Julia Best of Band 279

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KEINE LIEBE OHNE RISIKO

Muss Eve alles auf eine Karte setzen, wenn sie den Bankier Drew für sich gewinnen will? Seit dessen Ex-Verlobte Charlotte plötzlich zurück ist, kann sie sich nicht mehr sicher sein, ob seine Küsse ernst gemeint sind. Vielleicht möchte er nur seine Ex eifersüchtig machen?

EIN SÜSSES BIEST

Sexy Kurven und tiefrote Lippen: Hope ist Verführung pur! Nur, wenn sie anfängt zu sprechen, ist Alex entsetzt: Was für ein Biest das süße Model sein kann! Sie ist wirklich nicht die Richtige für den Unternehmer. Warum nur sehnt er sich so nach ihr? Er weiß doch, dass Frauen wie Hope nie nur einem Mann gehören …

HEIRATSANTRAG IN CORNWALL?

Mit Samantha meint Alessandro es wirklich ernst: Sie ist nicht wie die anderen, die nur seinen italienischen Charme und sein riesiges Vermögen anhimmeln. Er liebt sie und das Kind, das in ihrer stürmischen Liebesnacht in Cornwall entstand. Warum nur glaubt sie ihm nicht?


  • Erscheinungstag 08.06.2024
  • Bandnummer 279
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526050
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kim Lawrence

JULIA BEST OF BAND 279

1. KAPITEL

„Wir müssen es nicht tun … weißt du …?“

Eve hatte Mitleid mit dem halbwüchsigen Jungen. „Uns küssen? Bestimmt nicht“, antwortete sie in entschiedenem Ton. Der Anflug eines Lächelns lag auf ihren Lippen, als er sich mit einem wenig schmeichelhaften Seufzer, die schmalen Schultern hochgezogen, nach hinten in das lederne Chesterfieldsofa plumpsen ließ.

„Es ist nicht persönlich gemeint“, fügte er hinzu. Er warf einen kurzen Blick in ihre Richtung, nur um zu sehen, ob sie seine kolossale Zurückweisung auch verkraftete.

„Keine Sorge. Ich werd’s überleben.“ Das belustigte Leuchten in ihren lebhaften dunkelbraunen Augen strafte den Ernst ihrer Worte Lügen.

Es sagt viel aus über die Überredungskünste meines Bruders, dachte sie mit unfreiwilliger Bewunderung für ihr manipulatives Bruderherz, dass wir beide hier wie bestellt und nicht abgeholt auf dem Sofa von Daniel Becks Eltern im Ehrfurcht gebietenden, prächtigen Haus von Daniel Becks Eltern sitzen. Eve gab sich alle Mühe, sich von ihrer Umgebung nicht einschüchtern zu lassen. Bis heute hatte sie nicht gewusst, aus welchen Verhältnissen der ruhige, ernste Freund ihres Bruders stammte. Alles in diesem prachtvollen Haus verriet Geschmack und Geld – enorm viel Geld.

Zweifellos hatte dieses Sofa noch kein Designerlabel gesehen, wie ihr schwarzer Seidenrock es eingenäht hatte. Und bestimmt war es das Einzige, das sie jemals trug – oder für diesen Zweck tragen würde.

Und das nicht nur, weil ihre Einkünfte einen solchen Luxus nicht erlaubten. Eve kleidete sich lieber bequem als auffallend. In ihrem Schrank hing das Prachtstück von einem Rock, den sie zu Hochzeiten, Beerdigungen und Gesprächen mit dem Filialleiter ihrer Bank herausholte. Wahrscheinlich fühlte sie sich genauso unbehaglich wie der arme Daniel, der aussah, als – nun, offen gesagt, er sah aus, als würde er sich am liebsten ganz schnell aus dem Staub machen.

Sie warf einen Blick auf ihre klobige Armbanduhr, die entschieden nicht zu ihrem aufreizenden Outfit passte. Nick hatte es geschafft, sie mit seinen ausführlichen Anweisungen auf die Folter zu spannen. „Jetzt dauert es nicht mehr lange.“

„Oje!“

Genau das denke ich auch! Sie brachte ein Lächeln zustande. Es sollte beruhigend und mütterlich sein. Was das Mütterliche betraf, so war es nicht allzu schwierig. Zeitlich trennten sie etwa fünf Jahre von diesem Jungen. Aber in jeder anderen Hinsicht fühlte sie sich um Jahrhunderte älter.

„Wie lange sind deine Eltern noch weg, Daniel?“ Ich bringe Nick um, weil er mich zu dieser Sache überredet hat, dachte sie, als ihre Wangenmuskeln anfingen, vom angestrengten Lächeln wehzutun. Was mach ich bloß, wenn er mir ohnmächtig wird, bevor sie alle hier ankommen? Oder, schlimmer noch, wenn er sich übergeben musste auf diesem Teppich – einem Teppich, der, nebenbei gesagt, viel zu kostbar aussah, um betreten zu werden. Die Vorstellung vom drohenden Verhängnis nahm immer deutlichere Gestalt an.

„Mums Buchtournee in den Staaten dauert noch etwa eine Woche“, sagte Daniel teilnahmslos. „Dad kommt vielleicht ein paar Tage früher – das Geschäft, du weißt ja.“

Mir wäre es nur recht, wenn er genau jetzt durch diese Tür hereinspaziert käme, dachte sie und richtete den Blick hoffnungsvoll auf den holzvertäfelten Eingang. Bei den wenigen Gelegenheiten, die sie Alan Beck getroffen hatte, hatte er auf sie den Eindruck eines warmherzigen, freundlichen Mannes gemacht, der durchaus imstande schien, ohne fremde Hilfe die Probleme seines Sohnes zu lösen.

„Die Glücklichen. Ich hätte nichts dagegen, jetzt auch dort zu sein.“ Besser irgendwo sonst auf der Welt als hier. War sie weichherzig? Wohl eher doof!

„Mum ist nicht gern von zu Hause weg.“

Bei diesem Zuhause? Wer könnte ihr das verdenken? dachte Eve mit einer Spur Neid. Nächsten Monat würde sie es sich endlich leisten, ihre Küche frisch zu streichen. Eine neue Winterjacke brauchte sie eigentlich nicht, die alte tat es auch noch.

„Da ist sie ganz anders als Onkel Drew! Er war schon überall.“

Nicht Onkel Drew! Eves Stöhnen wich schnell einem leisen Laut, der Interesse signalisierte. Das genügte, und Daniel begann, sich eifrig über das Thema auszulassen – sie hatte es befürchtet. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich leicht, als Daniel immer mehr ins Schwärmen geriet, in seine blassen Züge Leben kam, während er die Tugenden seines Helden in den höchsten Tönen pries.

Eve wusste alles über Onkel Drew. Sie hätte eine Doktorarbeit schreiben können über diesen Mann und all die kühnen, mannhaften Taten, mit denen er sich offenbar hervortat. Seit der Onkel eingezogen war, um während der Abwesenheit seiner Eltern hier zu wohnen, war er Daniels Hauptgesprächsthema – nein, er war das einzige Gesprächsthema überhaupt. Ausgenommen das Dilemma, aus dem dieses verrückte Theater ihn herausholen sollte.

Für Eve hörte es sich an, als wäre Onkel Drew ein Spätentwickler. Sie konnte ihn sich gut als verwöhntes Kind reicher Eltern vorstellen, das sich zu genau jenem überheblichen, unreifen Macho entwickelt hatte, den sie partout nicht ausstehen konnte. Ein Exemplar für den Zoo!

Sie schüttelte sich angewidert, als sie im Geiste seinen sorgfältig gehegten und gepflegten Bizeps und sein übergroßes Ego vor sich sah. Sie hatte den starken Verdacht, dass die meisten seiner angeblichen Heldentaten reine Erfindung waren. Für einen empfindsamen Jungen wie Daniel, der wegen seiner fehlenden sportlichen Fähigkeiten schon zu Minderwertigkeitskomplexen neigte, war er ein geradezu abschreckendes Beispiel.

„Onkel Drew sagt …“ Daniel verstummte plötzlich mitten im Satz, und ihr blieben weitere Einzelheiten seines Personenkults erspart. „Sie kommen die Auffahrt herauf“, flüsterte er. Von Entsetzen gepackt, blickte er starr durch das Fenster auf die weit geschwungene Zufahrt hinaus. „Ich kann sie schon sehen! Was machen wir jetzt?“

„Nur keine Panik“, sagte Eve, als sie merkte, dass ihr die Nerven flatterten. „Zerzaus dir das Haar.“ Sie sah ihn an und krauste kritisch die Stirn. Die letzte Anweisung ihres Bruders schoss ihr in den Sinn: „Um Himmels willen, Evie, zeig ein bisschen Bein“, und schon schob sie den kurzen Rock ihres schwarzen Kleids höher.

„Was?“

„Einfach so.“ Sie fuhr sich ungeduldig mit den Fingern durch das kurze, gewellte schwarze Haar. „Komm, lass mich mal machen“, sagte sie, der Verzweiflung nah. Sie beugte sich vor und verwuschelte dem Jungen die blonden Locken. „Und jetzt leg den Arm um mich, damit es so aussieht, als hätten wir uns gerade … geküsst.“

Daniel rückte unbeholfen ein Stückchen näher an sie heran. „Das kann ich nicht. Ich habe noch nie …“

Wir zwei beide, Kumpel, dachte sie und lächelte ironisch. „Macht nichts, ich zeige dir, was du tun musst.“ Das war der klassische Fall, in dem der Lahme den Blinden führte!

„Darauf möchte ich wetten, Süße.“ Die tiefe, eiskalte Stimme ließ sie augenblicklich erstarren. „Aber ich glaube nicht, dass Daniel Anleitungen von einer wie Ihnen braucht.“

Auf geradezu beleidigende Art ließ er den messerscharfen Blick über ihre große, athletisch schlanke Figur gleiten.

Er taxierte sie: Sie war kein linkisches Schulmädchen, sie war eine Frau, die wusste, was sie tat. Und dass sie die Absicht hatte, es mit seinem Neffen zu tun, trieb Drew Cummings’ Beschützerinstinkt zu fieberhaften Aktivitäten an.

„Einer wie mir?“ Was, zum Donnerwetter, meinte er damit bloß? Eve sah den Eindringling entrüstet an. Sie musste nicht studiert haben, um zu wissen, dass es ihr nicht gefallen würde, was immer er auch damit meinte.

Noch während er sie kurzerhand vom Sofa zerrte, dämmerte Eve, dass sie nun endlich die Bekanntschaft mit jenem schrecklichen Onkel Drew machte. Selbst wenn es ihr nicht gedämmert wäre, hätte Daniels zögerliches „Ich dachte, du wärst weg“ den entscheidenden Ausschlag gegeben.

Wie sich zeigte, hatte Daniel bei der Beschreibung der körperlichen Attribute seines Onkels nicht übertrieben. Seine Armmuskeln, mit denen sie gerade Bekanntschaft machte, waren ausgesprochen gut entwickelt, und die Brust, gegen die sie gerade stieß, war hart wie ein Fels – und noch nass. Onkel Drew war ganz offensichtlich geradewegs von der Dusche hier hereinspaziert. Ein Handtuch hatte er sich um die schmalen Hüften geschlungen, viel zu lässig, wie sie fand, ein zweites hing über seinen Schultern. Ihre empfindlichen Nasenflügel bebten leicht, als sie einen Schwall durchdringenden, frischen Dufts wahrnahm.

„Eines Tages wirst du noch froh sein, dass ich heute nicht weg war, Dan.“ Drew Cummings lächelte seinen Neffen ironisch an, bevor er sich wieder Eve widmete. Sofort wurde sein Ausdruck verächtlich. „Tut mir leid, Süße.“ Augen, groß und sanft wie die eines verschreckten Rehs, sahen ihn an, voller Erstaunen und Unschuld. Unschuld? Das war stark! „Aber im Gegensatz zu Dan bin ich nicht daran interessiert, mit einer wie Ihnen etwas anzufangen.“

In ihren braunen Augen blitzte Wut auf. Doch sie musste zugeben, dass wohl jeder diese Situation falsch ausgelegt hätte. Er würde sich ziemlich albern vorkommen, wenn er wüsste, was genau sich abspielte. Und es war Zeit, die Dinge klarzustellen.

„Es ist nicht so, wie es aussieht, Mr Cummings.“

„Sie kennen meinen Namen?“ Argwöhnisch kniff er die blauen Augen zusammen.

Name, Schuhgröße, Lieblingsfarbe … „Daniel redet die ganze Zeit nur von Ihnen.“

Darauf möchte ich wetten, dachte Drew und ließ den Blick über die unglaublich langen, schlanken Beine des Mädchens gleiten. Den Halbwüchsigen, der einer so verdammt sexy aussehenden Frau nicht alles erzählen würde, was sie wissen wollte, müsste er erst noch kennenlernen. Er konnte sich nur allzu gut daran erinnern, wie es war, wenn die Hormone verrücktspielten.

Sie war nicht der Typ, auf den er persönlich stand. Er bevorzugte kleine blonde Frauen. Aber es war unschwer zu erkennen, was Dan in ihr sah. Das Mädchen selbst hatte offensichtlich einen Riecher für Geld. Er mochte zynisch sein, aber Gefühle auf ihrer Seite schloss er mit ziemlicher Sicherheit aus. Eines stand fest: Sie würde ihre Schlingen nicht noch enger um seinen Neffen ziehen.

„Dann sind Sie mir gegenüber im Vorteil.“ Eve fand sein Lächeln viel bedrohlicher als alle Beschimpfungen, die er ihr an den Kopf hätte werfen können. „Nein, sagen Sie mir Ihren Namen lieber nicht.“

Wenn Katie jemals von der Sache erfuhr, wäre er geliefert. Seine Schwester war sehr besorgt – übermäßig besorgt, wie manche fanden – um ihr einziges Kind. Ihr Ehemann hatte seine ganze Überredungskunst aufbieten müssen, um sie davon zu überzeugen, dass ihr jüngerer Bruder durchaus geeignet war, sich vorübergehend um das körperliche und sittliche Wohl ihres Sohnes zu kümmern. „Ich wollte nicht …“

Wie er sie ansah! Sie schauderte und schüttelte den Kopf, während sie es aufgab, sich bei ihm entschuldigen zu wollen. So wie er hatte bisher noch kein Mann sie angesehen.

Dieser muskelbepackte Tyrann war nicht das, was sie sich vorgestellt hatte – er war noch viel schlimmer! Wenn er nur angezogen gewesen wäre. Es war nahezu unmöglich, den Blick von dieser nackten, goldbraunen Brust abzuwenden, die, wie auch die Schultern, so breit war im Vergleich zu den schmalen Hüften. Die wiederum waren so schmal, dass man befürchten musste, das Handtuch würde jeden Moment darüber rutschen. Wenn das Undenkbare geschah, würde es ihn vermutlich nicht einmal in Verlegenheit bringen. Schamgefühl schien keine seiner Charaktereigenschaften zu sein, wenn man ihn sich genauer betrachtete! Unerträgliche Arroganz und Überheblichkeit dagegen schon eher.

War die Körperbehaarung eines Mannes normalerweise eine Schattierung dunkler als seine Kopfbehaarung? In seinem Fall ja. Rasch hob sie den Blick.

Selbst mit ihren hohen Absätzen musste sie noch zu ihm aufblicken. Diese Erfahrung war ihr neu und gefiel ihr gar nicht. Sie schätzte ihn auf etwa eins neunzig. Ihre Abneigung gegen ihn wurde auch dann nicht weniger, als sie sein Gesicht musterte. Sein kantiges Kinn ließ auf wenig Kompromissbereitschaft schließen. Und seine Züge, die blauen Augen und der feste, wie gemeißelte Mund vereinten auf wundersame Weise Ebenmäßigkeit mit Individualität, was es unmöglich machte, ihn anders als gut aussehend zu bezeichnen.

Wenn er sie jetzt noch einmal so spöttisch anlächelte, würde sie dem immer stärker werdenden Wunsch nachgeben und ihm ganz undamenhaft eine reinhauen.

„Oh doch, Sie wollen – nämlich gehen, und zwar sofort.“

„Onkel Drew, nein!“ Daniel fand seine Stimme wieder, als sein Onkel die Hand schwer auf Eves Schulter fallen ließ. „Du verstehst nicht.“

Die Härte schwand aus seinem Blick, als er ihn auf Daniels entsetztes Gesicht richtete. „Ich verstehe sehr gut. Bestenfalls ist sie ein Flittchen mit Herz, Dan – schlimmstenfalls ein berechnendes kleines Miststück, das es auf Jungen wie dich abgesehen hat, weil jeder mit etwas mehr Erfahrung sehen kann, was hinter ihrem unschuldigen Blick, ihrem hübschen Gesicht und sexy Körper steckt.“ Sein verächtliches Lächeln ließ keinen Zweifel daran, welche Version er bevorzugte.

Sexy Körper! Sie traute ihren Ohren nicht.

„Als ich hereinkam, sah es so aus, als hättet ihr euch gerade anders entschieden. Habe ich recht, Dan?“

„Ja. Aber nein … Sie ist …“, begann Daniel und warf Eve erschrocken einen entschuldigenden Blick zu.

Eve sah zu Daniel hinüber und wünschte, er würde endlich mit der Erklärung herausrücken. Aber seit wann brauchte sie jemanden, der für sie sprach?

„Die alten Tricks, die sie dir beibringen kann, willst du doch gar nicht lernen, Dan. Eines Tages wirst du feststellen, dass Fummeln viel Spaß machen kann, vor allem wenn beide fummeln.“

Eve, überrascht von seiner unerwarteten Empfehlung, fand ihn einen Augenblick lang sogar beinahe menschlich. Hatte die Erinnerung an ein Mädchen, mit dem er einst gefummelt hatte, diesen fast traurigen Ausdruck in seine Augen gebracht? Nein, wahrscheinlich hat er Magenschmerzen, dachte sie. Er war nicht der Typ, der bei der Erinnerung an eine alte Flamme rührselig und wehmütig wurde.

Die Erwähnung, dass sein perfekter Onkel persönlich mit Fummeln vertraut war, verschlug Daniel vollends die Sprache.

Zweifellos wäre Eve auf schmähliche Weise vor die Tür gesetzt worden, wenn nicht in diesem Augenblick Nick und seine Freunde den Raum betreten hätten. Freunde, die man sorgfältig ausgesucht hatte, weil sie sich so gut darauf verstanden, Klatsch zu verbreiten.

Nick Gordon brauchte nicht seine hervorragenden schauspielerischen Fähigkeiten herbeizuzitieren, um schockiert zu wirken. Nach einem kurzen Moment des Erstaunens und der Befürchtung, sein grandioser Plan könnte baden gegangen sein, erfasste er die Situation und fand seine Gelassenheit wieder. Das Beste, worauf er jetzt hoffen konnte, war Schadensbegrenzung.

„Verzieht euch, die ganze Bande!“, sagte er wie nebenbei.

Es kam Nick nicht in den Sinn, dass seine Freunde nicht gehorchen könnten. Er blickte sich nicht einmal um, um zu sehen, dass sie hinausgingen. Und Eve beneidete insgeheim ihren Bruder um seine Fähigkeit, sich Respekt zu verschaffen.

„Was geht hier vor?“

„Nick?“ Drew Cummings sah den großen jungen Mann mit dem dunklen Haar anerkennend an. „Hast du mit dieser kleinen Einweihungsfeier irgendetwas zu tun?“

„Ist alles in Ordnung, Eve?“, fragte Nick besorgt, ohne den älteren Mann zu beachten. Sie wirkte ein bisschen angespannt. Eve nahm immer alles so ernst. Sie sollte die Dinge wirklich etwas leichter nehmen, dachte er missbilligend. Aber wenn er gewusst hätte, dass die Sache sie so mitnehmen würde, hätte er sie nie um ihre Hilfe gebeten.

„Sieht es so aus, als wäre mit mir alles in Ordnung?“ In Ordnung? Eve unterdrückte ein hysterisches Kichern. „Wirst du jetzt alles klären, Nick?“ Ihre sanfte, angenehme Stimme klang ein wenig hoch.

„Dann kennst du dieses Mädchen also?“ Drew blickte von Bruder zu Schwester, und ihm kam ein arger Verdacht. Verschwörungstheorien nahmen Gestalt an.

„Natürlich kenne ich sie. Sie ist meine Schwester.“

„Lassen Sie Ihren kleinen Bruder oft den Zuhälter für Sie spielen, Engelchen?“

Mitten hinein in die erwartungsvolle Stille schnappte jemand empört nach Luft. Eve drehte sich um und glaubte für einen kurzen Moment, siedend heiße Verachtung in diesen unmöglich blauen Augen zu entdecken. Wenn Nicks Pläne schiefgingen, dann aber gründlich.

Sollte er doch sehen, wie er damit klarkam. Sie würde jetzt von hier verschwinden.

Die Tür, an die sie fast fünf Minuten lang gehämmert hatte, wurde endlich aufgerissen. Eve sah Theo an, der sie zuerst nicht gleich wiedererkannte und dann vor Staunen den Mund gar nicht mehr zubekam.

„Ein Wort, und du bist ein toter Mann“, drohte sie, als sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breitmachte. „Ich habe meinen Schlüssel vergessen.“

Das Grinsen verschwand. „Im neuen Look, Evie?“ Er schmunzelte anerkennend.

„Wenn wir schon von Veränderungen reden …“ Sie ließ den Blick vielsagend über die große, langgliedrige Gestalt ihres Untermieters gleiten. „… bringen die Worte ‚alternder Hippie‘ bei dir Saiten zum Klingen?“ Mit hocherhobenem Kopf, den schmalen Rücken kerzengerade, schritt sie stolz die Stufen hinauf und versuchte, nicht auf das unterdrückte Gelächter zu achten. „Ich hatte heute einen sehr schlechten Tag!“, rief sie warnend über die Schulter.

Der Teppich unter ihren Füßen fing an, fadenscheinig zu werden. Er war nicht das Einzige in dem alten viktorianischen Haus, das ersetzt werden musste – ein Umstand, der sie manche schlaflose Nacht kostete. Nach dem Tod ihrer Eltern vor fünf Jahren hatten die Anwälte als Erstes vorgeschlagen, das weitläufige alte Gebäude zum Verkauf anzubieten.

Wie aber hätte sie ihrem damals dreizehn Jahre alten Bruder das einzige Zuhause, das er je gekannt hatte, wegnehmen können? Er hatte schon seine Eltern verloren, und ein Umzug hätte auch einen Schulwechsel bedeutet. Sie hatte gewusst, dass nach dem Bezahlen der Schulden nicht genug Geld übrig geblieben wäre, um ein anderes Haus in der Gegend zu kaufen. Eve war fest entschlossen gewesen, dass Nick, was immer auch geschehen mochte, niemals leiden – sondern all die Vorteile genießen sollte, die sie selbst gehabt hatte, mit Ausnahme der liebenden Eltern.

Als sie den Anwälten von ihrem Vorhaben erzählt hatte, hatten die sie mit jener Überheblichkeit und Verachtung angesehen, die gewisse Leute Jugendlichen vorbehalten.

Unbrauchbar, hatten sie gesagt. Wirtschaftlich nicht rentabel. Nun, sie haben sich getäuscht, dachte sie mit Genugtuung. Fünf Jahre waren inzwischen vergangen, und Theo war ihr einziger Langzeituntermieter. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, hatten sie es gut getroffen mit den Leuten, die nacheinander die beiden anderen Zimmer gemietet hatten in dem scheußlichen viktorianischen Ungetüm, das sie stets ihr Zuhause genannt hatten.

Zurzeit hatten sie eine Bibliothekarin Anfang dreißig, einen Ingenieurstudenten um die zwanzig und Theo, den sie schon seit ihrer Kindheit kannten. Sie hätte nicht sagen können, seit wann genau sie und Nick ihn zu ihrer Familie gehörig zählten.

Einmal hatte Eve Theo gefragt, warum er bleibe. Lachend hatte er geantwortet, dass er zu faul zum Umziehen sei. Eine Zeit lang hatte er sich nach etwas Eigenem umgesehen, dann aber damit aufgehört und so getan, als wäre es nur eine kurzfristige Maßnahme gewesen. Es hatte ein bisschen Gerede gegeben, als er bei ihnen eingezogen war – sie war noch keine neunzehn und er nicht gerade altersschwach –, aber selbst damals war übler Klatsch die Ausnahme geblieben. Und nun gab es ihn gar nicht mehr. Vielleicht, dachte Eve, füllten sie – sie und die übrigen Bewohner der Acacia Avenue Nummer 6 – eine Lücke in Theos Leben. Eine Lücke, in der es ohne eine grausame Wendung des Schicksals heute Frau und Kinder geben würde.

Natürlich verbrauchte das alte Gebäude die gesamten Einnahmen, sodass sie letzten Endes finanziell nicht besser gestellt waren, aber sie kamen zurecht. Eigentlich war sie momentan sogar besser dran, als sie zu hoffen gewagt hatte, seit Nick ein hohes Stipendium bezog, das die finanzielle Belastung für sein dreijähriges Universitätsstudium erheblich erleichterte.

„Gib es nur unbesorgt aus, Evie“, hatte er ihr geraten, als sie vorschlug, das Geld, das sie für seine Ausbildung beiseitegelegt hatte, dafür zu verwenden, die undichte Stelle im Flachdach des Küchenanbaus reparieren zu lassen.

Unbesorgt, sagte sie empört zu ihrem Bild in dem alten Spiegel über der Frisierkommode aus Mahagoniholz. Mit dem Handrücken fuhr sie sich über die knallrot geschminkten Lippen. Das war das letzte Mal, dass sie sich von ihrem wortgewandten Bruder zu etwas hatte überreden lassen!

„Ich habe alles generalstabsmäßig geplant, Evie. Es kann gar nicht schiefgehen.“ Nick hatte ihre Gutmütigkeit geschickt ausgenutzt. Gutmütigkeit, dachte sie und schnaufte verächtlich – Gutmütigkeit ist immer ein Stück Dummheit! Nicks peinlich sauberer Plan war ordentlich danebengegangen – ein totaler Reinfall!

Es ärgerte sie maßlos, dass sie sich so einfach hatte hereinlegen lassen. Sie hätte wissen müssen, was sie erwartete, als Nick die teure Designerkleidung besorgt hatte – von der Schwester seiner letzten Freundin – und vorschlug, sie solle in die Küche gehen und sich dort umziehen. Sie hätte gleich Krach schlagen sollen, als die Freundin aus einem scheinbar bodenlosen Kosmetikkoffer Schminksachen herausholte. Zu ihrem Vergnügen war die Kleine geradezu entsetzt gewesen, als Eve ihr beiläufig erklärte, dass sie normalerweise gar kein Make-up verwendete.

Jawohl, hätte Daniel nicht ganz kläglich gesagt: „Sie muss es nicht tun, Nick“, sie hätte auf der Stelle gekniffen. Während sie sich nun die geborgten Sachen vom Leib streifte, wünschte sie, sie hätte genau das getan. Dann wäre ihr die schlimmste und erniedrigendste Demütigung ihres Lebens erspart geblieben.

Dieser Mann, schimpfte sie leise vor sich hin, als sie die Kordel im Bund der weiten Hose ihres Kampfanzugs enger zog. Kein Wunder, dass der arme Daniel seine persönlichen Probleme einem so gefühllosen, brutalen Kerl wie ihm nicht anvertraut hat.

Wenn sie an dieses Blitzen in den eiskalten blauen Augen dachte, fühlte sie sich gleich wieder durch und durch schmutzig und schuldig. Sie rieb sich die fröstelnden Unterarme und schauderte. Nein, sagte sie sich entschlossen, ich lasse diese Empfindungen nicht zu. Nicht ich sollte mich schuldig fühlen. Wäre Mr Wunderbar nicht so sehr damit beschäftigt gewesen, sein aufgeblasenes Ego aufzupolieren, hätte er wohl bemerkt, dass sein Schützling beträchtliche Existenzprobleme eines Jugendlichen hatte.

Jetzt, natürlich, fielen ihr gleich mehrere Formulierungen ein, mit denen sie diesen Muskelprotz auf seinen Platz verwiesen hätte. Und was war ihr eingefallen, als es darauf angekommen war? „Es ist nicht so, wie es aussieht, Mr Cummings.“

„Ich fasse es immer noch nicht, dass ich das gesagt habe“, sagte sie laut.

Theo sah von der Pfanne mit dampfendem Inhalt auf, dem er verschiedene Gewürze hinzufügte.

„Warum benutzt du nicht die Abzugshaube? In der ganzen Wohnung riecht es nach Curry.“

„Curry“, wiederholte er beleidigt. „Dieses Wort beschreibt wohl kaum die ausgewogene Gewürzmischung in meinem Kunstwerk.“

„Na schön. In der ganzen Wohnung riecht es nach deinem Kunstwerk.“ Sie zog einen der Stühle hervor, die um den langen Tisch mitten im Zimmer herumstanden, und ließ sich niedergeschlagen darauf sinken.

„Willst du Onkel Theo nicht alles erzählen?“, fragte er und warf ihr kurz einen bedauernden Blick zu.

„Was erzählen?“

„Nun tu mal nicht so, Evie“, sagte er geradeheraus.

Sie legte die Arme auf den so tröstlich massiven Eichentisch und stützte das Kinn auf die Arme. „In meinem ganzen Leben bin ich noch niemals so beschämt worden.“ Ihre Stimme klang gedämpft. „Und schuld daran war Nick.“

„So ist es wohl“, gab er zu und sprach wie einer, der von den ausgefallenen Ideen des Jungen nicht unverschont geblieben war. „Es wird dir guttun, darüber zu reden.“

Einfühlsam, wie er nun einmal war, lachte er nicht, als sie die ganze Geschichte erzählt hatte.

„Na bitte, ich hab’s ja gewusst – du glaubst, es sei ausgesprochen dumm von mir gewesen!“ Sie hob den Kopf und strich sich eine dunkle Locke von der Wange.

„Ich glaube“, beruhigte er sie, „es war ein typischer Fall von schlechtem Timing.“

„Ich konnte nicht Nein sagen, oder? Der arme Daniel hatte die Hölle in der Schule. Er ist ein so empfindsamer Junge.“

„Dann war es also dieses Mädchen – dieses männermordende Weib, das sich an ihn herangemacht hat –, dann hat sie in der Schule das Gerücht verbreitet, er sei schwul?“ Eve nickte. „Aber das ist er nicht …“

„Schwul? Natürlich nicht. Der arme Junge hatte nur schreckliche Angst vor ihr. Nicht alle Siebzehnjährigen sind wie Nick.“ Ihrem Bruder fehlte es nicht am Vertrauen zu dem anderen Geschlecht – eine Tatsache, die ihr in den vergangenen Jahren schon manche schlaflose Nacht verursacht hatte.

„Deshalb sollte Nick mit einem Publikum auftauchen, das garantiert die Story verbreiten würde – Daniel in den Armen einer Frau, die das Objekt aller jugendlichen Fantasien ist, einer begehrenswerten, reifen Frau. Und über Nacht hätte er den Ruf eines Sexprotzes gehabt.“

„Du hast es auf den Punkt gebracht …“ Sie presste die Finger an die pochenden Schläfen. „Eine Rolle mit der falschen Besetzung, ich weiß.“

„Ganz schön clever, wirklich“, sagte Theo mit widerwilliger Bewunderung.

Clever! Entschuldige, wenn ich nicht ganz deiner Meinung bin. Aber so würdest du wohl nicht reden, wenn dieses Ekel von Mann dich bedroht und beschimpft hätte. Weißt du, wie er mich genannt hat?“, fragte sie, und ihre Stimme bebte vor Wut. „Ein berechnendes, habgieriges kleines Flittchen, das mit echten Männern gar nicht umgehen kann.“

„Autsch!“

„Autsch – ist das alles, was dir dazu einfällt?“

„Na ja, ich denke, es muss den Mann ganz schön geschockt haben, seinen Neffen in den Klauen einer …“ Er sprach es nicht aus, sondern lächelte sie entschuldigend an. „In dieser Aufmachung hast du ziemlich – nun, sagen wir, du hast auch so ausgesehen. Nicht wie ein Flittchen, verstehst du“, fügte er rasch hinzu, „aber einfach …“

„Du gräbst dir ein sehr tiefes Loch, Theo“, stellte sie fest, froh, zu sehen, dass sie nicht als Einzige ins Fettnäpfchen trat. „Ganz offensichtlich hielt er mich für ein Flittchen. Und du denkst vermutlich, ich sollte mich deshalb auch noch geschmeichelt fühlen.“

Theo war viel zu klug, um auf diese Herausforderung zu reagieren. „Hast du es ihm nicht erklärt?“

„Wann hätte ich Gelegenheit dazu gehabt? Ich bin überhaupt nicht zu Wort gekommen. Außerdem“, fuhr sie in scharfem Ton fort, „tauchte Nick mit seinen Freunden ungefähr dreißig Sekunden später auf, nachdem Drew Cummings seinen Auftritt hatte. Das war vielleicht ein Zirkus. Und was Daniel betrifft, er glaubt offensichtlich, dieser Mann könnte übers Wasser gehen. Dieser Macho!“, fügte sie verächtlich hinzu. „Du hättest ihn erleben müssen.“

„Dieser Typ ist dir wohl wirklich unter die Haut gegangen, was? Aber du solltest trotzdem keine voreiligen Schlüsse ziehen, Evie. Bist du es nicht, die Vorurteile nicht ausstehen kann?“, erinnerte er sie. „Und eigentlich kennst du diesen Mann doch kaum.“

Sein sanfter Tadel machte sie ein bisschen verlegen. „Stimmt, ich kenne ihn nicht. Es könnte folglich alles noch viel schlimmer sein.“

„Ich wünschte, ich hätte dabei sein können – als stiller Beobachter natürlich. Nun komm schon, Evie. Du bist doch sonst nicht so. Wo bleibt dein Sinn für Humor? Ich bin sicher, Nick wird die Dinge jetzt schon regeln. Und später werdet ihr alle darüber lachen.“

Eve sah ihn ungläubig an. Lachen! Offensichtlich wusste Theo nicht, dass mit Drew Cummings nicht zu spaßen war.

Alle schließt hoffentlich Onkel Drew nicht mit ein, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit anderen gemeinsam vergnügt lacht.“

„Wo steckt Nick übrigens?“

„Er ist groß genug, um auf sich selbst aufzupassen“, antwortete sie mürrisch. Trotzdem blickte sie leicht besorgt auf die Uhr. Sie bezweifelte keine Sekunde, dass er sich wie schon so oft in seinem kurzen Leben mühelos aus der Situation herausgeredet hatte – und dennoch …

„Wenn man vom Teufel spricht. Das hört sich ganz nach unserem lieben Nicholas an.“ Die Haustür wurde zugeknallt, und Theo blickte von seinem Kochtopf auf. „Immer der Nase nach, Nick, wir sind in der Küche“, rief er. „Soso, wer hat denn da … Verdammt, Nick, was ist denn mit dir passiert?“ Er ließ den Holzlöffel fallen und stürmte mit besorgter Miene hinter Eve vorbei.

Eve vergaß die kalte Verachtung, mit der sie ihren Bruder behandeln wollte, und wirbelte auf ihrem Stuhl herum. Erschrocken schnappte sie nach Luft und sprang auf.

Nick streckte die Hände aus, um sie abzuwehren. „Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, versicherte er hastig. Mit der geschwollenen, geplatzten Lippe konnte er nur undeutlich sprechen. „Nein, Evie, fass mich nicht an … autsch!“

„Eis …“, sagte sie entschlossen.

„Sara hat schon Eis darauf gelegt.“

„Es sieht schrecklich aus!“

„Danke.“

„Warst du schon beim Notarzt?“

„Mach nicht solches Aufhebens, Evie. Es ist nur eine blutige Nase und eine geplatzte Lippe. Nächste Woche bin ich wieder so schön wie immer. Außerdem dachte ich, du würdest dich freuen. Ich habe bekommen, was ich verdient habe, und so weiter …“

Evie atmete erleichtert auf, als sie bemerkte, dass die Verletzung doch mehr oberflächlich war. „Wenn ich eine gehässige Person wäre …“, antwortete sie nur halb im Spaß.

„Bist du sauer auf mich?“ Eve verzog mitfühlend das Gesicht, als Nick bei dem Versuch zu lächeln vor Schmerz zusammenzuckte.

„Was glaubst du wohl?“

„Ich glaube, dass du das Komische an der Sache noch nicht siehst.“

„Wie einfühlsam von dir! Aber, sag mal, wie ist das überhaupt passiert?“

„Es ist ein bisschen peinlich“, gestand er und blickte verlegen drein. „Wenn du noch eine halbe Minute länger geblieben wärst, hättest du es selbst miterlebt. Du weißt doch, ich sage immer: Mit Worten kann man mehr erreichen als mit Fäusten. Nun, wie ich feststellen musste, war das eine sehr vernünftige Aussage. Das Problem ist nur, ich war nicht ganz so vernünftig, als er … als er sagte …“ Er sah Theo an. „Nun, diese Bemerkung, die Drew über dich gemacht hat, Evie. Ich habe nur noch rotgesehen.“ Verlegenes Schulterzucken und Füßescharren begleiteten sein Geständnis. Einzugestehen, dass er den unerklärlichen Drang verspürt hatte, die Ehre seiner Schwester zu verteidigen, fiel Nick sichtlich schwer.

Eve fröstelte und wurde erschreckend blass. „Willst du damit sagen“, begann sie zögernd, „dass er dir das angetan hat?“ Sie erinnerte sich an Drews geschmeidigen, muskulösen Körper, und eine unglaubliche Wut überkam sie. Nick hatte trotz seiner Größe den schlanken Körper eines jungen Mannes, der gerade der Pubertät entwachsen war.

„Das wäre nicht so peinlich. Dieser Typ bewegt sich verdammt schnell für einen Kerl seiner Größe.“ Leise Bewunderung schwang in Nicks Stimme mit. „Ich habe ihn nicht mal berührt. Dazu kam es nicht. Ich stürmte dicht hinter ihm vorbei, stolperte über einen verflixten Tisch und stürzte direkt auf so eine verdammte protzige Standuhr, ein antikes Familienerbstück, wie sich herausstellte.“

Die winzige Nebensächlichkeit, dass Onkel Drew Nick tatsächlich nichts angetan hatte, sickerte in Eves Bewusstsein. Dennoch: Ihr Bruder war verletzt, und der Schaden war Drew Cummings zuzuschreiben.

„Das reicht!“ Er mochte sie beleidigt haben, na gut, aber ihren kleinen Bruder zu verletzen und ihm zu schaden, damit würde er nicht ungeschoren davonkommen.

„Was hast du vor, Eve?“, fragte ihr Bruder alarmiert, als sie in dem kleinen Haufen Schlüssel herumwühlte, der auf der altmodischen Kommode lag.

„Ich werde Mr Drew Cummings deutlich sagen, was ich von ihm halte, das werde ich tun. Wo sind deine Wagenschlüssel, Theo?“, fuhr sie fort, ohne das verzweifelte Stöhnen ihres Bruders zu beachten.

„Gib sie ihr nicht, Theo“, bat Nick. „Meine große Schwester muss mir nicht zu Hilfe eilen. Sag ihr das, Theo. Ich habe schon mit ihm geredet. Das Letzte, was ich jetzt brauche, Evie, ist, dass du bei dem Kerl auftauchst und ihm Beschimpfungen an den Kopf wirfst.“

„Ich habe nicht die Absicht, das zu tun, und wenn ich zu ihm gehe, dann nicht deinetwegen.“ Das war die Wahrheit. Zumindest teilweise. Es war ihr wirklich unter die Haut gegangen, als williges Dummchen hingestellt zu werden. „Ich tue es für die Menschheit im Allgemeinen. Diesem Mann muss ein Dämpfer verpasst werden.“

„Ich werde ihr gar nichts sagen.“ Eve lächelte ihren Bruder selbstgefällig an. Doch das Lächeln verschwand schlagartig, als Theo ihr die Wagenschlüssel, die sie endlich gefunden hatte, aus der Hand riss. „Aber ich werde dir auch nicht meinen Wagen leihen, Evie. Nicht eher, als bis du dich wieder beruhigt hast.“

„Aber du weißt doch, dass der Lieferwagen bis morgen in der Werkstatt ist, Theo“, jammerte sie.

„Dann warte solange.“

„Wie kannst du so etwas sagen? Sieh dir Nick an.“

„Nick hat schon gesagt, dass der Mann ihm nichts getan hat.“

„Nick hat mich verteidigt.“ Weil ich gekniffen habe, als es darauf ankam, dachte sie voller Selbstverachtung.

„Wenn du ehrlich bist, Evie, musst du zugeben, dass du das lediglich als Ausrede benutzt. In Wahrheit bist du nur auf Streit aus.“

„Das ganz bestimmt nicht“, wehrte sie hitzig ab, ohne seinem Blick zu begegnen.

„Du bist wütend, weil du weggelaufen bist, ohne dich vorher verteidigt zu haben. Oder vielleicht“, meinte er und wechselte die Taktik, „stimmt auch die Chemie zwischen dir und Onkel Drew.“ Unschuldig sah er sie an. „Das würde die ganze Feindseligkeit erklären.“ Er tauschte einen verschwörerischen Blick mit Nick aus.

„Und die verbalen und körperlichen Verletzungen“, erwiderte sie kalt. Waren die blauen Flecke auf ihren Armen nicht Beweis genug?

„Der Mensch hat Muskeln genau an den richtigen Stellen“, stimmte Nick feierlich zu.

„Das habe ich noch nicht bemerkt.“

Ihr Bruder lachte laut auf. „Vielleicht gehst du zurück und siehst ihn dir noch mal genauer an.“

Das gestochen scharfe Bild eines sonnengebräunten Körpers tauchte vor ihrem geistigen Auge auf und machte die Bemerkung ihres Bruders nur noch schlimmer. Kein Mädchen ging durch das Leben, ohne die Bilder männlicher Vollkommenheit zu sehen. Aber keines dieser Bilder hatte bisher ihre Sinne mit roher, ursprünglicher Sexualität aufgewühlt. Natürlich nicht.

„Es ist schön, seine Freunde zu kennen.“ Sie betrachtete beide mit eisigem Blick und verließ das Zimmer.

„Ich glaube nicht, dass ihr der Scherz gefallen hat“, meinte Nick. „Du denkst doch nicht wirklich, dass …?“ Bestürzt sah er Theo an. „Nein.“ Er schüttelte den Kopf.

„Vielleicht wird der Spaziergang sie beruhigen.“

„Glaubst du das wirklich?“, fragte Nick skeptisch.

„Eigentlich nicht. Ich wollte dich nur aufheitern.“

2. KAPITEL

Eves Wangen waren vor Anstrengung leicht gerötet, nachdem sie zehn Minuten lang heftig in die Pedale getreten hatte. Es geschah Nick ganz recht, wenn er jetzt glaubte, sein Rad sei gestohlen worden. Wie oft hatte sie ihm schon gesagt, er solle es abschließen!

Eigentlich war es ein erhebendes Gefühl, sich ausnahmsweise einmal selbst leichtsinnig zu verhalten. Richtig befreiend, dachte sie, als sie die Finger durch das modisch kurze Haar gleiten ließ.

Sie lehnte Nicks Rad an den großen, glänzenden Geländewagen, der auf dem mit Kies bestreuten Vorhof stand, und ging entschlossen auf den Haupteingang zu. Einen Moment lang betrachtete sie die beiden Steinlöwen, die den Eingang geradezu trotzig bewachten.

Die Tür war leicht angelehnt, und eine dunkle Ahnung beschlich Eve, als sie läutete. Seelisch und moralisch war sie jedoch auf einen Angriff vorbereitet, und sie musste sich nur kurz ihren Abgang durch eben diese Tür vorstellen, wie er wenige Stunden zuvor stattgefunden hatte, und schon legte sich ein entschlossener Zug um ihren Mund, und ihre Schultern strafften sich.

Sie würde Onkel Drew schon zeigen, dass sie nicht das Mädchen war, das er herumkommandieren konnte, das duckmäuserisch davonlief und sich von seinem Bizeps und ein paar harschen Worten einschüchtern ließ! Sie war wie jeder andere gut für einen Spaß zu haben, aber an Theos und Nicks Anspielung konnte sie ganz gewiss nichts Komisches finden. Chemie, also wirklich!

„Gehen Sie weiter!“, kam die Anweisung von einer geisterhaften Stimme.

Erschrocken blickte Eve über die Schulter und erwartete schon halb, jemanden vor sich stehen zu sehen, an den diese Worte gerichtet waren.

„Hier durch!“ Diesmal klang es ungeduldig, wie von einem Mann, dem Dummheit ein Gräuel war.

Du hast gehört, was er gesagt hat, Evie. Steh hier nicht so herum, Mädchen. Sie hatte nicht erwartet, so einfach wieder in dieses Haus hineinzukommen.

„Es ist der Spieltisch neben der Tür. Können Sie es hier richten, oder müssen Sie den Tisch mitnehmen? Falls ja, ich brauche ihn spätestens am Donnerstag wieder.“

Dieser Mann konnte andere gut schikanieren. Als er jetzt endlich den Kopf mit dem dunkelblonden Haar hob, wurde dieser Eindruck nur noch verstärkt. Während er sprach, hatte er die Hände in einen Eimer mit Seifenlauge getaucht. „Nun?“

„Sie erkennen mich nicht, oder?“

„Sollte ich?“, sagte er ungeduldig und strich sich eine blonde Haarsträhne zur Seite, die ihm über die Augen gefallen war. „Sie sind nicht der Lackierer? Du meine Güte!“, stieß er hervor und sah sie erstaunt an. „Es ist die femme fatale. Und sieht weder sehr nach femme noch nach fatale aus“, fügte er unfreundlich hinzu, stand auf und rieb sich die nassen Hände an den Jeans trocken.

Mit hochgezogenen Brauen ließ er den Blick ungläubig über ihr gestreiftes Top und die ärmellose Fleecejacke gleiten. In der weiten Kakihose kamen die Umrisse ihrer langen, schlanken Beine kaum zur Geltung. Und der Gegensatz zwischen ihren flachen, bequemen Stiefeln und den Riemchenschuhen mit Stilettoabsätzen, die sie zuvor getragen hatte, hätte nicht größer sein können.

Wenn er daran dachte, wie er sie anfangs eingeschätzt hatte, so grenzte es schon fast an Ironie, dass er sie jetzt leicht für ein Schulmädchen halten konnte – und doch wusste, dass sie keines war. Sie hatte jene frische und natürliche Art, die manche Männer sehr anzog. Ihm persönlich gefielen lange Beine und ein athletisches Aussehen bei Rennpferden allerdings besser als bei Frauen.

Sollte diese Zurschaustellung schlechten Verhaltens sie einschüchtern? Sie verzog den Mund, ahmte Drew mit voller Absicht nach und ließ den Blick kritisch über ihn gleiten. Eigentlich hatte sie wenig Hoffnung, an ihm etwas zu kritisieren zu finden – und so war es auch.

Er trug ein helles Baumwollhemd, das er noch nicht in den Bund seiner Jeans gesteckt hatte. Seine nassen Hände hatten dunkle Stellen auf dem helleren Stoff hinterlassen, der seine muskulösen Oberschenkel eng umspannte. Sie bemerkte zwei nasse Flecken, dort, wo er auf dem Boden gekniet hatte. Er ist ein Mann, der in jeder Kleidung gut aussieht, dachte Evie, aber am besten ohne. Bei diesem verwegenen Gedanken durchlief sie ein Schauer.

Als ihr verwirrter Blick zu seinem Gesicht zurückkehrte, sah sie zu ihrer Überraschung, dass er ihren Vergeltungsakt mit einem amüsierten Ausdruck würdigte. Sie atmete ein paarmal tief durch, um ihre Verlegenheit zu überspielen. In Stresssituationen stellt man sich alles Mögliche vor, versuchte sie sich zu beruhigen.

„Was wollen Sie?“

„Das können Sie noch fragen?“

„Oh, Sie sind gekommen, um sich zu entschuldigen … tut mir leid, ich weiß immer noch nicht, wie Sie heißen.“

Entschuldigen! Sie sah ihn empört an. Dieser unverschämte Kerl! „Ich hatte den Eindruck, dass Sie meinen Namen nicht erfahren wollten.“

„Anfangs versuchte ich – sagen wir, ein Gefühl von Intimität zu vertreiben.“

Nicht die Spur von Verlegenheit, dachte sie, als sie sein Gesicht musterte. Dieser Mann kannte nicht das geringste Schamgefühl. Dabei sollte er inzwischen wissen, dass sie seinem Neffen gegenüber keine schlechten Absichten gehabt hatte.

„Sagen Sie, haben Sie vor, die da zu benutzen?“

„Was …? Oh.“ Sie folgte der Richtung, in die er nickte, und wurde tiefrot, als sie die Kelle sah, die sie in der Hand schwang. „Das habe ich gar nicht gemerkt … sie war in meiner Tasche“, erklärte sie.

„Haben Sie sonst noch eine schmutzige, tödliche Waffe bei sich, von der ich wissen sollte?“, fragte er auf beleidigende Art amüsiert, als sie das Werkzeug wieder in die geräumige Tasche ihrer warmen Fleecejacke steckte.

„Sie ist nicht schmutzig.“ Seine beleidigende Bemerkung ärgerte sie, denn sie ging sehr sorgfältig mit dem Werkzeug um, das sie für ihr Geschäft brauchte. „Ich bin Gärtnerin – Landschaftsgärtnerin – freiberuflich.“

„Freiberuflich“ hörte sich besser an als „besorgt um den nächsten ungewissen Auftrag“, obwohl die Dinge eigentlich gar nicht mehr so schlecht standen. Unter den Umständen hatte sie keine Skrupel, ihr Unternehmen etwas großartiger darzustellen, als es tatsächlich war.

Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie ihre Zukunftsziele entsprechend herunterschrauben müssen. Ihr Geschäft zur Gartenpflege war etwas ganz anderes als der geplante Studienabschluss in Landschaftsarchitektur. Doch was mit wenig mehr als Heckenschneiden und Rasenmähen begonnen hatte, hatte nach und nach zu Besserem geführt.

Der Wendepunkt, das wusste sie, war der Dachgarten gewesen, den sie im Jahr zuvor für Adam Sullivan geschaffen hatte. Er war von dem Ergebnis begeistert und voll des Lobes gewesen. Und Adam hatte unter seinen Freunden viele junge Aufsteiger, die es kaum erwarten konnten, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen.

„Sie scheinen Ihren Beruf sehr ernst zu nehmen“, sagte Drew.

Glückliches Mädchen. Diese Wimpern waren schwarz wie Ebenholz, genau wie ihr Haar. Er kannte einige Frauen, die für diese Wimpern einen Mord begangen hätten. Er kam einen Schritt näher und bemerkte die vereinzelten Sommersprossen auf ihrer Nase, die bei ihrer ersten Begegnung unter einer Schicht Make-up verdeckt gewesen waren. Sie hatte eine Pfirsichhaut.

„Warum sollte ich das nicht tun?“, erwiderte sie. „Nehmen Sie Ihren Beruf etwa nicht ernst? Dürfen nur Finanzgenies in Banken, die mit Millionen jonglieren, ihre Arbeit ernst nehmen?“ Man kann leicht den großen Macher spielen, wenn Daddy Cummings die Bank gehört, dachte sie verächtlich. Wie weit hätte er es wohl gebracht, wenn er sich die Karriereleiter allein hätte hochkämpfen müssen?

„Nein, so was, Dan hat geredet, stimmt’s? Aber ich habe schon begriffen.“

„Ich will Ihnen sagen, was ich ernst nehme, soll ich, Mr Cummings?“

„Bitte, Miss …“ Wie hatte der Junge sie doch gleich genannt? Und wie viel von seiner persönlichen Geschichte mochte Daniel dieser jungen Frau erzählt haben? Seine Privatsphäre war ihm sehr wichtig, und es gab einige Begebenheiten in seinem Leben, die, wenn es nach ihm ging, besser in der Familie blieben.

Nun, habe ich ihn nicht mächtig beeindruckt? Er erinnert sich noch nicht mal mehr an meinen Namen! „Ich nehme Leute ernst, die meinen Bruder angreifen und verletzen.“

„Angreifen und verletzen! Sie machen Witze, Lady. Wie, zum Teufel, heißen Sie überhaupt?“

Zufrieden beobachtete Eve, wie sein amüsierter Gesichtsausdruck verschwand. Er klang jetzt äußerst gereizt.

„Eve Gordon.“

„Also, Miss Gordon, ich habe Ihren Bruder nicht angerührt. Wenn ich allerdings die Blutflecken aus dem Teppich meiner Schwester nicht herausbekomme, kann es sein, dass ich Sie dazu zwingen werde.“ Frustriert trat er gegen den Eimer zu seinen Füßen, und etwas Seifenwasser spritzte auf seine Lederstiefel.

Das Einzige, was ihn kümmerte, war der Blutfleck auf seinem scheußlichen Teppich, während Nick hätte verbluten können. „Sie hätten den Teppich von einem Fachmann reinigen lassen sollen.“

Drew, der gerade auch zu diesem Schluss gekommen war, sah sie mürrisch an. „Es war schon schwierig genug, einen Lackierer zu finden, der sofort kommen und den Tisch reparieren kann, den Ihr junger Schlägertyp beschädigt hat.“

„Ich werde ihm ausrichten, dass Sie sich nach seinem Befinden erkundigt haben. Von so viel Besorgnis wird er ganz gerührt sein.“

Drew presste die Lippen zusammen. „Es ging ihm gut, als er das Haus verließ.“

„Das möchte ich bezweifeln. Sie sind wohl nicht auf die Idee gekommen, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Einen verletzten Jungen in diesem Zustand von hier weggehen zu lassen, nenne ich den Gipfel der Nachlässigkeit.“

„Er ist nicht gegangen. Ein hübsches Mädchen hat ihn abgeholt.“

Das hörte sich an, als könnte es stimmen, wie sie widerwillig zugeben musste. Nick wurde immer von hübschen Mädchen abgeholt. Hübsche Mädchen, so vermutete Eve, würden ihm wohl sein ganzes Leben lang nachlaufen. In dieser Hinsicht hatte er wahrscheinlich vieles mit diesem Mann gemeinsam.

„Sara“, sagte sie, schien jedoch kein bisschen besänftigt.

„Wenn Sie es sagen. Sie war genauso hysterisch.“

„Das heißt, sie konnte nicht mit ansehen, was Sie bei Nick angerichtet haben, ohne ihre Gefühle zu zeigen?“

„Ich dachte, ich hätte es Ihnen schon gesagt: Ich habe Ihren Bruder nicht angerührt. Ich war das Opfer. Eine Tatsache, die Sie zweckmäßigerweise zu vergessen scheinen. Was hätte ich tun sollen? Dastehen und mir den Schädel einschlagen lassen?“

„Ein Blick auf Sie, und jeder kann sehen, wie brutal man Sie verprügelt hat.“ Voller Verachtung betrachtete sie sein makelloses Profil.

„Das habe ich nur meiner blitzschnellen Reaktion zu verdanken“, erklärte er selbstgefällig. „Aber kommen Sie wieder, wenn meine Schwester zurück ist und den Saustall hier gesehen hat. Und wenn sie auch nur den leisesten Verdacht hegt, ich könnte erlaubt haben, die Moral ihres Sohnes zu beschmutzen …“

„Nicht durch mich.“ Selbst wenn ich es versuchte, würde es mir nicht gelingen, dachte sie düster – und mit dreiundzwanzig war das schon ein Armutszeugnis.

Drew zuckte die Schultern. „… dann wird mir meine blitzschnelle Reaktion auch nicht mehr helfen.“ Angewidert schüttelte er sich das restliche Wasser von den Händen. „Als ich mich einverstanden erklärte, auf Dan aufzupassen, hatte ich mit so etwas nicht gerechnet.“

„Vielleicht“, meinte sie, „hätte sich das vermeiden lassen, wenn Sie Daniel öfter zugehört und seltener über sich selbst gesprochen hätten.“

„Was soll das heißen?“

„Daniel ist bestimmt ein guter Zuhörer.“ Arglos sah sie ihn mit großen Augen an. „Er ist noch sehr jung und leicht zu beeindrucken. Wir alle hören von Ihren Heldentaten – aus zweiter Hand natürlich, aber es bringt Abwechslung in unsere langweilige Existenz, zu erfahren, wie andere leben.“

Um dieses süffisante, herausfordernde Lächeln aus ihrem Gesicht zu vertreiben, müsste er sie nur … Drew erschrak selbst über diese Möglichkeit. Aber vielleicht lauert in jedem von uns der Barbar, dachte er und schob den Gedanken, sie zu küssen, entschieden von sich. Er küsste keine fremden Frauen – und diese schon gar nicht.

„Sie kennen sich wohl aus mit der Erziehung eines Jugendlichen, wie?“

„Wenn das eine Kritik an Nick sein soll“, ereiferte sich Eve, „so kann ich gut darauf verzichten. Ich sage nicht, dass seine Idee gut war, aber er hat das Herz auf dem rechten Fleck. Er hätte nicht versucht, Sie zu verprügeln, wenn Sie mich nicht beleidigt hätten. Mag sein, dass ich keine perfekte Elternpersönlichkeit habe, aber ich bin stolz auf Nick, und ich lasse nicht zu, dass irgend so ein blonder Knabe an ihm herummäkelt.“

Drew schluckte die spitze Bemerkung über den blonden Knaben. Dass diese Frau, die selbst fast noch ein Mädchen war, einen Teenager erzog, erstaunte ihn zu sehr.

„Soll das heißen, Sie sind die Betreuerin Ihres Bruders – im rechtlichen Sinn?“, fragte er ungläubig.

„Bis er achtzehn ist“, antwortete sie. „Und das wird er nächste Woche, zufällig am selben Tag wie Daniel.“

„Kein Wunder, dass Sie so durchgedreht sind“, sagte er halb zu sich selbst. „Ich war für Dan nur einige Wochen verantwortlich, nicht einige Jahre, und fühle mich schon reif für die Klapsmühle.“

Erst bin ich ein skrupelloses Flittchen, jetzt bin ich durchgedreht – wie reizend! „Es ist nett, jemanden kennenzulernen, der kein Blatt vor den Mund nimmt“, schwindelte sie. „Zufällig fand ich es eine sehr lohnende Erfahrung, zu beobachten, wie Nick sich zu einem warmherzigen, einfühlsamen jungen Mann entwickelt hat.“ Sie verzog den schönen Mund leicht verächtlich, während sie all die schlechten Erlebnisse aus ihrem Gedächtnis strich – und in den letzten fünf Jahren hatte es davon einige gegeben. „Ein kluger Mensch kennt seine Grenzen, und Ichbezogenheit ist kein Fehler. Bestimmt sind Sie besonders klug, wenn es darum geht, Verantwortung zu meiden.“

„Klugheit“, sagte er bedeutungsvoll. „Ist es dieselbe Klugheit, die Sie demonstrierten, als Sie die heißblütige Verführerin spielten? Eine kleine Knutscherei auf dem Sofa mit einem Schuljungen?“ Gespannt wartete er auf ihre Antwort. „Es könnte ja sein“, fuhr er fort, „dass Sie auf junge Männer stehen. Manche Frauen tun das. Oder haben Sie Ihre unanständigen Fantasien ausgelebt? Dann sitze ich wohl wieder auf dem falschen Dampfer. Oder gehen Ihre Vorlieben in die ganz entgegengesetzte Richtung?“ Nachdenklich betrachtete er ihre so praktischen Schuhe.

Die Röte schoss ihr in die Wangen, als ihr die Bedeutung seiner dreisten Unterstellung bewusst wurde. „Ich habe nicht … nicht …“

„Geknutscht?“, beendete er hilfreich den Satz.

„Ich habe nichts gegen Männer. Ich habe nur etwas gegen Sie!“ Ihre Nasenflügel bebten leicht, und sie sah ihn voller Abscheu an. „Was das Küssen betrifft … ich habe nicht … ich wollte nicht!“, brachte sie stockend hervor, außer sich vor Wut.

„Ich dachte, Dan sei es gewesen, der nicht wollte. Wahrscheinlich hatte er Angst, bei lebendigem Leib aufgefressen zu werden. Das war vielleicht ein Outfit.“ Und erst der Körper, der darin steckte, fügte er in Gedanken hinzu. „Nehmen Sie sich die Zurückweisung nicht zu sehr zu Herzen. Jeder durchschnittliche Jugendliche hätte die Gelegenheit sofort genutzt.“

„Und ein richtiger Mann hätte mehr Verstand gehabt? Wollen Sie das etwa damit sagen?“

„Habe ich einen wunden Punkt berührt?“, fragte er mit einem boshaften Lächeln. „Tut mir leid.“

„Stecken Sie sich Ihre Entschuldigung sonst wohin. Sie wissen, wo“, fuhr sie ihn an.

„Ich kann es mir denken. Aber bitte keine anatomischen Ausdrücke. Ich habe einen sehr empfindlichen Magen.“

„Der arme Dan ist in der Schule durch die Hölle gegangen. Kinder können ja so unglaublich grausam sein.“

Meint sie, mir das sagen zu müssen? fragte er sich. Nun ja, er hatte keine Ahnung gehabt. Und jetzt, im Nachhinein, sah er die Anzeichen nur allzu deutlich. Er hatte als Aufpasser ganz schrecklich versagt.

„Wissen Sie, wie es ist, als anders hingestellt zu werden?“ Eve ließ den Blick abschätzend über ihn gleiten. „Nein, ich denke, das wissen Sie nicht. Ich habe nur zu helfen versucht.“

„Erzählen Sie mir nichts von diesen dummen Frauen mit guten Absichten!“ Offensichtlich würde sie mehr von ihm halten, wenn er ein Kindheitstrauma nachzuweisen hätte. „Leider kann ich Ihnen nicht mit einer verkorksten Familie dienen. Meine Eltern sind freundliche, liebende, ausgeglichene Menschen … und, ja, auch sehr reich, was meine Glaubwürdigkeit in Ihren Augen unterhöhlt.“

„Ihre Eltern müssen sich fragen, was sie bei Ihnen falsch gemacht haben.“

„Sie können Ihre billigen Sticheleien wohl nicht lassen, oder? Meine Güte, Ihnen würde ich meine Katze nicht in Pflege geben, geschweige denn ein Kind! Warum konnten Sie nicht mit mir reden, bevor Sie Ihren verrückten Plan ausgeheckt haben?“

„Es war nicht mein …“, begann sie. Und schwieg. Sie wollte die Schuld nicht ihrem Bruder in die Schuhe schieben. Schließlich war sie eine Mitverschwörerin und die angeblich verantwortliche erwachsene Person. Sie hätte es besser wissen müssen.

„Wir mussten Dan schwören, niemandem etwas davon zu erzählen. Er wollte nicht, dass sein großartiger Onkel Drew ihn für einen Schwächling hielt. Sagen Sie, wie fühlt man sich so als Rollenbild?“

„Sie finden also, dass Sie mit diesen Problemen besser fertig werden als, sagen wir, Eltern, Vormund oder Schulleiter? Kann denn niemand Ihre wilden Vorstellungen bremsen? Was hat Ihr Partner von diesem Plan gehalten? Oder haben Sie ihm nichts davon erzählt? Ich nehme an, es ist ein Er?“

Um nichts auf der Welt würde sie jetzt zugeben, dass sie noch keinerlei Erfahrung mit Männern hatte. Sein spöttischer Blick wäre ihr unerträglich.

„Sehr sogar. Theo unterstützt mich in allem, was ich tue.“ Das ging ihr so glatt über die Lippen, dass sie selbst beeindruckt war.

Bitte verzeih mir, Theo, dachte sie und hoffte, nicht ganz so schuldbewusst auszusehen, wie sie sich fühlte.

„Das heißt also, Sie in Ihren Nagelschuhen schikanieren ihn herum.“ Hochnäsig zog er die Brauen hoch und betrachtete ihr Schuhwerk. „Der arme Kerl.“

„Er braucht Ihr Mitleid nicht“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Nein, er braucht eine Therapie.“ Herausfordernd blickte er auf ihre zu Fäusten geballten Hände und schüttelte den Kopf. „Aha! Es liegt wohl in der Familie. Sind Sie aus einem ganz bestimmten Grund hier hereingeplatzt, Miss Gordon?“

Gute Frage, Eve. Was tust du hier? In einem Rededuell der Verlierer sein.

„Ich bin nicht hereingeplatzt. Ich wurde eingeladen.“

„Diesen Fehler werde ich nicht zwei Mal machen“, versicherte er.

„Ich hatte gehofft, Sie würden etwas Reue zeigen, nachdem Sie Nick verletzt und mich so entsetzlich behandelt haben. Wir wissen alle, dass Ihre Hände und Füße tödliche Waffen sind. Sie hätten nicht auf einen Teenager einschlagen müssen, um das zu beweisen.“

„Wie ich sehe, haben Sie beschlossen, meinen Charakter für ebenso schwarz zu halten wie Ihr Haar.“

Aus einem Impuls heraus schnipste er das Ende einer ebenholzschwarzen Locke zurück, die auf ihrer Schläfe lag. Ihr Haar hatte einen blauen Schimmer, wenn wie jetzt das Licht der Wintersonne darauf fiel. Und es fühlte sich genauso seidig an, wie es aussah.

Eve wich zurück, als hätte er sie geschlagen.

„Fassen Sie mich nicht an!“, stieß sie hervor.

Drew Cummings hielt in gespielter Ergebenheit die Hände hoch. „Das hört sich an wie der beste Rat des Tages. Sagen Sie, verhalten Sie sich immer wie ein Wesen aus einem viktorianischen Melodrama? Es muss anstrengend sein, mit Ihnen zu leben.“

„Ich habe wohl allen Grund dazu, nervös zu sein, nachdem Sie mich vorhin so unsanft behandelt haben.“

„Ich war sanft wie ein Lamm. Sogar ausgesprochen beherrscht.“

„Wirklich?“, fragte sie spöttisch. Sie hob die Hände und ließ die Ärmel ihres dünnen Tops zurückfallen. „Entschuldigen Sie bitte meine Skepsis.“ Die schwache blaue Verfärbung, die seine Finger hinterlassen hatten, waren deutlich auf der hellen Haut ihrer Arme zu sehen.

Seine blauen Augen schienen plötzlich dunkler zu sein, und eine steile Falte zeigte sich zwischen seinen Brauen. „Das ist nicht von mir“, sagte er leicht empört.

„Nein? Spulen Sie Ihre Erinnerung einige Stunden zurück. Sie haben mich wie einen Kohlensack herumgezerrt.“

„Du meine Güte, das tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung.“ Er griff nach ihren Händen. Eve musterte sein Gesicht, konnte aber nur ehrliche Betroffenheit darin entdecken. Es tat ihm ganz offensichtlich wirklich leid. „Lieber Himmel, Sie müssen ja zart sein. Ich kann nur sagen, dass es nicht mit Absicht geschehen ist.“

Drew drehte ihren Arm langsam herum und wieder zurück und untersuchte die blau geäderte Innenseite ihres Unterarms. Er hatte sehr schöne Hände.

„Sie müssen nicht so ein Aufhebens darum machen“, sagte sie. „Es ist nicht weiter schlimm. Ich bekomme sehr leicht blaue Flecken. Ich habe es Ihnen nur gezeigt, um Ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen.“ Dass sie nicht damit gerechnet hatte, damit Erfolg zu haben, sagte sie nicht.

„Sie duften …“ Seine Stimme klang irgendwie anders, und als er den Kopf hob und seine eingehende Untersuchung beendete, sah sie den besorgten Ausdruck in seinen blauen Augen. Und seinen begehrlichen Blick.

„Tut mir leid, wenn meine Körperpflege nicht Ihre Zustimmung findet.“

„Gut“, sagte er. „Sie riechen gut. Dieses Parfüm kenne ich nicht.“ Ohne sie zu berühren, beugte er den Kopf und atmete den Duft ihres Haares ein.

„Es ist Seife. Wahrscheinlich die medizinische, die ich Nick gekauft habe. Er hat Akne“, erklärte sie prosaisch. Ihr war plötzlich ganz heiß geworden. Und das Atmen fiel ihr schwer.

„Akne“, wiederholte Drew. Er hatte den Daumen in die empfindliche Mulde ihres Ellbogens gleiten lassen, wo er kleine Kreise zog. Bei dieser Berührung durchlief sie ein prickelnder Schauer.

„Das Leiden der Jugendlichen, von dem Sie zweifellos verschont geblieben sind.“ Dieser Mann eroberte ihren Körper. Sie hätte ihn stoppen sollen. Doch was tat sie? Wahrscheinlich das, was jede andere Frau auch getan hätte – sie ließ es bereitwillig geschehen.

„Es ist etwas, das einem nicht gleich einfällt. Aber es könnte sein, dass ich meinerseits, wenn auch widerwillig, auf eine körperliche Anziehung antworte. Es ist eine Sache der Chemie zwischen uns.“

Nicht auch noch er! Körperliche Anziehung … Chemie … waren denn alle übergeschnappt? Sie kniff die Augen zusammen. „Wenn auch widerwillig“, hatte er gesagt. Genüge ich seinen Anforderungen nicht? fragte sie sich.

„Ich an Ihrer Stelle würde mir lieber Gedanken über die Chemie machen, die sich unter Ihren Füßen im Teppich abspielt.“

Er fluchte und folgte ihrem Blick.

„Ich habe Ihnen ja gesagt, dass Sie den Teppich besser von einem Fachmann hätten reinigen lassen sollen.“ Sie ließ die Schuhspitze über die vom Bleichmittel hell gewordene Stelle auf dem Boden gleiten.

Er sah Eve an und bemerkte gerade noch ihr verstohlenes Lächeln. „Vielleicht vergeht Ihnen das Lachen, wenn ich Ihnen die Rechnung schicke.“

Das war hoffentlich eine leere Drohung, denn ihr schmales Budget ließ solche Überraschungen nicht zu. „Heißt das am Ende, dass Sie mich nicht lieben?“ Sie zog einen Schmollmund und spielte leidlich die verschmähte Geliebte.

Tatsächlich hatte noch kein Mann sie jemals verschmäht. Sie umgekehrt dann und wann schon den einen oder anderen. Da war dieser liebenswürdige Adam gewesen mit seinem Dachgarten, der ihr gern nähergekommen wäre, und noch ein oder zwei andere hatte es gegeben, aber keiner hatte in ihr den Funken zum Glühen gebracht.

„Möglicherweise könnte ich Sie ohne vorherige Therapie aufgeben.“

„Ich will versuchen, es mit stoischer Würde zu ertragen“, versprach sie gelassen.

„Ich werde die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit hegen und pflegen.“

Sarkastischer Mistkerl! „Welch ein Glück, dass Sie ein so seichtes und oberflächliches Wesen haben“, sagte sie heiter. „Einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete ich schon, ich müsste Ihre Annäherungsversuche abwehren.“

„Wenn das die Signale sind, die Sie aussenden, nachdem Sie als Möglichkeiten Kampf oder Flucht erkannt haben, dann könnten Sie in ernste Schwierigkeiten geraten.“

„Sie wollen damit hoffentlich nicht andeuten, ich sei darauf aus, von Ihnen geküsst zu werden. Dann wären Sie nämlich größenwahnsinnig und selbstverliebter, als ich dachte.“

„Versuchen Sie mich dazu anzustacheln, Sie zu küssen?“

„Sind Sie … verrückt?“

„Verstehen Sie mich nicht falsch – ich spüre die Anziehung, wenn auch nur“, fügte er halb...

Autor

Kim Lawrence
Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
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