Julia Collection Band 120

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HAPPY END AM MITTELMEER von MORGAN, RAYE
Darius ist entschlossen, sein rechtmäßiges Erbe als Prinz von Ambria anzutreten. Da taucht die schöne Ayme bei ihm auf und behauptet, er sei der Vater ihrer kleinen Nichte. Plötzlich muss Darius sich um ein Baby kümmern -dessen temperamentvolle Tante ihn jeden Tag mehr anzieht …

HAPPY END AM STRAND DER LIEBE? von MORGAN, RAYE
Joe Tanner ist sofort fasziniert, als die hübsche Kelly in seinem romantischen Haus am Meer auftaucht. Wie liebevoll sie mit seiner kleinen Tochter umgeht! Doch Vorsicht: Sie will sein Leben auf den Kopf stellen. Denn sie behauptet: Joe, du bist der verschollene Prinz von Ambria!" "

HAPPY END IM TRAUMPALAST? von MORGAN, RAYE
Lass uns zusammen fliehen." Nach der zärtlichen Nacht mit dem Kronprinzen wünscht Pellea sich nichts mehr, als an der Seite von Monte DeAngelis den Palast zu verlassen. Aber die Zukunft des Inselreiches hängt davon ab, dass sie Montes verlockendem Vorschlag widersteht … "


  • Erscheinungstag 25.05.2018
  • Bandnummer 0120
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711313
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Raye Morgan

JULIA COLLECTION BAND 120

1. KAPITEL

Darius Constantijn, Prinz aus dem Königshaus von Ambria, lebte inkognito unter dem Namen David Dykstra in London. Nach dem Putsch, bei dem seine Eltern ums Leben gekommen waren, war er als kleiner Junge gerettet und außer Landes gebracht worden.

David hatte keinen tiefen Schlaf, normalerweise hätte ihn das kleinste Geräusch dazu gebracht, leise, mit einer Waffe in der Hand, sein luxuriöses Penthouse zu durchsuchen. Er war bereit, sein Leben zu verteidigen.

Dass er glaubte, in Gefahr zu sein, war keine abwegige Idee. Der Sohn der gestürzten Monarchenfamilie stellte durch seine bloße Existenz eine ständige Provokation für die neuen Machthaber seines Landes dar.

Aber heute Nacht waren seine Wachsamkeit und Verteidigungsbereitschaft geschwächt. Er hatte eine Cocktailparty für fünfzehn Londoner Prominente gegeben, sie waren alle in Feierlaune gewesen und viel zu lang geblieben. Es kam nicht mehr oft vor, dass er zu viel trank, doch heute spürte er die Wirkung des Alkohols.

Als er nun ein Baby weinen hörte, glaubte er zunächst an eine Halluzination.

„Babys“, murmelte er vor sich hin und verharrte einen Moment, um sicher zu sein, dass der Raum sich nicht mehr drehte, ehe er es wagte, die Augen zu öffnen. „Warum können sie ihre Probleme nicht für sich behalten?“

Das Schreien hörte jäh auf, nur war er inzwischen wach. Er horchte angestrengt. Es musste ein Traum gewesen sein. Hier gab es kein Baby. Hier konnte keines sein. Dies war ein Haus für Erwachsene. Das wusste er genau.

„Babys nicht erlaubt. Verboten“, murmelte er und schloss die Augen.

Aber er öffnete sie sofort wieder, als er den kleinen Störenfried von Neuem hörte. Diesmal erklang nur ein Wimmern, doch es war echt. Nicht geträumt.

Aber es ergab alles keinen Sinn. Unmöglich, es konnte kein Baby in seinem Apartment sein. Hätte einer seiner Gäste ein Kind mitgebracht haben, hätte er dies gewiss bemerkt. Und sollte dieselbe unmanierliche Person das Baby in der Garderobe vergessen, wäre sie nicht unterdessen zurückgekommen, um das Kind abzuholen?

Er versuchte, die Störung mit einem Achselzucken abzutun und wieder einzuschlummern, aber das ging nun nicht mehr. Die Beunruhigung war da. Er würde erst weiterschlafen, wenn er sicher war, dass er sich in einer babyfreien Wohnung befand.

Seufzend wälzte er sich schließlich aus dem Bett, zog eine Jeans an, die er in einem Stapel Kleidung auf einem Stuhl fand, und begann, leise durch die Räume zu pirschen, wobei er einen nach dem anderen inspizierte und sich verdrossen fragte, warum er überhaupt ein Apartment mit derart vielen Zimmern gemietet hatte. Im Wohnzimmer standen überall kristallene Weingläser herum, und zerknüllte Papierservietten lagen auf Tischen und Stühlen. Um Mitternacht hatte er das Catering-Team nach Hause geschickt – ein Fehler, wie er jetzt erkannte. Aber wer hätte ahnen können, dass seine Gäste bis fast drei Uhr morgens bleiben würden? Egal, die Zugehfrau würde morgen früh kommen und alles wieder blitzblank putzen.

„Keine Partys mehr“, schwor er sich laut, als er auf eine lange Federboa trat, die jemand hatte liegen lassen. „Ich lasse mich einfach auf die Feste der anderen einladen. Meine Informationsquellen kann ich behalten und den Ärger anderen überlassen.“

Einstweilen aber musste er seine Wohnung durchsuchen, ehe er zurück ins Bett gehen konnte. Er schlich weiter.

Und dann fand er das Baby.

Es schlief. Er öffnete die Tür seines kaum genutzten Fernsehzimmers, und da lag es in einer ausgezogenen Schublade, die als improvisiertes Babybettchen diente. Sein Mündchen war geöffnet, und die runden Bäckchen plusterten sich mit jedem Atemzug ein wenig auf. Es schien ein süßes Kind zu sein, aber er hatte es noch nie vorher gesehen.

Während er schaute, zuckte das Baby unwillkürlich zusammen, reckte die Ärmchen in die Höhe und ließ sie langsam wieder sinken. Aber es wachte nicht auf. Eingekuschelt in seinen pinkfarbenen Strampelanzug, schien sich das Kind ganz wohlzufühlen. Schlafende Babys waren gar nicht so schlimm. Aber er wusste genau, was passierte, wenn sie aufwachten, und vor dem Gedanken grauste ihm.

Es war ausgesprochen ärgerlich, ein ungeladenes Baby in den eigenen vier Wänden vorzufinden, und es war offensichtlich, wer schuld daran war – die langbeinige Blondine, die schlafend auf seinem Freischwinger-Sofa lag. Auch sie hatte er noch nie vorher gesehen.

„Was zum Teufel geht hier vor?“, fragte er leise.

Keiner von beiden rührte sich, und er wollte sie auch nicht wecken. Er brauchte noch ein, zwei Momente, um die Situation einzuschätzen und einige nüchterne Entscheidungen zu treffen. All seine Überlebensinstinkte waren alarmiert. Er war sich sicher, dass er es hier nicht mit gewöhnlichen Übernachtungsgästen zu tun hatte. Sie mussten etwas mit seiner Herkunft, der fürchterlichen Putschgeschichte und seiner ungewissen Zukunft zu tun haben.

Er war sich sogar sehr sicher, die beiden würden sich als Gefahr entpuppen – vielleicht sogar als die Gefahr, mit der er all die letzten Jahre gerechnet hatte.

David war jetzt hellwach. Er musste schnell denken und klar urteilen. Sein Blick fiel auf die Frau, und ungeachtet seines Argwohns fühlte er sich sofort zu ihr hingezogen. Obwohl ihre Beine irgendwie seltsam hingestreckt waren und ihn an ein noch unbeholfenes Fohlen erinnerten, waren sie wohlgeformt, und ihr kurzer Rock, der verführerisch hochgerutscht war, während sie schlief, offenbarte selbige nun auf eine ganz bezaubernde Art. Das gefiel ihm, trotz allem.

Ihr Gesicht war fast vollständig von einer wilden Lockenmähne verdeckt, aber ein zartes, kleines Ohr schaute heraus. Sie war nicht blutjung, aber ihre ungezwungene Haltung ließ sie unbekümmert und unschuldig wirken, und sie hatte etwas an sich, dass sie auf den ersten Blick liebenswert machte. Die Frau übte einen Reiz aus, der ihn unter anderen Umständen hätte lächeln lassen.

Aber jetzt runzelte er doch die Stirn und konzentrierte seinen Blick auf das hinreißende kleine Ohr. Es war mit einem auffälligen Ohrring geschmückt, der ihm vertraut erschien. Bei genauerem Hinsehen erinnerte ihn die Form an das einstige Wappen Ambrias – das Wappen der Königsfamilie.

Adrenalin schoss in sein Blut, sein Herz begann zu rasen, und er wünschte, er hätte die Waffe mitgenommen, die er normalerweise nachts trug. Nur eine kleine Gruppe von vertrauten Menschen wusste von seiner Verbindung zu Ambria, und sein Leben hing davon ab, dass dies geheim blieb.

Wer zum Teufel war diese Frau?

Er würde es herausfinden.

„Hallo, aufwachen!“

Ayme Negri Sommers kuschelte sich tiefer in ihre Sofaecke und versuchte, die Hand zu ignorieren, die sie an der Schulter schüttelte. Jedes Molekül ihres Körpers widersetzte sich dem Weckruf. Nach den beiden Tagen, die hinter ihr lagen, war Schlaf ihre einzige Rettung.

„Wachen Sie auf“, setzte der Mann barsch nach. „Ich habe einige Fragen, die nach Antworten verlangen.“

„Später“, murmelte sie in der Hoffnung, er würde weggehen. „Bitte, später.“

„Jetzt.“ Er schüttelte sie wieder an der Schulter. „Hören Sie mich?“

Ayme hörte ihn, aber ihre Augen wollten sich nicht öffnen. Sie verzog das Gesicht und stöhnte. „Ist es schon Morgen?“

„Wer sind Sie?“, fragte der Mann, ihre Frage ignorierend. „Was machen Sie hier?“

Er ging nicht weg. Sie würde mit ihm sprechen müssen, fürchtete sie. Ihre Augenlider fühlten sich an wie Sandpapier, und sie war nicht einmal sicher, ob sie aufgehen würden, wenn sie sie eindringlich darum bat. Aber irgendwie schaffte sie es doch. Geblendet von dem Lichtstrahl, der durch die geöffnete Tür fiel, blinzelte sie den ärgerlich blickenden Mann an, der sie genau beobachtete.

„Wenn Sie mich nur noch eine Stunde schlafen ließen, könnten wir das vielleicht vernünftig besprechen“, schlug sie leicht lallend vor. „Ich bin so müde und fühle mich gerade wenig menschlich.“

Das war natürlich gelogen. Menschlich war sie in Ordnung, aber so schlecht sie sich auch fühlte, reagierte sie auf diesen Mann nicht nur typisch menschlich, sondern auch eindeutig weiblich. Er war unglaublich attraktiv. Sie sah sich das dichte, dunkle Haar an, das ihm verwegen-charmant in die Stirn fiel, die leuchtend blauen Augen, die breiten Schultern und den entblößten Oberkörper mit den trainierten Muskeln.

Wow.

Sie hatte ihn vorhin gesehen, aber von Weitem und entschieden dezenter bekleidet. Von Nahem und halb nackt war viel besser. Das konnte sie nur jedem empfehlen, und unter anderen Umständen hätte sie jetzt gelächelt.

Aber die Situation war nicht zum Lachen. Sie würde ihm erklären müssen, was sie hier tat, und das würde nicht einfach werden. Sie versuchte, sich aufzurichten und gleichzeitig – mit wenig Erfolg – ihr widerspenstiges Haar mit beiden Händen in Form zu bringen. Und die ganze Zeit dachte sie darüber nach, wie sie am besten auf den Grund ihres Kommens zu sprechen kommen konnte. Sie hatte das deutliche Gefühl, dass es kein willkommenes Thema war.

„Sie können so viel schlafen, wie Sie wollen, sobald wir Sie dahin gebracht haben, wo Sie hingehören, wo immer das auch ist“, meinte er eisig. „Und das ist garantiert nicht hier.“

„Da irren Sie sich“, antwortete sie. „Ich bin nicht ohne Grund hier. Leider.“

Klein Cici brabbelte im Schlaf, und beide erstarrten. Aber die Kleine schlief wieder tief ein, und Ayme seufzte erleichtert auf.

„Wenn Sie sie aufwecken, werden Sie sich um sie kümmern müssen“, flüsterte sie mahnend. „Ich bin momentan nicht zurechnungsfähig.“

Er zischte. Zumindest klang es für sie so, aber sie war gerade nicht in der Verfassung, etwas klar zu beurteilen. Vielleicht hatte er auch unterdrückt geflucht. Ja, wahrscheinlich war es so. Auf jeden Fall schien er nicht erfreut.

Seufzend ließ sie die Schultern hängen. „Hören Sie, ich weiß, Sie sind auch nicht in Bestform. Ich habe Sie vorhin schon gesehen, als wir hier ankamen. Sie haben Ihre Party sichtlich etwas zu viel genossen. Deshalb habe ich erst gar nicht versucht, mit Ihnen zu sprechen. Wir beide könnten etwas Schlaf vertragen.“ Sie schaute ihn hoffnungsvoll an. „Lassen Sie uns fürs Erste Waffenstillstand schließen und …“

„Nein.“

Seufzend ließ sie den Kopf wieder sinken. „Nein?“

„Nein.“

„Okay, also gut. Wenn Sie darauf bestehen. Aber ich warne Sie, ich kann kaum einen zusammenhängenden Satz bilden, nachdem ich tagelang nicht richtig geschlafen habe.“

Er blieb hart und stellte sich vor sie, mit den Händen an den Hüften. Seine Jeans saß tief, gab den Blick frei auf einen flachen, muskulösen Bauch und den verführerischsten Bauchnabel, den sie je gesehen hatte. Ayme starrte darauf und hoffte, auf diese Weise seine Aufmerksamkeit abzulenken.

Es funktionierte nicht.

„Ihre Schlafgewohnheiten kümmern mich nicht“, sagte er kalt. „Ich will nur, dass Sie gehen und dorthin verschwinden, wo immer Sie auch hergekommen sind.“

„Tut mir leid.“ Immer noch benommen schüttelte Ayme den Kopf. „Das ist unmöglich. Der Flieger, in dem wir saßen, ist schon längst weg.“ Sie schaute zu der friedlich im Schubkasten schlummernden Cici. „Die Kleine hat fast den ganzen Flug über geschrien. Von Texas bis hier“, ergänzte sie, in der Hoffnung, wenigstens sein Mitleid zu erwecken. „Verstehen Sie, was das bedeutet?“

Statt eines Zeichens von Anteilnahme runzelte er die Stirn wie jemand, der an einer komplizierten Frage herumrätselte. „Sie sind mit einem Direktflug aus Texas gekommen?“

„Nun ja, nicht ganz. In New York mussten wir umsteigen.“

„Texas?“, wiederholte er leise, als könne er es nicht glauben.

„Texas“, wiederholte sie langsam, falls er Probleme mit dem Wort haben sollte. „Sie wissen schon, der Staat mit dem einen Stern in der Flagge. Der große, im Süden, neben Mexiko.“

„Ich weiß, wo Texas liegt.“

„Gut. Wir sind da nämlich sehr empfindlich bei uns zu Hause.“

„Sie hören sich auch an wie eine Amerikanerin.“

Ayme blickte ihn unschuldig an. „Klar doch. Wie sollte ich mich sonst anhören?“

Wie gebannt sah er auf ihre Ohrringe. Verunsichert berührte sie einen davon mit den Fingerspitzen. Was interessierte ihn so daran? Der Schmuck war das Einzige, was ihr noch von ihrer leiblichen Mutter geblieben war, und sie trug ihn immer. Sie wusste, dass ihre Eltern aus dem kleinen Inselstaat Ambria stammten und dort gelebt hatten. Genau wie ihre Adoptivfamilie, aber das war lange her.

Aber schließlich stand ihre Anwesenheit hier in unmittelbarem Zusammenhang mit Ambria. Das würde er natürlich rasch erfahren. Dennoch machte sie sein starkes Interesse irgendwie nervös. Wahrscheinlich war es besser, zum Thema Cici zurückzukehren.

„Wie ich schon sagte, der Flug war kein Vergnügen für Cici, und das ließ sie jedermann während der gesamten Atlantiküberquerung wissen.“ Seufzend erinnerte Ayme sich an die langen Stunden. „Alle an Bord hassten mich. Es war schrecklich. Wieso bekommen Menschen überhaupt Babys?“

Er riss die Augen auf und hob demonstrativ eine Braue. „Keine Ahnung. Verraten Sie es mir.“

Ayme schluckte. Das war ein Fehler gewesen. Einen solchen Schnitzer konnte sie sich nicht leisten. Er hielt Cici für ihr Baby, und das sollte er auch weiterhin glauben, zumindest vorerst. Sie musste mehr aufpassen.

Wenn sie doch besser schauspielern könnte! Ach, wahrscheinlich hätte selbst ein Profi bei diesem Auftritt Probleme gehabt. Schließlich hatte sie während der letzten Woche viel durchgemacht. Vor wenigen Tagen war sie noch eine ganz normale, frisch gebackene Rechtsanwältin gewesen, die in einer auf ambrisches Einwanderungsrecht spezialisierten Kanzlei gearbeitet hatte. Und plötzlich war ihre Welt eingestürzt. Unglaubliche Dinge passierten, Dinge, die sie nicht einmal zu denken gewagt hätte. Dinge, mit denen sie sich wohl befassen musste, aber nicht jetzt. Jetzt noch nicht.

Nach wie vor hatte sie Angst, dass nichts je wieder normal würde. Ihr Leben hatte eine solch enorme Wendung genommen, dass sie sich wie in einem Albtraum fühlte. Sie konnte resignieren, sich ins Bett legen und bis auf Weiteres die Decke über den Kopf ziehen – oder sie versuchte, sich darum zu kümmern, was von ihrer Familie noch übrig war, und die kleine Cici dorthin zu bringen, wo sie hingehörte.

Die Entscheidung erübrigte sich natürlich. Sie war daran gewöhnt, das zu tun, was man von ihr erwartete, und verantwortungsbewusst zu handeln. Und jetzt war sie eben hier und würde zielstrebig das zu Ende bringen, was sie sich vorgenommen hatte.

Sowie ihre Aufgabe erfüllt war, würde sie mit einem Seufzer der Erleichterung nach Texas zurückkehren und versuchen, die Scherben ihres Lebens wieder zu kitten. Bis dahin aber musste sie – dem kleinen Leben in ihrer Obhut zuliebe – stark bleiben, ganz egal, wie schwer es auch werden würde.

Und so lange, das wusste sie, musste sie auch lügen. Obwohl es gegen ihre Natur war. Normalerweise gehörte sie zu jenen Menschen, die jedem offenherzig ihre Lebensgeschichte erzählten. Aber diesen Impuls musste sie jetzt unterdrücken.

Aber es war eine schmerzliche Lüge. Die Welt um sie herum musste glauben, dass Cici ihr Baby war. Sie war zwar noch nicht lange Rechtsanwältin, aber sie kannte sich gut genug aus, um zu wissen, dass es ihren ganzen Plan gefährdete, wenn jemand herausfand, dass Cici nicht zu ihr gehörte, darüber hinaus war ihr klar, dass sie nicht befugt war, einfach so mit dem Kind durch die Welt zu reisen. Wenn sie aufflöge, würde man Sozialarbeiter hinzuziehen. Bürokraten würden sich einmischen und Cici ihr weggenommen werden, und wer wusste schon, was noch Furchtbares passieren würde.

Zudem war ihr die Kleine schon ans Herz gewachsen. Und selbst wenn es nicht so wäre, würde sie alles für Samanthas Baby tun.

„Nun, Sie wissen, was ich meine“, ergänzte sie.

„Es ist mir eigentlich ziemlich egal, was Sie meinen. Ich will wissen, wie Sie hierhergekommen sind. Ich will wissen, was Sie hier machen.“ Seine blauen Augen verdunkelten sich. „Vor allem will ich, dass Sie woandershin gehen.“

Ayme zuckte zusammen. Aber konnte sie es ihm verdenken? „Okay“, sagte sie und riss sich zusammen. „Lassen Sie es mich versuchen zu erklären.“

Hatte er spöttisch gelächelt?

„Ich bin ganz Ohr.“

Sie wusste genau, dass er das ironisch meinte. Er schien sie nicht sonderlich zu mögen. Die meisten Menschen mochten sie auf den ersten Blick. Feindseligkeit war sie nicht gewohnt.

Dabei war alles an diesem Mann unglaublich attraktiv, das musste sie zugeben. Wirklich zu schade, dass sie sich neben Männern wie ihm immer noch wie ein ungelenker Teenager fühlte. Sie war fast ein Meter achtzig groß, und das schon seit ihrer Pubertät. Bis zur Abschlussklasse der High School hatte sie alle Jungen überragt, was ihr sehr unangenehm gewesen war. Jetzt sei sie gertenschlank und wunderschön, sagten ihr die Leute, aber sie fühlte sich immer noch wie dieses unbeholfene, zu groß geratene Kind.

„Also gut.“

Sie stand auf und begann, unruhig hin und her zu laufen. Womit sollte sie anfangen? Sie hatte gedacht, mit diesem Besuch alles schnell klären zu können, doch seit sie hier war, schien die Situation weitaus komplizierter. Das Problem war, sie wusste nicht, was ein Mann wie er alles wissen wollte. Sie hatte rein instinktiv gehandelt, als sie sich Cici schnappte und fast fluchtartig mit ihr nach London aufbrach. Vermutlich hatte sie Panik. Was aber unter den Umständen nur verständlich war.

Sie atmete tief durch. Sie hatte diesen Mann nicht ohne Grund aufgesucht. Welcher war es noch gewesen? Ach ja. Jemand hatte ihr gesagt, er könne ihr helfen, den Vater der kleinen Cici zu finden.

„Können Sie sich an eine junge Frau namens Samantha erinnern?“, fragte Ayme aufgeregt. „Klein, blond, hübsch, mit vielen klimpernden Armreifen?“

Er sah aus, als verlöre er endgültig die Geduld. Etwas erschrocken bemerkte sie, dass er seine herabhängenden Hände zu Fäusten geballt hatte. Ein paar Augenblicke später fing er an, sich frustriert die Haare zu raufen. Sie wich einen Schritt zurück – für alle Fälle.

„Nein“, antwortete er leise, fast zornig. „Nie von ihr gehört.“ Er musterte sie scharf. „Von Ihnen habe ich auch noch nie gehört. Obwohl Sie mir Ihren Namen noch nicht genannt haben.“

„Oh.“ Sie zuckte kurz. Wie hatte sie das vergessen können? „Tut mir leid.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin Ayme Sommers aus Dallas.“

Er ließ sie einen Takt zu lang mit ihrer ausgestreckten Hand stehen und wirkte nach wie vor, als könne er das alles nicht glauben. Im ersten Moment dachte sie, er würde sich weigern, ihr die Hand zu reichen, und siedend heiß fragte sie sich, was sie dann machen würde. Aber schließlich lenkte er doch ein und ergriff ihre Hand, hielt sie fest und ließ sie nicht mehr los.

„Interessanter Name“, bemerkte er trocken, während er ihr unerbittlich in die Augen sah. „Jetzt verraten Sie mir den Rest.“

Ayme blinzelte ihn an und versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen. Sie wurde sich plötzlich seiner warmen Haut auf eine Weise bewusst, die sie sehr irritierte. Angestrengt versuchte sie, nicht auf seinen Brustkorb zu schauen.

„Was meinen Sie damit?“, stieß sie hervor. „Welchen Rest?“

Er zog sie näher heran, und sie starrte ihn verunsichert an. Wollte er sie einschüchtern? Und wenn ja, warum?

„Was verbindet Sie mit Ambria?“

Sie sah ihn mit großen Augen an. „Wie kommen Sie darauf?“

Er neigte ihr den Kopf zu. „Das Wappen Ambrias auf Ihrem Ohrring ist nicht zu übersehen.“

„Oh.“ Jetzt konnte sie überhaupt nicht mehr klar denken. Es war erstaunlich, dass sie noch wusste, wer sie war. Sie fasste sich mit ihrer freien Hand ans Ohr. „Die meisten kennen es nicht.“

Er kniff die Augen zusammen. „Aber Sie.“

„Oh ja.“

Ayme lächelte ihn an, er wich beinahe selbst einen Schritt zurück. Ihr Lächeln schien den Raum zu erhellen. Es war angesichts der Umstände unangebracht. Er musste wegschauen, aber er ließ ihre Hand nicht los.

„Meine Eltern stammten aus Ambria. Auch ich wurde dort geboren. Mein Geburtsname ist Ayme Negri.“

Soweit er wusste, klang das wie ein typisch ambrischer Name. Aber er wusste eigentlich zu wenig. Dieses Mädchen mit dem Wappen als Ohrschmuck kannte sich womöglich weitaus besser in seinem Land aus als er.

Er starrte sie an und erkannte fassungslos, dass er tatsächlich nur unzureichende Kenntnisse über das Land besaß, in dem seine Familie jahrtausendelang geherrscht hatte. Er wusste nicht, was er Ayme fragen sollte. Er wusste nicht einmal genug, um sich ein paar Testfragen auszudenken, mit denen er ihre Glaubwürdigkeit prüfen konnte. Die ganzen Jahre hatte er inkognito leben müssen und während dieser Zeit nicht wirklich viel über die Kultur und Traditionen gelernt. Er hatte Bücher gelesen, mit Leuten gesprochen, sich an Dinge aus seiner Kindheit erinnert. Und er hatte einen sehr guten Lehrer gehabt. Aber das reichte nicht. Er wusste im Grunde kaum etwas über sich und über die Familie, der er entstammte.

Und quasi wie ein unangekündigter Test war jetzt Ayme gekommen. Und er hatte nicht gelernt.

Ihre Hand in seiner fühlte sich warm an. Er suchte ihren Blick. Ihre Augen leuchteten fragend, ihr Mund war leicht geöffnet, als wartete sie aufgeregt darauf, was als Nächstes passierte. Sie wirkte wie ein junges Mädchen in Erwartung des ersten Kusses. Allmählich hatte er das Gefühl, als wäre der Alarm, der wie eine Trillerpfeife in seinem Kopf geschrillt hatte, ein falscher gewesen.

Aber wer war sie wirklich, und warum war sie hier? Sie wirkte so aufrichtig, so ungezwungen. Er konnte nichts Arglistiges an ihr entdecken. Kein Attentäter konnte so friedlich und unschuldig aussehen.

Es war schwer zu glauben, dass man sie geschickt hatte, um ihn zu töten.

2. KAPITEL

„Ayme Negri“, wiederholte er leise. „Ich bin David Dykstra.“

Er schaute ihr aufmerksam in die Augen, als er den Namen nannte. War da nicht ein leichtes Flackern? Wusste sie, dass es ein Pseudonym war?

Nein, da war nichts. Es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass sie etwas wusste. Und eigentlich wunderte ihn das nicht. Hätte sie ihn umbringen wollen, hätte sie es gekonnt, als er schlief.

Trotzdem musste er auf der Hut sein. Seit er sechs Jahre alt gewesen war und man ihn nach dem Putsch in Ambria in jener Sturmnacht außer Landes gebracht hatte, hatte er stets mit jemandem gerechnet, der ihm nach dem Leben trachtete.

Damals wurden die Palastanlagen niedergebrannt und seine Eltern getötet. Und höchstwahrscheinlich starben auch einige seiner Geschwister – obwohl er das nicht sicher wusste. Ihn aber hatte man retten und heimlich in die Niederlande bringen können, zur Familie Dykstra.

All das war fünfundzwanzig Jahre her. Aber eines Tages, das wusste er, würde er sich seinem Schicksal stellen müssen. Aber vielleicht noch nicht heute.

„Ayme Negri“, wiederholte er nachdenklich. Immer noch hielt er ihre Hand, als hoffe er, ihre Beweggründe würden sich über die Berührung verraten.

Eine Frau aus Ambria, aufgewachsen in Texas.

„Sagen Sie etwas auf Ambrisch“, sagte er herausfordernd. Wenn es um einfache Zusammenhänge ging, standen seine Chancen gar nicht so schlecht, dass er wenigstens ein bisschen verstand. Er hatte zwar seit seiner Kindheit nicht mehr Ambrisch gesprochen, aber manchmal träumte er noch in seiner Muttersprache.

Doch wie es aussah, schien Ayme bei diesem kleinen Test nicht mitmachen zu wollen. Für einen kurzen Moment blitzte Zorn in ihren Augen auf.

„Nein“, verwahrte sie sich entschieden und hob ihr ausnehmend hübsches Kinn. „Ich muss Ihnen doch nichts beweisen.“

Er warf den Kopf zurück. „Ist das Ihr Ernst? Erst brechen Sie in mein Penthouse ein, und jetzt spielen Sie sich so auf?“

„Ich bin nicht eingebrochen“, empörte sie sich. „Ich kam genauso durch die Tür wie Ihre anderen Gäste.“

Sie war zusammen mit einer Schickeria-Clique im Aufzug nach oben gefahren, hatte eine hübsche junge Frau mit einer Federboa angelächelt, die Frau hatte zurückgelächelt und sich danach wieder ihrem attraktiven, schon leicht angeheiterten Begleiter gewidmet.

Lachend hatte die Gruppe schließlich das Apartment betreten und Ayme unbemerkt im Flur stehen lassen. Von dort hatte sie den Gastgeber im Wohnzimmer mit einer Frau tanzen und dabei leicht taumeln sehen, als hätte er sich entweder frisch verliebt oder zu viele Rum-Cocktails getrunken. Deshalb hatte sie entschieden, sich unauffällig zu entfernen. Schließlich war sie in das Fernsehzimmer geschlüpft, wo sie die Schublade entdeckte, die sie als Bettkästchen für Cici nutzte.

„Ich erinnere mich nicht, Sie eingeladen zu haben“, wandte David kühl ein.

„Ich habe mich selbst eingeladen.“ Sie hob ihr Kinn noch höher. „Nur weil Sie mich nicht bemerkt haben, bin ich noch lange keine Kriminelle.“

Er verbiss sich die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Wenn er herausfinden wollte, was wirklich vor sich ging, musste er ihr Vertrauen gewinnen. Er durfte sie nicht in die Defensive drängen.

Und er wollte die Zusammenhänge nicht nur aus reiner Neugier herausfinden, sondern vor allem, weil es mit Ambria zu tun hatte. Aus einem unerfindlichen Grund war aus heiterem Himmel eine junge Frau aus seiner Heimat bei ihm aufgetaucht. Warum?

„Sorry, tut mir leid“, entschuldigte er sich schroff. Er atmete tief durch und beruhigte sich wieder, als sein Blick auf das Baby fiel. In seiner großen Adoptivfamilie hatten viele kleine Kinder gelebt. Sie schreckten ihn nicht. Sie machten nur oft einfach zu viel Arbeit.

„Hören Sie, lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen. Dann können wir alles bereden, ohne Ihre Kleine zu wecken.“

„Einverstanden. Aber ich weiß nicht, ob ich Cici nicht besser mitnehmen sollte, statt sie hier allein zu lassen“, gab sie zu bedenken. Cici war praktisch immer bei ihr, seit Sam sie an diesem Regentag in Texas bei ihr zurückgelassen hatte. Das schien ihr jetzt schon eine gefühlte Ewigkeit her, dabei war nicht einmal eine Woche vergangen. „Sehen Sie sich die Kleine an. Jetzt schläft sie wie ein Engelchen“, flüsterte sie und musste plötzlich lächeln. Cici in der Schublade sah so süß aus.

„Wie alt ist die Kleine?“

Das war eine weitere Frage, die sie nicht sicher beantworten konnte. Sam hatte ihr keine Papiere dagelassen, nicht einmal eine Geburtsurkunde.

„Sie heißt Cici“, bemerkte Ayme, um Zeit zu gewinnen.

„Schöner Name. Also, wie alt ist die Kleine?“

„Ungefähr sechs Wochen“, gab sie an und versuchte vergeblich, sicher zu klingen. „Vielleicht zwei Monate.“

Er starrte sie an. ‚Skeptisch‘ war für seinen Gesichtsausdruck eine noch zu milde Beschreibung.

Sie strahlte ihn an. „Schwer zu merken. Die Zeit vergeht.“

„Stimmt.“

Nach kurzem Zögern – Cici würde sicher schreien, wenn ihr etwas fehlte – verließ Ayme mit David den Raum. Auf dem Weg zum Wohnzimmer griff er sich ein Hemd aus dem Dielenschrank, zog es an, knöpfte es aber nicht zu. Sie drehte sich schnell weg, damit er nicht merkte, wie gebannt sie ihn angesehen hatte, und erblickte ein bodentiefes Panoramafenster mit einer traumhaften Aussicht.

Atemlos ging sie darauf zu. Es war vier Uhr morgens, aber überall glitzerten noch die Lichter der Großstadt. Autos fuhren über die Avenues, ein Flugzeug schwebte mit blinkenden Positionslichtern durch den Nachthimmel. Doch was sie mit einem Mal vollkommen verwunderte, waren die vielen Menschen, die sie trotz der frühen Morgenstunde unten auf der Straße sah und die ihrem gewohnten Leben nachgingen. Alles schien ganz normal. Aber es war nicht wie immer. Die Welt war vor einigen Tagen aus den Angeln gehoben worden. Nichts würde je wieder so sein, wie es gewesen war. Wussten diese Leute das nicht?

Für einen Moment wünschte sie sich sehnsüchtig, auch zu diesen Ahnungslosen zu gehören, in einem glänzenden Auto durch die Nacht zu fahren, einer Zukunft entgegen, die nicht so viel Kummer für sie bereithielt wie die, die sie nach ihrem Abenteuer in Großbritannien erwartete.

„Wow. Von hier können Sie fast ganz London überblicken, nicht wahr?“ Sie presste die Nase förmlich an die Scheibe.

„Nicht ganz“, antwortete er und blickte auf die Lichter der Stadt. Hier war sein Lieblingsplatz. Von hier konnte er auch das repräsentative Bürogebäude in der Innenstadt sehen, von wo aus er die britische Filiale der Reederei seines Adoptivvaters leitete. „Aber die Aussicht ist wirklich spektakulär.“

„Und wie!“ Sie stand mit ausgebreiteten Armen, Hände und Gesicht gegen die Scheibe gepresst, um sich alles genau anzuschauen, und fast schien es, als wolle sie selbst gleich losfliegen. „So große Städte sind irgendwie beängstigend“, bemerkte sie nach einer Weile. „Man hat das Gefühl, dass jeder sich selbst der Nächste ist.“

David zuckte die Achseln. „Sie kennen sich hier nicht aus. Der Ort ist quasi Neuland für Sie.“ Er verzog den Mund. „Wie heißt es doch so schön in dem Song von den Doors: ‚People are strange, when you’re a stranger‘, ‚die Leute sind seltsam, wenn du ein Fremder bist.‘“

Ayme nickte, als freue sie sich über dieses Zitat. „So kam ich mir vor, als ich heute Abend herkam. Wie eine Fremde in einem seltsamen Stadtteil.“

Beinahe lächelte er, gegen seinen Willen. Er musste bei dieser Frau hochgradig vorsichtig bleiben. Noch wusste er nicht, warum sie hier war, und nach seiner Erfahrung konnte es ihn teuer zu stehen kommen.

„Dieser Stadtteil ist wohl kaum seltsam. Er gilt als exklusiv, und die Immobilien hier sind teuer“, sagte er. „Vielleicht vermissen Sie die Langhornrinder und die Cadillacs.“

Sie sah ihn missbilligend an. Der kaum verhohlene Dünkel in seiner Stimme war ihr nicht entgangen. „Wissen Sie, ich bin nicht das erste Mal außerhalb von Texas. Kurz vor Abschluss meines Studiums war ich ein Semester in Japan.“

„Dann sind Sie wohl eine richtige Weltenbummlerin?“, mokierte er sich. Im selben Augenblick bereute er seine kleine Spitze schon. Er musste aufpassen. Das Gespräch drohte zu persönlich zu werden. Er sollte langsam zur Sache kommen.

„Okay, raus damit.“

Sie zuckte überrascht zusammen. „Womit?“

Für einen Moment fühlte er sich unbehaglich. Zwar wirkte sie nach außen hin, als wäre sie eine sehr offene und fast naiv sorglose junge Frau, die frohen Mutes in die Welt hinauszog, was immer da draußen auch auf sie wartete. Ihre Augen aber offenbarten eine ganz andere Wahrheit. Er sah in ihnen etwas Tragisches, Angst und Unsicherheit. Und was immer Aymes Geheimnis war, er hoffte, dass es nichts mit ihm zu tun hatte.

„Wer sind Sie, und was machen Sie hier?“, fragte er wieder. „Warum bringen Sie einen kleinen Säugling mitten in der Nacht in eine fremde Stadt? Und wie sind Sie überhaupt hierhergekommen?“

Sie starrte ihn an und rang sich schließlich ein Lächeln ab. „Puh. Das ist ja ganz schön viel, um eine halb wache Frau damit zu konfrontieren.“

Er seufzte nur entnervt. „Sie konfrontierten mich mit einem sechs Wochen alten Baby. Also, raus mit der Sprache.“

„Nun gut. Meines Erachtens schilderte ich bereits, wie ich hier hereinkam. Eine Party-Clique nahm mich mit, und niemanden kümmerte es.“

Den Portier würde er später noch zur Rede stellen, dachte David.

„Wie gesagt, ich heiße Ayme Negri Sommers. Ich komme aus Dallas, Texas. Und …“ Sie schluckte schwer, sah ihm schließlich direkt in die Augen. „Und ich suche Cicis Vater.“

Diese Auskunft traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Er wusste genau, dass er sich nun auf gefährliches Terrain begab und jeden Schritt sorgfältig zu prüfen hatte.

„Ach, tatsächlich?“, bemerkte er betont ungezwungen. „Wo haben Sie ihn denn verloren?“

Sie nahm die Frage ernst. „Das ist ja das Problem. Ich weiß es nicht genau.“

Er starrte sie verblüfft an. Machte sie Witze?

„Aber wie ich aus verlässlicher Quelle hörte, könnten Sie mir bei der Suche helfen.“

„Ich? Wieso ich?“

Sie begann mit der Antwort, brach ab und schaute sichtlich betreten zu Boden. „Wissen Sie, deshalb ist es doch so schwierig. Ich weiß es nicht genau. Meine Quelle meinte, Sie wüssten ihn zu finden.“ Erwartungsvoll blickte sie wieder auf.

„Sie glauben also, es ist jemand, den ich kenne?“, fragte David immer noch ganz ratlos. „Denn ich bin es nicht.“

Als sie zögerte, rief er erschrocken aus: „Also! Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Ich hätte wohl von so einem kleinen Wesen erfahren, und ich weiß ganz genau, dass ich Sie nie vorher gesehen habe.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf.

Ayme seufzte. „Ich werfe Ihnen doch gar nichts vor.“

„Gut. Also, warum sind Sie hier?“

„Nun, der Mann, der mir riet, Sie aufzusuchen, hat mit der Kanzlei zu tun, für die ich arbeite.“

„Er ist aus Texas? Und er denkt, er weiß, wen ich kenne?“ Kopfschüttelnd drehte David sich um und begann, frustriert auf und ab zu gehen. „Das ist lächerlich. Woher kannte er überhaupt meinen Namen?“

„Er sagte mir, dass Sie sich in denselben gesellschaftlichen Kreisen bewegen wie Cicis Vater und dass ich mir keine Sorgen machen sollte. Sie würden ihn finden.“

„Ach, sagte er das, ja?“ Aus irgendeinem Grund machte ihn das Gespräch immer wütender. Er blieb stehen und stellte sich ihr gegenüber. „Dieser Mensch, der Cicis Vater sein soll – dieser Mensch, den ich finden soll – wie heißt er?“

Sie drehte sich halb weg. Auf dem Weg zum Flughafen von Dallas hatte sie sich alles so einfach ausgemalt. Ihr Plan war, nach London zu fahren, Cicis Vater zu finden, ihm sein Baby zu geben und wieder heimzureisen. Sie hatte sich nicht darauf eingestellt, jemandem nebenbei die ganze ungereimte Geschichte erklären zu müssen.

Mit einem herzzerreißenden Seufzer drehte sie sich wieder zu ihm und antwortete gespreizt: „Nun ja, darin liegt das Problem. Ich weiß nicht genau, wie er heißt.“

Die Situation wurde wirklich langsam absurd. Sie suchte den Mann, der ihr Kind gezeugt hatte. Sie wusste nicht, wo er war. Sie kannte seinen Namen nicht. Aber sie war hergekommen, weil sie Hilfe suchte. Und er sollte ihr diese Hilfe gewähren? Warum gerade er?

Er stand zwar im Ruf, jeden zu kennen, der bestimmten gesellschaftlichen Kreisen angehörte. Aber er brauchte wenigstens einen Anhaltspunkt, um eine mögliche Suche beginnen zu können.

„Was wollen Sie tun, wenn Sie ihn finden? Den Typen heiraten?“

„Wie bitte?“ Ayme sah so schockiert aus, als wäre dieser an sich naheliegende Gedanke geradezu ungeheuerlich. „Nein. Natürlich nicht.“

„Ich verstehe“, antwortete er, obwohl er rundweg nichts begriff.

Sie biss sich auf die Lippe. Sie war so müde. Sie konnte nicht mehr klar denken. Sie wollte einfach nur wieder schlafen.

„Wie soll ich jemanden finden, dessen Namen ich nicht kenne?“

„Wenn es einfach wäre, könnte ich es allein.“

„Verstehe. Ich bin Ihre letzte Rettung, nicht wahr?“

Nach kurzem Überlegen nickte Ayme. „So ziemlich.“ Flehend schaute sie ihn an. „Glauben Sie, Sie können mir helfen?“

Er betrachtete ihr hübsches Gesicht mit den geheimnisvoll dunklen, schläfrigen Augen, den blonden Wuschelkopf, ihre leicht bebende Unterlippe.

Einen kurzen Moment lang stellte er sich vor, ihr geradeheraus zu sagen: „Himmel, nein. Ich werde Ihnen nicht helfen. Sie geben mir nichts und fordern Wunder. Ich habe Besseres zu tun, als in ganz London jemanden zu suchen, den ich nie finden werde.“

Anschließend würde er in seine Tasche greifen und Ayme Geld für ein Hotelzimmer geben. War das nicht eine wunderbare Vorstellung?

Aber als er ihr ins Gesicht sah, wusste er, dass es so nicht ging. Gerade kamen ihr die Tränen, als könnte sie seine Gedanken lesen und wüsste, dass er sie und ihre Probleme loswerden wollte.

„Also gut“, sagte er ihr schroff und ballte die Hände zu Fäusten, um sich der instinktiven Versuchung zu erwehren, Ayme tröstend zu berühren. Sicherheitshalber verlieh er seiner Stimme noch eine Spur Ironie. „Wenn Sie das alles ein bisschen überfordert, hysterisch, wie Sie gerade sind …“

„Ich bin nicht hysterisch!“

Er hob eine Braue. „Das ist Ihre subjektive Wahrnehmung und eigentlich irrelevant. Warum gehen wir nicht logisch und methodisch vor? Dann können wir vielleicht etwas erreichen.“

„Und wieder zurück ins Bett?“

„Noch nicht.“ Er lief erneut auf und ab. „Sie müssen mir unbedingt ein paar Fragen beantworten. Zum Beispiel, was für eine Beziehung genau haben Sie zu Ambria? Erzählen Sie mir alles.“

Längst fragte er sich nicht mehr, ob sie ihm Böses wollte. Sie war offenbar wirklich so vollkommen unschuldig, wie sie wirkte. Und überhaupt, welcher Meistermörder würde so amateurhaft eine junge Frau mit einem Baby die Drecksarbeit machen lassen? Es ergab einfach keinen Sinn.

„Meine Eltern stammten aus Ambria“, begann Ayme. „Ich wurde dort geboren, aber das war kurz vor dem Putsch. Meine leiblichen Eltern kamen bei den Gefechten um. Ich kann mich überhaupt nicht an sie erinnern. Zusammen mit vielen anderen Flüchtlingskindern wurde ich außer Landes und in die Staaten gebracht und dort adoptiert. Ich war erst etwa achtzehn Monate alt, deshalb waren meine Adoptiveltern für mich immer mein Papa und meine Mama.“ Sie zuckte die Achseln. „Ende der Geschichte.“

„Machen Sie Witze? Das war doch erst der Anfang.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie. „Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie aus Ambria stammen?“

„Nun, die Familie Sommers hat auch ambrische Wurzeln. Obwohl sie in der zweiten Generation Amerikaner waren. Also erzählten sie mir einiges, und es gab auch Bücher. Aber dennoch ist mir die Kultur nicht besonders vertraut.“

„Aber Sie wissen von dem Putsch gegen die alte Monarchie? Sie wissen, dass der Granvilli-Clan ihn verübte und viele Menschen dabei umkamen?“

„Hm … ich glaube.“

„Aber viel wissen Sie darüber nicht?“

Ayme schüttelte den Kopf.

„Also haben Sie keine Familie mehr in Ambria?“

„Familie?“ Sie starrte ihn verblüfft an. „Nicht dass ich wüsste.“

„Ich nehme an, sie wurden alle von den Putschisten getötet?“

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht, ob es die Putschisten waren.“

„Wer sonst?“

Nervös befeuchtete sie mit der Zunge ihre Unterlippe. „Na ja, ehrlich gesagt, weiß ich nicht, auf welcher Seite meine Eltern standen.“

Das machte ihn sprachlos. Der Gedanke, ein vernünftiger Mensch könnte die Putschisten unterstützen, die seine eigenen Eltern getötet und die Macht in seinem Land übernommen hatten, war für ihn unvorstellbar. Aber wenn Ayme länger blieb, konnte er womöglich herausfinden, wer ihre Eltern waren und welche Rolle sie spielten.

„Da nun geklärt ist, wer Sie sind, sollten wir wieder auf das eigentliche Thema kommen. Warum sind Sie wirklich hier?“

Ayme seufzte. „Ich habe Ihnen erzählt …“

Er unterbrach sie kopfschüttelnd. „Sie haben mir eine Menge Unfug erzählt. Erwarten Sie wirklich, dass ich Ihnen glaube, dass Sie den Vater Ihres Kindes nicht kennen? Wie wäre es, wenn Sie mir zur Abwechslung mal die Wahrheit erzählten?“

Sie fühlte sich wie ein Tier in einer Falle. Sie hasste es zu lügen. Wahrscheinlich konnte sie es deshalb so schlecht. Sie musste ihm irgendetwas erzählen. Etwas Schlüssiges. Unbedingt. Denn sollte er sich weigern, ihr zu helfen, steckte sie wirklich in Schwierigkeiten. Das wurde ihr allmählich klar.

Aber ehe sie sich etwas Gutes ausdenken konnte, erscholl ein Weinen im Penthouse. Verunsichert blickte Ayme in die Richtung, aus der die Laute kamen. Ob Tag oder Nacht, dieses Kind schien nie länger als eine Stunde schlafen zu wollen.

„Ich habe ihr erst vor einer Stunde das Fläschchen gegeben. Sie kann doch nicht schon wieder Hunger haben, oder?“

„Aber natürlich“, meinte David. „Babys haben immer Hunger.“

Ayme biss sich auf die Lippe und sah ihn an. „Aber in den Büchern steht doch alle vier Stunden …“

„Babys haben aber keine innere Uhr“, merkte er an und empfand ein wenig Mitgefühl gegenüber der jungen Mutter, aber auch viel Ungeduld.

„Stimmt.“ Sie warf ihm einen schiefen Blick zu. „Aber man sollte meinen, dass sie ab und an doch auf die Uhr gucken könnten.“

Er lächelte amüsiert. Er konnte nicht anders. Wenn er es zuließ, würde er wohl anfangen, sie zu mögen, dachte er bei sich, während er ihr in das Fernsehzimmer folgte und ihr dabei zusah, wie sie versuchte, Cici beruhigend über das Köpfchen zu streicheln. Die Kleine schrie lauthals, Streicheln brachte hier überhaupt nichts.

„Probieren Sie doch mal, die Kleine zu wickeln“, schlug er vor. „Vielleicht ist die Windel voll.“

„Meinen Sie?“ Der Gedanke schien ihr neu. „Aber gut, ich probiere es.“

Sie hatte eine große, vollgepackte Wickeltasche, aber wusste offenbar nicht, wonach sie suchte. Er schaute ihr einige Minuten zu, ging schließlich zu ihr, zog eine Wickeldecke aus der Tasche und breitete sie auf dem Sofa aus.

„Ich kann das“, wehrte sie ab.

„Selbstverständlich können Sie das. Ich will nur helfen.“

„Ich weiß. Tut mir leid“, räumte sie entschuldigend ein, griff sich eine Papierwindel, legte sie auf der Decke bereit und nahm Cici aus ihrem Bettkästchen.

„Na, mein kleines Mädchen“, gurrte sie. „Jetzt machen wir dich wieder fein sauber.“ David stand daneben und beobachtete sie, was Ayme sichtlich nervös machte. „Können Sie nicht irgendwo anders hingehen?“

Eines wusste er sicher – diese Frau hatte keine Ahnung, wie man ein Baby versorgte. War das nicht verrückt? Es sei denn … ja, das war es. Sie war nicht die Mutter! Konnte es nicht sein. In sechs Wochen hätte jeder mehr gelernt als sie.

„Genug jetzt, Ayme Negri Sommers“, bedeutete er ihr schließlich bestimmt. „Sagen Sie die Wahrheit. Wessen Baby ist das?“

Völlig erschrocken blickte sie auf. „Meins.“

„Lügnerin.“

Einen Moment schaute sie ihn sichtlich verunsichert an. Schließlich hob sie die Hände hoch. „Okay, jetzt haben Sie mich. Es ist nicht wirklich meins. Woran haben Sie es bemerkt?“

„Daran, dass Sie überhaupt keinen blassen Schimmer von Babypflege haben“, eröffnete er ihr, nahm ihr die Windel aus der Hand und machte sich daraufhin selbst ans Werk. „Daran, dass Sie auf der Windelpackung die Gebrauchsanleitung nachlesen müssen.“

Ayme seufzte aufrichtig. „Das musste wohl so kommen. Trotzdem fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich hasse es, eine Lüge zu leben.“ Eher dankbar als grollend schaute sie ihn an. „Aber woher wissen Sie so viel über Babys?“

„Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen. Wir mussten alle mit anpacken.“

„Bei uns gab es leider keine Babys. Bei uns gab es nur mich und Sam.“

Cici war sauber und hatte eine frische Windel. David hob sie hoch, nahm sie in den Arm, und sie kuschelte sich zufrieden an. Er lächelte widerstrebend. Es war fast wie Radfahren. Wusste man einmal, wie man ein Baby zu halten hatte, vergaß man es nie mehr.

Er drehte sich wieder zu Ayme. „Wer ist dieser Sam, von dem Sie immer reden?“

„Mei…ne Schwester Samantha. Sie war Cicis Mutter.“

Ayme schluckte. Zum ersten Mal, seit sie von zu Hause fort war, wurde ihr richtig deutlich, wie schrecklich das alles war. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Sie schloss die Augen, ließ sich auf das Sofa sinken und kämpfte gegen die Dunkelheit an, die sie zu erfassen drohte, wann immer sie auch nur einen Moment an Samantha dachte. Ebenso ging es ihr mit ihren Eltern, die beide auch bei dem Unfall gestorben waren.

Es war viel zu schwer, um es zu ertragen. Sie durfte nicht darüber nachdenken, und sie durfte David auch nichts davon erzählen. Noch nicht. Vielleicht niemals. Der Schmerz war einfach noch zu frisch.

Sie wappnete sich und erklärte zögerlich: „Sam starb vor einigen Tagen bei einem Autounfall.“ Ihre Stimme zitterte, aber sie wollte das jetzt durchstehen. „Ich … ich habe mich um Cici gekümmert, als es passierte. Es kam alles so plötzlich. Es …“

Mit tiefen Atemzügen versuchte Ayme, sich selbst zu beruhigen. Schließlich räusperte sie sich und fuhr fort: „Nun versuche ich, sie dorthin zu bringen, wo sie hingehört. Ich versuche, ihren Vater zu finden.“ Sie blickte auf, selbst ganz überrascht, dass sie es wirklich durchgestanden hatte. „So. Jetzt wissen Sie alles.“

Er sah sie starr an. Die Trauer in ihrer Stimme spiegelte sich auch in ihrer Körpersprache und im Tonfall ihrer Stimme wider. Er zweifelte nicht eine Sekunde, dass alles wahr war, was sie ihm gerade erzählt hatte, und es berührte ihn auf eine Weise, wie er es nicht erwartet hätte.

Es drängte ihn sehr, das Baby hinzulegen und diese Frau in die Arme zu nehmen. Wenn jemand Trost brauchte, dann Ayme. Aber er versagte es sich. Er wusste, es würde nicht gut gehen. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war Mitleid.

Doch um zum eigentlichen Punkt zurückzukehren: Er verstand weiterhin nicht, warum sie ausgerechnet zu ihm gekommen war.

„Ayme, ich bin nicht Cicis Vater“, sagte er unverblümt.

„Oh, das weiß ich. Ich weiß, dass Sie es nicht sind, aber Sie werden mir helfen, ihn zu finden“, sagte sie ernst. „Sie müssen es einfach. Und da Sie aus Ambria sind …“

„Ich habe nie gesagt, dass ich aus Ambria bin“, unterbrach er. Das musste er klarstellen. Für den Rest der Welt war er ein in Holland geborener und aufgewachsener niederländischer Staatsbürger. So war es seit fünfundzwanzig Jahren, und so sollte es auch bleiben.

„Na ja, Sie wissen viel mehr über Ambria als andere.“

„Stimmt“, musste er widerstrebend einräumen.

Ayme erhob sich vom Sofa und fing an – wie David vor ein paar Minuten – auf und ab zu gehen. Sie fühlte sich erschöpft. Aber sie hatte noch viel zu tun. Als sie zu ihm hinüberschaute, bemerkte sie, dass Cici an seiner Schulter eingeschlafen war.

„Wären Sie nur auf dem Flug über den Atlantik bei mir gewesen.“

„Versuchen Sie nicht, vom Thema abzulenken“, mahnte er leise und drehte sich um, um das kleine Wesen auf seinem Arm vorsichtig in das improvisierte Bettchen zu legen. „Wenn Sie meine Hilfe wollen, brauche ich mehr Informationen von Ihnen. Ich kann nichts tun, solange ich die Rahmenbedingungen nicht kenne.“

Sie nickte. Er hatte natürlich recht. Aber wie konnte sie diese verrückte Situation erklären? Unruhig ging sie zur Tür und lehnte sich an den Pfosten. Von hier hatte sie einen guten Blick auf das Panoramafenster und konnte die Aussicht über die Stadt genießen. Das Lichtermeer, das sich zu ihren Füßen ausbreitete, verströmte noch immer eine fieberhafte Energie – trotz der nächtlichen Stunde.

Sie warf den Kopf zurück und begann.

„Sam erzählte mir nicht viel über Cicis Vater. Übrigens hatte ich sie fast ein Jahr nicht gesehen, als sie mit dem Baby im Arm aufkreuzte. Ich ahnte nichts.“ Sie fasste sich mit der Hand an die Stirn, als würde ihr der Schock noch einmal bewusst. „Was soll’s, jedenfalls sagte sie nicht viel. Sie verriet mir nur, dass Cicis Vater aus Ambria stammte. Dass sie ihn in London getroffen hatte. Und dass sie sich im Moment nichts mehr auf der Welt wünschte, als ihn zu finden und ihm das Baby zu zeigen.“

Natürlich hatte es auch andere Momente gegeben, sogar Stunden, in denen Sam so tat, als wäre es ihr alles absolut egal – besonders, als sie ohne ihr Baby verschwand. Aber davon musste David nicht erfahren.

„Sam nannte Ihnen wirklich nicht den Namen dieses Typen?“

Sie zögerte. „Sam nannte mir einen, aber …“

„Welchen? Sie müssen ihn mir nennen, Ayme. Ich sehe nicht, wie ich Ihnen helfen kann, wenn Sie ihn mir verschweigen.“

Sie ging einige Schritte zum Panoramafenster, und er folgte ihr. „Haben Sie jemals die Sterne betrachtet?“, wollte sie wissen.

„Nicht oft“, antwortete er ungeduldig. „Würden Sie beim Thema bleiben?“

Sie blickte so zögernd zu ihm auf, als koste es sie Überwindung. „Wissen Sie etwas über die verschollene Königsfamilie aus Ambria?“, fragte sie.

3. KAPITEL

Einen Augenblick glaubte David, er habe Ayme falsch verstanden. Dann wurde ihm schlagartig klar, was das, was sie gerade gesagt hatte, für ihn bedeutete. Ihm blieb fast die Luft weg.

„Hm, sicher“, brachte er hervor. „Jedenfalls hörte ich von ihnen. Was ist mit ihnen?“

Ayme zuckte entschuldigend die Achseln. „Na ja, Sam behauptete, dass Cicis Vater einer aus der Familie war.“

„Interessant.“

David hustete. Er hatte schon davon gehört, dass Spuren anderer Familienmitglieder gefunden worden waren. Meistens führten diese aber ins Leere. Einmal jedoch war er auf einen Hinweis gestoßen, der ihn schließlich zu seinem ältesten Bruder führte, dem Kronprinzen. Gab es vielleicht darüber hinaus noch andere Brüder, die gerettet worden waren?

„Welcher genau“, hakte er neugierig nach, allerdings ohne wirklich viel zu erwarten.

„Sam meinte, es sei der Zweitgeborene, namens Darius.“

Der Raum schien ihm zu wachsen und wieder zu schrumpfen, als habe er ein Halluzinogen eingenommen. Er musste seine ganze Willenskraft zusammennehmen, um sein inneres Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ayme redete weiter, erzählte ihm mehr über ihre Schwester, aber er konnte sich nicht auf das konzentrieren, was sie sagte.

Sam hatte ihn … ihn… als Vater ihres Babys genannt. Aber das war unmöglich. Unglaublich. Falsch. Oder?

Er stellte schnell einige Berechnungen an. Wo war er vor zehn oder zwölf Monaten gewesen? Welche Dates hatte er gehabt? Im Laufe der Jahre hatte er an vielen falschen Orten nach Liebe gesucht. Als er noch jünger war, gab es eine Zeit, in der er in erster Linie auf Eroberung aus war und die wichtigen Fragen – wenn überhaupt – erst später stellte. Er blickte nicht stolz auf jene Zeit zurück und war sich sicher, sie deutlich hinter sich gelassen zu haben. Aber was hatte er letztes Jahr gemacht, und wieso konnte er sich nicht richtig erinnern?

Cicis süßes Gesichtchen tauchte vor seinem geistigen Auge auf. War es ihm vielleicht irgendwie vertraut? Spürte er eine Verbundenheit? Irgendetwas?

Eine ganze Weile rang er mit sich, suchte aufrichtig nach Beweisen, kam aber zu der Gewissheit, dass es keine gab. Nein, er war sich sicher, es hatte nichts dergleichen gegeben. Allein der Gedanke war verrückt.

„Haben Sie je von ihm gehört?“, fragte Ayme weiter. „Wissen Sie viel über ihn? Haben Sie eine Idee, wo wir ihn finden könnten?“

„Wir?“ Sie glaubte wirklich, er würde alles einfach so stehen und liegen lassen und ihr helfen, oder? Das Problem war, er hatte eigentlich genau das Gegenteil zu tun. Er musste unauffällig verschwinden, und zwar schnell. Sie wusste nicht, in welcher Gefahr er womöglich schwebte. Sie war wie eine scharfe Handgranate in seine Wohnung gerollt. Die Dinge konnten jeden Moment explodieren.

„Nein“, meinte er kurz. „Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, dass ich es wissen könnte?“

„Wie gesagt, man empfahl Sie mir als jemand, der mir eventuell helfen könnte.“

Ayme wirkte nervös. Er hasste es, sie zu enttäuschen. Aber das war eine ernste Lage, und die erforderte jetzt seine ganze Aufmerksamkeit.

„Man empfahl mich?“ Ein eisiger Schauer jagte über seinen Rücken. „Wer genau empfahl mich?“

„Ein Mann aus dem Umfeld meiner Anwaltskanzlei. Er hatte ständig mit Ambria zu tun, und er kannte Sie.“

Er ließ diese Aussage auf sich wirken und grübelte darüber nach. Von seinen ambrischen Wurzeln wussten nur engste Vertraute. Der Rest der Welt hielt ihn für einen Holländer. Wie zum Teufel hatte jemand in Texas das herausfinden können?

„Wie heißt er?“, drängte er weiter und blickte sie so forschend an, als könne er ihr die Information entlocken, wenn er es nur intensiv genug versuchte.

„Carl Heissman. Kennen Sie ihn?“

Bedächtig schüttelte er den Kopf. Den Namen hatte er noch nie gehört, zumindest konnte er sich nicht erinnern.

„Ich kannte ihn eigentlich auch nicht bis …“

„Wie kamen Sie mit ihm in Kontakt? Sind Sie zu ihm gegangen und haben ihn um Hilfe gebeten?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht direkt. Ich ging ins Büro, stellte einen Urlaubsantrag und erklärte das mit Cici.“

„Aber wie kontaktierte er Sie?“

„Mein Chef muss ihm von mir erzählt haben, woraufhin er mich wohl anrief.“

Sein Puls raste. „Er nannte Ihnen meinen Namen am Telefon?“

„Nein. Er schlug ein kleines Weinlokal in der Stadt als Treffpunkt vor. Dort setzten wir uns auf die Terrasse.“

„Wo man ihn nicht abhören konnte“, entfuhr es David.

„Was?“, fragte Ayme perplex. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum machte er so ein Problem daraus? Entweder er konnte ihr helfen oder nicht. Ihrer Meinung nach war der Mann in Texas nebensächlich.

„Fahren Sie fort.“

„Nun, so, wie er über Sie sprach, ging ich davon aus, dass er Sie kannte. Er nannte mir Ihren Namen, Ihre Adresse, bot mir sogar an, die Reisekosten zu übernehmen.“

Als er Letzteres hörte, riss David erstaunt die Augen auf. „Wieso das denn?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich fand es merkwürdig. Doch ich vermutete, dass vielleicht die Anwaltskanzlei dahintersteckte. Ich habe kein Geld angenommen, aber …“

„Aber Sie wissen nicht recht, wer er ist oder was er genau mit Ihrer Kanzlei zu tun hat, oder? Er tauchte wie aus heiterem Himmel bei Ihnen auf.“

Sie warf ihm einen betont missbilligenden Blick zu, weil er sie unterbrochen hatte, redete aber weiter.

„Er gab mir eine Nummer, unter der ich ihn anrufen sollte, wenn ich Cicis Vater gefunden hätte.“ Sie hielt nach einem Telefon Ausschau. „Meinen Sie, ich sollte es jetzt tun?“

David unterdrückte einen frustrierten Ausruf. Das fehlte noch!

„Sie haben ihn noch nicht angerufen?“

„Nein.“

„Dann tun Sie es auch nicht.“

„Warum nicht?“

„Sie haben doch Cicis Vater nicht gefunden, oder?“

„Kann schon sein.“ Sie blickte ihn nachdenklich an.

Mit einem schweren Seufzer wandte er sich ab. Er wusste, dass er sie unmöglich diese Nummer wählen lassen konnte. Über den Anruf wäre er ganz genau zu orten. Doch wie konnte er ihr das begreiflich machen, ohne die Hintergründe zu verraten?

Wer auch immer dieser Carl Heissman war, dieser Mann spielte ein Spiel. Ein tödliches Spiel.

Er schaute wieder zu Ayme, musterte sie, versuchte, auf Details zu achten, die er bis jetzt vielleicht übersehen hatte. Warum war sie wirklich hier? War ihre Geschichte ein Täuschungsmanöver? Ein Trick, um ihn aus seinem Versteck zu locken?

Was auch immer. Er musste schleunigst von hier weg und darauf hoffen, dass ihm derjenige, der Ayme geschickt hatte, noch nicht auf der Spur war.

Lauernd, wie eine Katze auf dem Sprung, sah er zu ihr. Sein ganzer Argwohn war zurückgekehrt. Diese Frau war bei ihm eingedrungen wie die Vorhut einer kleinen feindlichen Armee, und er würde von nun an ständig auf der Hut sein müssen. Er konnte es sich nicht leisten, ihr zu vertrauen.

In diesem Augenblick klingelte das Festnetztelefon.

Sie schauten sich in die Augen, während es einmal klingelte, zweimal …

Schließlich lief David los, hob ab und starrte auf das Display: ‚Nummer unterdrückt‘ wurde angezeigt. Aber niemand meldete sich am anderen Ende.

Seine Gesichtszüge versteinerten, und sein Puls raste so, dass er kaum atmen konnte. ‚Nummer unterdrückt‘ erschien sonst nie. Die wenigen Menschen, die seine geheime Privatnummer kannten, wurden alle mit ihrer Nummer angezeigt. Nur diesmal nicht.

Der Anrufer jetzt hatte genau seinen aktuellen Aufenthaltsort lokalisieren können. David war davon überzeugt, dass dieser Mensch nicht mitten in der Nacht anrief, um sich nett zu unterhalten. Dies war die Gefahr, die er immer geahnt und erwartet hatte – und solange er sie nicht genau kannte, musste er sie um jeden Preis meiden.

Und mehr als das: Er musste vor ihr fliehen.

Er drehte sich um, um Ayme anzusehen, und fragte sich, ob ihr die Bedeutung des nächtlichen Anrufers klar war, ob sie vielleicht sogar wusste, wer er war und warum er anrief. Aber sie blickte unschuldig und neugierig. Und er konnte nicht glauben, dass jemand mit ihren Augen eine perfekte Lügnerin war. Nein, sie wusste nicht mehr als er. Er hätte alles darauf gewettet.

„Sie wollten doch schlafen, oder?“, fragte er sie, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. „Meinetwegen gehen Sie ins Gästezimmer nach nebenan und legen sich ein paar Stunden hin. Morgen wird es Ihnen besser gehen.“

„Wunderbar.“ Aymes Augen leuchteten kurz vor Dankbarkeit. Sie hoffte nur, dass Cici so viel Erbarmen hatte, sie auch ein wenig ausschlafen zu lassen. In der Regel hatte sie ihr seit Tagen nur einen kurzen Schlummer erlaubt.

Sie blickte zu David. Er wirkte in sich gekehrt und schien über ein Problem nachzudenken. Zudem sah er etwas angespannt aus. Das machte sie umso dankbarer.

Sie war froh, dass er so gelassen auf ihre Anwesenheit reagierte. Die meisten Leute hätten sie wohl längst hinausgeworfen. Er jedoch hatte nichts dagegen, dass sie blieb. Zum Glück! Sie freute sich schon, sich in das warme, weiche Gästebett zu legen und zu schlafen, als ihr plötzlich Zweifel kamen.

Er hatte nichts darüber gesagt, ob er selbst auch schlafen wollte, oder?

„Was werden Sie machen?“

Er zuckte eher geistesabwesend die Achseln. „Ich muss ein paar Geschäfte unter Dach und Fach bringen.“

Ayme wusste, dass es eine Ausrede war, aber das sagte sie ihm nicht. Sie war viel zu müde, um sich mit ihm zu streiten. Es war gerade viel reizvoller, an eine kuschelige Decke und ein richtig flauschiges Kissen zu denken. Daher folgte sie ihm ins Gästezimmer und wartete noch, bis er Cici in ihrem Bettkästchen geholt und sie neben ihr Bett gestellt hatte, ohne das Baby dabei aufzuwecken.

Lächelnd schaute sie ihm zu, wie er die Kleine zudeckte. Richtig liebevoll.

„Also, bis später“, verabschiedete er sich, und nachdem er aus der Tür war, zog sie Rock und Pullover aus, behielt nur die Unterwäsche an und ging zu Bett. Sie schlief gleich ein, begann sogar aus irgendeinem Grund gleich zu träumen, und ihre Träume waren voller großer, dunkelhaariger Männer, die David sehr ähnlich sahen.

Unterdessen bereitete David seine Abreise vor. Er hatte diesen Tag geplant, seit er sich ausmalen konnte, was der Granvilli-Clan mit ihm machen würde, wenn ihre Agenten ihn aufspürten. Er wusste, dass alle Überlebenden des ambrischen Königshauses umgebracht werden sollten, weil sie eine ständige Gefahr für das neue Regime darstellten.

Und er und sein älterer Bruder Monte waren tatsächlich eine Gefahr, ob der Granvilli-Clan es schon wusste oder nicht. Sie beide jedenfalls waren fest dazu entschlossen, den Machthabern gefährlich zu werden. Ende der Woche sollte er in Italien eintreffen, um sich mit anderen aus Ambria auszutauschen und die Rückkehr an die Regierung ernsthaft in Angriff zu nehmen. Eigentlich konnte er genauso gut auch jetzt schon aufbrechen. Was hielt ihn hier noch? Im Büro hatte er bereits alle Vorkehrungen für seine längere Abwesenheit getroffen.

Und er musste allein gehen. Ayme konnte er nicht mitnehmen, warum auch? Warum sollte er sich für sie verantwortlich fühlen? Er versuchte, diesen Gedanken auszublenden. Es würde ihr hier gut gehen. Vor zwei Stunden wusste er nicht einmal, dass es sie gab. Warum sollte er sich ihr gegenüber zu irgendetwas verpflichtet fühlen?

Das tat er auch nicht. Aber dem ambrischen Volk fühlte er sich verpflichtet. Und es war Zeit, dieser Verpflichtung nachzukommen.

Er machte sich daran, alles zu erledigen, was zu erledigen war. Er vernichtete Papiere und Dokumente, die nicht den falschen Leuten in die Hände fallen sollten. Dafür brauchte er eine Weile, während deren er stets mit einem Ohr horchte, ob nicht das Telefon noch einmal klingelte. Aber es gab keine weiteren Störungen mehr in dieser Nacht. Der Himmel färbte sich eben ins Morgenrot, als David mit seinen Vorkehrungen fertig war.

Schnell zog er sich schließlich einen dunkelblauen Pullover aus Kaschmir über und schaute sich ein wenig unschlüssig in seinem Schlafzimmer um. Blieb ihm noch Zeit, einiges in seine Reisetasche zu packen? Egal – er musste etwas mitnehmen, und es lag ja alles griffbereit.

Am Ende zog er seine weiche Lederjacke an und ging zur Tür. Trotz aller Vernunftgründe, die er angeführt hatte, fühlte er sich mies, Ayme so allein zu lassen. Sie kannte niemanden in der Stadt. Niemanden außer ihm.

Sie kannte ihn nicht wirklich, oder? Eigentlich war es lächerlich, grübelte er, blieb aber doch zögernd in der Tür stehen. Vielleicht konnte er den Portier bitten, nach ihr zu sehen. Das konnte er tun. Es würde ihr gut gehen.

Genau. Er ging einen Schritt weiter, stoppte und stieß einen schlimmen Fluch aus. Er wusste, er konnte sie nicht verlassen.

Es ließ sich nicht sagen, wer der Anrufer gewesen war. Auch nicht, wer hinter ihm her war – David war nur überzeugt, dass es sich um einen Agenten des Granvilli-Clans handelte. Was, wenn der Attentäter nach seiner Abreise in das Apartment kam? Wer würde Ayme beschützen? Der Portier sicher nicht.

Nein, er konnte sie nicht allein lassen – auch wenn sie diejenige war, die ihm das alles eingebrockt hatte. Er war fast sicher, dass sie selbst überhaupt nichts davon ahnte. Sie war ein unschuldiges Opfer. Er konnte sie nicht verlassen.

Leise drehte er sich um und ging zurück, öffnete die Tür des Gästezimmers und schaute hinein.

„Ayme? Tut mir leid, Sie wecken zu müssen, aber ich muss gehen, und ich will Sie hier nicht allein lassen.“

„Hm?“ Verwundert und verschlafen schaute sie zu ihm hoch. „Was ist los?“

„Sorry, aber Sie kommen mit mir mit.“ Er blickte sich suchend um. „Haben Sie noch mehr Garderobe?“

Blinzelnd versuchte Ayme – benommen wie sie war – den Sinn der Frage zu verstehen. „Ich habe meine Tasche in der Ecke stehen gelassen.“ Sie nickte mit dem Kopf grob in die Richtung.

Er hielt ihr die Hand hin. „Kommen Sie.“

Sie nahm seine Hand und besah sie sich wie einen Fremdkörper. „Wohin gehen wir?“

Er zog sie leicht hoch, und sie wehrte sich nicht, schob sich halb aus dem Bett.

„Weg von hier.“

„Warum?“

„Warum? Weil Bleiben zu gefährlich ist.“

„Oh.“

Das Argument schien Ayme zu überzeugen. Sie taumelte aus dem Bett wie ein schläfriges Kind, wickelte das Laken um sich und hielt Ausschau nach ihrer Kleidung. David wollte sich schon diskret umdrehen, aber der Anblick, den sie bot – in den Stoff gehüllt, eine Schulter nackt und ihre langen, zart gebräunten Beine größtenteils entblößt, ließ ihn wie gebannt stehen bleiben. Sie war von einer weichen, anmutigen Schönheit, die ihm den Atem raubte und ihn an ein längst vergessenes Märchen erinnerte …

Ambria. Die Sage vom See. Er wusste noch, wie er auf dem Schoß seiner Mutter saß und sie die Seiten des Bilderbuchs umblätterte und ihm die Geschichte vorlas.

„Guck mal, Darius. Ist sie nicht wunderschön?“

Die Frau saß auf einem Felsen über dem See, weinte in die Hände, und ihr fließendes Gewand ähnelte Aymes Laken sehr. Seltsam. All die Jahre hatte er nicht daran gedacht, und jetzt, während er Ayme zuschaute, wie sie sich nach ihren verstreuten Kleidungsstücken bückte, sah er das Bild wieder deutlich vor Augen. Als Junge hatte er genauso empfunden wie jetzt.

Na ja, nicht ganz genauso. Er war kein Junge mehr, und außer der plötzlich aufsteigenden Zuneigung gab es nun noch ein anderes Gefühl, das damit zu tun hatte, wie samtig ihm ihre Haut im Licht der Lampe besonders an den Stellen erschien, an denen das Laken heruntergerutscht war und er den Ansatz ihrer Brüste und die zarte Spitze ihres trägerlosen Büstenhalters sehen konnte, die aus diesem verführerischen Dekolleté blitzte.

Aus irgendeinem mysteriösen Grund beschleunigte sich sein Puls wieder, und diesmal hatte es nichts mit einem Anruf zu tun.

Ayme schaute auf und fing seinen Blick auf. Sie sah ihn ebenfalls an, aber ihr Blick war kühl und fragend.

„Wo sagten Sie, gehen wir hin?“

„Ich sagte es nicht. Lassen Sie sich überraschen.“

„Ich mag keine Überraschungen.“ Nachdenklich biss sie sich auf die Lippe und probierte es mit einem Gegenvorschlag. „Ich könnte mit Cici hierbleiben, bis Sie wieder zurück sind.“

„Ich weiß nicht, wann das sein wird. Vielleicht nie.“

Das bestürzte sie. „Oh.“

„Auch weiß ich nicht, wer vielleicht zu Besuch kommt. Also kommen Sie besser mit mir mit.“

„Ich verstehe.“ Sie merkte jetzt, wie ernst seine Stimme klang. „Wenn Sie mich für einen Moment entschuldigen würden?“, fragte sie und gab ihm höflich, aber bestimmt zu verstehen, dass sie das Laken fallen lassen musste und sie absolut nicht gewillt war, es zu tun, solange er im Raum war.

„Natürlich“, sagte er leicht betreten und steuerte langsam Richtung Wohnzimmer.

Aber dann blieb er stehen und sah wieder zu ihr herüber. Woran dachte er? Zu viel daran, was er bei ihrem Anblick empfand, und zu wenig daran, seinen Leib und sein Leben zu schützen. „Moment“, stieß er hervor und machte auf dem Absatz kehrt. „Hören Sie, Ayme, ich muss es wissen, und ich muss es jetzt wissen: Sind Sie verkabelt, oder tragen Sie einen Peilsender?“

Ayme raffte das Laken fester um ihre Brust. Was war das, Spion gegen Spionin? „Was? Wovon sprechen Sie?“

„Ich meine das ernst. Ich muss das prüfen.“

Sie wich zurück und machte große Augen, als sie begriff, was er vorhatte. Sie zog den Leinenstoff fest um sich. „Oh nein, das werden Sie nicht.“

„Ich kann nicht anders. Sollten Sie etwas bei sich tragen, muss ich es entfernen.“

Energisch schüttelte sie den Kopf. „Ich schwöre, ich trage nichts bei mir.“

„So geht das nicht.“ Er bedeutete ihr, näher zu kommen. „Kommen Sie her.“

„Nein!“

„Möglicherweise sind Sie verwanzt und wissen es nicht einmal“, sagte er ernst und hielt seine Hand auf. „Geben Sie mir Ihr Handy.“

Das konnte sie ihm geben.

„Bitte!“ Sie warf es ihm zu, zog das Laken noch einmal fest und achtete darauf, außerhalb seiner Reichweite zu bleiben.

David öffnete das kleine Fach, zog den Akku heraus und schaute nach. Nichts. Er legte den Akku zurück, machte das Handy aus und warf es Ayme wieder zu. „Bitte lassen Sie es aus. Empfangsbereit ist es ein ständiger Peilsender.“

Seltsam, bis vor Kurzem hätte sie das Ausschalten ihres Mobiltelefons noch wie das Abschneiden ihrer Sauerstoffzufuhr empfunden. Doch jetzt störte es sie nicht. Die meisten, die sie vielleicht hätten anrufen wollen, waren fort. Die ihr wichtigsten Menschen lebten nicht mehr. Schaudernd schob sie den Gedanken beiseite.

Allmählich wieder bei klarem Verstand, wunderte sie sich allerdings, was dieser Sicherheits-Check sollte. Normalerweise, zumindest ihrer Erfahrung nach, behandelte man doch so keine Übernachtungsgäste. Warum zum Kuckuck tat David das?

Sie legte das Handy hin und sah ihn scharf an. „Würden Sie mir vielleicht erklären, warum es hier plötzlich zu gefährlich ist? Und warum verspüren Sie das Bedürfnis, nach Wanzen und Peilsendern zu suchen? Erwarten Sie eine Art feindliche Invasion in Ihren vier Wänden?“

Seine Mundwinkel zuckten, doch der Blick seiner blauen Augen zeigte keine Spur von Humor. „Ich bin nur vorsichtig. Vorsicht ist besser als Nachsicht, wie man so schön sagt.“

„Und dennoch fühlte ich mich all die Jahre sicher, ohne mich je einer Leibesvisitation unterzogen zu haben. Das war vermutlich nur naiv, nicht wahr?“

Die spöttische Spitze entging ihm nicht. „Ayme, mir behagt das ebenso wenig wie Ihnen.“

„Tatsächlich?“

David ging einen Schritt vor und sie den entsprechenden zurück, um schön außer Reichweite zu bleiben. „Wissen Sie eigentlich, wonach Sie genau suchen?“

Er nickte. „Würden Sie jetzt bitte eine Minute stehen bleiben?“

„Ich denke nicht daran.“ Sie wich zur Seite aus.

„Ayme, seien Sie vernünftig.“

„Vernünftig!“ Sie lachte laut auf. „Mich auf Wanzen zu durchsuchen, das nennen Sie vernünftig? Ich nenne es unzumutbar, und ich werde es nicht dulden.“

„Sie werden es müssen.“

„Würden sich mögliche Wanzen nicht eher an meiner Kleidung oder in meinem Gepäck befinden?“

Er nickte beipflichtend. Sie hatte absolut recht. Andererseits, nachdem sie nun durch ihn vorgewarnt war, musste er seinen Plan durchziehen, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, hinter seinem Rücken alle mutmaßlichen Beweise verschwinden zu lassen.

„Ich werde auch Ihre Sachen durchsuchen. Aber zuerst sind Sie dran.“ Er kommentierte ihr seitliches Ausweichen mit einem strengen Blick. „Halten Sie still.“

Ayme griff nach einem Stuhl, schob diesen zwischen sich und ihn und blickte herausfordernd zu ihm herüber. „Warum machen Sie das, David? Wer verfolgt Sie?“

Er schob den Stuhl zurück und kam einen Schritt näher.

„Wir haben keine Zeit, darüber zu sprechen.“

„Nein, halt“, rief sie aus, rollte halb über das Bett und landete wieder auf ihren Füßen, ohne ihr Laken zu verlieren. Jetzt stand das Bett zwischen ihnen, und sie war sehr zufrieden mit sich. „David, sagen Sie mir, was hat sich geändert? Als Sie mich hier vorfanden, waren Sie zuerst verärgert, sicher. Aber jetzt ist es anders. Jetzt sind Sie irgendwie nervöser.“ Ayme dachte nach. „Es war dieser Anruf, nicht wahr?“

Nach kurzem Zögern räumte er es ein.

„Wissen Sie, wer der Anrufer war?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, aber es war wie eine Warnung. Mir wurde klar, dass ich Ihnen gegenüber viel zu leichtsinnig war.“

„Leichtsinnig! Da bin ich anderer Ansicht.“

„Genug. Wir müssen hier weg. Aber zuerst muss ich Sie überprüfen. Jemand könnte Ihnen eine Wanze zugesteckt haben.“

„Unbemerkt?“

„Darauf verstehen sich diese Leute. Sie sind Experten darin, Kleidung, Taschen, selbst den menschlichen Körper an den unglaublichsten Stellen mit einem GPS-Sender zu versehen.“

„Wer? Wer würde so etwas tun?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht dieser Mensch, der Ihnen meinen Namen nannte.“

Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. Das ergab überhaupt keinen Sinn. „Aber er hat mir Ihre Adresse gegeben. Er wusste schon, wo Sie wohnen. Warum sollte er …?“

„Ayme, ich weiß es nicht“, unterbrach er sie. „Würden Sie jetzt bitte stillstehen und mich nachsehen lassen? Ich verspreche, ich werde nicht …“

„Nein!“ Sie wollte gerade wieder mit dem Kopf schütteln, als ihr eine Lösung einfiel. „Ich werde es tun“, schlug sie entschlossen vor und warf die Haare zurück.

Verblüfft starrte er sie an. „Sie werden es tun? Was werden Sie tun?“

Sie lächelte verwirrt. „Ich werde es tun. Ich selbst. Warum nicht? Wer kennt meinen Körper besser?“ Fast übermütig lachte sie ihn an. „Sie werden mir vertrauen müssen.“

Er sollte ihr vertrauen? Das ging nicht, oder?

Warum nicht? fragte eine Stimme in seinem Kopf. Sieh dir dieses Gesicht an. Wenn du dieser Frau nicht vertrauen kannst, dann kannst du niemandem vertrauen.

An und für sich war seine Devise immer gewesen: Vertraue niemandem. Doch manchmal musste selbst er Zugeständnisse an die Realität machen.

„Nun gut“, lenkte er ein. „Fangen Sie an. Ich werde sehen, wie Sie es machen.“

Ich werde das sehen“, korrigierte sie ihn. „Sie werden sich meine Garderobe und meine Taschen ansehen und mir dabei den Rücken zuwenden. Ist das klar?“

„Ayme“, begann er verärgert, aber sie bedeutete ihm nur mit einer Kopfbewegung, dass er sich umdrehen sollte. Da sich die Dinge offenbar nur so vorantreiben ließen, und sie wirklich losmussten, tat er widerstrebend das, was sie wollte.

Systematisch sah er ihre Sachen durch. Dank einiger Security-Kurse, die er in letzter Zeit absolviert hatte, besaß er bei dieser Art Suche mittlerweile eine gewisse Routine, und es erschien ihm deshalb auch nicht seltsam, Amys Slips und BHs in die Hand zu nehmen. Er musste einfach glauben, dass sie auch ihre Pflicht tat, während sie unaufhörlich auf ihn einredete – und er nichts fand.

„Ich kann es wirklich nachvollziehen, wissen Sie“, erklärte sie gerade. „Und ich möchte meine Sache hier gut machen, denn sollte ich mit Ihnen mitkommen, wären Cici und ich, wie ich glaube, wohl ebenso in Gefahr wie Sie.“

„Sie haben es erfasst. Das ist der springende Punkt.“

„Ich will nur, dass Sie wissen, dass ich wirklich akribisch bin.“

„Fein.“

„Ich sehe an den unglaublichsten Stellen nach.“

Allein die Vorstellung weckte Fantasien in ihm, denen er keinen freien Lauf lassen wollte und die er seufzend abschüttelte.

Autor

Raye Morgan
Raye Morgan wuchs in so unterschiedlichen Ländern wie Holland, Guam und Kalifornien auf und verbrachte später einige Jahre in Washington, D.C. Jetzt lebt sie mit ihrem Mann, der Geologe und Informatiker ist, und zwei ihrer vier Söhne in Los Angeles. „Die beiden Jungen zu Hause halten mich immer auf dem...
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