieder wie immer war.

Gegen Mittag hatte er die Stapel auf seinem Schreibtisch durchgearbeitet. Er nahm sich vor, Carlys Gehalt zu erhöhen, denn sie hatte nichts weniger getan, als ihm das Leben zu retten. Endlich konnte er sich ungestört mit seinen Kunden treffen, ohne sich andauernd entschuldigen zu müssen, keine Zeit zu haben, da er eine Vierjährige auf die Toilette bringen musste. Er würde Carly nicht nur mehr bezahlen, er würde ihr auch einen Kuss geben.

Dieser Gedanke beschäftigte ihn immer mehr, als er nicht nur die Baupläne überarbeiten, sondern auch das Geschäft mit Sam abschließen konnte.

Ja, Carly hatte sich wirklich einen Kuss als Dankeschön verdient.

In aller Unschuld natürlich und nicht, weil er ihre Unterwäsche gesehen hatte.

Es war natürlich nur ein zufälliger Blick gewesen, aber es hatte ihm dennoch gefallen. Von seinem Platz im Pool aus hatte er einen Blick auf ihren weißen Slip – oder war es ein Bikiniunterteil gewesen? – erhaschen können. Natürlich war es zu dunkel gewesen, um alle Einzelheiten zu erkennen, aber das, was er gesehen hatte, beflügelte seine Fantasie. Und seine Fantasie hatte durchaus Auswirkungen auf seinen Körper.

Wieso versteckte Carly sich hinter all dem Make-up und dieser schrecklichen Brille? Wozu diese merkwürdige Kleidung? Er hätte es zu gern gewusst.

Nein, besser nicht. Das würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass er sich gefühlsmäßig mit ihr einlassen müsste, und das hatte er nicht vor. Es ging ihn einfach nichts an, was sein Kindermädchen tat oder dachte, solange sie sich anständig um Melissa kümmerte und ihm so den Rücken freihielt.

Mit frischem Mut machte er sich wieder an seine Arbeit und war völlig darin versunken, als er ein leises Klopfen an der Tür vernahm.

Noch ein Klopfen.

Noch eins.

Es wollte nicht aufhören.

Weder Nikki noch sonst jemand von seinen Angestellten würde das bei ihm wagen. Sean stöhnte auf. Er kannte nur eine Person – eine recht kleine, die sich so verhalten würde.

Dann hörte er Carlys Stimme. „Hör auf. Er hat dich bestimmt schon gehört.“

„Ist ja gut, ich hab dich ja gehört“, sagte er, als er die Tür öffnete. Auf der einen Seite war er über diese Störung verwundert und verärgert, auf der anderen Seite fühlte er sich aber unerklärlicherweise freudig erregt.

Carly trug wie immer die riesige Brille sowie ihre sackartige, konturlose Kleidung. „Hi.“

Ein weißer Slip, dachte Sean unwillkürlich. Er musste sich gewaltig zusammenreißen, um einen kühlen Kopf zu behalten.

Sie hielt Melissa an der Hand, aber diese quengelte so lange, bis sie sie gehen ließ.

„Onkel Sean!“ Über das ganze Gesicht strahlend, rannte sie auf ihn zu und sprang ihm entgegen, sodass er sie auffangen musste. „Ich habe dich so vermisst!“

Klaglos ließ er einen feuchten Kuss über sich ergehen und sah dabei zu Carly. Obwohl er selbst mehr als genug zu arbeiten hatte, fiel ihm sofort der Gesichtsausdruck seines Kindermädchens auf. Sie wirkte total überfordert.

„Komm mit uns nach Hause“, forderte Melissa. Mit ihren kleinen Händen nahm sie sein Gesicht und zwang ihn, seinen Blick von Carly zu nehmen. „Ich will, dass du bei uns bleibst.“

„Das geht nicht. Ich muss noch arbeiten.“ Arbeit war gut. Arbeit war schön. Arbeit war alles, was er wollte.

Carly warf ihm ein mitleidiges Lächeln zu. Nein, dass war nicht mehr die energische, schlagfertige Frau von gestern. Ihr Haar war zerzaust, ihre Kleidung zerknittert. Anscheinend hatte Melissa sie mit der Hälfte ihres Frühstücks beschmiert. In ihren Augen spiegelte sich schwer zu verhehlende Panik wider.

„Alles in Ordnung?“, fragte Sean.

„Ja. Tut mir leid. Es war ein langer Tag und …“

„Wir haben den Toast verbrannt“, berichtete Melissa stolz und machte sich über die Schokolade her, die auf seinem Schreibtisch lag.

„Das Frühstück lief etwas unglücklich“, murmelte Carly.

„Das Mittagessen auch“, fügte Melissa hinzu.

„Es ist wenigstens nichts angebrannt“, ergänzte Carly mit einem schiefen Lächeln. „Nur der Kuchen ist zusammengefallen.“

„Ja.“ Das kleine Mädchen war hochzufrieden mit sich und der Welt. „Aber keine Angst, wir haben sauber gemacht. Und wir haben mit Knetgummi kochen gespielt. Das hat den Feueralarm ausgelöst.“ Melissa lächelte Sean mit schokoladenverschmiertem Mund an. „Mrs. T. hat die Feuerwehr angerufen, und die sind mit zwei Feuerwehrautos gekommen! Dann sind wir hergekommen.“ Sie schmierte Schokolade auf seine Unterlagen. „Carly hat gesagt, dass wir das dürfen.“

„Da habt ihr euch genau den richtigen Tag für ausgesucht“, bemerkte er niedergeschlagen zu Carly, die sich verlegen auf die Unterlippe biss.

„Ja, und es wird bestimmt ein recht langer.“

Sean wollte gerade etwas dazu bemerken, als er sah, dass Melissa auf den Schreibtisch kletterte. „Lass bloß deine Schokoladenfinger von meinen Bauplänen, okay?“

„Okay!“ Aber dann beugte sie sich vor, um noch weitere Schokoladenstücke zu ergattern, und schon waren die nächsten Papiere beschmutzt.

Sean knirschte mit den Zähnen und rollte vorsichtshalber die Pläne zusammen.

„Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, dass wir hergekommen sind“, bemerkte Carly, als Nikki gerade Getränke anbot. „Aber …“

Carly war völlig erschöpft, dass war eindeutig. Da Sean diese Art der Erschöpfung nur zu gut kannte, empfand er tiefes Mitleid für sie. Er wusste, was Melissa mit Menschen anstellen konnte. Das hatte er lange genug mitgemacht.

Andererseits erstaunte es ihn schon, dass sich ein erfahrenes Kindermädchen wie sie so schnell aus der Fassung bringen ließ. Trotz all ihrer Zeugnisse und Empfehlungsschreiben schien sie merkwürdig unerfahren.

Aber sie hatte diese faszinierenden blauen Augen, deren Wirkung von der Brille noch verstärkt wurden. „Das ist schon okay“, hörte er sich zu seiner Überraschung selbst sagen. „Ich freue mich über Besuch.“

Nikki, die gerade eine Flasche Limonade öffnete, hielt wie vom Schlag gerührt inne. „Seit wann denn das?“

„Ich kann gut eine Pause gebrauchen.“ Er blickte seine neugierige Sekretärin vielsagend an, um ihr begreiflich zu machen, dass er lediglich versuchte, Carlys Gefühle nicht zu verletzen.

„Sie hassen Pausen.“ Nikki ließ nicht locker.

Sean warf ihr einen bösen Blick zu, und sie verschwand, nicht ohne vorher die Augen zu verdrehen.

„Sean? Sind Sie sicher?“, fragte Carly.

Nein, er war sich überhaupt nicht sicher, aber sie wirkte so verzweifelt. Plötzlich war da wieder dieser Hauch von Zweifel, der sich einfach nicht legen wollte.

Wer war sie wirklich?

Es gefiel ihm nicht, dass sie vielleicht nicht ganz ehrlich zu ihm gewesen war. Mit einem Mal war die ganze Vergangenheit wieder da. Seine Exverlobte war ebenfalls nicht ehrlich zu ihm gewesen, und daran wäre er fast zerbrochen. Aber was sollte er machen, nun, da er an Melissa denken musste? Immerhin hatte er Carlys Unterlagen gewissenhaft geprüft.

Wahrscheinlich war er nur so durcheinander, weil er sich von ihr angezogen fühlte.

„Oh, oh“, hörte er Melissa in der Ecke murmeln. Sie drückte wahllos die Tasten des Faxgerätes, sodass plötzlich das ganze Papier ausgeworfen wurde.

Als Carly und er zu ihr kamen, wich Melissa zurück. Sie steckte Seans liegen gelassenes Sandwich in das Diskettenlaufwerk des Computers.

Aus dem Computer stieg Rauch.

Der Feuermelder ging los.

„Nicht noch mal“, schrie Melissa auf und hielt sich die Ohren zu.

„Verdammt!“, brüllte Sean, ohne nachzudenken.

Nikki kam in den Raum gestürzt, doch als sie die Katastrophe erblickte, musste sie sich zwingen, nicht laut loszulachen.

„Ich kann das reparieren“, versicherte Carly eilig. Sie fächelte den Rauch vor dem Feuermelder weg, bis der Alarm aufhörte. Dann wandte sie sich dem Diskettenlaufwerk zu, das lustige Geräusche von sich gab.

Melissas Unterlippe zitterte vor Aufregung. Dann hielt sie es nicht mehr aus und brach in ein herzzerreißendes Weinen aus.

Sean gab sich derweil alle Mühe, ruhig zu bleiben. Aber der Drang, seine Schwester, die ihn erst in diese Situation gebracht hatte, zu erwürgen, war gewaltig. Melissa gehörte zu ihrer Mutter, nicht zu ihm.

Und da war diese Frau, die sich gerade am Computer zu schaffen machte, wobei ihr die Brille schon wieder von der Nase zu gleiten drohte, und der ihr Sweater an der einen Seite von der Schulter rutschte. Welches Kindermädchen war in der Lage, Computer zu reparieren? Und wieso überkam ihn plötzlich das sehr männliche Verlangen, Carlys entblößte Schulter zu küssen?

Er atmete ein paar Mal tief durch und schaute dann nach Melissa, die noch immer weinte. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschreien.“

Sie blinzelte ihn aus tränenblinden Augen an. Plötzlich wurde sie von einem Schluckauf geschüttelt.

„Es tut mir wirklich leid.“

Erst betrachtete sie ihn eingehend, dann streckte sie ihre Arme aus. „Drücken.“

„Melissa …“ Aber da kletterte sie auch schon an ihm hoch. So in seinen Armen kam sie ihm auf einmal so klein und verletzlich vor. Richtig süß.

Und er hatte sie erschreckt.

„Ich hab dich lieb, Onkel Sean“, flüsterte sie und legte ihren Kopf an seine Schulter.

Sean hatte plötzlich einen Kloß im Hals. „Ich hab dich auch lieb.“ Den Tag musste er sich rot anstreichen.

In diesem Augenblick hob Melissa den Kopf, hielt ihren Bauch und wurde kreidebleich. „Oh, oh.“

„Was hast du?“, fragte er alarmiert.

„Mir ist schlecht.“

„Oh, Kleines.“ Carly blickte zu ihnen herüber. „Wie viel von der Schokolade hast du gegessen?“

„Alles“, stieß Melissa hervor. Und dann übergab sie sich an Seans Schulter.

4. KAPITEL

An diesem Abend verschloss Carlyne ihre Zimmertür, streifte eben noch die Schuhe ab und sank stöhnend aufs Bett.

Sie musste sich noch der schweren Perücke und der Kontaktlinsen entledigen, bevor sie einschlief, aber sie konnte sich kaum bewegen.

Trotz ihrer heutigen Fehler und trotz ihrer Erschöpfung fühlte sie sich glücklich. Diese Arbeit war anstrengender als alles, was sie jemals vorher getan hatte, aber es versetzte sie in Hochstimmung, sich endlich einmal verausgaben zu können. Etwas zu wagen.

Sie wunderte sich über sich selbst, dass sie unbedingt diese Arbeit machen wollte, obwohl sie es gar nicht nötig hatte. Dann griff sie nach ihrer Handtasche und suchte ihr Handy. Sie hatte es ausgeschaltet, nachdem Sean sie eingestellt hatte. Nun stellte sie es wieder an. Es war schon spät, aber daran war sie selbst schuld. Sie hatte Melissa am Morgen zu viel Freiheit mit der Knetmasse gelassen und dann auch nicht darauf geachtet, als sie tonnenweise Schokolade in sich hineingestopft hatte. Kein Wunder, dass dem armen Kind schlecht geworden war.

Erst in Seans Büro und später auf dem Heimweg im Wagen. Dann noch einmal im Wohnzimmer.

Sean hatte ausgesprochen gelassen reagiert. Er hatte nicht herumgeschrien, obwohl ihm anzusehen war, dass ihm danach zumute war. Stattdessen hatte er Melissa vorsichtig hochgehoben, allerdings mit einem gewissen Sicherheitsabstand, um zu sehen, ob es ihr wieder besser ging.

Melissa hatte ihn nur angeschaut und zugehört. Dann hatte sie sich beruhigt. Schließlich wollte sie ihn wieder umarmen, aber das konnte er auf freundliche Art verhindern.

Als sie die beiden so beobachtete, zog sich Carlynes Magen zusammen. Sie wussten offenbar nicht genau, wie ihr Verhältnis zueinander war, besonders Sean schien Schwierigkeiten zu haben. Aber er ließ seine Nichte nicht im Stich.

Autor

Jill Shalvis
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