Julia Bestseller Band 160

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DIE NACHT IST NICHT ZUM SCHLAFEN DA! von REID, MICHELLE
Cassie stockt der Atem. Alessandro! Einst hatten sie eine prickelnde Affäre, bis er sie brüsk abservierte. Jetzt wird er ihr als neuer Boss präsentiert und gibt vor, sich nicht an ihre heißen Nächte zu erinnern. Leider erinnert sie sich nur zu gut an seine Zärtlichkeiten …

DIE BRAUT DES ITALIENISCHEN PLAYBOYS von REID, MICHELLE
Raffaelle Villani ist Erfolg bei den Frauen gewohnt. Damit hätte jedoch auch er nicht gerechnet: Rachel, eine völlig Fremde, küsst ihn aus heiterem Himmel! Unwillkürlich fragt sich Raffaelle, ob sie sich zu ihm hingezogen fühlt - oder einen raffinierten Plan verfolgt?

SAG DOCH EINMAL JA! von REID, MICHELLE
Eine Rose auf dem Kopfkissen, jeden Abend, Woche für Woche. So will Sandro seiner Frau Joanna zeigen, dass er sie immer noch liebt, dass er für sie da ist und auf sie warten wird. Er will alles dafür tun, um von ihr die Worte zu hören, nach denen er sich sehnt …


  • Erscheinungstag 17.04.2015
  • Bandnummer 0160
  • ISBN / Artikelnummer 9783733703097
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Reid

JULIA BESTSELLER BAND 160

MICHELLE REID

MICHELLE REID

Die Nacht ist nicht zum Schlafen da!

Woher kenne ich sie nur? Fasziniert betrachtet Alessandro die blonde Schönheit. Er weiß nicht einmal ihren Namen, dennoch tauchen bei ihrem Anblick sofort erotische Bilder vor seinem Auge auf: wie sie mit den Fingerspitzen federleicht über seine nackte Brust streicht, verlangend die Lippen auf seine presst … Er ist fest entschlossen, dieses Rätsel zu lösen!

Die Braut des italienischen Playboys

Nur ein Kuss – was kann da schon groß geschehen? Wenige Sekunden später weiß Rachel, was dabei so alles passieren kann. Der berüchtigte Playboy Raffaelle Villani entführt sie in sein Luxusapartment, stellt sie zur Rede – und behauptet dann vor der Presse, sie wäre seine Verlobte! Und er erwartet, dass sie sich auch so verhält – mit allem, was dazugehört …

Sag doch einmal Ja!

Joanna ist verzweifelt. Ihre Schulden wachsen ihr allmählich über den Kopf. In ihrer Not wendet sie sich an Sandro, ihren Ehemann, von dem sie sich vor einem Jahr getrennt hat. Denn nach einem entsetzlichen Erlebnis konnte sie seine Nähe, seine sanften Berührungen und zärtlichen Blicke nicht mehr ertragen. Wie kann sie ihre Angst vor der Liebe überwinden?

1. KAPITEL

Die Bar des Restaurants war so überfüllt, dass es Cassie kaum gelang, ihr Glas zum Mund zu führen. Nicht dass es ihr etwas ausgemacht hätte, hier inmitten all des Trubels mit ihren Kollegen zu stehen und zu plaudern – ganz und gar nicht. Alle hatten sich schwer in Schale geworfen, was allerdings kaum überraschend war, denn für heute Abend hatte erstmalig ihr neuer Chef sein Erscheinen angekündigt.

Cassie war seit einer halben Ewigkeit nicht mehr aus gewesen, deshalb genoss sie es, hier zu sein. Sogar ein neues Kleid hatte sie sich geleistet, ein schickes enges Cocktailkleid aus schwarzer Seide, das ihrer schlanken Figur schmeichelte. Obwohl es für ihre Verhältnisse natürlich viel zu teuer gewesen war, aber daran wollte sie jetzt lieber nicht denken.

„Deine Augen funkeln wie Smaragde“, bemerkte Ella neben ihr trocken. „Gute Stimmung hier, findest du nicht?“

Cassie lächelte. „Ja. Ich hatte fast vergessen, wie sich das anfühlt.“

„Jetzt wo die Zwillinge ein bisschen älter sind, kannst du dir so was ruhig öfter mal gönnen.“ Irgendwie schaffte Ella es im Gedränge, ihr Glas so weit zu heben, dass sie mit Cassie anstoßen konnte. „Und seit du endlich diese unverschämt hohen Vorschulgebühren los bist, nagst du ja auch nicht mehr ganz so am Hungertuch.“

„Haha! Von der alleinerziehenden berufstätigen Mutter zum wilden Partygirl.“ Cassie lachte. „Soll ich mir vielleicht auch gleich noch einen Mann suchen?“

„Um Himmels willen, bloß nicht!“ Ella schüttelte sich, und Cassie beobachtete, wie ein Schatten über das hübsche Gesicht der Freundin huschte.

Ella hatte gerade eine schwere Enttäuschung hinter sich. Sie war jahrelang mit einem Mann zusammen gewesen, der sie sechs Wochen vor der Hochzeit mit der Begründung, „er sei einfach noch nicht so weit“ sitzen gelassen hatte. Cassie wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, verlassen zu werden. Bloß, dass sie selbst damals auch noch mit den Zwillingen schwanger gewesen war.

„Er ist Geschichte, Ella“, erinnerte sie die Freundin entschieden. „Denk nicht mehr an ihn.“

Ella blinzelte kurz, dann nickte sie so nachdrücklich, dass ihr das kinnlange Haar ums Gesicht flog. „Ja, klar. Ich bin doch längst über ihn hinweg, oder?“

„Genau. Und jetzt geht’s dir wieder gut“, sagte Cassie, dann stießen sie noch einmal an. „Du hast schließlich alles, was du brauchst. Lieber einen atemberaubenden baumlangen Bodybuilder mit dem Temperament einer Schmusekatze als einen messerscharfen Aktienhändler mit den genetischen Merkmalen einer Giftschlange.“

Der Vergleich brachte Ella zum Lachen. Als mehrere Umstehende sich umdrehten, wechselten Cassie und Ella das Thema, um ihre Kollegen mit einzubeziehen. Während der nächsten Minuten plätscherte die Unterhaltung leicht dahin, und der reichlich fließende Sekt sorgte für gute Stimmung.

„Ich wüsste nur zu gern, wann endlich die Raubtierfütterung beginnt“, seufzte Ella eine Weile später. „Ich bin schon am Verhungern.“

„Wahrscheinlich müssen wir erst noch auf unseren neuen Boss warten.“ Cassie trank einen Schluck aus ihrem Glas.

„Viel voller darf es hier aber nicht werden, sonst fühlen wir uns wie in einer Sardinenbüchse“, gab ihre Freundin zu bedenken. „Obwohl, mit dem Typ, der da eben eingelaufen ist, Sardine zu spielen, wäre bestimmt ziemlich aufregend.“

Auf den Anblick, der sich ihr bot, als sie in die von Ella angezeigte Richtung schaute, war Cassie schlicht nicht vorbereitet. Ihr blieb fast das Herz stehen. Im nächsten Moment war ihr, als stürze sie vom Rand einer schwindelerregend hohen Klippe. Ihre Beine drohten den Dienst zu versagen, dann begannen ihre Zehen wie verrückt zu kribbeln, während eine Stimme in ihrem Kopf einen Namen schrie. Und obwohl Cassie ihn sechs lange Jahre nicht gesehen hatte, erinnerten sich ihre Sinne an jeden Quadratzentimeter seines hochgewachsenen, harten, athletischen Körpers.

Wie hätte ich ihn übersehen können, dachte sie hilflos, während ihr Herz dumpf zu hämmern begann. Er überragte seine beiden Begleiter um Haupteslänge, obwohl er den dunklen Kopf gesenkt hielt, um in dem Lärm hören zu können, was gesprochen wurde.

Die Erinnerung an diesen Mann hatte sich bis zum heutigen Tag so unauslöschlich in Cassie eingebrannt, dass ihr bei seinem Anblick fast das Weinglas entglitten wäre.

„Ich glaube, wir haben es hier mit unserem neuen Chef zu tun“, murmelte Ella überrascht.

Cassie schüttelte benommen den Kopf. „Nein“, flüsterte sie schließlich mühsam. „Das kann nicht sein.“

„Warum nicht?“ Ella musterte den Mann noch einmal, während Cassie nur dastehen und in ihre ganz private Hölle starren konnte. Bis ihre Freundin entschieden sagte: „Also echt, ich wette, das ist er. Und zwar, weil dieses atemberaubende Mannsbild gar nicht anders heißen kann als Alessandro Marchese.“

Den Namen ließ Ella sich genüsslich auf der Zunge zergehen. Cassie schüttelte verwirrt den Kopf. Alessandro Marchese? Von wem redete Ella?

„Wir blicken hier auf den hoffnungsvollen Spross einer milliardenschweren italienischen Dynastie“, bemerkte ihre Freundin in diesem Moment ironisch. „Und wenn mich nicht alles täuscht, ist die Dame in Rot an seiner Seite aus einem nicht minder hochwertigen Material gemacht.“

Die Dame in Rot …

Jetzt wusste Cassie, dass sie und Ella tatsächlich denselben Mann meinten, der ein in elegantes Rot gewandetes wunderschönes Geschöpf mit schulterlangen glänzend schwarzen Haaren am Arm führte. Die beiden wirkten so vertraut, wie ein Paar, das schon lange zusammen ist.

Und Ella hatte recht. Sie waren von derselben Art. So wie auch der Name Alessandro Marchese viel besser zu ihm passte als der weit schlichtere Name Sandro Rossi, unter dem Cassie ihn kennengelernt hatte.

Sie befahl sich, ihren Blick von ihm loszureißen. Als er im selben Moment den Kopf hob und seine Begleiterin anlächelte, konnte sie direkt in sein Gesicht sehen. Dabei stellte sie sehr zu ihrem Leidwesen fest, dass er in den zurückliegenden sechs Jahren nichts, aber auch gar nichts von seiner beeindruckenden männlichen Schönheit und Faszination eingebüßt hatte. Bitterkeit stieg in ihr auf. Diese lang bewimperten Augen mit den schweren Lidern, die vornehme gerade Nase, dieser schmale, energische und doch so atemberaubend sinnliche Mund … Todesmutig sog Cassie den Anblick in sich ein.

Sie hatte große Lust, ihm dieses Lächeln aus dem verlogenen Gesicht zu wischen. Alessandro Marchese … Wem versuchte er etwas vorzumachen? War er ein Gauner und Hochstapler, oder warum trat er plötzlich unter einem anderen Namen auf? Oder hatte er sie damals belogen?

Der Schmerz des Verrats loderte in ihr, während sie die Aura lässiger Entspanntheit wahrnahm, die er um sich herum verbreitete. Cassie scheiterte bei dem Versuch, ihren Blick von ihm loszureißen. Sein eleganter, perfekt sitzender dunkler Anzug, zu dem er ein blütenweißes Hemd trug, unterstrich seine hochgewachsene athletische Erscheinung noch.

An die sie sich in allen aufregenden Einzelheiten erinnerte …

Sie musste raus hier, und zwar sofort …

Cassie straffte die Schultern, reckte das Kinn.

Und als ob er ihre heftige Reaktion gespürt hätte, hob er den Kopf und schaute ihr direkt ins Gesicht. Womit er sie zwang, seinen Blick zu erwidern, magnetisch angezogen von einem Paar tintenschwarzer Augen, die nie wiederzusehen sie gehofft hatte.

Plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Das fröhliche Geplauder ringsum trat so jäh in den Hintergrund, als ob jemand ein Glas gegen die Wand geschmettert hätte. Schlagartig schien es, als wären sie beide allein, während die sechs lange Jahre währende Erinnerung an ihn in ihrer Fantasie wilde Blüten zu treiben begann.

Sandro, herzhaft lachend … Sandro, der ihre schüchternen Flirtversuche mit diesem trocken belustigten Grinsen zur Kenntnis nahm … Sandro, der sie hielt … und küsste … Sandro, der sie liebte … oh … anfangs so sanft und behutsam und später so leidenschaftlich … atemberaubend intensiv.

Ein flammender Pfeil reinsten sexuellen Verlangens durchbohrte so heftig Cassies Mitte, dass sie keuchend nach Atem rang. Sandro blinzelte irritiert. Ihr ganzer Körper begann vor Verlangen zu prickeln. Hilflos stemmte sie sich gegen die Flut unerwünschter Gefühle. Sie wollte das nicht. Sie wollte bei seinem Anblick kalt und ungerührt bleiben und musste doch feststellen, dass das exakte Gegenteil der Fall war.

Wie ein Mann, der alten Sinnenfreuden nachspürt, nahm er den leuchtenden Wasserfall ihres blass golden schimmernden Haars in sich auf, dessen Spitzen ihre entblößten Schultern streichelten. Sein Blick streunte weiter über ihr atemberaubendes Dekolleté, ihre Brüste.

Die Botschaft, die seine Augen aussandten, war von so sinnlicher Leidenschaft, dass Cassie befürchtete, gleich in Flammen aufzugehen. Am liebsten hätte sie ihren Protest laut herausgeschrien, aber sie war wie gelähmt. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich dermaßen entblößt gefühlt.

Nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen hätte sie sich vorstellen können, dass er so lange brauchen könnte, um sie wiederzuerkennen. Erst als ihre Blicke sich wieder begegneten, sah sie, wie der träge forschende Ausdruck in seinen Augen in blankes Entsetzen umschlug. In der nächsten Sekunde wirkte er fast, als würde er ohnmächtig werden. Er wurde gespenstisch bleich, während seine schwarzen Augen noch dunkler zu werden schienen. Cassie hielt erschrocken die Luft an.

Eine Sekunde später jedoch straffte er seinen hochgewachsenen Körper und wandte sich so abrupt ab, als ob er ihr eine Tür vor der Nase zuschlüge.

Ein weiteres Mal.

Jetzt drohte Cassie, das Bewusstsein zu verlieren. Als jemand sie anrempelte, wäre ihr um ein Haar das Glas entglitten, aber sie nahm es kaum wahr. Irgendwer sagte etwas zu ihr, doch sie hörte nichts. Sie konnte fühlen, dass sie blass geworden war, ihre Haut fühlte sich klamm und kalt an. Aber viel schlimmer, sehr viel schlimmer, war das Aufbrechen einer niemals wirklich verheilten alten Wunde.

Schließlich schaffte sie es irgendwie sich abzuwenden. Sie versuchte tief durchzuatmen und war froh, dass sie wenigstens ein paar flache Atemzüge hinbekam. Sie fühlte sich so in ihren Grundfesten erschüttert, dass sie am liebsten Hals über Kopf davongerannt wäre.

„Meinst du, wir bekommen jetzt endlich was zu essen?“, fragte Ella in diesem Moment, und Cassie antwortete mechanisch: „Ja.“

Wer ist das? schoss es Alessandro durch den Kopf. Dabei machte sich sofort wieder ein vertrauter Kopfschmerz bemerkbar, dem nur beizukommen war, indem er sich mit dem Zeigefinger intensiv die Stelle zwischen den Augenbrauen massierte.

Und warum fühlte er sich plötzlich so seltsam, fast wie innerlich ausgehöhlt?

Konnte sexuelle Anziehungskraft so stark sein, dass man davon weiche Knie bekam? Aber wann hätte der Anblick einer Frau je eine derartige Wirkung auf ihn gehabt? Und warum passierte das ausgerechnet jetzt und hier? Es war mehr als unprofessionell und wirklich verdammt lästig.

„Wieder Kopfschmerzen, Alessandro?“, fragte Pandora ihn besorgt. Wie immer, hatte sie sofort seine Stimmungsschwankung registriert.

„Nein, nein, alles okay.“ Er ließ die Hand sinken und wandte den Kopf, um die Blondine nicht aus den Augen zu verlieren.

Obwohl er sie jetzt nur von hinten sah, war da irgendetwas, das ihm bekannt vorkam. Aber was? Vielleicht ihr Haar … die Farbe oder die Art, wie es ihre schmalen weißen Schultern streifte?

„Sie sind aber schrecklich blass, Lieber“, beharrte Pandora. „Sind Sie wirklich sicher, dass …“

„Das ist nur der Jetlag.“ Er hatte Mühe, die Ungeduld aus seiner Stimme zu verbannen. „So ein Fünfzehnstundenflug ist anstrengend. Machen Sie nicht immer so ein Getue um mich, Pandora. Sie wissen, dass mich das nervt.“

Wer war sie bloß? Und warum hatte er das Gefühl, sie von irgendwoher zu kennen?

„Sie hätten während des Flugs eben nicht die ganze Zeit arbeiten, sondern sich lieber ausruhen sollen. Wirklich, Alessandro, eines Tages werden Sie noch …“

Der Rest blieb ihm erspart, weil Jason Farrow neben ihm plötzlich laut in die Hände klatschte. Das Geräusch hallte so schmerzhaft in seinem Kopf wider, dass Alessandro fast zusammengezuckt wäre.

„Ladies und Gentleman, dürfte ich einen Moment um Ruhe bitten?“, verschaffte sich der Geschäftsführer von BarTec Gehör. Prompt wurde es still.

Alessandro, der immer noch damit beschäftigt war, die seltsamen Empfindungen einzuordnen, sah sich einer neuen Herausforderung gegenüber: Hundert Augenpaare richteten sich erwartungsvoll auf ihn.

Von irgendwoher kannte er sie! Je länger er darüber nachgrübelte, desto sicherer war er, dass er sie schon einmal getroffen hatte. Dieses blass goldene Haar, die auffallend grünen Augen, der weiche rosa Mund … Er bemühte sich, nicht die Stirn zu runzeln, während er in seiner Erinnerung kramte. Dabei verstärkte sich dieses seltsam flaue Gefühl im Magen weiter.

Ihre hohen Wangenknochen, die hübsche kleine Nase, das herzförmige Gesicht …

„Ich möchte Ihnen den neuen Eigentümer von BarTec vorstellen und freue mich, Alessandro Marchese ganz herzlich bei uns begrüßen zu dürfen.“

Cassie, die keine andere Wahl hatte als sich wieder umzudrehen, sah, dass Sandro – oder wie er sich derzeit auch nennen mochte – immer noch irritiert wirkte. Willkommen im Club, dachte sie, während sie von einer Welle bitterer Verachtung überflutet wurde, die glücklicherweise ihren Schmerz und ihre Bestürzung hinwegschwemmte. Für wen zum Teufel hielt er sich eigentlich, wenn er glaubte, sie wie Luft behandeln zu können?

Wieder brandete Beifall auf, aber sie klatschte nicht. Eher würde sie sich die Hände abhacken. Sie hasste ihn. Nachdem sie ihm nun, deutlich ruhiger geworden, wieder ins Gesicht schaute, erinnerte sie sich daran, wie sehr sie Sandro Rossi – oder Alessandro Marchese – verabscheute.

„Grazie molto per la vostra accoglienza calorosa …“, sagte der Mann auf Italienisch. Seine aufregend sinnliche Stimme hatte einen tiefen satten Klang, der den weiblichen Anwesenden ein hingerissenes Keuchen entlockte. Als seine schöne Begleiterin ihn am Arm berührte und irgendetwas zu ihm sagte, stutzte er kurz, bevor sich auf seinem Gesicht ein charmantes Lächeln Bahn brach, mit dem er sofort im Sturm die Herzen aller Anwesenden eroberte. Bis auf Cassies Herz natürlich.

„Bitte entschuldigen Sie, ich versuch es noch mal“, fuhr er auf Englisch fort. „Vielen Dank für den freundlichen Empfang …“

„Oje“, hauchte Ella neben Cassie. „Das war aber wirklich sehr, sehr sexy. Ist er so, oder will er sich nur bei uns einschmeicheln?“

Was sonst, dachte Cassie zynisch, verzweifelt bemüht, sich ihre Bitterkeit nicht anmerken zu lassen. In Wahrheit war sie überrascht, dass die sonst so aufmerksame Ella nichts mitbekommen hatte, von dem, was zwischen Cassie und ihrem neuen Chef abgelaufen war.

Sandro ließ es sich nicht nehmen, seine Zuhörerschaft um den kleinen Finger zu wickeln, während er in flüchtigen, aber gekonnten Ausführungen die Zukunft von BarTec skizzierte. Dabei schaffte er es, sich mit einer Aura von Glaubwürdigkeit zu umgeben, die keinen Zweifel an seiner Kompetenz aufkommen ließ. Er betonte ausdrücklich, dass niemand Angst um seinen Arbeitsplatz zu haben brauchte. Cassie stand immer noch wie gelähmt da und ließ sich unbewusst vom Rhythmus seiner Stimme davontragen. Hin und wieder schnappte sie ein Wort auf, aber der Zusammenhang entging ihr, weil sie in Gedanken ganz woanders war.

Seine Stimme hatte sich nicht verändert – er hatte sich nicht verändert. Auch wenn er heute einen anderen Namen trug, war er doch immer noch derselbe Mann. Der Mann, in den sie sich damals unsterblich verliebt hatte. Und der sie einfach weggeworfen hatte wie ein gebrauchtes Taschentuch, nachdem er ihren Körper benutzt und sie geschwängert hatte.

Ein zweiter Beifallssturm riss sie aus ihren quälenden Erinnerungen. Sandro hatte soeben seine Ansprache beendet und lächelte jetzt die Dame in Rot an. Cassie sehnte sich nach nichts mehr, als einfach zu gehen. Aber Alessandro, umlagert von Fans wie ein Popstar, blockierte den Ausgang.

Ob sie es schaffte, sich an dem Pulk unbeobachtet vorbeizuschlängeln? Und falls Sandro sie bemerkte, konnte es ihm doch eigentlich nur recht sein, wenn sie möglichst unauffällig verschwand, oder nicht?

„Na endlich, es geht los.“ Erst Ellas trockene Bemerkung machte Cassie darauf aufmerksam, dass sich die Menge langsam in Richtung Treppe in Bewegung setzte, die in das im Obergeschoss liegende Restaurant führte. Sollte sie oder sollte sie nicht? An diesem Punkt meldete sich ihr gesunder Menschenverstand zu Wort.

Dieser sagte ihr, dass sie unmöglich einfach gehen konnte. Der Job bei BarTec war überlebensnotwendig für sie. Während sie vorgab, Ellas ausufernden Schwärmereien über ihren aufregenden neuen Chef zuzuhören, drifteten ihre Gedanken wieder in die Vergangenheit.

Ich kenne Sie nicht, und ich will Sie auch nicht kennenlernen. Bitte rufen Sie nie wieder diese Nummer an …

2. KAPITEL

Cassie und Ella saßen zusammen mit ihren Kollegen aus der Finanzbuchhaltung im hinteren Teil des Restaurants an einem Tisch. Der einzige Fremde in ihrer Runde war Gio Rozario, ein attraktiver smarter Mitarbeiter aus Sandros Team.

Er wurde während des mehrgängigen Menüs mit neugierigen Fragen bombardiert, die er geschickt mit Gegenfragen beantwortete, was außer Cassie jedoch niemandem auffiel. Offensichtlich hatte er ein ähnliches Talent wie sein Chef, seine Umgebung mit seinem Charme einzuwickeln.

Cassie, die lustlos in ihrem Essen herumstocherte, steuerte zur Unterhaltung kaum etwas bei. Ihr war aufgefallen, dass an jedem Tisch mindestens ein Mitarbeiter von Sandros Team saß. Was den Verdacht nahelegte, dass die Spione in ihrer Mitte den Auftrag hatten, wertvolle Informationen über die Firma und ihre Angestellten zu sammeln.

Mit anderen Worten: Der Marchese-Mob arbeitete auf Hochtouren, während die ahnungslosen Angestellten von BarTec in Partylaune und nicht auf der Hut waren. Ganz schön schlau, dachte Cassie gereizt. Alkohol floss immer noch reichlich, und sie war bereit zu wetten, dass es nur sehr wenige ihrer Kollegen am Ende des Abends geschafft haben würden, ihre Geheimnisse zu bewahren.

Unbewusst wanderte ihr Blick durch den Raum zu dem großen runden Tisch in der Mitte, an dem ihr Geheimnis inmitten der Geschäftsleitung Platz genommen hatte. Er stand – wenig überraschend – ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit, ein aalglatter, weltgewandter Konzernchef mit dem durchtrainierten Körper eines Hochleistungssportlers und dem Gesicht eines Herzensbrechers.

Und er hatte dasselbe glänzend schwarze Haar und dieselben dunklen Augen wie Anthony …

Oh Gott … Cassie stand abrupt auf. „Entschuldigung“, murmelte sie. „Ich bin gleich zurück.“ Sie griff nach ihrer Abendhandtasche und marschierte stur geradeaus schauend zur Treppe.

Alessandro beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sich die schlanke Blondine ihren Weg zur Treppe bahnte. Wahrscheinlich wollte sie die Toilette aufsuchen, die unten im Barbereich lag. Unglaublich, mit welch einer sinnlichen Anmut sie sich bewegte! Während er ihr nachschaute, spannten sich die Muskeln in den unteren Regionen seines Körpers an.

Dieser erste ungehinderte Blick auf sie gestattete es ihm, sich an ihrer schlanken Figur mit den wohlgeformten Kurven zu weiden, die sich unter ihrem kleinen Schwarzen deutlich abzeichneten. Ihre Haut war weiß und glatt wie Porzellan, der Knochenbau elegant und zart. Sie hatte einen hübschen Po und traumhaft lange Beine mit schmalen Fesseln, die durch die hochhackigen schwarzen Lackpantoletten noch betont wurden.

Als sie den ersten Fuß auf die Treppe setzte, beugte sie leicht den Kopf. Dabei fiel ihr schimmerndes blondes Haar wie ein Seidenvorhang nach vorn, während sie eine zartgliedrige weiße Hand nach dem Treppengeländer ausstreckte. In diesem Moment beschlich ihn das seltsame Gefühl, als ob Fingernägel ganz zart über seine nackte Brust strichen, und wieder war es wie ein Blitz, der für einen Sekundenbruchteil Licht in das Dunkel seiner Erinnerungen brachte.

Heftig die Stirn runzelnd versuchte er gegen den Drang anzukämpfen, erneut die Hand zu heben, um sich die Nasenwurzel zu massieren. Dabei beobachtete er, wie sie hinter der Biegung der Treppe stehen blieb und nach irgendetwas in ihrer Abendhandtasche suchte. Gleich darauf förderte sie ihr Handy zutage, drückte eine Taste und hielt sich das Telefon ans Ohr.

Wen rief sie an? Ihren Freund? Ihren Ehemann?

Und warum störte ihn allein der Gedanke?

„Cassie Janus“, raunte Jason Farrow ihm in diesem Moment wie beiläufig zu.

Alessandro schaute sein Gegenüber mit gespieltem Unverständnis an.

„Ich habe Ihr Interesse vorhin schon bemerkt“, erklärte der Nochgeschäftsführer, der sich offenbar ein paar Pluspunkte verdienen wollte, in vertraulichem Ton.

Sandro schwieg, während er darauf wartete, ob der Name irgendetwas bei ihm auslöste.

Nichts.

„Sie leitet die Finanzbuchhaltung“, fuhr der ältere Mann fort. „Obwohl sie nur eine Frau ist, hat sie ein Gehirn wie ein Prozessor. Sieht man ihr gar nicht an, was?“

Alessandro, der Jason Farrow auf Anhieb nicht sonderlich sympathisch gefunden hatte, fühlte sich durch diese sexistische Bemerkung vollauf bestätigt. Fehlte bloß, dass der Idiot ihm auch noch verschwörerisch zublinzelte!

Eine Firma von der Größe BarTecs war nur ein kleiner Fisch im Vergleich zu den Brocken, die er normalerweise schluckte. Aber das Unternehmen war innovativ und hatte in der Mikroelektronik ein paar bahnbrechende Entwicklungen vorzuweisen, die er lieber bei sich selbst aufgehoben wusste als bei der Konkurrenz. Das Angebot Angus Bartons war genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Angus war ein guter Freund seines verstorbenen Vaters gewesen. Und selbst wenn Sandro kein Fünkchen Interesse an BarTec gehabt hätte, wäre er nicht darum herumgekommen, Angus allein aus alter Freundschaft die Last der Verantwortung von den müden Schultern zu nehmen.

„Haben Sie ein Problem mit Frauen am Arbeitsplatz?“, fragte Alessandro maliziös.

„Niemals! Im Gegenteil, sie versüßen mir den Tag!“, erklärte Farrow mit einem schmierigen Grinsen. „Obwohl ich immer noch nicht wirklich überzeugt bin, dass sie genauso hart und ausdauernd arbeiten können wie wir Männer. Da sage ich nur: Hormone.“ Nachdem er Luft geschnappt und vielsagend genickt hatte, fuhr er fort: „Cassie hatte bei BarTec viel Glück. Angus hat sie sehr gefördert und stets seine schützende Hand über sie gehalten. Eigentlich ist sie ja noch viel zu jung, um so viel Verantwortung zu tragen. Trotzdem …“ Farrow zuckte die Schultern, aber Alessandro hörte schon gar nicht mehr hin.

Angus … War er ihr vielleicht bei einem seiner Besuche bei Angus Barton begegnet? Vielleicht erklärte das ja, warum sie ihm so bekannt vorkam.

„Im Geschäftsleben ist kein Platz für Sentimentalitäten, das wissen Sie schließlich am besten“, plusterte sich Farrow noch weiter auf. „Natürlich ist sie hübsch anzuschauen, das haben Sie ja selbst schon gemerkt. Aber es ist auch eine Ablenkung am Arbeitsplatz, auf die man vielleicht besser verzichten sollte, zumindest meiner Meinung nach.“

Jetzt reichte es Alessandro. „Pandora …“, wandte er sich an seine Tischnachbarin. „Vielleicht erzählen Sie Mr Farrow mal, was ich von Ihnen für das schwindelerregend hohe Gehalt, das ich Ihnen bezahle, erwarte.“

Pandora lachte. „Schwindelerregend hoch ist es in der Tat. Aber Sie wissen auch, dass ich jeden Cent davon verdiene, Alessandro“, betonte sie, bevor sie sich mit einem strahlenden Lächeln an Jason Farrow wandte. „Wenn wir beide ab Montagmorgen zusammenarbeiten, um den Übergang für alle Beteiligten so reibungslos wie möglich zu gestalten, erwarte ich Ihre volle Loyalität und Unterstützung, Mr Farrow – auch wenn ich nur eine Frau bin“, erklärte sie kühl.

Die Ohrfeige hatte so gesessen, dass Jason Farrow knallrot anlief. Die schöne Pandora hatte ihm gerade eine Lektion erteilt, die er bestimmt nicht so schnell vergessen würde.

Alessandro griff nach seinem Weinglas, das er kaum angerührt hatte, und erhob sich. „Ich hoffe, Sie entschuldigen mich. Ich würde gern mal einen kleinen Rundgang machen“, erklärte er mit einem Gefühl der Genugtuung, weil Pandora diesem aufgeblasenen Deppen einen hübschen Dämpfer verpasst hatte.

Cassie stand mit geschlossenen Augen und Handy am Ohr im Barbereich, der sich inzwischen geleert hatte, und lauschte der beruhigenden Stimme ihrer Nachbarin. „Hier läuft alles bestens, Cassie. Die Zwillinge schlafen wie die Murmeltiere“, erklärte Jenny. „Sie sind echte Engel. Wirklich, Cassie, ich würde so gern viel öfter Granny spielen, wo doch meine eigenen Enkel so weit weg sind. Außerdem muss ich ganz ehrlich zugeben, dass ich nichts dagegen habe, mir im Fernsehen ab und zu mal etwas anderes anzusehen als immer nur Larrys ewigen Football.“

Die Engel waren nur Engel, weil Jenny sich auf einen Handel mit ihnen eingelassen hatte, wie Cassie zufällig mitbekommen hatte. Aber das war in Ordnung so. Wenn wir vor dem Einschlafen jeder noch ein Stück Schokolade bekommen, ohne dass Mummy es erfährt, gehen wir ganz brav ins Bett. Das war der Deal gewesen, und Jenny hatte mitgespielt. Und Cassie natürlich auch.

„Was gucken Sie denn gerade?“, erkundigte sie sich lächelnd, während sie sich vorstellte, wie Jenny es sich in dem großen alten Lehnstuhl vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte.

Jenny nannte den Titel einer romantischen Liebeskomödie aus dem Stapel der DVD-Sammlung, die sie mitgebracht hatte. „Sie brauchen sich wirklich nicht zu beeilen“, versicherte sie lachend. „Ich bin hier für mindestens eine Woche bestens versorgt. Ach übrigens, da fällt mir noch was ein. Bella hat gesagt, ich soll Sie daran erinnern, dass Sie versprochen haben, von Ihrem neuen Chef ein Foto zu machen. Weil sie doch unbedingt wissen will, wie er aussieht.“

Dieses Versprechen muss ich leider brechen, dachte Cassie niedergeschlagen, während sie ihr Handy wieder verstaute. Sie konnte auf keinen Fall riskieren, dass ihre aufgeweckte Tochter womöglich die Ähnlichkeiten zwischen ihrem Zwillingsbruder und Alessandro Marchese entdeckte.

Allein die Vorstellung war so beängstigend, dass sie erschauerte, während sie sich wieder auf den Weg ins Restaurant machte. Als sie um die Biegung der Treppe kam, fiel ihr Blick auf Sandro, der sich an einem der Tische auf der anderen Seite des Raumes unterhielt. Sie presste die Lippen zusammen und ging mit gesenktem Blick an ihren Platz zurück. In diesem Moment erklang von gegenüber lautes Gelächter.

„Er scheint für Leute ein Händchen zu haben“, hörte sie Ella neben sich sagen.

„Alessandro ist fest davon überzeugt, dass zufriedene Arbeitnehmer besser arbeiten als unzufriedene“, erklärte Gio Rozario. „Ich halte jede Wette, dass Sie Ihren neuen Chef mögen.“

Ich halte dagegen, dachte Cassie, unfähig, ihren Blick von Sandro zu lösen, der gerade an den nächsten Tisch trat. Erst in diesem Moment wurde ihr klar, was er da eigentlich machte. Er ließ es sich nicht nehmen, jeden einzelnen neuen Angestellten persönlich zu begrüßen!

Oh Gott, und nun? Was sollte sie tun? Noch einmal nach unten verschwinden konnte sie nicht, nachdem sie eben erst zurückgekommen war, außerdem stand er in der Nähe der Treppe.

Trotz alledem konnte Cassie ihm eine gewisse Bewunderung nicht versagen. Geschickt war er, das musste man ihm lassen. Mit Herzklopfen beobachtete sie, wie er unaufhaltsam näherkam.

„Wie ist das, kann man ihn eigentlich mieten?“, wandte sich Ella in scherzhaftem Ton an Gio Rozario. „Wenn ich das nächste Mal meine Familie besuche, könnte mir nämlich ein Mann wie er sehr nützlich sein.“

Gio – er hatte bereits darum gebeten, beim Vornamen genannt zu werden – lachte. „Fragen Sie ihn doch einfach“, schlug er vor. „Alessandro ist sehr familienerprobt, er kommt schließlich selbst aus einer großen Familie.“

Familienerprobt? Cassie spürte ein hysterisches Lachen in sich aufsteigen, und einen schrecklichen Moment lang befürchtete sie damit herauszuplatzen. Dann trat Sandro an den Nachbartisch. Prompt versteifte sie sich. Sie konnte sogar seinen unverwechselbaren Duft riechen und die Wärme fühlen, die sein Körper abstrahlte, so dicht stand er hinter ihr.

Warum ausgerechnet er? überlegte sie verzweifelt, während sich die Kollegen nebenan in dem Versuch überboten, bei ihrem neuen Chef Eindruck zu schinden. Warum musste ausgerechnet er der neue Eigentümer von BarTec sein?

Wieder brandete Lachen auf, dann spürte Cassie, wie Sandro sich zu ihrem Tisch umdrehte. Gio erhob sich.

Die Hände im Schoß zu Fäusten geballt, hörte Cassie zu, wie Gio ihre Kollegen der Reihe nach vorstellte und jedes Mal ein paar Worte zu der ausgeübten Tätigkeit sagte. Dabei hoffte sie, dass niemand ihre extreme Anspannung bemerkte. Sandro stand direkt neben ihr. Was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass ihre Haut wie verrückt kribbelte.

Ein halbes Dutzend Mal zuckte Cassie innerlich zusammen, wenn er über ihre Schulter hinweg jemandem die Hand reichte. War das Absicht? Hatte er sich ganz bewusst hinter ihren Stuhl gestellt, um den Moment, in dem er ihr in die Augen schauen musste, so lange wie möglich hinauszuzögern?

„Und hier haben wir Ella Cole“, hörte sie Gio wie aus weiter Entfernung sagen. „Meinen Informationen zufolge würde die Finanzbuchhaltung ohne ihr Organisationstalent glatt zusammenbrechen.“

„Ein Sekretärinnenmonster sozusagen“, erläuterte Ella munter. „Furcht einflößend, aber harmlos“, fügte sie hinzu, während Cassie erstarrt beobachtete, wie sich diese langfingrige Hand, die aus einem eleganten dunklen Ärmel des Seidenjacketts hervorschaute, über ihre Schulter nach vorn schob, um Ellas Hand zu ergreifen.

Und jetzt war sie an der Reihe. Sie war die Letzte. Gleich würde sie gezwungen sein, die Hand zu nehmen, die ihren Körper intimer berührt hatte als jede andere, und sie wusste nicht, ob sie sich dazu überwinden und all die Bitterkeit und Wut, die sich in ihr aufgestaut hatten, zumindest für diesen Moment hinunterschlucken konnte.

„Und das ist Cassandra Janus.“ Cassie hörte ihren eigenen Namen und spürte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog, als Sandro einen Schritt beiseitetrat, um sie ansehen zu können. „Cassie ist der Shootingstar der Finanzbuchhaltung“, erklärte Gio weiter.

Ihre Finger waren vor Kälte wie erstarrt, weshalb ihre Hände immer noch zu Fäusten geballt in ihrem Schoß lagen. Cassie hob den Blick und schaute Sandro ins Gesicht. Ihr war, als würden sechs lange Jahre Verzweiflung sie unter sich begraben. Aus dieser Nähe sah er sogar noch atemberaubender aus als in ihrer Erinnerung.

„Cassandra Janus“, wiederholte er bedächtig. Ihr Name hörte sich aus seinem Mund immer noch genauso sexy an wie damals. Cassies Kehle fühlte sich plötzlich an wie zugeschnürt. Und seine Augen, diese nachtschwarzen Augen mit den schweren Lidern wagten es doch tatsächlich, sie mit kühlem, höflichen Interesse zu mustern, während er hinzufügte: „Irgendwie ist mir, als wäre mir Ihr Name schon mal irgendwo untergekommen … sind wir uns vielleicht schon begegnet?“

Sind wir uns vielleicht schon begegnet? Machte er Witze? Oder versuchte er ihr zu sagen, dass sie gut daran tat, sein Spiel mitzuspielen? Heiliger Himmel, dachte Cassie, während sie wieder ein hysterisches Lachen in sich aufsteigen spürte.

Mühsam um Fassung ringend, entgegnete sie kalt: „Nein, wir kennen uns nicht, Mr Marchese.“

Dabei ignorierte sie absichtlich, dass er alle gebeten hatte, ihn beim Vornamen zu nennen. Und da sagte er auch schon: „Alessandro, bitte.“

Cassie schlug das Herz bis zum Hals. Nie im Leben würde sie ihn mit diesem Namen anreden. Was wollte er – ihr Blut?

Schwindlig vor Aufregung schaffte sie es irgendwie, ihre kalte Faust zu öffnen und ihm die Hand zu reichen. In dem Moment, in dem ihre Finger sich berührten, durchzuckte es sie heiß. Fast als hätte sich eine Kugel zwischen ihre Rippen gebohrt, ganz dicht unter ihrem verwundeten Herzen, das hämmerte wie verrückt.

Da drückte er ihre Hand auch schon viel kräftiger als angemessen.

„Angus hat Cassie vor einem Jahr von Jay Digital abgeworben“, fuhr sein Spion ahnungslos fort. „Das war wahrscheinlich einer seiner besten Schachzüge überhaupt. Man hat mir glaubhaft versichert, dass es praktisch nichts gibt, was Cassie über Finanzdienstleistung und Risikomanagement nicht weiß.“

„Interessant“, murmelte Sandro und wirkte dabei doch irgendwie abwesend. Er schaute ihr immer noch in die Augen und hielt ihre Hand fest. Und die Spannung zwischen ihnen baute sich weiter auf, bis Cassie ein zitternder Seufzer entschlüpfte. Er senkte die Lider mit den unverschämt langen Wimpern und schaute auf ihren halb geöffneten Mund.

Sie erschauerte. Und beobachtete, wie sich zwischen seinen Augenbrauen eine steile Falte bildete.

„Außerdem gelingt es Cassie spielend, die Anforderungen ihres Berufs und die einer alleinerziehenden Mutter von fünfjährigen Zwillingen unter einen Hut zu bringen“, fuhr Gio Rozario wie ein gut programmierter Roboter fort.

Die Erwähnung der Zwillinge holte Cassie abrupt in die Gegenwart zurück. Unsanft entzog sie ihrem Gegenüber die Hand, verzweifelt bemüht, ihn ihre Wut nicht bemerken zu lassen.

Das, was folgte, war blanker Horror. Kein Mensch rechnete damit. Am allerwenigsten Cassie, die eben versuchte, ihren Blick von Sandro loszureißen. Sie sah, wie sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrte und kalkweiß wurde, dabei hörte sie ihn aufstöhnen. Gleich darauf spürte sie, wie sich ihr Stuhl bewegte.

Instinktiv sprang sie auf und beobachtete fassungslos, wie ein fast zwei Meter großer, athletisch gebauter Mann wie ein gefällter Baum zusammen mit ihrem Stuhl zu Boden stürzte und zwischen zwei Tischen zu ihren Füßen liegen blieb.

Im Raum wurde es totenstill. Der Vorfall war dermaßen bizarr, dass alle Anwesenden erstarrten und mit angehaltenem Atem darauf warteten, dass Sandro sich fluchend wieder aufrappelte.

Aber er rührte sich nicht. Und noch während Cassie auf die leblos daliegende Gestalt hinunterschaute, explodierte die atemlose Stille um sie herum. Ein Gewirr unterschiedlichster Geräusche drang an ihr Ohr.

Erschrockenes Keuchen, Schreie, Stühlerücken … Cassie spürte, wie sie zur Seite geschoben wurde, während Gio an ihr vorbeirannte, dicht gefolgt von einem roten Blitz. „Hat er einen Zusammenbruch erlitten?“, murmelte irgendwer schockiert. Und jemand anders: „Ist er bewusstlos? Warum rührt er sich nicht?“ Cassie blinzelte. Nachdem sie ihren Blick wieder scharf gestellt hatte, erkannte sie, dass Gio neben Sandro auf dem Boden kauerte, und auch die Dame in Rot war da und fummelte panisch an seiner Krawatte und seinem Hemdkragen herum.

Sein Gesicht war ganz grau, er wirkte wie … tot.

Cassie holte tief und zitternd Atem und flüsterte: „Sandro.“ Dann fiel sie auf die Knie und stieß Gio fast beiseite, so wichtig war es ihr plötzlich, ganz nah bei ihm zu sein.

„Sandro!“ Diesmal schrie sie seinen Namen, was bei den Umstehenden erneut eine Schockwelle auslöste.

3. KAPITEL

„Erklären Sie uns, was da eben passiert ist, Cassie.“

Der eben noch so charmante und liebenswerte Gio Rozario wirkte plötzlich wie ausgewechselt. Er hatte Cassie in das kleine Büro im hinteren Teil des Restaurants gelotst und lehnte jetzt am Schreibtisch. Man hatte sie regelrecht wegzerren müssen von dem immer noch wie leblos am Boden liegenden Sandro.

Neben Gio stand die Frau im roten Kleid – Pandora Batiste, wie Cassie erfahren hatte – die ein paar Sekunden später dazugekommen war. Während Cassie hilflos den Kopf schüttelte, registrierte sie, dass sich die feuchten braunen Augen dieses atemberaubenden Geschöpfes in Eiskugeln verwandelt hatten.

„Ich habe keine Erklärung“, erwiderte Cassie, immer noch so erschüttert, dass sie nicht aufhören konnte zu zittern.

„Sie haben sich praktisch über ihn geworfen“, sagte Gio höchst irritiert.

Ihre Lippen, kalt und steif wie der Rest ihres Körpers, zitterten ebenfalls. Noch immer konnte sie diesen grauenhaften Moment nicht abschütteln, in dem sie geglaubt hatte, Sandro läge tot vor ihr auf dem Boden.

Weil sie es sich früher manchmal gewünscht hatte … oh, wie oft in den vergangenen sechs Jahren, wenn es nicht gut lief bei ihr, hatte sie Sandro das Schlimmste gewünscht.

„Sie doch auch“, konterte sie, während sie auf ihre rechte Handfläche schaute, unter der sie immer noch glaubte, seinen Herzschlag zu spüren.

„Aber Sie kennen ihn nicht“, argumentierte Gio. „Zumindest bin ich bisher davon ausgegangen, oder?“, fügte er nach einer Pause hinzu. „So gesehen ist Ihre Reaktion zumindest sehr ungewöhnlich.“

Cassie schaute auf ihre Füße, während sie sich an den Moment erinnerte, in dem Sandro für einen Sekundenbruchteil aus seiner Ohnmacht erwacht war und ihr in die Augen geblickt hatte. „Cassie – Madre di Dio …“, hatte er fast unhörbar geflüstert, dann war er wieder bewusstlos geworden, und Gio hatte sie von ihm weggezogen.

„Bitte“, sagte sie zutiefst beunruhigt, „könnte nicht irgendjemand rausgehen und nachsehen, wie es ihm geht?“

„Sie haben ihn Sandro genannt“, ergriff jetzt Pandora Batiste das Wort, ohne auf Cassies Bitte einzugehen. „Niemand nennt ihn Sandro, er verbittet sich das. Und nun frage ich mich, wie ausgerechnet Sie – angeblich eine Fremde – dazu kommen, ihn so zu nennen?“

Um Cassies Mund zuckte ein bitteres Lächeln. Was sie da hörte, war ihr neu, denn immerhin hatte er sich ihr ja als Sandro vorgestellt.

„Sie müssen ihn kennen“, beharrte die Schöne mit den kalten Augen.

Cassie, die immer noch zitternd auf ihrem Stuhl saß, zwang sich, den Kopf zu heben und die beiden anzuschauen, die mit vor der Brust verschränkten Armen an den Schreibtisch gelehnt dastanden und sie mit Blicken fixierten.

Es wurmte sie … mehr als das. Dieses überhebliche Getue, mit dem man sie einzuschüchtern versuchte, machte sie wütend. „Sie haben kein Recht mich zu verhören“, protestierte sie.

„Wir verhören Sie nicht“, entgegnete Gio. „Wir machen uns nur Sorgen und wüssten gern, was da eigentlich vorgeht. Wir sind einfach …“

„Neugierig“, ergänzte Cassie schroff, während sie fühlte, wie ein Teil ihrer so dringend benötigten Energie in ihren Körper zurückströmte. „Aber ich will diese Unterhaltung nicht mit Ihnen führen. Und Sie sollten eigentlich da draußen bei ihm sein statt mit mir hier drin.“

„Alessandro ist in guten Händen“, versicherte die in Rot gewandete Dame.

„Woher wollen Sie das wissen?“ Cassie schaute sie herausfordernd an. „Ich finde, Sie sollten versuchen herauszufinden, warum er ohnmächtig geworden ist.“

„Das tun wir bereits.“

„Eben nicht. Sie verlangen von mir Informationen, die Sie absolut nichts angehen.“ Sie machte eine Pause und fragte dann scharf: „Oder hat er einfach nur zu viel getrunken? Ist er jetzt auch noch Alkoholiker?“

„Auch noch? Was soll das denn heißen?“, fragte eine vertraute Stimme hinter ihr.

Cassie sprang auf, wirbelte herum und musterte den Mann auf der Schwelle. Ihr Mund wurde trocken. Er sah immer noch zum Fürchten aus, weiß wie die Wand und mit viel zu tief in den Höhlen liegenden schwarzen Augen. Aber wenigstens konnte er wieder auf eigenen Beinen stehen.

„Alles okay?“, rutschte es ihr heraus.

Er überhörte ihre Frage und sagte zu seinen beiden Mitarbeitern knapp: „Da draußen ist Schadensbegrenzung angesagt. Lasst euch irgendwas einfallen. Jetlag, Migräne, ganz egal, Hauptsache, es klingt überzeugend“, fügte er hinzu, als sie an ihm vorbeigingen. „Außerdem muss ich wissen, wie ich unbemerkt hier rauskomme.“

Die Tür fiel hinter den beiden ins Schloss. Als er sich Cassie zuwandte, reckte sie kämpferisch das Kinn. Die Luft knisterte vor Spannung. Er hüllte sich immer noch in Schweigen und sezierte sie mit Blicken.

Sie ließ seine Musterung ungerührt über sich ergehen und überlegte dabei, wie alt er jetzt sein mochte … dreiunddreißig ungefähr. Natürlich nur, wenn er ihr damals sein wahres Alter genannt hatte. So schwer gegen die Tür gelehnt wie im Moment wirkte er jedenfalls deutlich älter.

Und reichlich ramponiert sieht er auch aus, dachte sie, während sie auf sein zerwühltes Haar, das halb offene Hemd und die auf Halbmast hängende Krawatte schaute.

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

Cassie wagte ihren Ohren nicht zu trauen. Hatte er wirklich vor, weiterhin so zu tun, als ob sie sich noch nie im Leben begegnet wären? Obwohl sie jetzt allein waren? So ein Schuft. Aber bitte! Sie würde sich ganz bestimmt keine Blöße geben.

Cassie schaute ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, in die Augen. „Ich habe Ihnen nichts zu sagen.“

„Meinen beiden Assistenten hatten Sie aber eine ganze Menge zu sagen.“

„Finden Sie?“ Sie schlang die Arme um ihren Brustkorb. „Dann können Sie sich Ihre Antworten ja von dort holen.“

Seine Augen wurden schmal. Cassies Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Warum sind Sie so feindselig?“, fragte er irritiert.

„Na, warum wohl?“, konterte Cassie spitz. „Finden Sie das etwa unangebracht?“

Zu ihrer größten Überraschung schenkte er ihr ein herzzerreißend liebenswertes schiefes Lächeln. „Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher.“

Cassie presste verblüfft die Lippen zusammen und fragte sich, wie weit er diese absurde Vorstellung noch treiben wollte. Sie hatte mit einem Wutausbruch gerechnet, mit verhüllten Drohungen. Es konnte ihm nicht recht sein, wenn in der Firma hässliche Gerüchte über ihn kursierten, die sein Sunnyboyimage ernsthaft beschädigten. Aber vielleicht reichte es ja schon, dass er jetzt hier mit ihr allein in einem Hinterzimmer war, um die Gerüchteküche weiter anzuheizen.

Cassie beschloss, dem unwürdigen Spiel ein Ende zu bereiten. „Hör zu, Sandro“, sagte sie schließlich fest. „Keiner von uns beiden will diese Konfrontation. Warum lässt du mich nicht einfach durch, damit ich gehen kann?“

„Sandro“, wiederholte er mit einem gepressten Auflachen und begann sich mit einem Finger die Stirn zu massieren. Gleich darauf zog er die Augenbrauen zusammen, als ob er Schmerzen hätte. Prompt sprang Cassie wieder eine Besorgnis an, die sie nicht fühlen wollte.

„Hm.“ Er machte keine Anstalten, die Tür freizugeben.

Mit einem Seufzer gab sie ihrer wachsenden Sorge nach. Sie griff nach dem Stuhl, auf dem sie eben noch gesessen hatte, trug ihn durch den Raum und stellte ihn neben Sandro an die Wand bei der Tür.

„Hier“, sagte sie schroff. „Setz dich, bevor du wieder zusammenklappst.“

Als er leicht schwankte, schoss instinktiv ihre Hand vor, um ihn zu stützen. Sie spürte die harten Muskelstränge seines Unterarms, während er sich von ihr zu dem Stuhl führen ließ und sich setzte. Dann lehnte er sich vor und verschränkte die Unterarme auf seinen Knien.

„Es tut mir leid“, sagte er leise mit schleppender Stimme.

Cassie erwiderte nichts. Sie war immer noch so verwirrt, dass sie keinen Ton herausbrachte.

„Ich bin nicht betrunken“, erklärte der Vater ihrer beiden Kinder, während er sich wieder die Stirn rieb.

Dann hatte er das also gehört? „Aber wie …“, begann sie, ziemlich verunsichert, weil ihr das, was sie fühlte, ganz und gar nicht gefiel.

„Ich trinke praktisch keinen Alkohol“, beharrte er. „Ich habe mich heute den ganzen Abend über an ein- und demselben Glas Wein festgehalten … bis es mit mir zu Boden ging“, fügte er mit leiser Ironie hinzu.

Er war immer noch bleich wie der Tod. Cassie unterdrückte einen Schauer. „Dann bist du eben krank“, stellte sie fest. „Und wenn du krank bist, musst du zum Arzt.“

„Sí“, stimmte er zu. „Aber erst wenn wir hier fertig sind.“

Sie erstarrte und spannte sich an.

„Und Sie behaupten also, mich zu kennen, ja?“, fuhr er fort, und es klang tatsächlich fast neugierig.

„Was soll das?“, fauchte Cassie. „Verstehst du kein Englisch?“

Jetzt stand er auf und blieb stehen, ohne auch nur im Geringsten zu schwanken. Cassie keuchte erschrocken, weil er so dicht vor ihr aufragte.

„Sie behandeln mich wie Ihren Feind“, stellte er grimmig fest. „Was verschweigen Sie mir?“

Ich verschweige etwas?“ Cassie schaute ihn in maßloser Empörung an. „Das reicht jetzt aber wirklich, Sandro! Lass mich sofort durch!“

„Dann kennen wir uns also wirklich.“ Er ging noch einen Schritt auf sie zu.

Cassie begann zu zittern. Ihre Sinne spielten verrückt. Sie konnte ihn fühlen, riechen, ja, sogar schmecken. Sechs lange Jahre waren keine Zeit für ihre Sinne, wie ihr jetzt klar wurde. Vor allem, weil sie nie wieder einen Mann so nah an sich herangelassen hatte wie ihn.

„Lass mich durch“, wiederholte sie und ballte die Hände zu Fäusten.

Er reagierte nicht. Mittlerweile sah er wieder gesünder aus und strahlte eine Selbstsicherheit aus, die alle Schwäche Lügen strafte. „Also gut, noch mal von vorn. Sie kennen mich also“, wiederholte er fast triumphierend, als ob es eine Art Durchbruch wäre. „Jetzt wüsste ich nur noch gern, wie gut Sie mich kennen!“

„Einen Alessandro Marchese kenne ich nicht“, informierte Cassie ihn kalt. „Aber ich kannte mal kurzzeitig einen Schuft, der sich Sandro Rossi nannte.“

Bitte, das war’s. Er hatte es ja so gewollt.

„Zufrieden?“ Ihre grünen Augen sprühten Funken. „Obwohl ich wirklich nicht weiß, warum wir wieder davon anfangen, wo wir es ja offensichtlich beide am liebsten vergessen würden. So, und jetzt lässt du mich durch“, befahl sie eisig. „Und wenn nicht, schreie ich ganz laut um Hilfe.“

Er trat einen Schritt zurück, kehrte ihr den Rücken zu und wippte. „Dio mio“, flüsterte er. „Irgendwie habe ich es gespürt.“

Was hast du gespürt?“ Cassie schrie ihn fast an.

„Dass wir uns von irgendwoher kennen.“

„Und das ist die verrückteste Unterhaltung, die ich je geführt habe“, fauchte sie.

„Sie verstehen mich nicht …“

Als er sich wieder zu ihr umdrehte, sah sie, dass die Haut über seinen Wangenknochen straff gespannt war. Wieder verknotete sich ihr Magen.

„Wissen Sie, es ist einfach so, dass ich mich nicht an Sie erinnere …“

Cassie schüttelte verständnislos den Kopf, und es dauerte einen Moment, ehe sie mühsam herausbekam: „Das wagst du wirklich allen Ernstes zu behaupten?“

Er runzelte die Stirn. „Ich weiß, dass Sie mir nicht glauben, und das kann ich Ihnen nicht übel nehmen.“ Als ihre grünen Augen empörte Blitze schleuderten und sie wütend die Schultern straffte, hob er beschwichtigend die Hand. „Deshalb sollten wir miteinander reden.“

Reden …? „Das ist schlicht Zeitvergeudung, glaub mir, Sandro. Vor allem wenn du noch länger so lügst“, sagte sie mit einem zornigen Auflachen.

Er versteifte sich. „Ich lüge nicht!“

„Und warum bist du dann damals nicht wie versprochen zurückgekommen?“ In Cassies Stimme schwangen sechs Jahre Schmerz mit. „Oder warum hast du am Telefon so getan, als wüsstest du nicht, wer ich bin? Ich kenne Sie nicht, hast du gesagt. Und ich will Sie auch nicht kennenlernen. Bitte rufen Sie diese Nummer nie wieder an!“, zitierte sie ihn Wort für Wort.

„Das soll ich gesagt haben?“ Er war wieder bleich geworden.

„Tu doch nicht so.“ Sie wandte den Blick ab, um nicht länger sehen zu müssen, wie sein Gesicht ständig die Farbe wechselte. Sonst wäre sie womöglich noch gezwungen anzuerkennen, dass ihn heute Abend irgendetwas schwer aus der Bahn geworfen hatte, und das wollte sie nicht. „Damals mag ich für dich eine leichte Beute gewesen sein, aber die Zeiten sind lange vorbei.“

„Ich kann es nicht glauben, dass ich etwas so Grausames zu Ihnen gesagt haben soll“, wandte er kopfschüttelnd ein und ballte die Hände zu Fäusten. „Das ist einfach nicht meine Art.“

„Hast du aber.“ Cassie presste die Lippen aufeinander, weil sie plötzlich anfingen, unkontrolliert zu zittern. Nichts hatte sie in ihrem Leben mehr verletzt als diese grausamen Worte der Zurückweisung. „Kann ich jetzt endlich gehen, oder gibt es sonst noch etwas, worüber du mit mir reden willst?“

„Ich halte Sie nicht auf“, sagte er heiser.

Als Cassie es hörte, machte sie den Fehler ihn anzuschauen. Da sah sie, dass er schon wieder die Hand an der Stirn hatte. Irgendetwas in ihr lehnte sich heftig dagegen auf, einen so großen, starken Mann derart schwach zu sehen, aber sie weigerte sich, dem Gefühl Raum zu geben.

„Danke“, sagte sie kalt und drehte sich zur Tür um.

Zwei Sekunden später war sie draußen. Sie schloss die Augen und presste sich eine Hand auf die Brust. Ihr Herz hämmerte, als ob sie eben eine Meile gerannt wäre. Beim Verlassen des Raums war ihr gewesen als schwankte er wieder, aber sie hatte diesen Eindruck nicht überprüft.

Ich erinnere mich nicht an Sie, sagte eine höhnische Stimme in ihrem Kopf. Und warum hatten sie sich dann überhaupt unterhalten?

Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass das Restaurant fast leer war. Stimmengewirr drang zu ihr herauf, was bedeutete, dass sich die Party wieder in die Bar verlagert hatte.

Am Treppenabsatz blieb Cassie stehen und schluckte schwer. Sie musste erst ihre Fassung zurückgewinnen, bevor sie nach unten gehen und sich den neugierigen Fragen ihrer Kollegen stellen konnte.

Noch zitterte sie wie Espenlaub. Sie war völlig fertig. Zuerst der Schock, Sandro nach so vielen Jahren wiederzusehen, dann die Demütigung, als er sich geweigert hatte, sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Genau wie damals … Ich erinnere mich nicht an Sie …

Ich bin nicht betrunken …

Das war doch nur eine weitere Lüge. Oder warum sollte ein gesunder, kräftiger Mann sonst plötzlich bewusstlos umfallen?

„Es gibt einen Hinterausgang“, hörte sie eine ruhige Stimme hinter sich.

Cassie schrak zusammen und fuhr herum. Sandro hatte das Büro ebenfalls verlassen und schloss gerade die Tür. Cassie ging sofort in Abwehrstellung. Jetzt wirkte er plötzlich wieder ganz anders, sehr besonnen und ganz der überlegene Konzernchef. Der oberste Kragenknopf war geschlossen, der Schlips saß perfekt. Cassies Mund wurde trocken, als sie vor ihrem inneren Auge sah, wie sie ihm an jenem letzten Morgen den Krawattenknoten zurechtgerückt hatte.

„Woher … weißt du das?“, fragte sie gepresst.

„Von meinem Assistenten.“ Er ging auf sie zu. Als sie sich instinktiv anspannte, glaubte sie zu sehen, dass seine Augen verärgert aufblitzten, aber er ging einfach an ihr vorbei und fuhr in demselben kühl verbindlichen Ton fort: „Sie können sich mir gern anschließen, wenn Sie es ebenfalls vorziehen, unbemerkt von hier zu verschwinden.“

Cassie zögerte noch. Sie hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder setzte sie sich der Sensationsgier aus, die unten in der Bar auf sie wartete, oder sie biss in den sauren Apfel und schloss sich Sandro an.

„Kommen Sie?“

Immer noch widerstrebend ging sie auf die Tür mit der Aufschrift „Notausgang“ zu, vor der er stehen geblieben war. Als er sie kommen sah, schob er den schweren Riegel zurück. Hinter der Tür befand sich eine nur spärlich erleuchtete schmale Steintreppe.

„Passen Sie auf mit Ihren Schuhen“, warnte er sie. „Die Stufen sind steil und uneben.“

Mit zusammengepressten Lippen beobachtete Cassie, wie er sich an den Abstieg machte. Seine breiten Schultern reichten fast von Wand zu Wand. Während sie ihm folgte, umklammerte sie das Treppengeländer, nicht allein um dort Halt zu finden, sondern auch, weil sie den schier unbezwingbaren Drang verspürte, die Hände auszustrecken und auf seine Schultern zu legen.

Am Fuß der Treppe war ein kleiner Vorplatz. Dort angelangt, streckte er ihr die Hände entgegen.

„Jetzt kommen Sie schon, stellen Sie sich nicht so an“, sagte er schroff, als sie zwei Stufen über ihm wie erstarrt stehen blieb. „Ich beiße nicht, aber die letzte Stufe ist besonders gefährlich, und ich möchte nicht, dass Sie sich den Hals brechen. Den Sicherheitsbestimmungen entspricht dieser Notausgang garantiert nicht“, brummte er, während Cassie ein weiteres Mal kapitulierte.

Seine kräftigen Finger legten sich warm um ihre kalte Hand. Wieder war ihr, als hätte sie einen Stromstoß erhalten. Nachdem sie den letzten Schritt gemacht hatte, war sie ihm so nah, dass ihre Brüste sein Revers streiften. Ihre Knospen unter der dünnen Seide reagierten prompt, worüber sie so heftig erschrak, dass sie auf ihren hohen Absätzen fast umgeknickt wäre.

Er reagierte prompt, indem er ihr eine Hand ins Kreuz legte. Jetzt war der Abstand zwischen ihnen fast ganz dahingeschmolzen. Cassie hörte hilflos, wie sich ihrer Kehle ein leises Aufstöhnen entrang. Als sie ihm in die Augen schaute, sah sie die heftige Begierde, die sich dort spiegelte. Bei dieser Erkenntnis verschlug es ihr den Atem – besonders, weil sich ihr Verlangen durchaus mit seinem messen konnte, wofür das heftige Ziehen in ihrem Unterleib Beweis genug war.

Ihre Kehle brannte. Sie versuchte zu schlucken. Versuchte atemlos irgendetwas zu flüstern, von dem sie selbst nicht einmal genau wusste, was es war.

Aber Sandro hatte sie offenbar verstanden. Heiser brummte er: „Kein Wunder, dass ich so unsicher auf den Beinen bin.“

Cassie wollte nachfragen, was er damit meinte, doch dazu kam sie nicht mehr. Er senkte bereits den Kopf und erstickte ihre Worte mit einem Kuss.

4. KAPITEL

Cassies Blut kam in Wallung. Er küsste sie so leidenschaftlich, als ob er sich seit Jahren nach nichts anderem gesehnt hätte. Er erforschte genüsslich ihre Mundhöhle, während sie sich willenlos von ihm durch die Feuergruben ihrer fast vergessenen Sexualität führen ließ, die kein Mann außer ihm je betreten hatte.

Seine Hand in ihrem Kreuz war rastlos, seine Finger versengten den dünnen Stoff ihres Kleides, streichelten und kneteten, während sie gleichzeitig Cassies Becken gegen den zusehends härter werdenden Beweis seines Verlangens pressten. Die Hitze, die sein Körper aussandte, war angereichert mit seinem einzigartigen Duft, seine Lippen und seine Zunge entführten sie an einen Ort köstlicher Erinnerungen, und Cassie, eingehüllt in einen dichten Nebel der Begierde, konnte gar nicht anders als reagieren.

So an ihn gepresst fühlte sie sich klein und schwach und zerbrechlich. Ihre Rechte lag, zur Faust geballt, an seiner Brust. Sein Herz raste – genau wie ihr eigenes. Sie hatte schon wieder ganz weiche Knie, jeder Nerv in ihrem Körper prickelte. Doch als er irgendetwas an ihrem Mund flüsterte und sie noch fester an sich presste, gelang es ihr endlich, den Bann zu brechen. Mit einem schockierten Keuchen riss sie sich von ihm los.

Für eine Sekunde schien sie sein nachtschwarzer Blick zu versengen, ließ sie fast wieder schwach werden. Doch als Sandro eine Hand nach ihr ausstreckte, schüttelte sie vehement den Kopf.

Äußerst behutsam schob er ihr hochgerutschtes Kleid nach unten, und mit einem Mal verstand Cassie, warum er sie geküsst hatte.

Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so hilflos, so gedemütigt, so zur Schau gestellt, so billig gefühlt. Ein einziger Kuss hatte ausgereicht, um ihr vor Augen zu führen, dass sie Wachs war in seinen Händen. Ein einziger Kuss von dem Mann, den sie angeblich hasste, war genug gewesen, um ihre Leidenschaft zu wecken.

„Oh“, keuchte sie erstickt, während sie herumfuhr und die Hand nach dem Türgriff ausstreckte.

Im selben Moment legten sich seine Arme von hinten um sie. Sie fühlte, wie die weiche glatte Seide seines Jackenärmels ihren Arm streifte, bevor er mit sanfter Entschiedenheit ihre Hand von der Klinke zog. Erstarrt vor Schreck und gefangen in seiner Umarmung beobachtete sie, wie er die Tür öffnete.

Cassie riss sich von ihm los und stürzte ins Freie. Hier draußen war es still und dunkel, mit schwarzen Schatten auf der anderen Straßenseite, die wie zusammengekauerte finstere Gestalten wirkten, obwohl sie wusste, dass es nur Müllcontainer sein konnten. In welche Richtung sollte sie nur laufen? Die dunkle Gasse schien ins Nichts zu führen. Hilflos sah sie sich um.

Sandro. Sie hatte zugelassen, dass er sie hemmungslos küsste. Wie konnte er es wagen – und warum hatte sie sich nicht gewehrt? Sie hasste ihn, sie hasste ihn mit jeder Faser ihres Herzens.

Als hinter ihr mit einem dumpfen Knall die Tür ins Schloss fiel, schrak sie zusammen. Doch bevor sie losrennen konnte, spürte sie, wie eine starke Hand sie umfasste.

„Lass mich los!“, schrie sie laut.

„Nein. Auf deinen hohen Absätzen wirst du dir hier den Knöchel brechen. Das ist Kopfsteinpflaster. Außerdem lasse ich dich erst gehen, nachdem wir beide geredet haben, Cassandra Janus.“

Er wollte immer noch reden?

„Ich … ich hasse dich“, stieß Cassie hervor. „Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“

Er hielt immer noch fest ihre Taille umschlungen, während er sich wortlos in Bewegung setzte und sie mit sich zog. Sie reichte ihm kaum bis an die Schulter.

Auf der von Straßenlaternen erhellten Hauptstraße wartete bereits eine Limousine auf sie. Sandro öffnete den hinteren Wagenschlag und schob Cassie auf die weiche lederne Rückbank.

Sie rutschte unbeholfen in die gegenüberliegende Ecke, weil Sandro direkt hinter ihr einstieg, statt um den Wagen herum auf die andere Seite zu gehen. Ein kurzer Blick auf sein düsteres, abweisendes Gesicht genügte ihr, um sich zu wünschen, ihn besser nicht angesehen zu haben. Im nächsten Moment sagte er schroff irgendetwas auf Italienisch zu dem Chauffeur, von dem sie eine Sekunde später durch eine lautlos nach oben gleitende Scheibe getrennt wurden, und sie fuhren los.

„Er … der Fahrer … er hat doch meine Adresse gar nicht“, stieß sie hervor.

„Nicht nötig, wir fahren nicht zu dir.“

„Du scheinst wild entschlossen, den Obermacker zu geben“, sagte Cassie wütend. „Das glaubst du dir nach der schwachen Vorstellung vorhin offenbar schuldig zu sein.“

Er warf ihr einen Blick von der Seite zu. „Früher warst du nicht so zynisch, cara.“

„Ach ja? Ich dachte, du erinnerst dich nicht an mich?“

Das versetzte ihm einen Schock, Cassie konnte es ihm ansehen. Wieder wurde er bleich, und sein Gesicht verzerrte sich, als ob er Schmerzen hätte. Alarmiert beugte sie sich vor, um an die Trennscheibe zu klopfen, aus Angst, er könnte wieder ohnmächtig werden.

„Keine Aufregung“, murmelte er und schloss die Augen. „Diesmal habe ich es im Griff.“

Aber was war das, was er im Griff hatte? Besorgt blickte sie Sandro an, der mit zurückgelehntem Kopf und geschlossenen Augen neben ihr saß. Sein langer sehniger Körper wirkte beunruhigend kraftlos.

War der Grund für sein merkwürdiges Verhalten vielleicht doch ernsthafterer Natur? Er sah wirklich krank aus.

„Bist du okay?“, fragte sie, als das Schweigen unerträglich wurde.

„Sí.“ Seine brüchige Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Cassie atmete tief durch und legte ihre Hand auf sein Knie. „Sandro, bitte. Du machst mir Angst.“

Ich mir auch, dachte Alessandro erschöpft, während er verzweifelt versuchte, sich aus diesem dichten Nebel zu befreien, in dem er nach jedem Erinnerungsschub gefangen war. Immerhin schaffte er es, nach ihrer Hand zu greifen. Obwohl sich ihre Finger so schmal und zerbrechlich anfühlten, schienen sie eine Energie auszustrahlen, die ihm neue Kraft gab.

„Wahrscheinlich denkst du, dass dieser Alkoholiker dringend einen doppelten Whiskey braucht, um wieder auf seinen eigenen zwei Beinen stehen zu können, Cassie Ja-nus.“

„Das ist kein Witz“, wies sie ihn scharf zurecht. „Und hör auf, meinen Namen so auszusprechen.“

„Wie spreche ich ihn denn aus?“ Er öffnete die Augen und schaute ihr in das blasse, angestrengt wirkende Gesicht mit den wunderschönen Augen.

„Als wolltest du dich über mich lustig machen.“

Alessandro gestattete sich ein trockenes Lächeln. „Und ich dachte schon, du machst dich über mich lustig.“

„Und du sprichst in Rätseln.“ Cassie zog ihre Hand unter seiner hervor und lehnte sich in ihren Sitz zurück. Dann schaute sie aus dem Fenster auf die glitzernden Lichter, wobei ihr bewusst wurde, dass sie sich einem der vornehmsten Viertel der Stadt näherten.

Hier gibt es keine billigen Mietwohnungen, dachte sie düster. Keine schäbigen kommunalen Wohnblocks, die irgendwann von Spekulanten aufgekauft und in sündhaft teure Miniapartments umgewandelt werden. Ihre eigene Mietwohnung hatte zwei winzige Schlafzimmer, ein kombiniertes Wohn-Esszimmer mit einer Küche, die kaum größer war als ein Kaninchenstall, außerdem konnte sie wahrscheinlich damit prahlen, das kleinste Badezimmer der Welt zu besitzen. Ihre Diele hatte etwa die Ausmaße des winzigen Vorraums am Fuß der Treppe, wo Sandro sie vorhin …

Oh bitte! ermahnte sie sich. Abwehrend schüttelte sie den Kopf.

„Du trägst keinen Ehering …“

„Was?“ Überrascht zuckte sie zusammen, und als sie den Kopf wandte, sah sie, dass er auf ihre Hände schaute.

„Überhaupt keine Ringe“, ergänzte er.

„Nein. Sollte ich?“, fragte sie zynisch, wobei sie die Fingernägel in ihre Handflächen grub.

„Das war nur so eine Beobachtung.“

Sie blickte auf seine Hände, die ruhig und entspannt in seinem Schoß lagen. „Du auch nicht.“

„Ich bin ja auch nicht der stolze Vater von Zwillingen.“

Cassie keuchte erstickt, dann erstarrte sie vor Schreck. Sie hatte die Zwillinge vergessen! Wie konnte das passieren? Und wie hatte sie auch nur eine einzige Sekunde vergessen können, dass dieser Mann – dieser kalte herzlose Mann – sie und ihre Kinder zurückgewiesen hatte, noch bevor letztere überhaupt geboren waren?

„Daraus schließe ich, dass du nicht verheiratet bist“, sagte er in demselben ruhigen Ton.

Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit jetzt auf ihr Gesicht. Sorgfältig von langen Wimpern abgeschirmte Augen beobachteten jede Regung von ihr. Plötzlich hätte Cassie zu gern gewusst, was in seinem Kopf vorging.

„So ist es“, gab sie heiser zurück.

„Und wer passt dann heute Abend auf deine Kinder auf … dein Lebensgefährte? Wohnst du mit ihm zusammen?“

Ihr Herz begann wild zu hämmern. Was zum Teufel bezweckte er mit diesem Verhör? „Nein!“

„Wer dann?“, bohrte er weiter.

„M… meine Nachbarin.“

„Und wo ist der Vater?“

Sie schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Hör sofort auf, Sandro!“

„Womit soll ich aufhören?“

„Mit mir zu spielen!“

„Ich spiele nicht mit dir“, widersprach er und war sich nicht zu schade, dazu auch noch halbwegs überzeugend die Stirn zu runzeln.

„Und warum stellst du dich dann dumm? Du weißt von den Zwillingen, weil ich dir von ihnen erzählt habe!“

Er wagte es schockiert dreinzuschauen. „Ich erinnere mich nicht …“

„Was? Schon wieder?“

Der Wagen bremste. Als Cassie aus dem Fenster schaute, sah sie, dass sie vor dem Eingang zu einem exklusiven Apartmentblock angehalten hatten. Der himmelschreiende Unterschied zwischen den Wohnungen hier und jenen, an die sie eben gedacht hatte, war blanker Hohn.

Nun, wenn Sandro allen Ernstes glaubte, sie würde mit ihm da reingehen, täuschte er sich. Sie hatte bereits jetzt mehr als genug, sie wollte nicht auch noch sehen, in welch einem Luxus er schwelgte, während seine Kinder …

Galant öffnete der Chauffeur die Tür. Sie starrte ihn einen Moment wortlos an, bevor sie ein steifes „Dankeschön“ murmelte und eilig ausstieg. Zitternd vor Kälte begann sie in ihrer Tasche nach ihrem Handy zu suchen.

Sandro tauchte neben ihr auf. „Was machst du?“

„Ein Taxi rufen.“

„Nicht bevor wir uns unterhalten haben.“ Ehe sie es sich versah, hatte er ihr das Handtäschchen aus der Hand genommen und zog sie zum Eingang des Apartmenthauses.

„Aber ich will das nicht!“, wehrte sie sich wütend. „Gib mir sofort meine Tasche!“

„Keine Aufregung, es ist erst zehn. Deine Kinderfrau erwartet dich bestimmt noch nicht zurück.“

„Das tut nichts zur Sache.“ Sie versuchte sich loszureißen. „Ich habe das Recht, meine Entscheidungen selbst …“

Sein leiser Fluch veranlasste sie, sich mitten im Satz zu unterbrechen. Erschrocken schaute sie ihn an, aber sie hatte sich geirrt. Diesmal war sein Gesicht nicht schmerzverzerrt, sondern verärgert. Er schaute durch die gläserne Eingangstür auf einen Mann, der im Foyer am Tresen lehnte und sich mit einem Wachmann unterhielt.

Während die Tür aufschwang, wurde ihr klar, dass Sandro den Mann kannte, weil dieser den Kopf wandte und ihn frech angrinste. Er war jung und gut aussehend und wahrscheinlich –- seinem dunklen Typ nach zu urteilen – ebenfalls Italiener. Sandro sagte irgendetwas in seiner Muttersprache zu ihm, woraufhin der andere unübersehbar ungehalten die Stirn runzelte. Es folgte ein kurzer, hitziger Schlagabtausch zwischen den beiden. Obwohl Cassie nichts verstand, hörte sie wie gebannt zu, und auch der Wachmann verhehlte seine Neugier nicht. Als Sandros Gesprächspartner mit Blick auf Cassie irgendetwas kommentierte, explodierte Sandro und beendete den Disput mit einer ungeduldigen Handbewegung.

Gleich darauf geleitete er Cassie durch die Eingangshalle hin zu einem wartenden Aufzug. Während sich die Türen schlossen, sah sie, dass sich der andere Mann wieder dem Portier zuwandte.

„Wer war das?“, fragte sie.

„Mein Bruder.“

„Dein Bruder?“, wiederholte sie überrascht. „Und warum hast du dich mit ihm gestritten?“

„Ist das wichtig?“, konterte er kühl.

Wohl kaum. Seine Familienstreitereien gingen sie nichts an. In diesem Moment glitten die Türen des Aufzugs wieder auseinander, und Cassie fand sich kurz darauf in einem kleinen Korridor wieder, von dem nur eine einzige glänzend weiß lackierte Tür abging.

Sandro schob die Codekarte in den Kartenleser und gab eine Geheimzahl ein. Gleich darauf öffnete sich die Tür, hinter der ein großer Eingangsbereich lag, quadratisch und „voll schick“, wie ihre Tochter sich ausgedrückt hätte.

Er ließ Cassies Handgelenk erst los, nachdem sie ein elegant eingerichtetes Wohnzimmer betreten hatten, das vom weichen Schein mehrerer kleiner Lampen erhellt wurde.

Noch während Cassie sich umschaute, deponierte er ihre Handtasche auf einen Beistelltisch. Anschließend lockerte er seinen Krawattenknoten und öffnete die beiden oberen Kragenknöpfe. Und dann tat er etwas ganz und gar Unerwartetes: Mit einem leisen Stöhnen legte er sich auf die breite Couch aus weichem, dunkelbraunem Leder. Erst da fiel ihr auf, dass sein Gesicht wieder bleich und schmerzverzerrt war.

„Entschuldige“, murmelte er. „Nur eine Sekunde.“

Es wurde still, und Cassie überlegte, was sie jetzt tun sollte. Sie schaute auf ihre Tasche und wieder auf Sandro. Sie wusste genau, was für sie das Beste wäre. Sie sollte die Gelegenheit nutzen und von hier verschwinden, solange sie es noch konnte. Sie wollte dieses Gespräch nicht, das er ihr angedroht hatte. Sie wollte überhaupt nicht hier sein. Vor sechs Jahren hatte er sich geweigert, mit ihr zu sprechen, obwohl sie ihn angefleht hatte, ihr zuzuhören. Noch schwerer wog, dass er damals nicht nur sie, sondern auch die Zwillinge verlassen hatte.

Was also wollte sie noch hier? Freiwillig weitere Demütigungen ertragen? Das ergab keinen Sinn. Sie setzte sich in Bewegung, um ihre Tasche zu holen, aber als sie an ihm vorbeikam, blieb sie stehen.

„Ich gehe jetzt“, informierte sie ihn.

Er lag immer noch mit geschlossenen Augen da und antwortete nicht.

Sie spürte, wie sich Unruhe in ihr breitmachte. „Das ist doch idiotisch.“ Sie seufzte. „Sandro, du brauchst einen Arzt …“

Er lächelte schief. „Ein Glas Wasser reicht.“

„Na schön.“ Cassie, die froh war, wenigstens etwas tun zu können, hatte sich bereits abgewandt.

„Im Kühlschrank ist Mineralwasser“, rief er ihr hinterher. „Die Küche ist …“

Autor

Michelle Reid
Michelle Reid ist eine populäre britische Autorin, seit 1988 hat sie etwa 40 Liebesromane veröffentlicht. Mit ihren vier Geschwistern wuchs Michelle Reid in Manchester in England auf. Als Kind freute sie sich, wenn ihre Mutter Bücher mit nach Hause brachte, die sie in der Leihbücherei für Michelle und ihre Geschwister...
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