Julia Best of Band 241

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VERSPRECHEN UM MITTERNACHT
Vor sieben Jahren hat Jax sie verlassen und ihr das Herz gebrochen. Nun will er Kelly zurückerobern. Dafür muss er ihr aber zuerst gestehen, warum er damals so plötzlich von der Bildfläche verschwand …

SAG JA ZUM LEBEN
Für Alan „Frisco“ Francisco bricht eine Welt zusammen, als er von einem gefährlichen Einsatz dauerhafte Blessuren davonträgt. Sein gefährlicher Job war sein Leben – und das ist jetzt vorbei, glaubt Frisco. Bis seine Nachbarin Mia ihn mit einem heißen Kuss überzeugt: Nichts ist vorbei – es beginnt erst!

DUNKLE NÄCHTE VOLLER LUST
Mitten im Einsatz trifft Undercover-Cop Felipe Salazar auf die schöne Carrie, die er letzten Sommer zu ihrem eigenen Schutz eingesperrt hat. Darüber ist sie immer noch wütend und lässt, ohne es zu wissen, seine Tarnung auffliegen. Als ihnen die Kugeln um die Ohren sausen, hat Felipe nur einen Gedanken: Er muss Carrie retten, denn nur seinetwegen ist sie jetzt in Gefahr …


  • Erscheinungstag 02.07.2021
  • Bandnummer 241
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502856
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Suzanne Brockmann

JULIA BEST OF BAND 241

1. KAPITEL

Kelly O’Brian zerrte ihre schwere Leinentasche mit Büchern durch die Hintertür der Redaktion der Studentenzeitung. Es war ein heißer Frühlingstag, und Schweiß rann ihr über den Rücken.

Sie hievte die Tasche auf den Schreibtisch und strich sich die feuchten Strähnen ihres langen, dunklen Haares aus der Stirn. Seufzend zog sie sich die Jacke aus und öffnete die oberen Knöpfe ihrer ärmellosen Bluse.

„Hi.“

Kelly blickte auf und sah Marcy Reynolds, die Fotografin der Studentenzeitung, mit einem aufgeregten Funkeln in den braunen Augen eintreten.

„Da wartet ein Typ im Vorzimmer auf dich“, sagte Marcy und reichte Kelly mehrere pinkfarbene Zettel mit Nachrichten. „Er ist nicht nur irgendein Typ. Er ist mit ziemlicher Sicherheit der prachtvollste Mann, der diese ehrenwerten Gemäuer je betreten hat.“

Kelly grinste. „Ach, komm schon!“

„Ich meine es ernst. Er ist ein Traum. Sehr groß, blond, grüne Augen. Er sieht aus wie Mel Gibsons jüngerer Bruder. Er ist eine wandelnde Jeansreklame. Seine Beine sind ellenlang, und sein Po …“

Kelly lachte. „Das klingt zu gut, um wahr zu sein.“

„Er sieht aus wie ein Held aus den Romanen, die du schreibst.“ Marcy strich sich durch das kurze schwarze Haar und beklagte sich: „Er sitzt jetzt schon seit fünfundvierzig Minuten da und stört meine Konzentration.“

„Ein Student?“

„Dazu ist er ein bisschen zu alt. Ich schätze ihn auf etwa dreißig. Er hat diese neckischen Lachfältchen um die Augen. Sieh ihn dir an.“

„Vielleicht ein Dozent. Hat er gesagt, was er will?“

„Dich will er. Ich habe ihn gewarnt, dass es Stunden dauern könnte, bis du zurückkommst, aber das hat ihn nicht abgeschreckt. Er hat gesagt, dass er seit sieben Jahren wartet und ihn ein paar Stunden mehr nicht umbringen. Hast du diesen Mann etwa sieben Jahre lang sitzen lassen?“

„Vor sieben Jahren war ich erst sechzehn.“ Kelly ging zu der Glaswand, die das Vorzimmer vom hinteren Büro trennte. Die Jalousien waren herabgelassen, und sie hob eine der Aluminiumlamellen und spähte hinaus.

Ihr Herz setzte aus.

Tyrone Jackson Winchester der Zweite.

Das konnte nicht sein, und doch war es so.

Er war die einzige Person im Vorzimmer, und er saß lässig zurückgelehnt neben der Tür, so als befände er sich in seinem eigenen Wohnzimmer. Er trug ein blaues Polohemd. Beide Knöpfe waren geöffnet und enthüllten seinen gebräunten Hals. Eine verblichene Jeans umschmiegte seine muskulösen Schenkel. An den Füßen trug er Mokassins ohne Socken.

Er las die letzte Ausgabe der Studentenzeitung, und seine Augen waren von langen, dunklen Wimpern verborgen. Sie brauchte diese Augen nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie eine bemerkenswerte Mixtur an Farben aufwiesen. Ein silbergrauer Ring umgab die Pupille, und die Iris war von einem leuchtenden Grün, durchzogen von Meerblau. Und wie das Meer änderten seine Augen die Farbe. Sie funkelten grau wie Gewitterwolken oder dunkelblau wie der Abendhimmel oder geheimnisvoll grün wie der Ozean.

Kelly musterte ihn genauer, suchte nach Anzeichen von Alter, von Veränderung.

Er trug das goldblonde Haar länger, als sie es je gesehen hatte. Voll und wellig fiel es mehrere Zentimeter über den Kragen hinab. Sein Gesicht wies ausgeprägtere Fältchen auf, aber er sah besser aus denn je.

Er hatte immer sehr gut ausgesehen, schon bei ihrer ersten Begegnung, obwohl er damals an einem Kater gelitten hatte. Sie erinnerte sich so deutlich an jenen Morgen, als wären seitdem wenige Tage und nicht elf Jahre vergangen.

Auf Zehenspitzen hatte Kelly sich in das abgedunkelte Gästezimmer geschlichen, in dem der geheimnisvolle Kommilitone und Mitbewohner ihres Bruders Kevin schlief. Er lag ausgestreckt auf dem Bett, die langen Beine aufgedeckt, einen Arm auf der nackten Brust.

Er hieß T. Jackson Winchester der Zweite, und die Länge des Namens beeindruckte Kelly ebenso wie der rote Triumph Spitfire, mit dem er eingetroffen war.

Während sie sich erneut fragte, wofür das T. stehen mochte, schlich sie sich neugierig näher an das Bett und musterte ihn eingehend.

Er hatte furchtbar viele Muskeln. Kevin war achtzehn und hatte auch viele Muskeln, aber das hatte Kelly nie interessiert. Er war eben nur ihr Bruder, manchmal nervtötend, manchmal gemein, aber meistens witzig.

Doch dieser Typ war aufregend. Sie musterte sein schönes Gesicht und schluckte schwer. Er war einfach eine Wucht. Im Fernsehen oder Kino hatte sie so tolle Typen gesehen, aber noch nie von Angesicht zu Angesicht.

Er hatte eine lange, gerade Nase und ein markantes Kinn. Seine Haut war glatt und gebräunt. Seine Lippen waren weder zu schmal noch zu breit und selbst im Schlaf nach oben geschwungen, so als wäre ein Lächeln seine natürliche Miene.

Unwillkürlich fragte sie sich, welche Farbe seine Augen haben mochten – und seine Unterhose. Hastig schlug sie sich eine Hand vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken, und wich zurück.

Sie war in dieses Zimmer gekommen, um ihre Steinsammlung zu holen. Leise ging sie zum Schrank und öffnete die Tür.

Oje! Ihre Mutter hatte den Rucksack auf das oberste Regal gelegt. Kelly war groß für ihre zwölf Jahre, doch so weit reichte sie nicht hinauf.

Sie schlich sich zu dem einzigen Stuhl im Zimmer, der an der anderen Wand unter dem Fenster stand. T. Jackson Winchester der Zweite hatte Jeans und Hemd über die Lehne gehängt, als er ins Bett gegangen – oder besser gesagt getorkelt – war. Er und Kevin hatten am vergangenen Abend irgendeine wilde Party besucht.

Mit gerümpfter Nase warf Kelly die Sachen, die nach kaltem Zigarettenrauch und Bier rochen, auf den Fußboden, und trug den schweren Stuhl vorsichtig zum Schrank. Doch sie übersah die Basketballschuhe, die im Weg lagen, stolperte und ging mit einem dumpfen Aufschlag und einem Aufschrei zu Boden.

Bevor sie sich aufrappeln konnte, ragte T. Jackson Winchester der Zweite vor ihr auf und fragte besorgt: „Bist du okay?“

Rot. Er trug rote Boxershorts. Als Kelly zu ihm aufblickte, fragte sie sich, ob es Zufall war oder ob er seine Unterwäsche immer der Farbe des Autos anglich, das er gerade fuhr.

„Hast du dir wehgetan?“, hakte er nach, während er ihr eine große, starke Hand reichte und ihr auf die Füße half.

Hastig ließ sie seine Hand wieder los. „Ich werde es überleben“, murmelte sie und beobachtete, wie er ein Glas Wasser vom Nachttisch nahm und in einem Zug austrank. „Igitt! Ist das nicht warm?“

„Es ist nass, und das allein ist wichtig.“ Er strich sich über das Gesicht und blickte sehnsüchtig zum Bett. „Wie spät ist es?“

„Kurz vor neun. Wie groß sind Sie eigentlich genau?“

Er sank auf das Bett und blickte sie belustigt an. „Genau? Einssechsundneunzigeinhalb.“

„Das ist aber ziemlich groß“, murmelte sie beeindruckt. „Ich bin übrigens Kelly O’Brian.“

T. Jackson Winchester der Zweite reichte ihr die Hand. „Es freut mich, dich kennenzulernen, Kelly O’Brian. Ich bin Jax, Kevins Zimmergenosse.“

Sie schüttelte seine Hand. „T. Jackson Winchester der Zweite. Ich weiß.“ Seine Augen waren grün und momentan rot geädert.

„Ich sehe schlimm aus, oder?“

Kelly nickte. „Sie sehen verdammt schlimm aus.“

Er lachte. „Du kannst mich ruhig duzen.“

„Okay. Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe: Ich wollte nur meinen Rucksack aus dem Schrank holen.“

Er blickte sich in dem unpersönlich eingerichteten Raum um. „Das ist doch nicht dein Zimmer, oder?“

„Nein. Ich habe nur ein paar Sachen im Schrank, weil meiner voll ist. Wofür steht das T?“

„Das was?“

„In deinem Namen. Und wieso nennst du dich Jacks? Das ist doch die Mehrzahl von Jack, oder? Gibt es etwa zwei von deiner Sorte?“

Er lachte laut und hielt sich dann den Kopf, der zu schmerzen schien. „Nein, es gibt nur einen. Es schreibt sich J-A-X. Das ist ein Spitzname.“

„Und das T?“

Er verzog das Gesicht. „Tyrone.“

„Oh.“

„Genau deshalb benutze ich nur die Initiale.“

„Tyrone“, sagte sie gedehnt. „Na ja, so schlimm ist das auch nicht. Aber ‚Jax‘ finde ich ziemlich komisch. Warum nennst du dich nicht einfach T.J.?“

„Schon vergeben. Mein Vater ist T. J.“

„Der Erste.“

„Richtig.“

„Bist du dann nicht eigentlich der Junior? Ich meine, ‚der Zweite‘ klingt ganz schön versnobt.“

Jax grinste und ging zum Schrank. „Wenn du mich fragst, ist an der Familie Winchester alles ziemlich versnobt.“

„Ich nenne dich einfach T.“, entschied sie. „Das gefällt mir besser als Jax.“

Er drehte sich zu ihr um. „Hör mal, wenn ich dir den Rucksack runterhole, lässt du mich dann weiterschlafen?“

Sie grinste. „Wenn du mir versprichst, mich nachher zu einer Spritztour in deinem Spitfire mitzunehmen.“

Er musterte sie von ihren jungenhaft kurzen Haaren über den Rollkragenpullover mit den zu kurzen Ärmeln und der zerrissenen Jeans bis hin zu den abgewetzten Cowboystiefeln. Er starrte sie so lange an, dass sie verunsichert von einem Fuß auf den anderen trat.

Seine Miene wurde ernst, und er blickte missbilligend an sich selbst hinab, so als würde ihm gerade erst bewusst, dass er halb nackt war. „Ich sollte wohl nicht in meiner Unterwäsche hier stehen und mit dir reden.“

„Ich habe Kevin schon ganz oft in Unterwäsche gesehen. Da ist nichts dabei.“

„Er ist ja auch dein Bruder. Ich bin es nicht.“ Er grinste. „Irgendwie ahne ich, dass es deinem Vater nicht gefallen würde, und ich möchte nicht zu einer Hochzeit gezwungen werden, so hübsch du auch bist.“

Kelly errötete. „Blödmann“, murrte sie. „Ich weiß genau, wie ich aussehe.“ Sie war eine dürre, jungenhafte Bohnenstange. Mit sehr viel Fantasie hätte sie ihre Augen als hübsch bezeichnen können, aber auch nur die Augen.

Jax deutete in den Schrank. „Ist das da der Rucksack, den du brauchst?“

Sie nickte.

Er schwang den Rucksack herab, der schwerer als erwartet war und ihn taumeln ließ. „Was hast du denn da drin? Steine?“

Sie nickte. „Das ist meine Sammlung.“

„Du beschäftigst dich mit Geologie?“, hakte er überrascht nach. „Zeigst du mir nachher deine Sammlung?“

„Ja.“ Sie wandte sich zur Tür. Mit einer Hand auf der Klinke drehte sie sich noch einmal um. „T. Jackson Winchester der Zweite, du bist kein Snob. Ich mag dich. Mein Bruder hat Glück, dass er dich als Mitbewohner gekriegt hat.“

„Ich mag dich auch, Kelly. Und ich habe Glück, dass ich einen Mitbewohner mit einer Schwester wie dir gekriegt habe.“

Nun ließ Kelly die Lamelle der Jalousie los und stellte fest, dass sie die Zettel in ihrer Hand zerknüllt hatte.

„He, Erde an Kelly“, hörte sie Marcy sagen. „Jetzt habe ich dich schon drei Mal gefragt, wer das ist.“

Das war eine gute Frage. Ein Jugendfreund? Ein Freund der Familie? Ein Beinahegeliebter? „Er war der Mitbewohner meines Bruders im College.“ Abrupt drehte sie sich zu Marcy um. „Tu mir einen Gefallen. Sag ihm, dass ich gerade angerufen und dir gesagt habe, dass ich heute nicht mehr komme.“

Marcy starrte sie entgeistert an. „Und über welches Telefon hast du angeblich angerufen? Das, das lautlos klingelt?“

„Dann sag ihm, dass du mich angerufen hast.“

Marcy verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe zwar keine fünf Minuten mit ihm geredet, aber ich habe gemerkt, dass er kein Idiot ist. Wenn ich irgendwelche Ausreden vorbringe, merkt er sofort, dass du vor ihm wegläufst. Und ein Typ wie der da tut normalerweise nur eins, wenn wer vor ihm wegläuft: Er nimmt die Verfolgung auf. Wenn du also nicht willst, dass er dir durch die ganze Stadt nachläuft – wogegen ich an deiner Stelle nichts einzuwenden hätte – dann hol jetzt lieber tief Luft und geh mit ihm reden.“

2. KAPITEL

Jax starrte auf die Studentenzeitung, ohne darin zu lesen. Er versuchte, die nächste Szene für das Buch zu entwerfen, das er gerade schrieb, doch nicht einmal darauf konnte er sich konzentrieren. Er war nervös. Was war, wenn Kelly nicht auftauchte? Was war, wenn sie auftauchte?

Sieben Jahre waren seit ihrem Schulfest vergangen. Sieben lange, vergeudete Jahre.

Er wünschte, die Zeit zurückdrehen und alles anders machen zu können. Nun, nicht alles. Aber mit Sicherheit hätte er auf den Trip nach Mittelamerika verzichtet, der als zehntägige Informationsreise begonnen und sich zu einem zwanzig Monate andauernden Albtraum entwickelt hatte.

Er atmete tief durch. In der vergangenen Nacht hatte er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder von dem Gefängnis in Mittelamerika geträumt.

Doch daran wollte er nicht denken. Es war besser, sich auf Kelly zu konzentrieren. Sieben Jahre waren eine lange Zeit. Sie musste sich ebenso sehr verändert haben wie er.

Doch seit Kevin ihn am Vortag angerufen und ihm mitgeteilt hatte, dass sie inzwischen geschieden war und ihr Studium wieder aufgenommen hatte, fühlte Jax sich wieder wie zweiundzwanzig. Sein Optimismus und seine Hoffnungen waren wieder aufgekeimt.

Kelly war zurück in Boston. Sie war wieder Single, und sie war nicht mehr zu jung.

Im Geiste sah er sie vor sich, wie sie bei ihrer ersten Begegnung ausgesehen hatte. Sie war erst zwölf gewesen, aber mit ihrer Intelligenz und ihrem trockenen Humor hatte sie reif und weise wie eine erwachsene Frau gewirkt.

Und seine Gefühle für sie waren im Laufe der Zeit ebenso herangewachsen wie sie.

Er hatte viel Zeit mit den O’Brians verbracht. Sie waren zwar wesentlich ärmer als seine Eltern, aber in seinen Augen waren die Winchesters die Verlierer.

Nolan und Lori O’Brian waren schon damals zwanzig Jahre verheiratet gewesen, aber sie liebten einander immer noch, und sie liebten ihre Kinder. Sie hatten Kevin und Kelly keine teuren Geschenke machen und ihnen nicht einmal das Studium ohne Stipendium finanzieren können, aber an Liebe mangelte es nicht in ihrer Familie.

Und sie hatten Jax mit offenen Armen in ihrem bescheidenen Heim aufgenommen, in dem stets Liebe und Frohsinn regierten.

Er hatte sogar einen ganzen Sommer bei ihnen verbracht, und es war der wundervollste Sommer, den er je erlebt hatte.

Kelly war damals vierzehn gewesen. Ihr hoch gewachsener, schlaksiger Körper war nicht länger dürr gewesen, sondern gertenschlank, und sie hatte sich die Haare wachsen lassen.

Sie hatte ihn noch immer „T.“ oder manchmal sogar Tyrone genannt. Sie war die einzige Person im ganzen Universum, der er es durchgehen ließ.

Den gesamten Sommer über war er kein einziges Mal ausgegangen, sondern hatte fast jeden Abend im Kreis der Familie verbracht. Aber hätte ihn damals jemand beschuldigt, mehr als platonische Gefühle für Kelly zu hegen, hätte er sich auf das Schärfste dagegen verwehrt. Schließlich war er ein zweiundzwanzigjähriger Mann und sie noch ein Kind gewesen.

Erst zwei Jahre später, an jenem Abend, als ihr Schulfest stattgefunden hatte …

„T. Jackson Winchester der Zweite.“

Kellys kehlige Stimme durchdrang seine Gedanken, und er blickte auf in ihre vertrauten, blauen Augen. Er zwang sich, seine Unruhe zu verbergen. Langsam legte er die Zeitung beiseite, stand auf und lächelte sie an.

Sie war noch wundervoller geworden als bei ihrer letzten Begegnung vor vier Jahren auf Kevins Hochzeit.

Ihre Augen waren von einem dunklen Blau und wundervoll geformt. Ihr Teint war zart und hell, hob sich von ihren dunkelbraunen Haaren und langen dunklen Wimpern ab. Ihr Gesicht war herzförmig, mit einem kleinen, aber eigenwilligen Kinn und einer perfekten Nase. Schon als Mädchen war sie bemerkenswert hübsch gewesen, doch als Frau war sie geradezu atemberaubend.

„Kelly.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern.

„Wie geht es dir?“, fragte sie. „Was tust du hier?“

Jax räusperte sich und strich sich durch das Haar. „Ich bin geschäftlich hier.“ Es war nicht völlig gelogen. Er hätte es auch telefonisch erledigen können, aber … „Ich dachte, ich komme einfach mal vorbei und lade dich zum Dinner ein. Ich habe erst gestern von Kevin erfahren, dass du wieder in Boston bist.“

Als sie ihm in die Augen blickte, wurde ihr bewusst, wie wenig er sich geändert hatte. Er wirkte immer noch so ausgeglichen und zuversichtlich, charismatisch und charmant wie eh und je.

Lächelnd erwiderte er ihren Blick. „Also, gehst du mit mir essen?“

Es war Plan „A“. Er wollte sie an diesem wie an den folgenden Abenden ausführen und ihr bewusst machen, wie gut sie sich verstanden, dass ihre Freundschaft all die Jahre der Trennung überlebt hatte. Dann wollte er sie wissen lassen, dass er sich mehr als Freundschaft erhoffte, und ihr am Wochenende schließlich einen Heiratsantrag machen. Wenn man bedachte, dass er sie bereits seit ihrem zwölften Lebensjahr umwarb, war es kein überstürztes Vorgehen.

Kelly schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht.“

Die Möglichkeit, von ihr abgewiesen zu werden, hatte er nicht in Erwägung gezogen. Obwohl es ein heißer Tag war, fröstelte ihn plötzlich. Kam er wieder zu spät? „Bist du liiert?“

Sie wandte den Blick ab. „Nein.“

Er bemühte sich sehr, seine Erleichterung zu verbergen.

„Es ist nur … einfach nicht nötig, dass du mich ausführst“, erklärte sie.

Jax lachte. „Das sagt wer?“

Sie seufzte. „Ich weiß, dass Kevin dich angerufen hat, weil er besorgt um mich ist. Ich war in letzter Zeit etwas niedergeschlagen. Ich bin gerade geschieden worden und habe das Recht, deprimiert zu sein. Ich bin in der Überzeugung erzogen worden, dass eine Ehe von Dauer ist, aber Brad und ich haben es nicht mal drei Jahre ausgehalten.“

Ihre Miene verriet ihm, wie unglücklich sie war. Ein weiterer Aspekt, den er in seinen Plänen nicht berücksichtigt hatte. „Liebst du ihn noch?“, fragte er sanft.

Sie blickte zu ihm auf. Tränen füllten ihre Augen. „Weißt du, was das wirklich Dumme daran ist, T.?“

Stumm schüttelte er den Kopf.

„Ich glaube, ich habe ihn nie geliebt.“

Eine Träne rann über ihre Wange, und er konnte nicht umhin, sie mit dem Daumen wegzuwischen.

Sie wich zurück. „Nicht.“

„Entschuldige. Es tut mir leid.“

Kelly wischte sich mit dem Handrücken über die Wange und brachte ein zittriges Lächeln zustande. „Du hältst mich bestimmt für ein totales Wrack.“

„Ich glaube, du könntest einen Freund gebrauchen.“

„Ja, das könnte ich. Aber nicht dich, Tyrone. Nicht diesmal.“

„Warum nicht?“

Sie schien ihn nicht gehört zu haben. „Sag Kevin, dass alles okay ist. Es wird mir bald wieder gut gehen. Und es wird mir wesentlich schneller wieder gut gehen, wenn du nicht um mich herumlungerst, um meinem Bruder einen Gefallen zu tun.“

„Ich bin nicht hier, um Kevin einen Gefallen zu tun.“

„Tja, nun, es wäre nicht das erste Mal, oder?“

Jax lachte, doch dann wurde er schlagartig ernst, als ihm bewusst wurde, was sie meinte. „O Gott! Du hast Kevin geglaubt, was er am Morgen nach dem Schulfest gesagt hat?“

„Natürlich habe ich ihm geglaubt. Du hast es nicht geleugnet.“ Sie wandte sich dem Hinterzimmer zu. „Ich muss jetzt gehen.“

„Kelly, warte …“

Doch schon war sie fort.

Jax stand lange Zeit da, obwohl er wusste, dass sie das Gebäude durch die Hintertür verlassen hatte und nicht zurückkehren würde.

So viel also zu Plan „A“.

Jax klappte seinen Laptop auf, schaltete ihn ein und schob die mit „Jared“ benannte Diskette hinein.

Es war ein historischer Roman, der in der Zeit des Bürgerkriegs spielte. Er hatte schon mehrere Bücher über diese Epoche geschrieben, sodass diesmal nur minimale Recherchen erforderlich gewesen waren. Zudem war ihm die Story extrem vertraut. Die Arbeit ging ihm gut von der Hand. Nach lediglich einer Woche hatte er bereits 163 Seiten verfasst.

Schnell überflog er die letzten Zeilen, bevor er zu tippen begann. Düster starrte Jared auf das schwere, schmiedeeiserne Tor, das ihn von Sinclair Manor trennte. Es war bei Einbruch der Dunkelheit verschlossen worden, genau wie an jedem Abend. Erst am Morgen würden die Diener es wieder öffnen.

Jareds Blick wanderte durch die Dunkelheit zu dem hell erleuchteten Herrenhaus auf dem Hügel. Er wusste ohne jeden Zweifel, dass er dort nicht länger willkommen war, ob bei Tag oder bei Nacht. Dieses Tor war ihm für immer verschlossen.

Doch Carrie war in diesem Haus, und er war fest entschlossen, zu ihr zu gelangen. Mühelos erklomm er den Zaun und sprang auf der anderen Seite zu Boden.

Er hatte Carrie ein Versprechen gegeben, und er war wild entschlossen, dieses Versprechen zu halten.

Im Schutz der Bäume schlich er zum Haus. Seine entschlossene Miene ließ ihn geradezu grimmig aussehen.

Sein Blick glitt zu Carries Fenster.

„Moment mal“, murmelte Jax und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Wo willst du denn hin?“

Im Geiste sah er Jared mit ungehaltener Miene vor sich stehen, hörte ihn entschieden erwidern: „Ich gehe zu Carrie.“ Und nichts wird mich aufhalten, sagte sein Blick.

„O nein. Nach meinem Konzept triffst du dich morgen mit ihr in der Laube.“

„Aber nicht sie wird kommen, sondern ihr Bruder Edmund, von dem ich mich wieder zusammenschlagen lassen muss, weil ich nicht die Hand gegen ihn erhebe, der mal mein bester Freund war. Ich habe genug davon, und deinen Lesern wird es genauso gehen. Es ist an der Zeit für etwas Sex.“

Jax seufzte. Was nun? Seine Helden waren alle gleich. Sie alle liebten die Heldinnen voller Verzweiflung und Ungeduld und konnten nicht begreifen, warum das Leben ihrem Happy End alle möglichen Hindernisse in den Weg räumte.

„Ich liebe Carrie“, argumentierte Jared, „und sie liebt mich. Ich würde niemals ohne sie auf ein Schiff nach Europa gehen. Das passt überhaupt nicht zu mir.“

„Doch. Wenn du überzeugt bist, dass es das Beste für sie ist.“

Jared schüttelte entschieden den Kopf. „Sprichst du von Carrie oder Kelly? Bring diesen Roman nicht mit deinem eigenen Leben durcheinander.“

„Du willst also in ihr Zimmer klettern und mit ihr schlafen?“

Jared nickte.

„Und du willst sie aus dem Haus schmuggeln und mit nach Europa nehmen?“

Jared nickte erneut.

„Womit willst du Geld verdienen?“, wandte Jax ein. „Sie ist an einen gewissen Luxus gewöhnt.“

„Ich weiß, dass sie mich mehr liebt als Geld. Solange wir zusammen sind, ist sie glücklich.“

„Du bist zu perfekt. Ich muss dir ein paar Mängel geben.“

„Ich bin schon zu einem Viertel Indianer und bettelarm. Sind das nicht genug ‚Mängel‘?“

„Nein. Das Buch soll mehr als hundertsiebzig Seiten haben.“

Jareds Miene erhellte sich. „Ich habe eine gute Idee: Wie wäre es mit hundert Seiten Sex?“

Jax lachte laut auf. „Ganz schön scharf heute, wie?“

„Seit der ersten Seite versuche ich schon, mit Carrie zu schlafen. Zwei Mal bin ich kurz davor, aber im letzten Moment verhinderst du es wieder. Komm schon, ich halte es nicht länger aus.“

„Also gut“, gab Jax sich geschlagen und schrieb weiter.

Einen Moment später kletterte Jared am Spalier hinauf, ungeachtet der Rosendornen, die ihm die Hände zerkratzten.

Das Fenster stand offen, und er stieg behände hinein. Sobald seine Füße den Boden berührten, wurde ihm klar, dass etwas nicht stimmte. Das Bett war abgezogen, das Bücherregal ebenso leer wie die Kommode. Er stürmte zum Kleiderschrank und riss ihn auf. Ebenfalls leer.

„Suchst du etwas?“

Jared wirbelte herum und sah Edmund, Carries Bruder, mit höhnischer Miene in der Tür stehen.

„Oder jemanden?“

„Wo ist sie?“, verlangte Jared zu wissen.

„Fort. Mein Vater hielt es für angebracht, sie für eine Weile zu Verwandten zu schicken. Seltsam, ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, ob sie nach Vermont oder Connecticut gefahren ist. Oder vielleicht war es Maine.“

Mit zwei langen Schritten stürmte Jared zu Edmund. Er holte aus, schlug ihn, seinen ehemals besten Freund, mitten ins Gesicht, und verschwand ohne ein Wort durch das Fenster.

Jax grinste. Den Verlauf dieser Szene hatte er eigentlich anders geplant, aber es gefiel ihm so, und er beschloss, nichts daran zu ändern.

Jax parkte seinen Sportwagen am Straßenrand vor Kellys Apartment, blickte zum Haus hinauf und sah Licht in ihren Fenstern. Er stieg aus und nahm die Tüte, die er aus dem chinesischen Restaurant um die Ecke geholt hatte.

Wenn Kelly nicht mit ihm zum Dinner gehen wollte, dann kam das Dinner eben zu ihr.

Sie wohnte im ersten Stock eines Dreifamilienhauses, in einem ruhigen Wohnviertel am Stadtrand. Er erklomm die Stufen zur Veranda, drückte auf die mittlere der drei Klingeln und wartete.

Der Abend war warm, und er lehnte sich an die Brüstung und beobachtete die Kinder, die auf dem Bürgersteig Fahrrad fuhren.

Dann ging die Verandabeleuchtung an, die Tür öffnete sich, und Kelly erschien.

Sie trug Jeansshorts und ein knappes T-Shirt, und das Haar fiel ihr locker auf den Rücken hinab. Mit einem verlegenen Lächeln trat sie zu ihm. Ihre Füße waren nackt, und er verspürte eine Woge des Verlangens, als er den Blick an ihren langen Beinen hinaufgleiten ließ.

Sie setzte sich auf die oberste Stufe und schlang die Arme um die angezogenen Knie. „Warum überrascht es mich nicht, dich zu sehen?“

„Du hast mich erwartet?“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Es ehrt mich, dass du dich für mich in Schale geworfen hast.“

„Sag bloß nicht, dass du nicht auch lieber Shorts anhättest.“

„Du hast recht.“ Lächelnd musterte er sie. Er verspürte den Drang, ihre seidig glänzenden Haare zu streicheln. Stattdessen umklammerte er die Brüstung. „Wie lange hat es gedauert, die Haare so lang wachsen zu lassen?“

„Ich habe vier Jahre lang nur die Spitzen schneiden lassen. Aber ich habe vor, sie in diesem Sommer radikal kurz zu tragen.“

„Radikal?“

Kelly lachte. „Ja, ich will mir den Nacken ausrasieren lassen.“ Sie hob die Haare hoch und drehte sie zusammen, um ihm zu zeigen, wie es aussehen würde.

Sehnsüchtig musterte er ihren Nacken. Ihm gefielen ihre langen Haare, aber eine Kurzhaarfrisur würde ihr hübsches Gesicht und ihren langen, schlanken Hals betonen. „Ich glaube, es würde toll aussehen.“

Überrascht blickte sie zu ihm auf. „Wirklich?“

„Ja.“

Sie stand auf und ging zur Tür. „Ich muss wieder an die Arbeit“, sagte sie mit einem Seufzer.

Ihr abrupt abweisendes Verhalten verwirrte ihn. Dann wurde ihm bewusst, dass sie sich bedrängt fühlen musste. Er hatte sie im Geiste ausgezogen, und sie hatte es ihm angesehen. „Ich habe chinesisches Essen mitgebracht.“

„Danke, aber ich habe schon gegessen. Gute Nacht, T.“

„Kelly, schließ mich nicht aus.“

„Ich verkrafte es momentan nicht, dich zu sehen. Ich brauche Zeit. Ich brauche eine Weile lang ein einfaches Leben, und du musst zugeben, dass unsere Beziehung nie einfach war.“

„Wir können sie einfach gestalten“, entgegnete er in sachlichem Ton, der nichts von seiner Verzweiflung verriet.

Er trat einen Schritt auf sie zu, und sie wich einen Schritt zurück. Sie war nicht sicher, ob sie widerstehen konnte, wenn er sie berührte. Es war schlimm genug, ihn zu sehen, mit ihm zu reden. Es war beängstigend, wie überwältigend die Erinnerung an ihre früheren Gefühle wirkte. Aber es war unmöglich, dass sie nach sieben Jahren noch in ihn verliebt sein konnte.

„Ich muss wieder an die Arbeit“, sagte sie erneut, und dann ging sie ins Haus und schloss entschieden die Tür.

Liebe Kelly!

Immer noch kein Wort von der amerikanischen Botschaft.

Der Gedanke, zehn Jahre in dieser Hölle zu verbringen, jagt mir eine Heidenangst ein. Es ist unglaublich, dass es so weit kommen konnte. Ich bin reingelegt worden. Ich werde bestraft, weil ich mich geweigert habe, mit der gegenwärtigen Regierung dieses Landes zu kooperieren und ihnen den Standort des Rebellenlagers und die Namen der Anführer zu verraten.

Welche Ironie des Schicksals, dass ich die meisten Methoden der Rebellen in ihrem Kampf um Freiheit gar nicht billige. Aber hätte ich sie verraten, hätte es den Tod vieler Menschen, hauptsächlich von Frauen und Kindern, bedeutet.

Also sitze ich hier. Wo auch immer dieses „Hier“ sein mag. Irgendwo in Mittelamerika. Ich könnte ebenso gut auf dem Mond sein, eine Million Meilen entfernt vom so genannten Land der Freiheit und Deinem lieblichen Lächeln. Also schreibe ich im Geiste Briefe an Dich. Briefe, die Dich vermutlich nicht erreichen werden, bis ich wieder frei bin und sie selbst überbringe.

Mit Glück wird das bald geschehen. Dein achtzehnter Geburtstag steht bevor, und ich will dabei sein.

Ich liebe Dich.

Herzliche Grüße, T.

Kelly saß an ihrem Computer und starrte auf den leeren Bildschirm. Nun, er war nicht völlig leer. „Zehntes Kapitel“ stand im oberen Drittel, und nach einer Leerzeile blinkte der Kursor und wartete auf ihre Eingabe.

Doch sie konnte nur an T. Jackson Winchester den Zweiten denken, und an die schönste und schlimmste Nacht ihres Lebens.

Sie schloss die Augen und durchlebte im Geiste noch einmal jene Nacht im Mai. Es war eine Nacht wie diese gewesen, heiß und schwül wie im Hochsommer …

Am Nachmittag hatte sie Kevin und T. ihr Kleid für das Schulfest vorgeführt, das an diesem Abend stattfinden sollte. Kevin hatte gerade sein zweites Semester abgeschlossen, und T. hatte sein Examen abgelegt und machte ein paar Wochen Urlaub bei den O’Brians, bevor er ins Berufsleben eintrat.

„Ich werde mir die Haare hochstecken“, verkündete sie, während sie sich in dem bodenlangen Kleid im Kreis drehte.

„Großer Gott“, stieß Kevin hervor. „Wann bist du denn zu einem Mädchen geworden?“

Sie schnitt ihm eine Grimasse. „Mach gelegentlich mal die Augen auf. Ich bin seit sechzehn Jahren ein Mädchen.“

Sie riskierte einen Blick zu T., der sie mit einem kleinen Lächeln musterte. Ihr Herz schlug höher. Er wusste längst, dass sie ein Mädchen war.

Kevin grinste. „Als du gesagt hast, dass du dich für den Ball schön machen willst, dachte ich, du würdest eine Jeans ohne Löcher an den Knien und neue Cowboystiefel anziehen.“

„Haha!“, murrte Kelly.

„Sag bloß nicht, dass Mom dir das Kleid vom Haushaltsgeld gekauft hat. Du siehst toll aus, aber ein Kleid ist es nicht wert, dass wir uns ein halbes Jähr lang von Hot Dogs ernähren müssen.“

„Es hat gar nichts gekostet, denn es hat mal Grandma gehört.“

Das Gewand stammte aus den späten Dreißigern. Es bestand aus einem glänzenden, fließenden Stoff in Kornblumenblau, das genau zu ihren Augen passte, und es saß wie angegossen.

Eine Weile später, als Kelly sich in ihrem Zimmer zurechtmachte, rief Kevin sie ans Telefon. „Es ist dein Freund“, verkündete er spöttisch, als sie die Küche betrat.

Sie riss ihm den Hörer aus der Hand und starrte ihn vernichtend an. „Frank ist nicht ‚mein Freund‘. Er ist nur ein guter Freund, der mit mir zum Ball geht.“

Frank teilte ihr in leidendem Ton mit, dass er sich eine Magendarmerkrankung zugezogen hatte und sie nicht zum Fest begleiten konnte. Niedergeschlagen legte sie den Hörer auf.

„Was wollte Frankie denn?“, fragte Kevin. „Kann er sich nicht entscheiden, ob er den himmelblauen oder den weinroten Smoking anziehen soll?“

„Wann wirst du endlich erwachsen?“, konterte sie verärgert. „Frank ist krank, also gehe ich nicht zum Ball. Befriedigt das deine jugendliche Neugier? Oder willst du sonst noch was wissen?“

„Das tut mir leid“, murmelte er zerknirscht. „Ich wollte nicht …“

„Ich begleite dich“, sagte T.

„Was?“, hakten Kevin und Kelly gleichzeitig nach.

Er lächelte Kelly an. „Ich wollte sagen, dass ich dich gern begleiten würde.“

Kevin starrte ihn entgeistert an. „Was soll das? Wir haben heute ein Doppelrendezvous. Willst du Beths beste Freundin einfach sitzen lassen?“

„Nein. Ich werde sie anrufen und absagen.“

„Weil du lieber mit meiner kleinen Schwester zu einem blöden Schulfest gehst?“

„Es ist gar kein blödes Fest“, protestierte Kelly.

Kevin seufzte. „Na ja, dann sollte ich wohl mit ihr hingehen.“

„Nein danke“, protestierte Kelly. „Bevor du dich opferst, bleibe ich lieber zu Hause.“

„Du hast mich nicht verstanden, Kev“, wandte T. ein. „Ich möchte gern mit ihr hingehen.“ Er wandte sich an Kelly. „Darf ich dich begleiten?“

„Moment mal“, warf Kevin ein, bevor sie antworten konnte. Fassungslos starrte er T. an. „Bist du etwa scharf auf meine kleine Schwester, Winchester?“

Doch T. schien den Einwand nicht gehört zu haben. Er saß einfach da, lächelte Kelly an und wartete auf ihre Antwort.

„Ja, T.“, sagte sie mit strahlenden Augen. „Das wäre sehr nett …“

Nun, als Kelly sieben Jahre später blind auf ihren Bildschirm starrte und zurückdachte, gestand sie sich ein, dass sie sich in jenem Augenblick in T. Jackson Winchester den Zweiten verliebt hatte, dass sie ihn seit Jahren liebte. Es war keine kindliche Verirrung, keine jugendliche Schwärmerei oder Vernarrtheit. Es war eine solide, gewaltige Liebe.

Schweißgebadet wälzte Jax sich im Bett umher. Erneut plagte ihn dieser alte Albtraum, in dem er wieder in der stinkenden Gefängniszelle saß …

Eine Woche zuvor war er aus London in das winzige Land in Mittelamerika eingeflogen, denn die Zeitung, für die er arbeitete, hatte ihm ein persönliches Interview mit dem Rebellenführer verschafft. Das Interview war gut verlaufen, und er war in sein Hotelzimmer zurückgekehrt, um seine Notizen in seinen Laptop einzutippen.

Mitten in der Nacht war er von Regierungssoldaten aus dem Schlaf gerissen und in ein Staatsgebäude geschleppt worden, wo man ihn nach den Rebellen befragt hatte. Er hatte Todesängste ausgestanden, aber sich geweigert, auch nur das wenige zu verraten, was er über seine Kontaktpersonen wusste.

Endlich, nach vierundzwanzig Stunden harten Verhörs, war er freigelassen worden.

Zurück im Hotel, hatte er erwogen, sich an die amerikanische Botschaft zu wenden, aber ihm war kaum Zeit genug geblieben, um den nächsten Flug nach Miami zu erwischen, und er hatte schleunigst dieses Land verlassen wollen.

Auf dem Weg zum Flughafen hatte die Militärpolizei sein Taxi angehalten. Bei einer Durchsuchung seiner Reisetasche waren mehrere große Beutel mit Kokain zwischen der Unterwäsche entdeckt worden.

Es war ein derart offensichtlich abgekartetes Spiel, dass Jax gelacht hatte.

Doch als er am nächsten Tag in dem lächerlich armseligen Gerichtssaal den Schuldspruch und die Verurteilung zu einer zehnjährigen Haftstrafe vernommen hatte, war ihm das Lachen vergangen.

Es gelang ihm, Kontakt zur US-Botschaft aufzunehmen, aber ohne Erfolg. Da er wegen einem Drogendelikt verurteilt worden war, interessierte sich die Botschaft nicht für seinen Fall.

Jax war wütend. Die ganze Sache war so durchsichtig. Er war ein Reporter im Besitz von Informationen, an denen der Regierung gelegen war. Man wollte ihm eindeutig etwas anhängen. Das Kokain war in seine Reisetasche geschmuggelt worden. Was war mit seinen Rechten als Amerikaner?

Aber die Botschaft teilte ihm mit, dass er keinerlei Rechte hatte. Er war keine Geisel. Er war kein politischer Gefangener. Er war wegen Drogenbesitz verurteilt worden, und niemand konnte ihm helfen. Also wanderte er ins Gefängnis.

Sei artig, riet ihm der Wärter, dann kommst du vielleicht schon nach fünf oder sechs Jahren raus.

Jax durchlebte die Hölle.

Er wurde in eine dunkle, feuchte Einzelzelle mit nur einem schmalen Schlitz als Fenster gesteckt. Nur gelegentlich bekam er zu essen, und noch seltener war es ihm gestattet, auf den Gefängnishof zu gehen.

Beinahe hätte er völlig den Verstand verloren – und vielleicht wurde er tatsächlich ein wenig verrückt, denn er begann, von Kelly zu fantasieren. Im Geiste war sie bei ihm in der Zelle, leistete ihm Gesellschaft, verlieh ihm Kraft.

Er hatte weder Papier noch Bleistift, und dennoch schrieb er im Geiste Hunderte von Briefen an Kelly, die nie abgeschickt werden sollten. Doch er schwor sich, die Worte eines Tages zu Papier zu bringen.

Und irgendwie gelang es ihm, diese Hölle zwanzig Monate lang zu überleben …

Danach war er jahrelang von furchtbaren Albträumen geplagt worden, doch schließlich hatten sie aufgehört.

Warum also träumte er nun wieder davon?

3. KAPITEL

Jax gab dem Kellner des Zimmerservice ein Trinkgeld, stellte das Frühstückstablett auf den Tisch und setzte sich an seinen Computer. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, nahm einen Schluck von dem heißen, schwarzen Gebräu und überflog die letzten Absätze.

Am Vortag hatte er Jared in sein kleines Zimmer in der armseligen Pension zurückkehren lassen, wo er nun vor Wut schäumend saß, weil man ihm Carrie entrissen hatte.

Jax zermarterte sich das Hirn, wie es weitergehen sollte. Nun erst wurde ihm bewusst, wie schwierig es war, Jared auf dieses Schiff nach Europa zu bringen. Auf keinen Fall hätte er Carrie freiwillig zurückgelassen, wie Jax es mit Kelly getan hatte.

Die beiden Situationen deckten sich nicht unbedingt. Carrie und Kelly waren zwar beide erst sechzehn, aber zu Carries Zeiten hatten Frauen oft so jung geheiratet. Und Jared war nicht wie Jax. Jared war ein Held.

Jax blätterte in seinem Notizbuch. In seinem Konzept ging Jared nach Europa, um als reicher Mann zurückzukehren. Doch dieses Konzept war entstanden, bevor Jared sich zu einem kühnen, unerschrockenen und selbstsicheren Charakter mit Eigeninitiative entwickelt hatte.

Was brachte einen Mann dazu, etwas zu tun, was er nicht tun wollte?

Liebe? Nein, aus Liebe wollte Jared bleiben.

Geld? Nein, Jared hatte bereits klargestellt, dass er kein Geld brauchte, um Carries Herz zu erobern.

Was sonst? Patriotismus? Wenn Jared die Möglichkeit hatte, ein Vermögen zu machen und gleichzeitig den Nordstaaten zu helfen … England hatte den Süden während des Bürgerkriegs mit Waffen versorgt, trotz der Blockade der Nordstaaten.

Ich bringe Captain Reilly wieder ins Spiel, dachte Jax triumphierend. Der alte Freund von Jareds Vater war bereits in Kapitel zwei und sechs in Erscheinung getreten. Er sollte Jared überreden, auf seinem Schiff anzuheuern, die britischen Schiffe zu kapern und die Waffen an die Nordstaaten zu verkaufen.

Eifrig begann Jax zu schreiben.

Ein lautes Klopfen riss Jared aus dem Schlaf. Mit pochendem Herzen setzte er sich auf und starrte in die Dunkelheit seines winzigen Zimmers. Carrie, dachte er.

Doch während er eine Kerze entzündete, erklang eine tiefe, dröhnende Stimme: „Jared Dexter, bist du da, Junge? Öffne diese verdammte Tür.“

Es war Magnus Reilly, der Eigner des Schiffes ‚Graceful Lady Fair‘. Widerstrebend ließ Jared ihn ein und hörte sich dessen Plan an.

„Nun, was sagst du dazu?“, fragte der Captain schließlich. „Bist du dabei?“

Jared musterte Reilly im flackernden Kerzenschein. Bedächtig schüttelte er den Kopf. „Tut mir sehr leid, alter Mann. Diesmal nicht.“

„Nein!“, rief Jax aufgebracht. „Du musst ihn begleiten, du Dummkopf! Es ist deine Chance, deinem Land zu dienen und dabei ein Vermögen zu machen.“

Trotzig verschränkte Jared die Arme vor der Brust. „Ich gehe nirgendwohin, solange ich Carrie nicht gefunden habe.“

Jax biss die Zähne zusammen, löschte seufzend die letzten Sätze und massierte sich die Schläfen, die schmerzhaft zu pochen begonnen hatten. Was war nur los mit ihm?

„Ich weiß, was mit dir los ist“, höhnte Jared. „Du hast eine Schreibblockade.“

„Das ist nicht wahr. Ich habe lediglich einen störrischen, sturen, dummen Charakter, der sich weigert zu kooperieren.“

„Keine Sorge, diese Blockade wird nicht lange anhalten“, entgegnete Jared gelassen. „Bring die Sache mit Kelly in Ordnung, und schon wirst du wieder schreiben können, ob ich kooperiere oder nicht.“

„Sag Reilly einfach, dass du ihn begleitest“, bat Jax. „Schreib mir eine Liebesszene mit Carrie, und dein Wunsch ist mir Befehl.“

„Das ist ja lächerlich. Ich lasse mich nicht länger von meiner eigenen Romangestalt erpressen“, murrte er und tippte weiter.

„Magnus“, entgegnete Jared bedächtig, „kannst du ein paar Wochen warten? Ich kann das Land momentan nicht verlassen.“

Ohne Warnung zog Reilly einen Revolver unter seiner Jacke hervor und presste das kalte Metall des Laufs an Jareds Schläfe. „Du kommst mit mir, Junge“, knurrte er, „und zwar sofort.“

Hastig, bevor er die Szene erneut ändern konnte, speicherte Jax die Datei, schaltete den Laptop ab und begab sich auf die Suche nach Kopfschmerztabletten.

Liebe Kelly!

Du bist heute wieder in meiner Zelle erschienen, und obwohl ich weiß, dass Du nicht real sein kannst, bin ich wieder sehr dankbar für Deine Gegenwart.

Diesmal bist Du zwölf, und als Du die rauen Steinwände, den feuchten Lehmboden und das schmutzige Stroh musterst, das mir als Bett dient, sehe ich Zorn in Deinen dunkelblauen Augen aufblitzen.

Du betrachtest mich mit meinem wilden Bart und den langen, schmutzigen Haaren genauso eingehend. Und dann höre ich Deine liebliche Stimme in der Stille der Zelle. Bei Deinem letzten Besuch hast du nicht gesprochen.

„Du stinkst“, sagst Du streng, so als wäre es meine Schuld, und ich entschuldige mich.

„Manchmal, wenn es regnet, geben sie uns Seife und lassen uns in den Hof, und wir können uns waschen“, sage ich.

Du siehst mich verständnislos an, und mir wird bewusst, dass ich Spanisch gesprochen habe. Es ist so lange her, seit ich eine amerikanische Stimme gehört habe. Ich übersetze, und Du nickst.

„Es scheint seit einer ganzen Weile nicht geregnet zu haben“, sagst Du und setzt Dich zu mir auf das Stroh.

„Bald wird es dauernd regnen, und dann werden zehn Zentimeter Brackwasser auf dem Boden meiner Zelle sein.“

Du nimmst meine Hand und drückst sie fest. Ich bemerke die Abschürfungen auf Deinen Händen und Knien, und Du erzählst mir, dass Du mit dem Fahrrad hingefallen bist.

„Das tut mir leid“, sage ich und verberge sorgsam meine eigenen Verletzungen – drei tiefe Striemen auf dem Rücken von einer Peitsche, die ich mir zugezogen habe, weil ich einem Mitgefangenen, der im Hof vor Schwäche gestolpert ist, auf die Füße geholfen habe.

Ich sehe Dir an, dass Du davon weißt, und auch von den gebrochenen Rippen, die von einer früheren Folterung herrühren.

„Ich habe nicht geweint“, erkläre ich Dir. „Sie können mich schlagen, mich anspucken, mich mit Füßen treten, aber ich werde nicht weinen. Ich halte den Kopf hoch und blicke ihnen ins Auge. Ich bin el yanqui, und sie hassen und respektieren mich zugleich dafür.“

Du siehst mich an, als wäre ich Dein Held, und ein paar kurze Stunden lang bin ich es.

„He“, sagst Du und untersuchst die Mauern. „Das ist ja magmatisches Gestein.“

Eine Weile lang untersuchen und identifizieren wir die Steine, aus denen das Gefängnis errichtet wurde.

Ich vergesse beinahe, wo ich bin, während ich an der Wand kratze, um Dir ein Muster für Deine Steinsammlung abzubrechen.

Du lässt mich allein, als die Sonne den richtigen Winkel erreicht. Sechsundvierzig Minuten lang wird sie durch mein winziges Fenster scheinen. Ein schmaler Streifen Licht wandert über die Wand, und ich lasse es auf mein schmutziges Gesicht scheinen. Es gibt mir Hoffnung zu wissen, dass dieselbe Sonne, nur ein paar Tausend Meilen entfernt, auch auf Dich scheint.

Ich liebe Dich.

Herzliche Grüße, T.

Jax lehnte an der Wand vor dem Seminarraum und wartete auf Kelly.

Vielleicht war es ein Fehler. Nein, nicht vielleicht. Es war eindeutig ein Fehler, sie zu verfolgen. Zweifellos ärgerte sie sich darüber. Doch er kannte nur einen Weg, um sich Erfolg im Leben zu verschaffen, und der basierte auf Zähigkeit, Ausdauer und Starrsinn.

Er wollte Kelly O’Brian heiraten. So viel stand mal fest.

Nicht so sicher war allerdings, wie er mit der Tatsache umgehen sollte, dass seine zukünftige Braut nicht einmal eine Tasse Kaffee mit ihm trinken wollte.

Fünf Tage war es her, seit sie das chinesische Essen abgelehnt hatte. Am nächsten Tag hatte sie seine Einladung zum Lunch ausgeschlagen, am übernächsten zum Brunch, am folgenden zum Frühstück. Am Vortag hatte er sich damit begnügt, sie zum Kaffee einzuladen. Ebenso erfolglos.

Wozu sollte er sie nun also einladen? Zu einem Glas Wasser?

Vielleicht war es an der Zeit, wieder beim Dinner anzufangen. Früher oder später würde sie schon nachgeben.

Sie hatte ihm einmal gesagt, dass sie ihn liebte. Wenn diese Liebe nur ein Zehntel so stark war wie seine, dann konnte sie nicht völlig verschwunden sein.

Die Tür öffnete sich, und Studenten strömten auf den Korridor. Sie sahen so jung aus. Die meisten waren zwölf Jahre jünger als er.

Kelly sah ihn nicht, als sie durch die Tür kam. Sie trug ein Jeanshemd mit aufgekrempelten Ärmeln, verblichene Jeans und Cowboystiefel. Ihr Haar war zu einem Zopf geflochten. Sie war gekleidet wie damals mit vierzehn, doch ihr Körper füllte diese Kleidung aus, wie es damals nicht der Fall gewesen war.

Jax folgte ihr den Korridor entlang. An der Schwingtür zum Foyer holte er sie ein.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie ihn finster an. „Du verfolgst mich.“

„Ja.“

Sie ging weiter. „Hör auf damit. Du kannst Kevin sagen, dass es mir richtig gut geht.“

„Es hat nichts mit Kevin zu tun. Ich versuche, dich zu bewegen, mit mir auszugehen, und wenn du weiterhin ablehnst, solltest du dich daran gewöhnen, dass ich dich verfolge.“

Abschätzig musterte sie ihn von Kopf bis Fuß. „Besitzt du überhaupt Socken?“

Er blickte hinab zu seinen nackten Knöcheln. „Wenn ich ins Hotel gehe und mir welche anziehe, kommst du dann mit mir zum Dinner?“

„Ich kann nicht.“ Sie eilte hinaus in den warmen Sonnenschein. „Ich schreibe morgen meine letzte Semesterarbeit.“

Langsam spazierten sie den Bürgersteig entlang. Die Sonne schien ihm warm auf den Rücken, und er zog sich die Jacke aus und krempelte sich die Ärmel hoch. „Wenn du willst, kann ich dir ja heute Abend beim Studieren helfen.“

„Für ein Examen in Algebra für Fortgeschrittene?“

„Aua. Hast du wirklich Algebra belegt?“

Sie nickte. „Für Fortgeschrittene.“

„Schon gut. Du brauchst es mir nicht unter die Nase zu reiben.“ Mathematik war bereits in der Schule sein schwächstes Fach gewesen. Seine Begabung lag auf dem Gebiet der Sprachen.

Sonnenschein ließ sein Haar golden glänzen. Mit der dunklen Sonnenbrille und dem strahlenden Lächeln sah er aus wie ein Filmstar. Es war ihr Pech, dass er im Alter noch attraktiver geworden war. Warum hatte er nicht schütteres Haar und ein Bäuchlein bekommen wie einige andere Männer seines Alters?

„Warum belegst du ausgerechnet Mathe?“, hakte er nach. „Ich meine, ich habe dich nie als Masochistin angesehen.“

Sie warf ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. Er hatte recht. Sie war keine Masochistin, und gerade deshalb weigerte sie sich, mit ihm auszugehen.

„Weil ich Naturwissenschaften mag, und Mathe ist Voraussetzung für einige der Kurse, die ich nächstes Semester belegen will.“ Ihre Cowboystiefel klickten auf dem Bürgersteig. „Ich fürchte also, dass du mir als Studienpartner nicht helfen kannst.“

„Du hast mich jahrelang nicht gesehen“, protestierte er. „Woher willst du wissen, dass ich nicht ein Mathegenie geworden bin?“

Kelly brach in lautes Gelächter aus.

„Wie viele Semester hast du noch bis zum Examen?“, erkundigte er sich.

„Drei.“

„Warum hast du eigentlich dein Studium unterbrochen?“

„Brad und ich sind im Sommer nach der Hochzeit nach Kalifornien gezogen. Es war zu spät, um mich für das Wintersemester einzuschreiben. Also habe ich mir einen Job gesucht. Als das Sommersemester anfing, war Brad arbeitslos, und ich musste weiter arbeiten, weil wir das Geld brauchten.“

„Hast du für die Sommerferien einen Job?“, erkundigte er sich.

„Bislang nichts Definitives.“

„Verbring den Sommer mit mir am Cape.“

Kelly blieb abrupt stehen. „Wie bitte?“

„Ich habe ein Haus am Strand von Cape Cod, in Dennis. Es ist ein riesiges Ungetüm mit unzähligen Gästezimmern. Ich würde gern mehr Zeit mit dir verbringen und …“

„Ich will nicht mal mit dir zum Dinner ausgehen“, warf sie ein. „Wie kommst du bloß darauf, dass ich einen ganzen Sommer mit dir am Strand verbringen würde?“

„Das wolltest du doch immer. Du hast ständig davon geredet, und da dachte ich …“

„Ich war damals zwölf!“, unterbrach sie, doch es entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie hatte auch später noch davon geredet, davon geträumt.

Sie blickte zu ihm auf, sah ihr Gesicht in seinen Sonnenbrillengläsern reflektiert. Ein Sommer mit ihm auf dem Anwesen der Winchesters wäre die Erfüllung all ihrer Träume, die sie als Kind gehegt hatte – und auch als Teenager.

Doch als Erwachsene wusste sie, dass es nur Fantasien waren. Sie wusste, was für ein Mann er war, weil sie mit einem Mann wie ihm verheiratet gewesen war. Sie hegte keine Illusionen mehr über ein Happy End mit T., wie charmant, gut aussehend und sexy er auch sein mochte.

Wenn sie Wert auf ein Happy End legte, was der Fall war, dann musste sie sich einen anderen Typ Mann suchen. Sie wollte einen Mann, der nur sie liebte, der ebenso viel gab, wie er nahm, der seine Versprechungen hielt.

Doch es sprach einiges dafür, ein paar Monate mit T. Jackson Winchester dem Zweiten zu verbringen. Es sei denn, seine Einladung war wieder einmal nur ein Gefallen gegenüber Kevin. Und wollte sie wirklich die Erinnerungen an ihre erste Liebe durch eine billige Affäre mit ihm trüben?

Als sie die Frage nicht sofort verneinte, schüttelte sie den Kopf über sich selbst und entgegnete: „Ich werde den ganzen Sommer über beschäftigt sein.“ Es entsprach der Wahrheit. Sobald sie ihren zweiten Roman beendet hatte, wollte sie den dritten anfangen. Sie liebte das Schreiben, und es war ein sicherer Weg, sich vom Rest der Welt im Allgemeinen abzukapseln – und von T. Jackson dem Zweiten im Besonderen.

„Überleg es dir noch mal“, erwiderte er.

Es ärgerte sie, dass sie es vermutlich tun würde. Bestimmt würde sie an nichts anderes denken und ständig davon träumen. In der vergangenen Nacht war er ihr bereits im Traum erschienen – noch knapper bekleidet, als er es vermutlich am Strand sein würde. Ihr Unterbewusstsein vermittelte ihr die unbestreitbare Botschaft, dass zwischen ihnen unerledigte Punkte bestanden.

Doch es war lediglich eine hormonelle Angelegenheit. Selbst wenn sie schließlich nachgeben und mit ihm schlafen würde, wollte sie ihn nie wieder in ihr Herz lassen.

„Also, gehen wir morgen Abend zusammen essen?“, hakte er nach.

Sie schüttelte den Kopf.

„Dann am Freitag.“

„Nein. Ich habe am späten Nachmittag eine Besprechung. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird.“

„Ich habe am Nachmittag auch etwas zu erledigen. Wir können ja spät essen gehen.“

„Nein.“

Einen Moment lang musterte er sie schweigend. Dann lachte er. „Nun, dann muss ich dich wohl weiterhin verfolgen.“

Kelly nahm hastig ihre Sonnenbrille ab und seufzte aufgebracht. „Jackson, ich …“

Er brachte sie durch einen Kuss zum Schweigen. Es war kaum mehr als eine flüchtige Berührung ihrer Lippen, aber es reichte, um sie aus der Fassung zu bringen.

„Wir sehen uns also morgen“, sagte er gelassen und ging lächelnd davon.

Jax saß in seinem Sportwagen und blickte zu den erleuchteten Fenstern von Kellys Wohnung hinauf.

Er hatte sein Hotelzimmer verlassen, nachdem er entgegen seiner ursprünglichen Absicht eine leidenschaftliche Szene zwischen Jared und Carrie verfasst hatte. Das Schreiben sinnlicher Szenen machte ihn immer rastlos, erweckte den Drang nach frischer Luft, und irgendwie war er vor Kellys Haus gelandet.

Am Nachmittag hatte er vor der Universität auf sie gewartet und sie erneut zum Dinner eingeladen. Doch sie hatte abgelehnt und war so schnell in der Redaktion der Studentenzeitung verschwunden, dass sich ihm keine Gelegenheit geboten hatte, sie erneut zu küssen.

Nun saß er da und verzehrte sich danach, sie so zu küssen, wie Jared und Carrie sich geküsst hatten – wie er sie vor so vielen Jahren am Abend ihres Schulfests geküsst hatte …

Zuerst hatte Kevin sich geweigert, Kelly mit Jax ausgehen zu lassen. „Sie ist noch ein Kind“, hatte er sehr nachdrücklich eingewandt. „Du solltest mit Frauen ausgehen, nicht mit kleinen Mädchen.“

„Du vertraust mir nicht?“, hatte Jax nachgehakt.

„Nicht, nachdem ich vorhin gesehen habe, wie du sie mit deinen Blicken verschlingst. Verdammt, Winchester, sie ist noch minderjährig!“

„Ich weiß, wie alt sie ist.“

„Vergiss das ja nicht. Wenn du sie anrührst, landest du im Gefängnis, und ich bringe dich persönlich hin.“

„Du weißt, dass ich ihr nie wehtun würde. Ich werde gut auf sie aufpassen, das verspreche ich.“

Kevin hatte fassungslos den Kopf geschüttelt. „Beth hat eine tolle Freundin, die scharf auf dich ist, aber du willst mit einem Mädchen ausgehen, das kaum den Windeln entwachsen ist. Das begreife ich nicht.“

Jax hatte gelächelt. „Das musst du auch nicht. Entspann dich einfach. Ich will mit Kelly ausgehen, und du willst mit Beth ausgehen. Wir tun uns also gegenseitig einen Gefallen, okay?“

„Ich finde immer noch, dass du verrückt bist.“

„Wie auch immer, ich gehe mir jetzt einen Smoking kaufen“, hatte Jax entgegnet und war davongefahren.

Um fünf Uhr schlüpfte er frisch geduscht und rasiert in Kevins Zimmer in den brandneuen Smoking. Er konnte sich nicht erinnern, bei seinen eigenen Schulfesten jemals derart nervös gewesen zu sein.

Da Kellys Zimmertür noch geschlossen war, holte er die Blumen, die er für sie gekauft hatte, aus dem Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer, um dort auf sie zu warten.

Nolan O’Brian lag auf der Couch und las die Zeitung. Er blickte auf und lächelte. Er war eine ältere Version von Kevin, hatte die gleiche stämmige Statur, die rötliche Haarfarbe und die unzähligen Sommersprossen, das sonnige Gemüt. „Du bist also der aufopferungsvolle Ersatzmann“, bemerkte er jovial.

„Es ist kein Opfer, Nolan“, entgegnete Jax, setzte sich in den Schaukelstuhl und legte die Blumen auf den Tisch.

„Ein Ansteckbukett und ein Dutzend Rosen“, bemerkte Nolan. „Ich habe mich schon gefragt, wann du bemerkst, dass Kelly fast erwachsen ist. Es scheint passiert zu sein.“

Jax lächelte.

Nolan faltete die Zeitung zusammen. „Ich brauche dir wohl nicht die übliche Rede zu halten wie den anderen Jungs, die Kelly ausführen. Du weißt schon: ‚Fahr nicht angetrunken Auto und bring sie vor Mitternacht nach Hause‘.“

Jax nickte. „Ich kenne deine Regeln. Aber den Zapfenstreich solltest du heute vielleicht auf später verlegen. Kelly hat mir gesagt, dass der Ball bis zum Morgengrauen dauert, und wenn es warm genug ist, wollen alle anschließend an den Strand gehen.“

„Okay“, sagte Nolan und setzte sich auf. „Vergiss nur nicht, dass sie wesentlich älter wirkt, als sie ist.“

„Ich weiß.“

„Gut.“

Zehn Minuten später saß Kelly neben Jax in seinem kleinen roten Spitfire, und sie fuhren in die Stadt zu dem Restaurant, in dem er einen Tisch reserviert hatte.

Er warf ihr einen Seitenblick zu und stellte erneut fest, wie wundervoll und elegant sie aussah.

Sie trug das fabelhafte blaue Kleid und hatte sich die Haare hochgesteckt. Ihr hübsches, frisches Gesicht war ausnahmsweise geschminkt und sah exotisch schön aus.

Sie war eine Kindfrau, eine Mischung aus Unschuld und Reife. Sie war unbewusst sexy – oder vielleicht nicht völlig unbewusst. Sie trug keinen BH unter dem Kleid, weil es einen tiefen Rückenausschnitt aufwies. Das Oberteil war zwar nicht eng anliegend, aber wenn sie sich bewegte, schmiegte sich der fließende Stoff an ihren gertenschlanken Körper, und die Wirkung war schlichtweg aufreizend.

Er hatte geglaubt, dass es ihm nach all den Jahren der engen Freundschaft nicht schwerfallen würde zu bedenken, dass sie noch ein Kind war. Doch sein Puls ging zu schnell, sein Herz hämmerte. Er zwang sich, tief durchzuatmen.

„Seltsam“, bemerkte sie mit einem leisen Lachen. „Du wirkst genauso angespannt, wie ich mich fühle.“

„Ich bin nicht angespannt“, widersprach er. „Du schon?“

„Ja“, gestand sie mit ihrer üblichen Offenheit ein.

Er hielt an einer roten Ampel an und musterte sie. Ihr Gesicht war ihm so vertraut. Er kannte sie so gut. Oder etwa nicht? Er kannte das Kind, nicht die Frau, zu der sie irgendwie in den letzten Monaten herangereift war. Mit funkelnden Augen erwiderte sie seinen Blick.

Ein kurzes Hupen des Wagens hinter ihm sagte ihm, dass die Ampel umgesprungen war. Er fuhr weiter. Nach einer Weile warf er Kelly einen Seitenblick zu. Sie hielt den Blick auf die kleine Handtasche in ihrem Schoß gesenkt, und ihre Wangen glühten vor Verlegenheit.

Er erkannte, dass sie genau wusste, was er fühlte. Er hatte schon vor langer Zeit gemerkt, dass er nichts vor ihr verbergen konnte. Warum also wunderte es ihn, dass sie ihn nun durchschaute?

Wäre sie achtzehn gewesen, hätte er sie hemmungslos umworben, sie sogar verführt. Auf jede erdenkliche Weise hätte er ihr gesagt und gezeigt, dass er sie liebte. Und er hätte ihr sogar einen Heiratsantrag gemacht. Doch sie war minderjährig.

Unwillkürlich fragte er sich, ob Nolan und Lori ihre Einwilligung zu einer sofortigen Heirat geben würden. Aber er verwarf den Gedanken sogleich wieder. Kelly war einfach zu jung. Also blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er musste auf sie warten.

„Komisch“, bemerkte sie mit einem unsicheren Lachen. „Ich habe dich noch nie so still erlebt.“

„Entschuldige. Ich habe nachgedacht.“

„Über das Jobangebot von der Zeitung in London?“

„Was sagst du dazu? Soll ich es annehmen?“

Sie schwieg lange, bevor sie schließlich erwiderte: „Ich kann nicht objektiv darauf antworten. Es gibt alle möglichen Gründe, die dafür sprechen. In London zu leben, muss toll sein. In ein paar Jahren als fest angestellter Reporter könntest du dir einen Namen machen, und wenn du dann den Roman schreibst, von dem du ständig redest, würde er sich leichter verkaufen lassen.“

„Aber?“, hakte er nach.

„Ich würde dich vermissen. Deshalb kann ich nicht objektiv antworten. Ich will nicht, dass du auf der anderen Seite vom Atlantik lebst.“

Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte ihn. „Dann bleibe ich hier und suche mir hier in Boston einen Job.“

„Tyrone, mach keine Witze.“

„Es ist mein Ernst.“

„Aber …“ Sie verstummte verblüfft, als er auf den Parkplatz des vornehmsten Restaurants von ganz Boston einbog. „Was wollen wir denn hier?“

„Dinieren.“

„Aber hier ist es zu teuer.“

„Für dich ist mir nichts zu teuer“, versicherte er.

Ihre Augen funkelten vergnügt. „Wieso liegen dir nicht alle Frauen der Stadt zu Füßen? Dein Charme stellt sogar James Bond in den Schatten.“

„Es liegt an meinem Namen. T. Jackson Winchester der Zweite. Das ist viel zu lang. Bis ich ihn ausgesprochen habe, sind alle tollen Frauen eingeschlafen oder mit einem Mann mit kürzerem Namen abgehauen.“

Kelly lachte, und Jax blickte zur Uhr. Es dauerte noch zweieinhalb Stunden, bis der Ball begann, bis er mit ihr tanzen, bis er sie in die Arme schließen konnte. Zweieinhalb Stunden zu lange.

Doch verglichen mit den vierhundertneunundfünfzig Tagen, die er bis zur Hochzeit warten musste, war es eine unbedeutende Zeitspanne.

Er öffnete die Tür. „Gehen wir rein?“

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. „Jackson …“ Sie verstummte verlegen und zog ihre Hand wieder fort.

Er drehte sich zu ihr um. „Oho. Du nennst mich nur so, wenn du mir böse bist. Was habe ich getan?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte dich etwas fragen, aber ich weiß nicht wie.“

„Du warst doch bis jetzt immer offen. Frag einfach.“

Sie starrte auf ihre Hände, schüttelte den Kopf. Dann lachte sie und blickte ihn wieder an. „Es ist eine dumme Frage, aber … ist es ein richtiges Date?“

„Ich glaube schon. Was ist denn für dich ein richtiges Date?“

„Wenn man mit jemandem ausgeht, den man so sehr mag, dass man sich zum Abschied küsst.“

Er schluckte schwer und brachte hervor: „Dann ist es ein richtiges Date.“

„Könnten wir …“ Sie hielt inne, lachte verlegen. „Es klingt verrückt, aber der Gedanke, dich zu küssen, macht mich echt nervös, und …“

„Dann werde ich dich nicht küssen“, versprach er.

„Das meine ich nicht. Weißt du, ich dachte mir, wenn du mich jetzt gleich küsst, dann brauche ich nicht mehr nervös zu sein. Ich meine, es würde die ganze Situation entspannen, meinst du nicht?“

Nein, er meinte nicht, dass es ihn entspannen würde. Dennoch beugte er sich zu ihr, legte ihr eine Hand an die Wange. Ihre Haut war unglaublich zart. Er strich mit dem Daumen über ihre Lippen.

Lächelnd schloss sie die Augen und hob das Gesicht, und er senkte den Kopf. Ihre Lippen waren warm und weich unter seinen, und es kostete ihn all seine Willenskraft, es bei einem flüchtigen Kuss bewenden zu lassen.

Atemlos wich er zurück und blickte sie an. Ihre Brüste hoben und senkten sich heftig, so als fiele auch ihr das Atmen schwer.

„T., hör nicht auf“, flüsterte sie. „Bitte.“

Wider jede Vernunft senkte er erneut den Kopf. Diesmal schlang sie die Arme um seinen Nacken und vergrub die Finger in seinen Haaren. Sie öffnete die Lippen und berührte seine mit der Zungenspitze.

Er schloss sie in die Arme und zog sie sanft an seine Brust. Er verspürte den Drang, sie auf seinen Schoß zu ziehen, ihre Brüste zu umschmiegen und sie zu küssen, bis sie achtzehn wurde. Und dann wollte er mit ihr schlafen. Er wollte ihr erster Liebhaber sein – und ihr letzter.

Stürmisch vertiefte er den Kuss, und sie zog ihn noch näher an sich und erwiderte seine Liebkosung voller Leidenschaft.

Plötzlich existierte nichts anderes mehr für ihn als Kelly, die ihn besser als jeder andere auf der Welt kannte, der er all seine Geheimnisse anvertraute. Alle, einschließlich des Geheimnisses, dass er sie liebte, wie ein Mann eine Frau liebt.

Doch irgendwie fand er die Kraft, die Lippen von ihren zu lösen.

„O T., so bin ich noch nie geküsst worden“, wisperte sie.

Er schloss die Augen, hielt sie in den Armen, den Kopf an seiner Schulter. Seltsam gemischte Gefühle durchströmten ihn. Erleichterung und Schuldgefühl, Liebe, Glück und Kummer.

Er hielt sie fest, bis sich sein Puls wieder einigermaßen beruhigt hatte. Dann gab er sie frei und zog mit zitternden Fingern den Schlüssel aus dem Zündschloss. „Lass uns jetzt essen gehen, ja?“

Lächelnd drehte sie den Rückspiegel zu sich und erneuerte ihren Lippenstift, während er ausstieg und zur Beifahrertür ging. Er reichte ihr die Hand, und sie legte ihre kühlen, schlanken Finger hinein. Der Schlitz in ihrem Kleid bot ihm einen atemberaubenden Blick auf ihre wohlgeformten Beine, und dann war sie ausgestiegen.

Als sie zur Eingangstür gingen, legte sie ihm eine Hand auf den Arm und murmelte: „Es hat in punkto Entspannung nicht viel genützt, oder?“

Lachend schüttelte er den Kopf. „Nein, Kel, es hat gar nichts genützt.“

„Na ja, wenigstens bin ich jetzt nicht mehr nervös.“

Das konnte er nicht bestätigen. Im Gegenteil. Er war doppelt so nervös wie vorher.

4. KAPITEL

Liebe Kelly!

Ein neuer Morgen dämmert, und noch immer sitze ich in dieser elenden Zelle.

Einer der Wärter hat mir aus Mitleid drei amerikanische Taschenbücher zukommen lassen, die in dem Hotel zurückgelassen wurden, in dem seine Frau als Zimmermädchen arbeitet.

Alle drei sind Liebesromane. Einer ist lang und historisch, die beiden anderen sind kürzer und zeitgenössisch. Ich verschlinge sie eifrig im schwachen Licht, das durch mein winziges Fenster fällt. Immer wieder lese ich sie und erfreue mich an den Happy Ends.

Du kommst zu mir nach Sonnenuntergang, wenn es zu dunkel ist, um zu lesen, und ich zeige Dir stolz die Bücher. Es sind meine kostbarsten Besitztümer, und ich verstecke sie sorgsam vor den anderen Wärtern.

Heute bist Du sechzehn, und Du blätterst im Finstern in den Büchern, weit mehr interessiert an dem Papier als an den Worten. „Wenn du ganz klein schreibst“, sagst Du, „kannst du dieses Papier benutzen und zwischen die Zeilen schreiben.“

Ich starre Dich benommen an.

Du lachst. „T., du hast doch immer gesagt, dass du ein Buch schreiben willst, wenn du die Zeit dafür findest. Nun, jetzt hast du genug Zeit.“

„Ich habe aber nichts zu schreiben.“

„Frag den Wärter, der dir die Bücher gegeben hat.“

„Das werde ich tun.“

Du lächelst, und mir wird plötzlich bewusst, dass Du Dein Ballkleid trägst. Du bist so wundervoll, dass mein Herz fast zu schlagen aufhört.

Du beugst Dich zu mir und küsst mich, und ich spüre Deine weichen Lippen und rieche Deinen Duft. Du nimmst mich mit Dir, zurück in die Vergangenheit, und eine kleine Weile lang bin ich nicht mehr in dieser Zelle. Ich sitze neben Dir in meinem Sportwagen, glatt rasiert und frisch geduscht, in meinem Smoking, und wir küssen uns.

Du bist immer noch so jung, und ich bin inzwischen älter, und doch weiß ich es nicht besser.

Ich liebe Dich.

Herzliche Grüße, T.

Es war weit nach acht Uhr abends, als Kelly den Computer herunterfuhr und die Lichter in ihrer Wohnung löschte. Dann trat sie an das Fenster im Wohnzimmer, um es zu schließen. Das Starten eines Motors erregte ihre Aufmerksamkeit. Im Schein der Straßenlaterne sah sie einen schnittigen Sportwagen davonfahren, mit einem goldblonden Mann am Steuer.

Zorn stieg in ihr auf. Was, zum Teufel, dachte T. sich dabei, wer weiß wie lange vor ihrem Haus im Wagen zu sitzen und ihr bis tief in die Nacht nachzuspionieren?

Die einzige Antwort, die ihr einfiel, war alarmierend. Es musste an der Anziehungskraft liegen, der sie am Abend ihres Schulfests beinahe erlegen wären, die sie noch immer spürte, wenn er in ihrer Nähe war. Offensichtlich erging es ihm ebenso.

Kelly ging zu Bett und schloss die Augen. Sie war müde, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Schließlich gab sie es auf und ließ sich von ihren Erinnerungen zurückversetzen zu jenem wundervollen, furchtbaren Samstagabend des Balls.

Sie wusste nicht mehr, was sie zum Dinner in dem vornehmen Restaurant zu sich genommen hatte. Wahrscheinlich hatte sie es nicht einmal damals wirklich gewusst, denn T. Jackson Winchester der Zweite hatte ihre Aufmerksamkeit derart gefesselt …

Nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatten, hielt er ihre Hand, spielte mit ihren Fingern und ließ sie an die heißen Küsse in seinem Auto denken. Er hielt ein beständiges Gespräch in Gang über Bücher, Filme, Musik und alles Mögliche, doch ein seltsames Funkeln in seinen Augen verriet, dass auch er daran dachte, sie erneut zu küssen.

Als der Kellner beiden als Aperitif ein Glas Wein servierte, blickte T. sie erstaunt an, doch er sagte nichts.

„Ich werde immer älter geschätzt, als ich bin“, bemerkte sie. „Das war früher richtig nervig. Als ich elf war, musste ich der Kartenverkäuferin im Kino immer meinen Ausweis zeigen, um die Kinderermäßigung zu kriegen.“ Sie lächelte. „Aber jetzt macht es sich allmählich bezahlt.“ Sie drehte das langstielige Weinglas zwischen den Fingern. „Ich wünschte, ich wäre schon achtzehn.“

„Ich auch.“

„Ich habe das Gefühl, immer nur zu warten.“ Kelly blickte ihm in die stürmischen, graugrünen Augen. „Ich weiß genau, was ich will, aber es dauert noch Jahre, bis mein Leben richtig anfängt.“

„Vierhundertneunundfünfzig Tage.“

Überrascht blickte sie ihn an.

„Ich zähle mit.“ Abrupt beugte er sich zu ihr vor. „Was willst du denn vom Leben?“

Dich, hätte sie beinahe gesagt. „Ich will, was ich immer wollte – Schriftstellerin werden.“

„Dann sei es einfach. Dass du noch zu Hause wohnst und zur Schule gehst, bedeutet nicht, dass du nicht schreiben kannst, dass deine Geschichten nicht in Zeitschriften veröffentlicht werden. Wenn du wirklich weißt, was du willst, dann nimm es dir, arbeite daran, stürz dich hinein.“

Seine Miene war so ernst. Kelly musterte seine makellosen Züge. Nach außen hin wirkte er stets cool und beherrscht. Seine Küsse hatten ihr verraten, welche Leidenschaft in ihm brodelte, doch selbst dabei hatte sie seine Zurückhaltung gespürt. Sie hatte ihn nie wirklich unbeherrscht erlebt.

Als er sie nun über den Tisch hinweg anschaute, lag in seinen Augen dieselbe feurige Intensität wie vorhin im Auto, bevor er sie geküsst hatte. Doch dann löste er den Blick von ihr und starrte auf seinen Teller, so als hätte er ihn bisher nicht bemerkt.

Wenn du wirklich genau weißt, was du willst, hatte er gesagt, dann nimm es dir …

Sie wollte T., daran bestand kein Zweifel. Und sie wollte ihn für immer. „Da ist noch etwas“, sagte sie leise, und er blickte sie verständnislos an. „Da ist noch etwas, was ich will.“

Sie beobachtete, wie die Verständnislosigkeit von seinem Gesicht wich und das feurige Funkeln erneut in seine Augen trat. Sie brauchte es nicht auszusprechen. Er wusste, dass sie ihn wollte.

Er lächelte, doch es wirkte ein wenig traurig. „Ach, Kel, was soll ich bloß mit dir tun?“

Sie griff zur Gabel und spielte mit dem Essen auf ihrem Teller, bevor sie erwiderte: „Du könntest damit anfangen, mich zu einem neuen Date einzuladen.“

Er nahm ihre Hand. „Was hast du morgen Abend vor?“

Kelly spürte ihr Herz höher schlagen. Er nahm sie tatsächlich ernst! „Nichts weiter.“

„Gehst du mit mir ins Kino? Wir könnten vorher oder nachher etwas essen, je nachdem, wann der Film anfängt.“

Kelly blickte auf ihren beinahe unberührten Teller hinab und lachte. „Das Essen sollten wir vielleicht ausfallen lassen. Wir scheinen in letzter Zeit beide keinen großen Hunger zu haben.“

Er drückte ihre Hand. „Heißt das Ja?“

Sie nickte.

„Willst du am Montag auch mit mir ausgehen?“

„Ja.“

„Dienstag?“

„Ja.“

„Gut.“ Jax lächelte. „Dann bleiben nur noch Mittwoch, Donnerstag und Freitag … und das nächste Jahr und vierundneunzig Tage. Gehst du an denen auch mit mir aus?“

Überglücklich blickte Kelly ihm in die Augen. „Ja“, flüsterte sie. Er zog ihre Hand an die Lippen und küsste zärtlich ihre Fingerspitzen. „Gut.“

„Warum nur ein Jahr und vierundneunzig Tage?“, hakte sie nach.

Er küsste ihre Handfläche, und sie rang nach Atem, als eine Woge der Hitze durch ihren Körper strömte. „Weil du in einem Jahr und vierundneunzig Tagen achtzehn wirst.“

„Und was passiert dann?“

„Vieles.“ Er küsste die Innenseite ihres Handgelenks, und ihr Herz begann zu pochen.

Sie fühlte sich beinahe überwältigt von ihren Empfindungen. Sie wollte ihn erneut küssen, und sie wollte …

Sie wusste über Sex Bescheid, hatte Bücher gelesen, Filme gesehen, Leute reden gehört. Aber sie hatte nie verstanden, warum so ein Aufhebens darum gemacht wurde. Bis zu diesem Augenblick.

„Wenn du achtzehn wirst, fängst du mit dem College an.“ Er lächelte sie an. „Du ziehst von zu Hause aus. Du heiratest mich.“

Kelly entzog ihm die Hand. „Tyrone, mach dich bitte nicht darüber lustig.“

„Ich mache mich nicht darüber lustig“, versicherte er, und das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden.

Kelly fühlte sich benommen. „Ich dachte, dass der Mann die Frau traditionsgemäß fragt, ob sie ihn heiraten will. Er stellt sie nicht vor die vollendete Tatsache.“

„Oh, ich werde dich fragen. Sobald du achtzehn bist, Kelly, werde ich dich fragen …“

Aber er hatte es nicht getan. Kurz nach dem Schulfest war er aus der Stadt verschwunden. Obwohl er sämtliche Versprechungen jenes Abends gebrochen hatte, hatte sie ihren ganzen achtzehnten Geburtstag auf ihn gewartet.

Tränen brannten in ihren Augen, als sie an die bittere Enttäuschung, den Schmerz zurückdachte. An jenem Tag hatte sie sich überzeugt, dass sie aufgehört hatte, T. Jackson Winchester den Zweiten zu lieben. An jenem Tag hatte sie schließlich eingewilligt, mit Brad Foster auszugehen.

Autor

Suzanne Brockmann
Die international erfolgreiche Bestsellerautorin Suzanne Brockmann hat über 45 packende Romane veröffentlicht, die vielfach preisgekrönt sind. Ehe sie mit dem Schreiben begann, war sie Regisseurin und Leadsängerin in einer A-Capella-Band. Mit ihrer Familie, zu der seit Neuestem zwei Schnauzer-Welpen gehören, lebt sie in der Nähe von Boston.
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