Julia Collection Band 121

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DADDY GESUCHT von JENSEN, MURIEL
David hat keine Ahnung, wer die schöne Fremde war, die ihn auf seinem Maskenball in Versuchung führte. Und er kann sich beim besten Willen nicht daran erinnern, ob er mit ihr geschlafen hat oder nicht. Monate später erfährt er, dass sie ein Kind erwartet. Kann er der Vater sein?

DADDY UNBEKANNT von JENSEN, MURIEL
Auf Davids Maskenball ließen sie keinen Tanz aus. Nun scheint sich Trevyns Traum, Alexis ganz für sich zu erobern, zu erfüllen. Da erfährt er zu seinem Entsetzen, dass die Dritte im Bunde ein Kind erwartet. Sollte er auf dem Maskenball etwa sie und nicht Alexis in den Armen gehalten haben?

DADDY GEFUNDEN von JENSEN, MURIEL
Augusta ist total verwirrt! Nach einem Mordanschlag wurde sie hochschwanger aus dem Wasser gefischt und hat ihr Gedächtnis verloren. Ist Bram wirklich ihr Ehemann und der Vater ihrer kleinen Tochter? Sie möchte es gern glauben, doch dann kehrte ihre Erinnerung plötzlich wieder zurück ...


  • Erscheinungstag 22.06.2018
  • Bandnummer 121
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711320
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Muriel Jensen

JULIA COLLECTION BAND 121

PROLOG

Februar

„Ich fühle mich wie eine Mordverdächtige“, sagte Alexis Ames zu ihrer Schwester Athena. „Wie in der letzten Szene eines Krimis, in der der Detektiv zahlreiche Personen in einem Raum versammelt und sagt: Ich habe Sie alle heute hier zusammengerufen …

Athena lächelte, als ihre Schwester einen bekannten Fernsehdetektiv imitierte. Das nüchtern eingerichtete Konferenzzimmer des Anwaltsbüros drückte jedoch sofort wieder ihre Stimmung.

Sie saßen an einem langen Glastisch. Die Wände waren so grau wie der winterliche Himmel über Oregon. Zusätzlich waren sie wegen Tante Sadies Tod deprimiert.

„Solche Szenen spielen sich für gewöhnlich auf einer sagenhaften Yacht oder in einer gemütlichen Bibliothek mit Kamin ab“, entgegnete Athena. Hier gab es nicht einmal Vorhänge, sondern nur Jalousien – ebenfalls grau.

„Und wir sind auch nur zu dritt“, wandte Augusta, die dritte Schwester, leise ein. „Das kann man kaum als zahlreiche Personen bezeichnen.“

Alexis seufzte. „Ich weiß, ich weiß, und es gab auch keinen Mord, nur einen Todesfall. Wisst ihr noch, wie Tante Sadie immer sagte, sie wollte im Bett sterben?“

Athena lächelte bei der Erinnerung. „Ja, und dann fügte sie noch hinzu: in Mel Gibsons Bett.“

Alle drei lachten zum ersten Mal, seit sie sich gestern Nachmittag im Flughafenhotel getroffen hatten.

„Es ist nur ein kleiner Trost“, meinte Alexis, „aber sie starb bei einer ihrer Lieblingstätigkeiten. Hawaii war ihr bevorzugter Aufenthaltsort. Und sie liebte es, sich in Lahaina zu erholen und nach Oahu zum Einkaufen zu fliegen.“

Athena fand es nicht tröstlich, dass eine Frau Anfang sechzig nun im Wrack eines kleinen Flugzeugs auf dem Grund des Pazifiks lag.

Sadie Richmond, frühere Tänzerin am Broadway, hatte den Drillingen stets die Liebe geschenkt, zu der ihre Schwester, die Mutter der drei, unfähig war. Athena und ihre Schwestern hatten die Ferien im Frühjahr und im Sommer in ihrem Strandhaus verbracht und waren von ihr umsorgt und zu allem Möglichen ermuntert worden.

„Ich kann noch nicht glauben, dass wir sie nie wieder sehen werden“, flüsterte Augusta. Sie war die sensibelste von den dreien und unterrichtete in der dritten Klasse. Zu einem bodenlangen geblümten Kleid trug sie Riemchensandalen. Das lange rote Haar hatte sie locker hochgesteckt. Einzelne Strähnen fielen auf die Wangen und in den Nacken.

„Ich male dir ein Porträt von ihr“, versprach Alexis, um Augusta zu trösten. „Sofern ich es jemals wieder schaffe.“ Alexis war eine Künstlerin, die nach eigenen Angaben im Moment unter einer Sperre litt. Zu einer weißen Seidenbluse mit weiten Ärmeln trug sie eine schwarze Hose und Stiefel. Das Haar war dunkelrot wie bei ihren Schwestern und fiel ihr bis auf den Rücken.

„Du erlebst nur eine Flaute. Niemand bringt ständig Höchstleistungen.“ Athena schlug den gleichen überzeugenden Ton an wie im Gerichtssaal. Sie dachte stets praktisch und suchte auf alles eine Antwort.

Alexis warf ihr einen zweifelnden Blick zu und betrachtete skeptisch Athenas blaues Kostüm, die schlichte weiße Bluse und den Knoten, zu dem sie das Haar im Nacken geschlungen hatte. Es war klar, dass sie ihrer Schwester kein Verständnis für eine Künstlerin zutraute.

Athena schwieg dazu. Ihre Art, sich zu kleiden, half ihr bei Verhandlungen und Streitigkeiten, bei denen sie es hauptsächlich mit Männern zu tun hatte. Frauen, die sich im Gerichtssaal stilvoll kleideten, wurde meistens vorgeworfen, sie wollten ablenken und verwirren.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich dieser nüchterne Stil auch auf ihr Privatleben auswirken würde. Nachdem sie jedoch ihre eigene Kanzlei eröffnet hatte, blieb ihr ohnedies kaum Zeit für ein Privatleben, und das wenige verbrachte sie meistens mit anderen Anwälten. Allerdings war das reizlose Kostüm ungewollt zu einem Spiegelbild ihrer Persönlichkeit geworden.

Während sie ihre schönen und femininen Schwestern betrachtete, verglich sie deren Aussehen und Wesen mit ihrem eisernen Willen zum Erfolg. Die beiden hatten jene Fraulichkeit erreicht, die sie selbst stets bei Sadie bewundert hatte.

Schon als Kind hatte Athena Anwältin werden wollen, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass es außer Arbeit nichts in ihrem Leben geben würde.

„Achtung“, flüsterte Alexis, als ein Mann mit Schnurrbart und beginnender Glatze die Tür öffnete. „Monsieur Poirot höchstpersönlich.“

Der Schnurrbart des Mannes war ziemlich schlicht und konnte sich nicht mit Poirots raffiniert gezwirbeltem Bart vergleichen, doch die Ähnlichkeit reichte aus. Athena war für die Aufmunterung in einem so traurigen Moment dankbar.

Der Mann trat an den Tisch und legte einen Stapel Papiere ab. „Guten Tag“, sagte er mit einem leichten Akzent, der ihn noch mehr wie Poirot wirken ließ. „Willkommen in Portland. Ich bin …“ Offenbar vergaß er seinen Namen, als er Alexis, Athena und Augusta der Reihe nach betrachtete. „Ich bin … ich …“

„Sie sind Bernard Pineau.“ Athena machte sich zur Wortführerin. Da sie neunzehn Minuten vor Alexis und siebenunddreißig Minuten vor Augusta auf die Welt gekommen war, hatte sie sich stets als Älteste betrachtet. „Hat Tante Sadie Ihnen nicht gesagt, dass wir eineiige Drillinge sind?“

„Doch, sicher“, erwiderte er verlegen lachend. „Entschuldigen Sie bitte meine Überraschung.“

Athena und ihre Schwestern waren von Kindheit an daran gewöhnt, mit ihrer unglaublichen Ähnlichkeit die Leute zu verwirren. Da sie jetzt an völlig verschiedenen Orten lebten, kam es nicht mehr so häufig vor. Athena stellte sich und danach Lex und Gusty vor.

Pineau gab ihnen die Hand und setzte sich. „Sie sind vermutlich die Anwältin aus Washington, D.C.“, sagte er zu Athena. „Sadie war sehr stolz auf Sie.“

„Danke.“

Er betrachtete die beiden anderen Schwestern und lächelte Alexis zu. „Sie haben das Atelier in Rom?“

„Allerdings“, bestätigte Alexis.

„Ihre Madonna 4 hängt bei mir daheim im Arbeitszimmer. Sadie hat sie mir zum Geburtstag geschenkt. Meine Frau und ich schätzen sie sehr.“

„Das freut mich“, erwiderte Alexis überrascht. „Tante Sadie rührte stets für mich die Werbetrommel und betätigte sich auch als Verkaufsagentin.“

„Das stimmt“, meinte er und wandte sich an Augusta.

„Ich bin die Lehrerin“, sagte sie. „In Pansy Junction in Kalifornien. Dritte Schulstufe. Ich liebe meine Arbeit.“

Pineau lächelte ihr freundlich zu. Augusta entlockte allen Menschen ein Lächeln. „Möchten Sie Kaffee, bevor wir beginnen?“, erkundigte er sich.

Alle drei lehnten ab.

„Wir haben gerade erst zu Mittag gegessen“, erklärte Athena.

Er nickte. „Ich möchte Ihnen zuerst mein Beileid zum Tod Ihrer Tante aussprechen. Vor einem Jahr lernte ich sie kennen, als wir uns um das Testament kümmerten, und ich fand sie ganz reizend und äußerst klug.“

Athena wollte antworten, brachte jedoch keinen Ton hervor.

„Danke“, sagte Alexis. „Das war auch unsere Meinung.“

Pineau griff nach den Unterlagen und begann zu lesen. „Ich, Sadie Richmond, im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte …“

Athena und ihre Schwestern wechselten immer wieder betrübte Blicke. Bei ihnen gab es keine Habgier. Es war unwichtig, was Sadie wem hinterlassen hatte. Sie konnten nur noch immer nicht glauben, dass ihre Tante nicht mehr lebte, und waren bereit, ihre letzten Wünsche zu erfüllen.

Der Anwalt blätterte weiter. „Athena vermache ich meine Tiffany-Uhr mit der Diamant-Lilie in der Hoffnung, dass ihr dies den ewigen Zeitdruck etwas verschönert. Außerdem vermache ich ihr meine Brosche aus Diamanten und Aquamarin, weil sie zu ihren schicken Kostümen passt.“

Athena schloss die Augen und sah ihre Tante, wie sie die Brosche an dem schicken schwarzen Kleid, auf dem dunkelroten Wollkostüm und auf dem blauen Blazer bei der Regatta in Dancer’s Beach getragen hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Alexis hinterlasse ich alle meine Hüte“, fuhr Pineau fort, „weil sie ihr stets an mir gefallen haben und sie der richtige Typ dafür ist. Ich möchte auch, dass sie den Degas aus dem Korridor im ersten Stock bekommt, weil sie dafür Modell gestanden haben könnte.“

Athena kannte die Ballerina im vergoldeten Rahmen und hielt das Geschenk für sehr passend, weil Alexis sich wie eine Tänzerin vom Ballett bewegte.

Alexis lief eine Träne über die Wange. Augusta drückte ihr die Hand.

„Augusta hinterlasse ich meine Puppensammlung und den Teddybären, den sie immer an sich presste, wenn sie ihre Schwestern nicht mehr ertrug.“

Gusty nickte und war den Tränen nahe. Alexis tätschelte ihr den Rücken.

„Ich wünsche, dass die Mädchen meine Kleidung und meinen Schmuck nach Belieben unter sich aufteilen. Den Rest möchte ich einem Frauenhaus spenden. Leider befindet sich nicht viel Geld auf meinem Konto, aber die Mädchen wissen, wie gern ich reiste. Dieses Geld soll unter ihnen zu gleichen Teilen aufgeteilt werden.“ Pineau legte eine kleine Pause ein. „Und David Hartford hinterlasse ich Cliffside mit dem gesamten Mobiliar.“

Athena wandte sich ruckartig an ihre Schwestern, die genauso überrascht waren wie sie. Sekundenlang herrschte Stille, ehe sie wie aus einem Mund fragten: „Wem?“

„David Hartford“, wiederholte Pineau. „Offenbar ein Freund.“

„Von dem habe ich noch nie gehört“, sagte Alexis. „Ein Freund? Aus Dancer’s Beach?“

Pineau schüttelte den Kopf. „Sie hat mir nicht erklärt, woher sie ihn kannte.“

„Uns gegenüber hat sie ihn nie erwähnt.“ Augusta sah ihre Schwestern an, die jedoch die Köpfe schüttelten.

„Sie haben sich doch bestimmt mit ihm wegen des Testaments in Verbindung gesetzt, Mr. Pineau“, bemerkte Athena misstrauisch. „Also wissen Sie, wo er wohnt. Wieso ist er nicht hier?“

„Er wohnt in Chicago, konnte jedoch nicht kommen. Darum habe ich ihm alles, was ihn betrifft, gefaxt und das Haus auf seinen Namen überschrieben.“

Augusta und Alexis waren sichtlich fassungslos.

„Wann hat Tante Sadie das Testament geändert?“, fragte Athena. „Als wir vor zwei Jahren zu Weihnachten zusammentrafen, wollte sie Cliffside uns dreien hinterlassen. Es geht uns nicht um den Besitz an sich, aber das Haus gehört zu unserer Familie. Wer ist denn dieser Mann?“

„Dieses Testament …“ setzte Pineau an.

„Tante Sadie erzählte uns von Dancer’s Beach“, fiel Augusta ihm ins Wort. „Sie lebte sehr ruhig. Manchmal stellte sie Cliffside für örtliche Veranstaltungen zur Verfügung, weil das Haus so groß ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemanden so gut kennen lernte, ohne uns davon zu berichten. Wir haben nie ein Wort über ihn gehört.“

Pineau schüttelte bedauernd den Kopf. „Es ist nicht meine Aufgabe, mich über die Begünstigten aus einem Testament zu erkundigen. Ich sorge nur dafür, dass die Wünsche der Verstorbenen ausgeführt werden.“

„Wann hat sie das Testament geändert?“, fragte Alexis noch ein Mal.

„Wie ich schon sagte“, erwiderte Pineau geduldig, „haben wir dieses Testament vor einem Jahr aufgesetzt.“

Athena stand erregt auf. Alexis ging unruhig auf und ab.

„Ich verstehe das nicht“, sagte Augusta. „Wo soll sie diesen Hartford kennen gelernt haben?“

„Vielleicht auf einer ihrer Reisen“, erwiderte Alexis. „Er könnte ein Gigolo sein, der es auf ältere Frauen und ihre Ersparnisse abgesehen hat … oder auf ihr Haus.“

„Meine Damen, Sie sind wegen Cliffside natürlich enttäuscht“, sagte Pineau. „Ihre Tante war jedoch sehr ruhig und selbstsicher, als sie diese Verfügung traf. Ich bin überzeugt, dass sie Mr. Hartford das Haus unbedingt hinterlassen wollte. Und ich denke, sie war zu klug, um auf einen Betrüger hereinzufallen.“

„Einen Beweis gibt es dafür aber nicht“, wandte Athena ein. „Sie haben schließlich keinerlei Ermittlungen angestellt.“

Alexis schlug die Hände zusammen. „Vielleicht will er Cliffside wegen der Schmugglertreppe! Ich meine, abgesehen davon, dass es ein wunderbares Haus ist.“

„Richtig!“, bestätigte Augusta.

„Was für eine Treppe?“, fragte Pineau verwirrt.

„Als wir noch Kinder waren“, erklärte Athena, „entdeckten wir im Keller von Cliffside eine Tür zu einer Treppe, die durch die Klippe zum Strand führt. Sadie hielt sie verschlossen. Sie erzählte uns, dass während der Prohibition zu Großvater Richmonds Zeiten auf diesem Weg Alkohol geschmuggelt wurde. Vielleicht will Hartford das Haus für einen ähnlichen Zweck – zum Beispiel für Drogen.“

„Meine Damen …“, rief Pineau.

„Ich weiß, ich weiß“, fiel Athena ihm ins Wort. „Es ist nicht Ihre Aufgabe, diesen Mann zu überprüfen, aber die unsere. Überlegen Sie doch. Unsere Tante stirbt beim Absturz einer kleinen Maschine, kurz nachdem sie den Familiensitz einem völlig Fremden vermacht hat!“

„Das Testament wurde schon vor einem Jahr geändert“, wandte Pineau ein. „Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es sich bei dem Absturz nicht um einen Unfall handelte. Und für Ihre Tante war Hartford kein Fremder.“

Athena achtete nicht auf ihn. „Solange das Wrack nicht gehoben und einwandfrei ein Unfall festgestellt wird, sollten wir uns diesen Hartford genauer ansehen. Was meint ihr?“

Augusta nickte. „Das machen wir. Ich habe ohnedies zwei Wochen Urlaub.“

Alexis griff nach ihrer Umhängetasche. „Ich bin dabei. Über meine Zeit kann ich schließlich frei verfügen. Wo fangen wir an?“

„Wie lautet Hartfords Adresse?“, fragte Athena den Anwalt.

Pineau deutete auf die Dokumente auf dem Tisch. „Cliffside, Dancer’s Beach, Oregon.“

1. KAPITEL

David Hartford betrachtete das große Wohnzimmer seines neuen Zuhauses. Es wirkte behaglich, auch wenn es keinen bestimmten Stil aufwies. Einige der geerbten Möbelstücke hatte er in Aufbewahrung gegeben, um Platz für seine Sachen zu schaffen. Später wollte er entscheiden, was damit geschah.

Vor zehn Tagen hatte ihn Tantchens Anwalt angerufen, weil er einen zwei Morgen umfassenden Besitz am Pazifischen Ozean geerbt hatte. Noch heute konnte er es kaum glauben. Er war in einem Haus aufgewachsen, das drei Mal so groß war wie dieses hier, doch darin hatte er sich nie so wohl gefühlt wie hier schon nach einer knappen Woche.

Zum Erbe gehörten neben diesem Haus im Kolonialstil ein Gästehaus, eine Wohnung über der Garage für vier Autos und ein kleiner Wald, der sich hinter dem Besitz halbmondförmig hinzog. Vor dem Haus erstreckte sich dreißig Meter weit eine Wiese bis zum Rand der Klippe, die fünf Meter über dem Meer aufragte. Am Klippenrand wuchsen Büsche, die er nicht kannte.

Das alles verdankte er einer Frau, die er nie persönlich kennen gelernt hatte, einer CIA-Agentin mit dem Decknamen Tantchen. Bei zahlreichen Einsätzen für die CIA hatte sie mit ihm den Kontakt per Telefon und Funk aufrechterhalten. Er hatte mitgeholfen, sie zu retten, als sie in Afrika in den Vormarsch einer Rebellentruppe geriet. Allerdings hatte er nur Söldner verständigt. Genau genommen hatten daher sie Tantchen das Leben gerettet. Das war für sie allerdings laut ihres Anwalts nicht entscheidend gewesen.

Natürlich war auch David dankbar. Diese Erbschaft hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Nach dem Fiasko in Afghanistan hatte für ihn und seine Kameraden die Tätigkeit für die CIA an Reiz verloren. Alle drei versuchten sich jetzt als Zivilisten.

Die Möbel aus seiner Chicagoer Wohnung standen also nun zwischen einem kleinen runden Mahagonitisch und einem Klavier aus der Zeit der Jahrhundertwende. Auf dem Regal hatte er seine Sammlung handgeschnitzter Entenköder untergebracht. Der große Schrank aus dem Schlafzimmer diente als Unterhaltungszentrum. Der Anwalt hatte ihm eine Liste der Dinge gefaxt, die anderen vermacht worden waren. David hatte diese Gegenstände bereits weggeschickt.

Er musste niesen. Bisher hatte er nie unter Allergien gelitten, aber ausgerechnet hier in Oregon im Winter setzten ihm Feuchtigkeit und Schimmelpilze zu.

Trevyn McGinty und Bram Bishop kamen herein, beide mit Klappstühlen, die sie aus dem Saal des Rathauses geholt hatten.

„Hilfst du uns?“, fragte Trevyn und ging ins Esszimmer weiter. „Oder willst du nur herumstehen und dich beglückwünschen, weil du dich schon mit dem Bürgermeister von Dancer’s Beach angefreundet hast?“

„Er steht nur herum“, scherzte Bram. „Nur weil er uns eine Weile bei sich wohnen lässt, hält er sich für was Besseres. Kannst du uns eigentlich verraten, wieso wir eine Party für zweihundert Leute ausrichten, obwohl wir hier niemanden kennen?“

David folgte den beiden und half ihnen beim Aufstellen der Stühle. „Tantchen spielte jedes Jahr die Gastgeberin für den Maskenball der Gesellschaft für Denkmalschutz. Durch ihren Tod standen sie zehn Tage vor der Party ohne die nötigen Räumlichkeiten da.“

Trevyn und Bram hatten ebenfalls mit Tantchen zusammengearbeitet. Trevyn sah sich seufzend um. „Im Job war sie cool“, meinte er lächelnd. „Seltsam, dass sie so ein schönes Zuhause hatte, es aber trotzdem bereitwillig verließ, um … Ja, warum eigentlich? Uns ging es ums Abenteuer, aber was sucht eine Sechzigjährige?“

„Vielleicht eine gewisse Erfüllung“, bemerkte Bram. „Bei ihr hat man gemerkt, dass sie keine Frau war, die nichts weiter im Leben tat, als Golf zu spielen.“ Er klappte den nächsten Stuhl auf. „Gibt es denn in der Stadt keine geeignete Halle? Muss das Fest hier stattfinden?“

„Die Einladungen waren bereits verschickt“, erklärte David, „viele davon an Leute, die nur im Sommer in Dancer’s Beach wohnen. Sie alle zu verständigen, wäre zu schwierig gewesen. Darum hat sich der Bürgermeister an mich gewandt, und da wir drei in dieser Stadt leben wollen, habe ich zugestimmt.“

Trevyn stellte den letzten Stuhl auf. „Weißt du etwas über die Typen von der Gesellschaft für Denkmalschutz?“

David betrachtete ihr Werk. „Nicht viel. Wahrscheinlich sind alle ungefähr in Mrs. Beasleys Alter, also Mitte sechzig. Hofft nicht auf hübsche junge Dinger. Wahrscheinlich kommen sie aber als Kunden für dein Fotostudio in Frage.“

„Das hoffe ich“, sagte Trevyn. „Unglaublich, dass Tantchen dir das alles hinterlassen hat. Und wir haben Glück, dass du dich noch immer um uns kümmerst, obwohl wir nicht mehr gemeinsam auf Einsatz gehen.“

David schob eine Stehlampe beiseite, um Platz zu schaffen. „Wir haben so oft gemeinsam die Köpfe hingehalten, dass wir jetzt auch gemeinsam neu beginnen sollten.“

In den vergangenen Jahren waren sie einander näher gekommen als Brüder, während sie die Schmutzarbeit für die Regierung erledigten. Mehr als einmal hatten sie sich gegenseitig das Leben gerettet.

„Wieso bekommt eigentlich er das Gästehaus?“, fragte Bram, „und ich lande über der Garage und muss täglich Abgase einatmen?“

Bram meinte es nicht ernst. Er hatte auch beim letzten Einsatz, bei dem alles schief lief, keine Angst gezeigt. Er war älter als Trevyn und David und hatte auch mehr erlebt, und er war alles andere als selbstsüchtig.

„So bist du uns zwischen den Füßen weg“, erwiderte David. „Du weißt schon, wie der verrückte Verwandte, über den man nicht gern spricht.“

„Willst du lieber das Gästehaus?“, fragte Trevyn.

Bram lachte. „Du bist unglaublich leicht reinzulegen. Nein, ich will es nicht. Ich brauche keine Dunkelkammer und auch keinen Platz für Geräte wie du. Ich habe mein Büro in der Stadt, und wenn ich heimkomme, brauche ich nur noch einen Fernseher, eine Kaffeekanne und ein Bett.“

Zu dritt gingen sie zu dem Wagen hinaus, mit dem sie die Stühle gebracht hatten, von denen noch ein Dutzend abgeladen werden musste. Aus dem grauen Himmel fiel Regen. Der Wind war kalt.

„Ich habe übrigens schon einen Fall“, sagte Bram und kletterte auf den Lastwagen. „Es ist nur eine Überwachung in einer Scheidungssache, aber als Detektiv muss man irgendwie anfangen.“

„Wenigstens hast du ein Büro gefunden und es auch innerhalb von drei Tagen eröffnet.“ Trevyn nahm zwei Stühle auf jeden Arm und kehrte zum Haus zurück. „Ich habe ein Fotostudio, aber es dauert noch Wochen, bevor ich bereit bin.“

David sah ihm besorgt nach. Er wusste, welche Bürde Trevyn trotz des sorglosen Auftretens mit sich herumschleppte.

„Er kommt schon wieder auf die Beine“, sagte Bram und reichte David zwei Stühle vom Wagen herunter.

„Er spricht nicht über den Einsatz“, wandte David ein. „Das ist nicht gut.“

„Weil du schreibst“, sagte Bram grinsend, „musst du alles verstehen. Du musst jedes Detail kennen und wissen, wie alles zusammenhängt. Aber nicht alle sind so. Manche lassen es einfach laufen. Er erholt sich. Er hat keine Albträume mehr und bringt Ort und Zeit nicht mehr durcheinander. Mach dir keine Sorgen.“

David kehrte mit den Stühlen ins Haus zurück. Hoffentlich hatte Bram recht. Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst vor zwei Monaten hatten sie in Chicago in Davids Apartment gewohnt. Er und Bram waren mehrmals von Trevyns Albträumen wegen des letzten Einsatzes geweckt worden.

David und Trevyn waren von der CIA schon vor Jahren zusammengespannt worden, ein Autor und ein Fotograf, die bestens geeignet waren, Informationen zu beschaffen. Zwischen den einzelnen Einsätzen waren sie normalen Berufen nachgegangen. David hatte eine Kolumne für die Chicago Tribune geschrieben, und Trevyn hatte als Fotoreporter gearbeitet. Der Verleger, ein Veteran, wusste über ihre Arbeit für die Regierung Bescheid.

Der letzte Auftrag hatte sie nach Afghanistan geführt, wo sie Raisu, einen berüchtigten Terroristen, im Paghman-Gebirge nördlich von Kabul aufspüren sollten. Bram, fünfzehn Jahre lang Sicherheitsexperte beim Militär und fünf bei der CIA, hatte für ihren Schutz gesorgt.

Einen jungen Einheimischen hatten sie als Führer und seine Schwester als Dolmetscherin angeheuert. Bram wollte sich eigentlich auf keine Außenseiter verlassen, doch Gebiet und Sprache ließen ihnen keine andere Wahl.

Trevyn hatte zu Farah, der Dolmetscherin, eine besondere Beziehung entwickelt. Als sie vorausgehen wollte, um als Ablenkung zu dienen, während David sich mit der Gruppe näherte, hatte Trevyn ihr das verboten. Sie hatte es trotzdem getan.

Bei der Ankunft war alles schief gelaufen, und Farah war als Erste gestorben.

Die Flucht war qualvoll gewesen. Als sie endlich in Pakistan in Sicherheit waren, hatte Trevyn tagelang nicht gesprochen. Danach hatten sie alle drei ihren Abschied genommen.

Bram hatte nie ein ziviles Leben gehabt. Trevyn schien zwar wiederhergestellt zu sein, doch er wirkte auf seine Freunde noch ziemlich zerbrechlich. Alle drei hatten sich geeinigt zusammenzubleiben, bis sie endgültig über ihr weiteres Leben entschieden.

Die Chicago Tribune wollte, dass David seine preisgekrönte Kolumne fortsetzte, doch das konnte er nicht mehr. Früher hatte er mit scharfem Geist, Erbe von seinem Vater, und mit Charme freundlich und warmherzig über das Leben in Amerika geschrieben, als gäbe es auf der Welt nichts Wichtigeres. Doch seit Afghanistan verfolgte es ihn, was Menschen einander antaten. Jetzt neigte er eher zu dem Roman, an dem er seit anderthalb Jahren in seiner Freizeit schrieb. Darin verarbeitete er persönliche Erfahrungen, ohne dabei Geheimnisse der CIA zu verraten.

Im Haus nahm Trevyn ihm die Stühle ab und ging zur großen Küche. „Stellen wir sie da hinein?“

„In Ordnung.“ David zeigte zu der Ecke, in der ein Sofa und eine Lampe eine kleine Lesenische bildeten. „Dort sind sie nicht im Weg.“

Bram kam mit den letzten Stühlen und stellte sie neben das Sofa.

„Kommen wirklich keine allein stehenden Frauen zu dem Fest?“, fragte Bram.

„Vielleicht“, erwiderte David. „Die ganze Stadt ist eingeladen. Kann sein, dass schöne und ungebundene Frauen an einem verregneten Samstagabend nichts Besseres zu tun haben, als zu einem Fest der Gesellschaft für Denkmalschutz zu gehen. Dann könnte auch deine Traumfrau dabei sein.“

„Wie muss die denn sein?“, erkundigte sich Trevyn. „Schwarzer Gürtel? Jahrgangsbeste am Schnellfeuergewehr?“

„Ich suche eine Frau, die sich an den Spruch Make love not war hält“, sagte Bram lachend. „Vom Kämpfen habe ich genug.“

„Ganz meine Meinung“, bestätigte Trevyn. „Ich will eine, die mich unwiderstehlich findet.“

„Von welchem Planeten soll die denn kommen?“, fragte David.

„Eigentlich ist das eine Beleidigung“, stellte Trevyn fest. „Aber du bist mein Vermieter. Gibt es noch etwas zu tun?“

„Nein“, erwiderte David. „Ruh dich aus. Passt das Kostüm?“

„Ganz gut. Die Ärmel sind etwas kurz, aber die Rüschen verdecken das. Kaum zu glauben, dass ich das für dich mache.“

„Du machst es für dich selbst. Denk daran, dass du durch diese Leute gut ins Geschäft kommst. Die haben alle Enkelkinder und wollen sie fotografieren lassen. Passt dein Kostüm, Bram?“

„Ja. Da es unter meinen Vorfahren keinen Orang-Utan gibt, sind auch die Ärmel lang genug.“

„Sehr witzig.“ Trevyn ging zur Tür. „Wann kommt der Partyservice?“

„Ungefähr eine Stunde vorher“, erwiderte David. „Etwa um sechs.“

Bram folgte Trevyn ins Freie. „Du suchst ein Traummädchen, das auch gleichzeitig toll kochen kann?“

Trevyns Antwort war nicht mehr zu verstehen, weil er die Haustür schloss.

David ging nach oben, um zu duschen, blieb jedoch am Schlafzimmerfenster stehen und blickte aufs Meer hinaus. Er hatte ein Traummädchen gehabt. Im letzten Sommer hatte ihn diese Frau verlassen – eine sagenhafte Brünette, intelligent und elegant, aber von ihrer Arbeit als Redakteurin besessen.

Es war zu einem hässlichen Streit gekommen, als ihn seine jüngeren Brüder besuchten und seine Freundin das als unerträgliche Belastung für ihren gesellschaftlichen Terminkalender betrachtete. Damals war ihm klar geworden, dass er für sie nicht viel mehr war als ein Begleiter, den die Leute beachteten.

Jetzt wünschte er sich eine ganz andere Frau. Sie sollte warmherzig, sanft und fröhlich sein, und sie sollte nicht jeden verachten, der nicht elegant war.

Aber was für eine Frau wollte ihn schon haben?

Im Lauf der letzten Jahre hatte er sich stark verändert. Es gab dunkle Flecken auf seiner Seele, und mit manchen Erinnerungen konnte er nur schwer leben. Und er hatte gelernt zu hassen.

In Dancer’s Beach bekam er die Gelegenheit, das alles zu ändern. Und seine Freunde konnten ihm dabei helfen.

Vielleicht hatte er bei der Suche nach einer Frau Glück.

Alles war möglich.

2. KAPITEL

„Ich halte das für verrückt.“ Gusty saß auf dem Rücksitz des Wagens, den Athena bei der Ankunft in Portland gemietet hatte. „Ich will wie ihr die Wahrheit über diese Kerle herausfinden, aber ich weiß nicht, ob ich den Plan durchziehen kann.“

Athena seufzte. Gusty war schon immer ehrlich gewesen und konnte nicht schwindeln. Im Moment wirkte sie wie Scarlett O’Hara mit schlechtem Gewissen, während sie sich in einem grünen Reifrock in die Ecke drückte und mit den Bändern ihres grünen Häubchens spielte. Das Kostüm gehörte zum Plan.

„Gus“, sagte Athena geduldig, „wir müssen zu dem Fest gehen, sonst finden wir nie heraus, ob Tante Sadie einem Unfall zum Opfer fiel. Wir müssen wissen, ob sie Hartford das Haus freiwillig hinterließ oder dazu gezwungen wurde. Du schaffst das.“

„Es ist unehrlich.“

„Das sind diese Typen auch.“

Gestern hatte Athena ein Fax von Patrick Connelly erhalten, einem Detektiv, der für ihr Büro arbeitete und den sie gebeten hatte, David Hartford zu überprüfen. Das Fax war eingetroffen, nachdem sie eine Woche mit ihren Schwestern in einem Hotel in der Stadt gewohnt hatte.

David Hartford, vierunddreißig, Absolvent der exklusiven Claremont School und der University of California in Los Angeles. Diplom in Soziologie, seit 1991 Kolumnist bei der „Chicago Tribune“. Wohnt seit einer Woche in Cliffside zusammen mit zwei Freunden oder Partnern.

Trevyn McGinty, 32, Diplom in Journalismus an der Cornell University. Freier Fotoreporter, bis er 1993 von der „Chicago Tribune“ eingestellt wurde.

John Bramston Bishop, 37, geboren in Boston, mit achtzehn der U.S.-Army beigetreten, diente zehn Jahre. Keine weiteren Informationen.

Bei allen dreien seltsame Informationslücken innerhalb der letzten Jahre. Ungeklärte Abwesenheit. Über gewisse Zeiträume scheinen die drei nicht existiert zu haben. Mehr in so kurzer Zeit nicht herausgefunden.

Hartford spielt Gastgeber für den jährlichen wohltätigen Maskenball der örtlichen Gesellschaft für Denkmalschutz. Laut Lokalzeitung bat ihn Bürgermeister Beasley darum, weil durch den Tod Ihrer Tante keine geeignete Örtlichkeit zur Verfügung gestanden hätte. Entweder macht Hartford auf Säule der Gemeinde und will dazugehören, oder er ist ein äußerst geschickter Schwindler.

Informieren Sie mich, falls ich weitermachen soll.

Pat

„Oje“, hatte Lex gemurmelt, die über Athenas Schulter hinweg mitlas. „Jetzt sind schon drei in Cliffside?“

„Was heißt ungeklärte Abwesenheit?“, fragte Gusty. „Waren sie vielleicht im Gefängnis?“

„Das wäre hier aufgeführt“, wehrte Athena ab. „Verbrecher, die ihre Spuren verwischen, werden nicht geschnappt. Verdammt!“ Sie brauchte mehr Informationen und musste sie sich selbst beschaffen. Das war der Grund, aus dem sie jetzt zum Maskenball unterwegs waren.

In einem Laden für Kostüme in Lincoln City hatten sie sich eingedeckt, und die redefreudige Verkäuferin hatte ihnen eine wichtige Auskunft gegeben. „Die Gastgeber gehen als die drei Musketiere.“

„Damit kommen wir nicht durch“, klagte Augusta jetzt wieder. „Vielleicht erkennt uns jemand von früher.“

„Wir sind doch maskiert“, redete Athena ihr zu. „Als Erwachsene waren wir nur selten und sehr kurz hier, und wir waren nie in der Stadt. Wären wir jetzt identisch gekleidet, könnte man uns erkennen, aber wir haben unterschiedliche Kostüme und maskieren das Gesicht.“

„Was spielt es denn für eine Rolle, ob man uns erkennt oder nicht?“, fragte Alexis.

„Erkennt man uns“, erwiderte Athena ungeduldig, „wissen Hartford und seine Freunde, wer wir sind und nehmen sich vor uns in Acht.“

Alexis seufzte. „Und du meinst, wenn sie uns nicht kennen, werden sie uns bereitwillig erzählen, dass sie eine alte Frau dazu zwangen, Hartford ihr Haus zu vermachen?“

„Nein“, erwiderte Athena, „aber wenn sie von Frauen umschmeichelt werden, die ihnen jedes Wort von den Lippen lesen, werden sie vielleicht unvorsichtig und verraten sich.“

„Ich hasse das alles“, sagte Gusty stöhnend.

„Eines muss ich dir lassen.“ Alexis klopfte Athena auf die Schulter. „Der Plan könnte von unserer trickreichen und manipulierenden Mutter stammen. Du erinnerst mich ohnedies in letzter Zeit ein wenig an sie, wenn du so ein strenges Gesicht machst und …“

Das reichte. Athena hielt am Straßenrand und sah Alexis finster an. „Ich habe nicht die geringste Ähnlichkeit mit Mom“, sagte sie heftig. „Aber wenn du anderer Meinung bist, kannst du gern aussteigen!“

Alexis sah sie verblüfft an. „Beruhige dich. Es war nur eine harmlose Bemer…“

„Du bist nie harmlos!“, rief Athena. „Immer vergleichst du mich unterschwellig mit Mom, und du weißt, dass ich das nicht leiden kann!“

Alexis presste die Lippen aufeinander und entriegelte ihre Tür. „Na gut, dann kann ich ja …“

Gusty schloss die Tür wieder. „Komm schon, Athena, Lex hat es nicht so gemeint. Du weißt doch, wie sie ist.“

„Ich weiß es aber nicht“, erwiderte Alexis. „Wie bin ich denn?“

„Du willst uns die Schuld daran geben“, sagte Gusty ruhig, „dass Mom nicht die Mutter war, die du dir gewünscht hast. Du bist überzeugt, dass sie dich geliebt hätte, wenn es nur dich gegeben hätte. Du meinst, wir wären zu viel für sie gewesen, aber das stimmt nicht. Sie hatte gar keine Liebe in sich.“

Alexis verschränkte die Arme und starrte durch die Windschutzscheibe. „Das ist ja wohl etwas zu einfach ausgedrückt.“

„Fast alles lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen“, erwiderte Augusta.

Athena lehnte sich seufzend zurück.

„Auf Athena hackst du am meisten herum“, fuhr Augusta fort, „weil Mom sie am meisten geliebt hat – so weit sie dazu überhaupt imstande war. Dich hielt sie für eine Träumerin, mich für einen Feigling. Mit uns fing sie nichts an.“

Athena schloss die Augen und versuchte, nicht an die schöne Frau zu denken, die sie alle stets enttäuscht hatte. „Was sagt es über uns, dass unser Verhalten untereinander sogar nach so vielen Jahren noch immer von ihr diktiert wird?“

„Das wir normale Menschen sind“, erwiderte Augusta. „Viele Menschen haben niemanden, mit dem sie die Vergangenheit aufarbeiten können.“

Alexis machte ein finsteres Gesicht. „Ich hasse es, wenn ich mich ärgere und du alles wieder mit Logik und Verständnis glättest.“

„Nein, du hasst es nicht“, sagte Augusta lächelnd. „Du liebst Athena und mich. Du lässt nur deine Enttäuschung an uns aus. Wir sind aber trotzdem für dich da.“

Alexis wandte sich an Athena. „Seit wann ist unsere Schwester so klug?“

Athena beruhigte sich wieder. „Ich bin nicht wie sie“, murmelte sie und brauchte nicht genauer auszuführen, wen sie meinte.

„Ich weiß“, versicherte Alexis. „Ich bin nur … eifersüchtig.“

„Worauf?“, fragte Athena erstaunt.

„Auf deine Fähigkeit, mit allem fertig zu werden. Ich frage mich noch immer, was ich bei Mom falsch machte.“

„Das Gleiche wie wir auch“, erwiderte Athena. „Wir gefährdeten ihre Stellung als schönste und am meisten bewunderte Frau. Wir wollten es nicht, aber wir hatten ihr Aussehen geerbt, und wir waren Kinder. Also stahlen wir ihr die Schau, und das hat sie uns nicht verziehen.“

„Und sie konnte uns nicht lieben“, fügte Augusta hinzu. „Das lag nicht an uns. Je früher wir uns damit abfinden, desto früher können wir Beziehungen eingehen und ein Leben voll Liebe führen.“

„Erst, nachdem wir den Gentlemen in Cliffside die Wahrheit entlockt haben“, sagte Athena und streckte ihren Schwestern die Hände hin. „Abgemacht?“

„Abgemacht.“

„Abgemacht.“

Sie legten die Hände in dem alten Ritual eines gemeinschaftlichen Eides übereinander – ganz in der Tradition der drei Musketiere.

Athena stand auf der breiten Stufe von Cliffside und zog am Ausschnitt ihres Kleides im Empire-Stil. Unter der mit Perlen bestickten Haube stahlen sich wenige rote Haarsträhnen hervor. Durch den Schnitt des Kleides wurden ihre Brüste hochgedrückt, und Athena wünschte sich einen passenden Schal zum Kostüm.

Lex schob Athenas Hand weg und zog das Kleid wieder tiefer. „Du wolltest ihn doch so bezaubern, dass er dir alles erzählt. Wenn du Busen zeigst, erreichst du bei einem Mann dein Ziel.“

„Du hast leicht reden.“ Athena hielt die weiße Seidenmaske vor die Augen und deutete auf Alexis’ schlichtes Kleid mit dem relativ kleinen Ausschnitt. „Du bist ja angezogen.“

Lex tastete nach dem Saum, der nur bis zum halben Schenkel reichte. „Würde ich noch mehr Bein zeigen, wäre das ein Minikleid.“

Gusty zupfte an den Riemen ihrer Tasche und blickte nervös zum Fenster, durch das man lachende und tanzende Gäste sah.

„Entspann dich!“, befahl Athena. „Du siehst so süß und unschuldig aus, dass dein Opfer dir alles erzählen wird.“

Die Tür wurde von einer hübschen, aber schon ziemlich reifen Marie Antoinette geöffnet. „Ihr seid bestimmt die Mädchen aus dem Büro der Handelskammer“, sagte sie lächelnd.

Athena, Lex und Gusty erwiderten das Lächeln.

Marie Antoinette öffnete die Tür ganz und winkte sie herein.

Athena sah sich wehmütig um. Das Haus war ihr vertraut – und auch wieder nicht. Sie erkannte den Schrank aus dem ersten Stock und den kleinen runden Mahagonitisch, aber Sofa und Sessel waren neu, ebenso die Bilder an den Wänden. Auch die Entenköder.

Sie ärgerte sich, und das war gut so, weil sie sich dadurch besser auf ihr Ziel konzentrieren konnte. Nur ein gemeiner Mann jagte Enten! So ein Mann betrog auch eine hilflose alte Frau um ihr Haus!

„Das Büfett findet ihr im Esszimmer.“ Marie Antoinette zeigte mit einem japanisch wirkenden Fächer in die Richtung und sah sich um. „Mal sehen, ob ich einen der Gastgeber entdecke.“

„Ach, kein Problem“, sagte Athena. „Gehen Sie nur zu den anderen.“

„Ich kann euch doch nicht …“, setzte sie an, als es an der Tür schellte.

„Gehen Sie nur.“ Lex scheuchte sie zum Eingang. „Wir kommen zurecht.“

„Ich nicht“, jammerte Gusty leise, während Marie Antoinette öffnete. „Ich habe Angst.“

„Folge dem Plan“, drängte Athena. „Befreunde dich mit einem der Kerle und horche ihn aus. Klappt es nicht, lässt du ihn einfach stehen. Wir treffen uns beim Wagen.“

Lex deutete zum anderen Ende des Wohnzimmers. Dort wurde ein Musketier von zwei Cowgirls, Abraham Lincoln und Captain Picard aus Star Trek umringt. „Da ist einer“, flüsterte sie.

„Los, Gusty“, sagte Athena, „bevor du den Mut verlierst.“

Gusty schloss die Augen, holte tief Atem, raffte die Röcke und schwebte davon.

„Sie macht es“, stellte Lex überrascht fest. „Damit habe ich nicht gerechnet.“

„Natürlich macht sie es. Für uns tut sie immer alles. Sie ist nur nicht so albern wie wir. Sieh mal!“ Athena drehte ihre Schwester zur Küche, aus der ein Musketier mit einem Sektglas in jeder Hand kam.

Lex versperrte ihm den Weg. „Hallo! Ist eines davon für mich?“

Der Musketier reichte ihr das Glas und schenkte ihr die volle Aufmerksamkeit, als sie ihn unterhakte und zum Sofa führte.

Athena suchte im Esszimmer und in der Küche nach dem dritten Musketier. Auch wenn sie es nicht zugegeben hatte, war der Plan doch riskant. Anders fanden sie aber nicht heraus, wer David Hartford war und ob er etwas mit Sadies Tod zu tun hatte.

David schluckte noch eine Tablette gegen die Allergie, obwohl das nichts helfen würde. Seit Beginn des Festes nieste er ununterbrochen. Wahrscheinlich zerstörte er damit das heroische Bild, das ein Musketier bieten musste.

Er setzte die kratzige Perücke auf, rückte Bart und Schnurrbart zurecht und legte die Maske an, ehe er den Hut aufsetzte.

Von der Treppe aus entdeckte er die Frau. Von dem erhöhten Standpunkt aus sah er die Spitze einer kleinen Nase und schöne Brüste im Ausschnitt des Kleides. Er hielt den Atem an und rührte sich nicht von der Stelle.

Dann drehte sie sich um, als hätte sie seinen Blick gefühlt. Die Augen blieben hinter der Maske verborgen, doch ihr angedeutetes Lächeln schien zu sagen, dass sie auf ihn gewartet hatte.

David ging zu ihr hinunter, nahm wie in den Filmen den Hut mit einer weit ausholenden Bewegung ab und verbeugte sich. „Mademoiselle, D’Artagnan zu Ihren Diensten.“

„Genau genommen gehörte D’Artagnan nicht zu den drei Musketieren“, erwiderte sie lächelnd.

„Wir sind heute Abend aber nicht genau, sondern fantasievoll.“

„Ich entschuldige mich, Monsieur.“ Sie knickste anmutig. „Ich bin … Constance.“

Nicht schlecht. D’Artagnans Liebe. Sie ging auf das Spiel ein. Alles an ihr war so schön, wie er das schon von oben festgestellt hatte. Volle Lippen, ein zierliches Kinn. An einem schwarzen Band um den Hals trug sie eine Gemme. Rote Haarsträhnen hatten sich aus der perlenbestickten Haube gelöst.

„Blaue oder grüne Augen?“, fragte er und warf einen Blick in die Sehschlitze der Maske. „Aha, blau. Dunkelblau. Keine Sommersprossen bei diesem Haar?“

„Zum Glück nicht“, erwiderte sie lachend. „Allerdings habe ich einige am Rücken.“

„Die müssen Sie mir unbedingt zeigen“, scherzte er.

Sie drehte sich gehorsam um und senkte den Kopf. Die zierlichen Schultern waren tatsächlich mit zarten Sommersprossen bedeckt.

David musste sich zurückhalten, um nicht die winzige Narbe zu küssen, die er ebenfalls entdeckte. Er lebte nun schon ziemlich lange enthaltsam, merkte aber erst jetzt, wie lange das tatsächlich schon war.

„Haben Sie Hunger, Constance?“

„Heißhunger.“

„Dann kommen Sie mit.“ Er bot ihr den Arm an, führte sie ans Büfett im Esszimmer und reichte ihr einen Teller.

Die Auswahl war beeindruckend. Es gab Langusten auf Eis, Fleisch, frisch gebackene Brötchen, Obstsalate, Rohkost und cremige Süßspeisen.

Während Constance noch wählte, holte David aus der Küche zwei Gläser und eine offene Flasche Sekt. Als er zurückkehrte, hatte sie auf dem Teller nur einige wenige Krabben und rohes Gemüse. Er führte sie ein Stück die Treppe hinauf und setzte sich mit ihr auf eine teppichbelegte Stufe.

„Sagen Sie, Constance.“ David stellte die Gläser auf die Stufe und schenkte Sekt ein. „Gehören Sie zur Gesellschaft für Denkmalschutz?“

Sie biss in eine Krabbe und schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich freue mich, zufällig hier zu sein.“

„Sie leben nicht in Dancer’s Beach?“

„Ich … bin zu Besuch hier.“

„Familie?“

„Freunde.“

„Freunde sind wichtig“, versicherte er. „Ich schätze die meinen.“

„Die beiden anderen Musketiere?“

„Das ist Ihnen schon aufgefallen?“, fragte er lachend. „Wir fanden die Kostüme für uns passend.“

„Um gegen Despotie und alles Böse zu kämpfen?“

„Nichts dermaßen Nobles“, entgegnete er. „Es ging mehr um Freundschaft, Besäufnis, Völlerei und Fleischeslust.“

„Fleischeslust ist ungesund“, wandte sie ein.

„Ja, aber wie die meisten Männer rede ich mehr darüber, als wirklich etwas zu machen.“ Er nahm einen Schluck Sekt und betrachtete die Fremde, während sie sich die kunstvoll geschnitzte Treppe ansah.

„Ich erinnere mich nicht, dass die Musketiere in einer so eleganten Umgebung gelebt hätten“, bemerkte sie.

„Wenn wir keine Musketiere sind“, erwiderte er und schenkte nach, „brauchen wir ein bequemes Haus.“

„Aber es ist sehr groß.“

„Ich weiß. Es verlangt nach Kindern und Festen.“

„Haben Sie welche?“

„Kinder?“, fragte er lächelnd. „Nein, auch noch keine Frau, aber ich suche eine.“

„Aha.“ Sie nahm noch einen Bissen. „Vielleicht ist die zukünftige Mrs. D’Artagnan ja heute Abend hier.“ Sie deutete auf eine sehr attraktive Cleopatra. „Die Herrscherin von Ägypten ist äußerst anziehend.“

„Ja, aber diese vielen Palastintrigen! Und ich habe gehört, dass etwas zwischen ihr und einem römischen Feldherrn läuft. Sind Sie solo?“

Die Fremde nickte. „Kennen Sie die Geschichte dieses herrlichen Hauses?“

„Nur flüchtig.“ Er wollte nicht über das Haus, sondern über sie sprechen. „Es wurde vor der Jahrhundertwende von jemandem erbaut, der in die Buckley-Familie einheiratete, die Dancer’s Beach gründete.“

„So ein Haus mit Geschichte ist schön. Sie sind der Eigentümer?“

„Ich bin erst vor kurzem mit zwei Freunden eingezogen. Wir haben uns noch nicht ganz eingerichtet.“

„Und was machen Sie beruflich, Mr. …?“

„D’Artagnan, Verteidiger Frankreichs und …“ Als sie ihm die Hand auf den Arm legte, traf es ihn mitten ins Herz.

„Nein, was machen Sie wirklich?“

Etwas an der Frage störte ihn, doch die Fremde lächelte reizend. Bestimmt war er nach den Jahren als Geheimagent zu misstrauisch. Die Musiker waren eingetroffen und stimmten die Instrumente. Etwa hundert Gäste unterhielten sich und lachten. Plötzlich wünschte er sich mit dieser Frau weg von hier, wo man sich kaum noch ungestört unterhalten konnte.

„Möchten Sie mit mir nach oben kommen?“, fragte er. „Nein, nein“, versicherte er, als ihn durch die Maske ein scharfer Blick traf. „Ich meinte das Wohnzimmer im ersten Stock. Hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht.“

Sie betrachtete ihn weiterhin verhalten.

Er dachte daran, dass sie sich für das Haus interessierte. „Ich hätte Ihnen da noch so einiges zu erzählen.“

„Und was?“, fragte sie steif.

„Über das Haus … und wieso ich hier bin.“

Sie überlegte, griff nach dem Teller und stand auf. „Also gut, ich möchte gern mehr hören.“

Endlich, dachte Athena. Sie stieg vor ihm die Treppe hinauf und ließ ihm dann den Vortritt. D’Artagnan ging an mehreren Zimmern vorbei zu dem Wohnzimmer, das gleich neben dem Schlafzimmer lag. Dabei fiel ihr auf, dass er unsicher ging. Er hatte zwar mehrere Gläser Sekt getrunken, während sie auf der Treppe saßen, doch es waren kleine Gläser. Allerdings hatte er nichts gegessen.

Das mit Goldbrokat bezogene Sofa war durch einen grünen Futon ersetzt worden. In diesem Zimmer hatte ihre Tante ihnen Gutenachtgeschichten vorgelesen. Athena stellte den Teller auf einen niedrigen Bambustisch und setzte sich.

Er füllte die Gläser erneut, setzte sich zu ihr auf den Futon und hob sein Glas. „Auf neue Entdeckungen.“

„Entdeckungen?“

„Sie.“ Er stieß mit ihr an. „Ich habe Sie gesucht.“

Ob er ihren Plan kannte? Das war doch unmöglich. „Tatsächlich? Wieso?“

Behutsam strich er über ihr Häubchen. „Weil ich Sie brauche“, flüsterte er. „Wo … waren Sie bisher?“

Aus seinen Augen traf sie ein offener Blick, und seine Berührung war unbeschreiblich zärtlich. Instinktiv reagierte Athena. Sie stellte das Glas weg und rief sich ins Gedächtnis, wieso sie hier war. Dies mochte der Mann sein, der ihrer Tante ihr Zuhause abgeschwatzt hatte und vielleicht sogar für ihren Tod verantwortlich war. Er konnte Hartford oder einer von dessen Freunden sein.

Sie nahm eine Krabbe von ihrem Teller und hielt sie ihm an die Lippen. „Sie sollten etwas essen. Kommen Sie schon, beißen Sie ab.“

Er gehorchte. „Die schmecken nur so gut, weil Sie sie berührt haben.“

„Sie wollten mir mehr über das Haus erzählen.“ Athena trank, damit er ihrem Beispiel folgte. In vino veritas.

„Es ist ein Haus für viele Kinder und Großeltern, die zu Besuch kommen, für Freunde, die hier übernachten, und für Partys und fröhliche Weihnachtsfeiern.“

Athena schwieg. So hatte auch sie stets gedacht, doch nur Tante Sadie und eine Haushälterin hatten hier gelebt. Darum hatte sie sich darauf gefreut, gemeinsam mit ihren Schwestern und ihren Familien eines Tages dieses Haus mit Leben zu erfüllen.

Gehörte es ihm? War er Hartford? „Es ist also Ihr Zuhause?“

Er schien sie gar nicht gehört zu haben.

„Ich hatte nie so etwas“, fuhr er fort, nahm ihr das Glas ab und stellte es unsicher auf den Tisch. „Mein Haus war leer. Es gab gar nichts. Es war drei Mal so groß wie dieses.“ Seufzend schloss er die Augen. „Kein Lachen, keine Musik, keine Stimmen in der Dunkelheit.“

Athena war von seiner Beschreibung gerührt. Sie hörte förmlich die Stille und sah einen kleinen Jungen allein in einem großen dunklen Haus.

Und sie fühlte seine Einsamkeit.

Er zog an ihrem Häubchen. „Könnten wir das abnehmen?“

Sie dachte an ihr Ziel, nahm die Haube ab und ließ das Haar frei fallen.

„Schön“, flüsterte er, zog sie in die Arme und rieb seine Wange an der ihren. Athena wollte nichts von seiner einsamen Kindheit wissen und kein Mitgefühl für diesen Mann empfinden. Sie wollte erfahren, ob ihm das Haus gehörte und wieso er es bekommen hatte.

„D’Artagnan“, sagte sie scharf.

„Ich bin hier, Constance.“ Er ließ sich nach hinten sinken und zog sie mit sich. „Ich bin der deine“, flüsterte er, legte ihr die Hände an die Wangen und küsste sie.

Obwohl er beschwipst war, küsste er sehr gut, heißblütig und zärtlich zugleich. Und während sie abgelenkt war, hob er ihre Maske an und betrachtete lächelnd ihr Gesicht.

„Ich wusste es“, hauchte er. „Schön … schön …“ Er zuckte zusammen, schloss die Augen und murmelte eine Verwünschung.

„Was ist?“, fragte Athena besorgt.

Er rieb sich übers Gesicht. „Ein Medikament gegen Allergien“, murmelte er und schüttelte benommen den Kopf. „Und Sekt. Sehr schlecht.“ Seufzend hielt er ihre Hand fest und versuchte, sich aufzusetzen.

Sie wollte ihm helfen, hatte jedoch nicht genug Kraft. Er hielt sich an ihr fest, fiel jedoch wieder zurück und riss ein großes Stück Seide von ihrem Kleid ab.

„Aufwachen!“ Athena stieß ihn gegen die Schulter. „Ich will mit Ihnen reden!“

Langsam öffnete er die Augen, hielt ihre Hand fest und küsste sie. Dann war er total weggetreten.

Athena hätte vor Frust weinen können.

Sie griff nach seiner Maske, um wenigstens zu wissen, wie er aussah, doch dann hörte sie Stimmen vor der unverschlossenen Tür. Angesichts des Zustandes ihres Kostüms und ihres Gastgebers und der Tatsache, dass sie gar nicht eingeladen war, hielt sie Rückzug für das Klügste.

„Hallo!“ Jemand klopfte gegen die Tür.

Athena floh durch die Balkontür auf die Veranda, von der Stufen zum Garten führten. Wegen der regnerischen Februarnacht hielt sich dort bestimmt niemand auf. Während sich hinter ihr die Zimmertür öffnete, lief sie schon die Straße zu ihrem Wagen entlang.

Früher hatte sie diesen Weg unzählige Male genommen, doch bis heute hatte sie nie den Kuss eines Mannes auf den Lippen gefühlt, eines Mannes, der noch ein Stück ihrer Kleidung in der Hand hielt.

3. KAPITEL

September

Wie sollte er weitermachen?

David las zum sechsten Mal auf dem Monitor die drei Absätze.

Jake starrte missmutig aus dem Taxi, als es zu Janies Bungalow einbog. Seit Monaten hatte er keinen Brief erhalten, aber er hatte ihr auch nicht geschrieben. Dafür war das Leben zu hart gewesen.

Das Taxi hielt. Jake bezahlte den Fahrer und stieg aus.

Janie saß mit einer Tasse Kaffee und einem Buch auf den Stufen. Sie blickte hoch, erstarrte und ließ Buch und Tasse fallen.

Der Cursor blinkte am Beginn des nächsten Absatzes, während David auf eine Inspiration wartete.

Lief sie ihm entgegen? Oder er ihr? Ging sie ins Haus und schlug die Tür zu? Hämmerte Jake gegen die Tür?

David hatte nicht die geringste Ahnung. Er schrieb am letzten Kapitel seines Romans und versuchte die Träume des Helden zu verwirklichen, nachdem er den armen Kerl dreihundert Seiten lang durch die Hölle geschickt hatte.

Wie würde Janie reagieren, nachdem Jake sie umworben und verführt hatte und dann dem Ruf der CIA gefolgt war, obwohl er versichert hatte, nie wieder für die Agentur zu arbeiten?

Wie David das seit Monaten täglich tat, dachte er an das Kostümfest im Februar und an die Frau, die wie ein wahr gewordener Traum in seinem Wohnzimmer erschienen war.

Er erinnerte sich an ihr Lächeln und Teile der Unterhaltung, doch er hatte Lücken. Sekt, Medikamente und nur vier Stunden Schlaf in der Nacht davor hatten ihn umgehauen. Doch ihr Gesicht hatte er nicht vergessen, auch nicht ihre Augen und dieses Lächeln, bei dem er Herzklopfen bekam … oder die Brüste, die in ihrem Kleid à la Kaiserin Josephine hochgedrückt wurden.

Noch jetzt dachte er an diesen würzigen Duft nach Rosen, der in der Luft hing, als er wieder erwachte. In der Hand hatte er ein Stück Seide gehalten.

Er wusste nicht, was geschehen war, konnte es sich jedoch vorstellen. Er hatte sie verführen wollen. Hoffentlich hatte er sie nicht beleidigt.

Er hatte sie gesucht, kannte jedoch weder ihren Namen noch irgendwelche Freunde. Nicht einmal Mrs. Beasley konnte ihm helfen, obwohl sie sich an das Kleid erinnerte. Die Frau wäre mit Freundinnen gekommen, sagte sie.

Seufzend stand er auf, ging in die Küche, nahm sich Kaffee, setzte sich mit der Zeitung ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Dotty, seine Haushälterin, war für einige Tage nicht hier. Trevyn hielt sich irgendwo in Kanada in den Bergen auf und schoss Fotos für einen Kalender. Bram war wegen eines Falles seiner bereits gut laufenden Detektivagentur in Mexiko. Cliffside war still wie ein Grab.

Der Wetterbericht in der Zeitung versprach für die Küste Oregons eine weitere Woche Altweibersommer. Dann sagte der Nachrichtensprecher: „Wir zeigen das Bild noch einmal für alle, die erst jetzt eingeschaltet haben. Diese Frau wurde bei Astoria im Columbia River gefunden. Sie liegt in stabilem Zustand im Columbia Memorial Hospital in Astoria, erinnert sich jedoch an nichts. Sie weiß nicht ihren Namen, wo sie wohnt oder wie sie in den Fluss geriet. Der Küstenwache liegen keine Meldungen über gekenterte Boote oder andere Unglücksfälle vor.“

David blickte hoch. Das Herz blieb ihm stehen. Er sprang auf und verschüttete dabei den Kaffee.

Das körnige Foto einer Frau war zu sehen, während der Sprecher alle, die diese Frau kannten, bat, sich mit der Polizei in Astoria in Verbindung zu setzen.

Die Frau lag auf einer Trage. Langes rotes Haar klebte nass auf dem Kissen. Die Augen hielt sie geschlossen. Die Gesichtszüge waren nicht gut zu erkennen, wohl aber die Gesichtsform und das zierliche Kinn. Das war Constance! Und der deutlich angeschwollene Leib unter der Decke verriet, dass sie hochschwanger war.

David konnte kaum atmen. Um Himmels willen!

Nur unklar erinnerte er sich an jene Nacht im Februar, aber die Frau hatte auf ihm gelegen, und sie hatte die Kappe abgenommen, die ihr Haar festhielt. Und er hatte sie begehrt! Doch so sehr er sich auch bemühte, er wusste nicht, was dann geschehen war.

Allerdings hatte er ein Stück ihrer Kleidung in der Hand gehalten, als er erwachte …

„Wer etwas weiß, möge sich bitte an die Polizei in Astoria wenden.“

David griff nach den Schlüsseln, dem Handy und der Jacke und lief zur Garage, stieg in den silber-blauen Wagen zwischen Trevyns Geländewagen und Brams Jeep, wählte die Nummer aus dem Fernsehen und jagte Richtung Highway.

Zwischen dem Polizisten, zu dem der Anruf durchgestellt wurde, und ihm entwickelte sich eine verrückte Unterhaltung.

„Ich rufe wegen der jungen Frau an, die aus dem Columbia River gefischt wurde“, sagte David.

„Ihr Name, Sir?“

„David Hartford aus Dancer’s Beach. Geht es ihr gut?“

„Ich glaube schon. Sie wissen, wer sie ist?“

„Ja.“ Sie war die Frau aus seinen Träumen.

„Und wie lautet ihr Name?“

„Ich … also … das weiß ich nicht.“

„Sagten Sie denn nicht, Sie kennen sie?“

„Ja. Sie kam zu einem Fest in meinem Haus, aber wir alle trugen Masken.“ Erst jetzt wurde ihm klar, wie das für den Polizisten klingen musste. „Es handelte sich um das Maskenfest der Gesellschaft für Denkmalschutz.“

„Verstehe. Und diese Frau nannte Ihnen nicht ihren Namen?“

„Nein. Ich war als Musketier verkleidet, und sie …“ Er merkte, wie unglaubwürdig sich das alles anhörte. „Nein, sie nannte mir nicht ihren Namen.“

„Verstehe. Wie wollen Sie uns dann helfen?“

Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. „Ich könnte mich um sie kümmern, bis Sie herausfinden, wer sie ist.“

„Wenn Sie kein Verwandter sind, Sir, können wir Ihnen diese Frau nicht anvertrauen.“

„Aber wenn Sie nicht wissen, wer sie ist, kennen Sie auch keine Verwandten. Was wird denn aus ihr, wenn sie das Krankenhaus verlassen kann?“ David war bereits auf dem Highway und musste sich auf den morgendlich dichten Verkehr konzentrieren.

„Das muss ich erst klären, Sir.“

„Danke“, erwiderte David. „Ich bin in drei Stunden bei Ihnen.“

Athena lehnte sich im Taxi zurück, das sie vom Flughafen zum Columbia Memorial Hospital brachte. Kaum zu glauben, dass sie ihre Schwester in den Nachrichten gesehen hatte – blass, bewusstlos, schwanger und wie ein alter Schuh aus dem Fluss gefischt. Was war da bloß geschehen?

Dabei wusste sie nicht einmal, um welche ihrer Schwestern es sich handelte. Seit dem gescheiterten Maskenball im Februar hatte sie mit Alexis und Augusta einmal in der Woche telefoniert, beide jedoch nicht wieder gesehen. An jenem Abend hatten sie sich wie geplant am Wagen getroffen. Lex und Gusty waren überzeugt gewesen, dass die Musketiere nichts Verbotenes getan hatten.

„Er war zu aufmerksam“, hatte Lex von ihrem Musketier behauptet.

„Meiner war zu … süß“, hatte Gusty seufzend versichert.

Am folgenden Tag waren sie heimgekehrt. Athena hatte weiterhin nach Belastungsmaterial gegen David Hartford gesucht und Patrick eingesetzt. Trotzdem hatte er nichts gegen Hartford und seine Freunde gefunden.

„Hartford scheint ein vorbildlicher Journalist zu sein, Bram wurde beim Militär mehrfach ausgezeichnet, und McGinty ließ sich einfach treiben, wenn er nicht gerade tolle Fotos machte.“

„Und was ist mit diesen Zeiträumen, für die Sie kein Material finden?“ hatte sie gefragt.

„Athena, ich habe alles Mögliche getan. Es gibt einfach keine Informationen.“

„Wie kann das sein? Ich dachte, dass in der heutigen Zeit dank des Internets jedermann durchschaubar ist.“

„Ich weiß es nicht. Ich suche weiter, aber es könnte länger dauern.“

Das war vor sieben Monaten gewesen. Athena versuchte, sich damit abzufinden, dass ihre Tante Hartford das Haus freiwillig hinterlassen hatte.

Und dann hatte sie in den Zehn-Uhr-Nachrichten ihre Schwester gesehen. Das Foto war körnig. Klar erkennbar war nur die Schwangerschaft.

Sie hatte Gusty angerufen, sie aber nicht erreicht. Und in der Schule war um diese Zeit niemand mehr.

Danach hatte sie Lex in Rom angerufen. Die Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter besagte, dass sie ungefähr für eine Woche nicht erreichbar war, weil sie auf Motivsuche ging.

Wer war aus dem Fluss gezogen worden? Und was hatte ihre Schwester in Oregon getan? Noch dazu hochschwanger?

Nach einem Anruf im Krankenhaus hatte sie alle Termine für die nächsten Tage abgesagt, die erste Maschine nach Portland und einen Verbindungsflug nach Astoria genommen.

Das Taxi hielt vor dem Haupteingang des Krankenhauses. Athena bezahlte den Fahrer und stieg aus, während er ihre Reisetasche aus dem Kofferraum holte. Dann lief sie an die Anmeldung und erklärte der sichtlich verblüfften Angestellten, wer sie war.

„Wir haben Sie schon erwartet, Miss Ames“, sagte die Angestellte und rief nach jemandem.

Ein hoch gewachsener Polizist Ende dreißig erschien gleich darauf. „Officer Holden. Wenn Sie bitte mitkommen würden.“

„Ich passe auf Ihre Tasche auf“, bot die Angestellte an und nahm sie über den Tresen hinweg entgegen.

„Geht es meiner Schwester gut?“, fragte Athena den Polizisten. „Gestern hieß es in den Nachrichten, dass ihr Zustand stabil ist.“

„Nun, es ging ihr gut, als die Schwester kurz nach sechs nach ihr sah“, erwiderte er.

„Das klingt, als hätte sich ihr Zustand verändert“, stellte Athena fest und folgte ihm durch den Korridor.

„Ich würde sagen, sie fühlt sich bestimmt viel besser, sonst wäre das nicht passiert.“

„Was wäre nicht passiert?“

Er öffnete die Tür von Zimmer 115 und gab den Blick auf ein leeres ungemachtes Bett frei. „Sie ist weggelaufen“, sagte Officer Holden.

Athena starrte auf das Bett.

„Sie müssen eine Zwillingsschwester sein“, sagte der Polizist. „Ich sprach gestern Abend mit ihr. Sie sehen ihr zum Verwechseln ähnlich.“

Athena nickte geistesabwesend. Warum war ihre Schwester verschwunden? Wohin war sie geflohen? Und welche war es – Gusty oder Lex?

Und vor allem – wer war der Vater des Kindes, und wieso hatte sie ihren Schwestern die Schwangerschaft verschwiegen?

Dann hörte sie einen Mann mit Officer Holden sprechen und nahm an, es wäre der Arzt. Doch er war es nicht. Der Mann trug eine Jeans und einen grauen Sweater. Er machte ein angespanntes Gesicht, bis er sie erblickte und lächelte. Mit zwei Schritten war er bei ihr und packte sie an den Armen.

„Es geht Ihnen ja doch gut!“, sagte er und zog sie an sich. „Sie wirkten im Fernsehen so blass und schwach, dass ich dachte …“

Sie war so überrascht, dass sie sich nicht wehrte.

Er schob sie ruckartig von sich und betrachtete sie eingehend. „Sie sind nicht schwanger“, sagte er verwirrt.

Er sah ihr tief in die Augen, und dieser Blick berührte etwas in ihr.

„Miss Ames“, sagte der Polizist, „das ist David Hartford, ein Bekannter Ihrer Schwester. Mr. Hartford, Athena Ames, die Zwillingsschwester der geheimnisvollen Frau.“

Hartford! Athena rang sich ein höfliches Lächeln ab und reichte ihm die Hand. Der Musketier, dem Sadies Haus gehörte!

„Wo ist die Frau aus dem Fluss?“, fragte er.

Holden zeigte auf das leere Bett. „Fort. Tut mir leid.“

„Woher kannten Sie meine Schwester?“, fragte Athena.

Hartford trat ans Fußende des Betts. Er hatte dunkles Haar, dunkle Augen und einen schlanken, aber sehr kräftigen Körper mit breiten Schultern und beeindruckenden Oberarmen. „Ich kannte sie nicht gut“, erwiderte er bedauernd. „Sie war im Februar in meinem Haus bei einem Fest.“

Athena ließ sich auf die Bettkante sinken. „Ich begreife nicht, was mit ihr geschehen ist.“ Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem Fest in Dancer’s Beach in dem Haus, das ihre Tante diesem Mann hinterlassen hatte, und einer Kleinstadt, die ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer weiter nördlich an der Küste lag? Wieso war ihre Schwester aus dem Fluss gezogen worden? Und weshalb war David Hartford jetzt hier?

„Was heißt, sie ist fort?“, fragte David Hartford den Polizisten. „Wie kann eine Patientin einfach aus einem Krankenhaus verschwinden?“

Holden zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich geschah das, während das Personal Medikamente verteilte oder das Frühstück servierte.“

„Eine Frau, die nicht weiß, wer sie ist, woher sie kommt und wohin sie gehen soll, irrt also jetzt durch die Straßen?“

„Wir haben den Fernsehsender gebeten, immer wieder das Foto zu zeigen. Wir geben es auch an die Zeitung weiter. Wenigstens wissen wir nun, wer sie ist.“ Er zog ein Notizbuch hervor. „Wie lautet der Vorname Ihrer Schwester, Miss Ames?“

Athena traf eine Entscheidung. Da sie nicht wusste, welche Rolle Hartford in dieser Sache spielte, half es vielleicht, wenn er nicht wusste, dass sie noch eine dritte Schwester hatte. Da Lex vermutlich irgendwo in Europa war und Gusty sich diese Woche noch nicht wie gewohnt bei ihr gemeldet hatte, erwiderte sie: „Augusta. Augusta Amelia Ames.“

„Alter?“ Er lächelte, als sie zögerte. „Wir sind Gentlemen und werden Ihr Alter sofort wieder vergessen.“

„Neunundzwanzig“, erwiderte sie.

„Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte?“

Athena schüttelte den Kopf. „Sie lebt in Kalifornien nördlich von Sacramento in einer Kleinstadt namens Pansy Junction. Dort ist sie Lehrerin. Ich weiß nicht einmal, was sie hier tat. Vielleicht versucht sie, nach Hause zu gelangen. Aber wenn sie nicht weiß, wo sie lebt …“

Hartford legte ihr die Hand auf die Schulter. Die sanfte Geste überraschte sie.

Ein Mann mit Glatze und Brille in einem weißen Kittel über der Jeans kam herein. Laut Namensschild war er Dr. Stoddard. Sobald er Athena sah, blieb er verblüfft stehen.

„Das ist die Zwillingsschwester Ihrer Patientin, Doktor“, sagte Holden. „Miss Ames, Dr. Stoddard hat gestern Abend Ihre Schwester behandelt.“

Der Arzt schüttelte erstaunt den Kopf. „Eineiige Zwillinge.“ Als Athena nickte, setzte er sich neben sie. „Tut mir leid, niemand hat Ihre Schwester weggehen gesehen. Morgens ist bei uns viel los.“

„Aber weshalb ist sie weggegangen?“ Es fiel Athena schwer, ruhig zu bleiben. „Sie weiß doch gar nicht, wohin sie soll.“

„Vermutlich die Aufregung“, erwiderte er. „Wahrscheinlich hat ein Schlag gegen die Stirn den Gedächtnisverlust ausgelöst. Ich selbst hatte noch keinen solchen Fall, aber ich habe mich noch gestern Abend kundig gemacht. Es kommt oft vor, dass ein Patient in dieser Lage wegläuft. Falls sie erwachte und keine Antworten bezüglich ihrer Lage fand, könnte es sein, dass sie diese Antworten anderswo sucht.“

„Sagte meine Schwester etwas über den Vater des Kindes?“

„Nein“, entgegnete der Arzt. „Wenn sie nicht einmal weiß, wer sie selbst ist, erinnert sie sich sicher auch nicht an ihren Ehemann oder Freund.“

„Sie wissen es auch nicht?“, fragte Holden und machte sich Notizen.

„Ich wusste nicht einmal, dass sie schwanger ist.“ Athena wandte sich erneut an den Arzt. „Glauben Sie, meine Schwester hatte einen Unfall? Oder wurde sie niedergeschlagen und ins Wasser geworfen?“

„Schwer zu sagen. Vielleicht ist sie mit der Stirn gegen das Lenkrad geprallt, als sie mit einem Wagen von der Brücke stürzte.“

„Es gab an der Young’s Bay Bridge keinen Hinweis auf einen Unfall“, wandte Holden ein. „Und einen Sturz von der Astoria-Megler Bridge hätte sie nicht überlebt. Das ist die große Brücke nach Washington. Bisher haben wir keinen Wagen gefunden. Natürlich könnte er irgendwo im Fluss liegen. Ihre Schwester wurde in der Dunkelheit bei Flut geborgen.“

Dr. Stoddard wurde über Lautsprecher ausgerufen und stand auf. „Tut mir leid wegen Ihrer Schwester, Miss Ames, aber abgesehen von der Amnesie befindet sie sich in guter gesundheitlicher Verfassung. Und die Polizei von Astoria ist sehr tüchtig und wird sie schon finden.“

„Was ist mit dem Kind?“, erkundigte sich Athena.

„Auch alles in Ordnung. Ein Spezialist hat sich darum gekümmert. Ihre Schwester ist in der neunundzwanzigsten Woche.“

Holden begleitete Athena und David Hartford auf den Korridor. „Wir tun unser Bestes, Miss Ames. Das Foto wird in den Nachrichten gezeigt, und wir geben es an unsere Leute und an die Staatspolizei weiter.“

Athena nickte. Das war herzlich wenig, wenn man bedachte, dass ihre Schwester ganz allein war, keinen Namen, keine Vergangenheit und keinerlei Bezugsperson hatte. Hoffentlich stieß Gusty nichts zu – sofern es Gusty war.

„Wo kann ich Sie erreichen?“, fragte Holden.

„Das weiß ich noch nicht“, entgegnete Athena. „Ich kam mit einem Taxi direkt vom Flugplatz hierher. Vielleicht nehme ich mir gar kein Zimmer, sondern miete einen Wagen und suche Gusty auf eigene Faust. Ich gebe Ihnen aber die Nummer meines Handys.“

„Der Zeitpunkt für einen Besuch in Astoria ist ungünstig“, sagte der Polizist. „Wegen des Fish Festivals sind die Hotels ausgebucht. Wahrscheinlich bekommen Sie auch keinen Wagen.“ Er wandte sich an Hartford. „Und wo erreiche ich Sie?“

Hartford nannte ihm Adresse und Telefonnummer.

Holden steckte das Notizbuch ein. „Gut, ich melde mich bei Ihnen.“

Athena holte ihre Reisetasche bei der Angestellten an der Anmeldung ab und trat ins Freie. Hartford folgte ihr.

„Was mache ich jetzt, wenn ich keinen Wagen und kein Zimmer bekomme?“, fragte sie unsicher.

„Ich wüsste da etwas“, sagte David Hartford.

David vermutete, dass er Athena Ames mit seinem Vorschlag in die Flucht schlug, doch sie sah seiner Constance zu ähnlich, als dass er sie hätte im Stich lassen können.

„Ja?“, fragte sie vorsichtig.

„Ich wohne südlich von hier an der Küste.“ Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Dabei irrte die geheimnisvolle Frau, mit der er ein Kind gezeugt hatte, allein und verängstigt durch eine ihr unbekannte Gegend. „Wir könnten an der Küste entlang fahren und in allen Orten nach Ihrer Schwester suchen. Dann bleiben Sie bei mir, bis wir mehr erfahren. Zu zweit erreichen wir mehr als einzeln.“

Damit handelte er sich genau jenen Blick ein, mit dem er gerechnet hatte. Daher sah er sich zu einer Erklärung genötigt.

„Das Kind ist von mir.“

Athena starrte ihn ungläubig an. „Sie sind ihr Freund?“

„Nicht direkt, aber für mich ist das alles sehr wichtig. Bei mir sind Sie in Sicherheit, ganz bestimmt. Ich habe ein sehr großes Haus mit sechs Schlafzimmern und einem Arbeitszimmer. Sie können das Zimmer haben, das am weitesten von meinem entfernt ist. Ich kann Ihnen auch einen Wagen zur Verfügung stellen.“

„Wieso sagten Sie Officer Holden nicht, dass das Kind von Ihnen ist?“, fragte sie misstrauisch.

„Weil die Einzelheiten sehr verschwommen sind.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ich erkläre es Ihnen während der Fahrt nach Cliffside. So heißt das Haus in Dancer’s Beach.“

„Ein großes Haus für einen allein stehenden Mann“, stellte sie fest.

„Ich habe gern viel Platz zur Verfügung“, erwiderte er. „Auf dem Grundstück wohnen noch zwei Freunde, aber sie sind im Moment nicht da.“

„Wie praktisch“, sagte sie.

„Ein Zufall“, verbesserte er sie.

Sie sah ihm in die Augen, und dieser Blick kam ihm sehr vertraut vor. Das war jedoch kein Wunder. Sie war schließlich Con… Augustas Zwillingsschwester.

„Also schön“, entschied sie. „Aber ich warne Sie. Ich bin Anwältin. Kommen Sie auf falsche Ideen, gehört mir im Handumdrehen Ihr gesamter Besitz.“

Er griff lächelnd nach ihrer Reisetasche. „Ich mag scheue und zurückhaltende Frauen. Kommen Sie. Mir gehört der Wagen da drüben.“

Athena ließ sich auf den Beifahrersitz sinken, während er ihre Tasche auf den Rücksitz legte und einstieg. „Sehr elegant“, stellte sie fest und strich über das blaue Leder. „Ein Haus mit sechs Schlafzimmern, ein teurer Wagen mit echtem Leder. Sind Sie Arzt?“

„Nein, Autor.“

„Journalist?“

„Früher. Jetzt schreibe ich Romane.“

„Hoffentlich Kriminalromane, damit wir dank Ihres kriminalistischen Verstandes Gusty finden.“

„Gusty?“

„Augusta, die Frau, die ein Kind von Ihnen erwartet. Wie ist das eigentlich passiert?“

Er sah sie ironisch an. „Ich kannte ihren Namen nicht. Und ich muss wohl kaum erklären, wie Kinder gemacht werden, oder?“

„Ich meine, wieso wurde es so … intim, wenn Sie nicht einmal ihren Namen kannten?“

„Es geschah auf einem Kostümfest“, erwiderte er. „Wir trugen Masken.“

„Und deshalb habt ihr auf eine Vorstellung verzichtet?“

„Nein.“ Er verließ den Parkplatz. „Dadurch wurde es nur leichter, in eine Rolle zu schlüpfen.“

Gusty hatte sich von David Hartford lieben lassen? Ihre sonst so scheue Schwester? Athena konnte sich das nicht vorstellen. Zu Lex hätte das eher gepasst.

„Es sieht Gusty nicht ähnlich“, stellte sie fest. „Ich kann das kaum glauben.“

„Das kommt daher, dass Sie ihre Schwester sind.“ An der nächsten Ampel bog er auf den Highway und fuhr Richtung Stadtzentrum. „Bestimmt hat sie Ihnen nicht alles erzählt. Sie war reizend, aber auch sinnlich und verführerisch.“

„Sinnlich?“, fragte Athena überrascht, während sie die Bürgersteige im Auge behielt. „Soll das ein Scherz sein? Verführerisch?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie wollte es wohl so sehr wie ich, und ich war egoistisch genug, um die Gelegenheit zu ergreifen. Sie war die wunderbarste Frau, die ich jemals kennen gelernt habe.“

Plötzlich fiel Athena ein, wie sie herausfinden konnte, um welche ihrer Schwestern es sich gehandelt hatte. „Welches Kostüm trug sie?“, fragte sie beiläufig.

„Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll“, erwiderte er. „Hoch angesetzte Taille, kurze Puffärmel. Napoleons Frau Josephine hätte so ein Kleid tragen können.“

Beinahe hätte Athena sich verraten. David Hartford war kein anderer als ihr Musketier!

4. KAPITEL

Athena war völlig durcheinander. David Hartford hielt sie für sinnlich und verführerisch, und er war überzeugt, sie geschwängert zu haben!

Sinnlich und verführerisch. Lächelnd betrachtete sie die Fußgänger. Sie war sinnlich und verführerisch? So hatte sie sich selbst noch nie gesehen.

Was hatte er noch gesagt? Sie bekam Herzklopfen. Sie war die wunderbarste Frau, die ich jemals kennen gelernt habe. Für einen Moment verschwanden alle Sorgen, während sie das ungewohnte Lob genoss. Doch hier ging es um ihre Schwester.

„Also“, begann sie vorsichtig, „ihr beide hattet einen wildromantischen Abend?“

Er warf ihr einen Blick zu. „Offenbar.“

„Sie sind sich nicht sicher?“

„Ich hatte Antihistamine genommen und trank Sekt. Offenbar war ich eine Zeit lang weggetreten. Als ich erwachte, hielt ich ein Stück Seide in der Hand und duftete nach ihr. Mein Hemd und meine Hände. Rosen und irgendeine würzige Note.“

„Aber Sie erinnern sich nicht genau?“

Lächelnd legte er die Hand aufs Herz. „Hier drinnen weiß ich es. Anders kann ich es nicht erklären.“

Sie sah ihn ungläubig an, doch er merkte es nicht, weil er durch das Stadtzentrum kreuzte und sich die Fußgänger genau ansah.

„Wenn sie im Krankenhaus nicht gefrühstückt hat“, sagte er, „könnte sie irgendwo einen Kaffee trinken und etwas essen.“

„Aber sie hat kein Geld. Das nehme ich wenigstens an. Sie hatte nichts bei sich, als sie aus dem Wasser gezogen wurde.“

Er bog auf den Parkplatz einer Bäckerei. „Nachsehen schadet nicht. Haben Sie etwas gegessen?“

„Nein.“ Sie löste den Sicherheitsgurt. „Auf dem Flug von Chicago nach Portland hatte ich nur Erdnüsse.“

„Ich lade Sie ein.“

In der Bäckerei war viel los. An vier Tischen drängten sich Jogger und Geschäftsleute. Von Gusty war nichts zu sehen. Athena und David versorgten sich mit Kaffee und Gebäck. Anschließend sahen sie noch in einigen anderen Lokalen in der Gegend nach, ohne etwas zu erreichen.

Autor

Muriel Jensen

So lange Muriel Jensen zurückdenken kann, wollte sie nie etwas andere als Autorin sein. Sie wuchs in einer Industriestadt im Südosten von Massachusetts auf und hat die Menschen dort als sehr liebevoll und aufmerksam empfunden. Noch heute verwendet sie in ihren Romances Charaktere, die sie an Bekannte von damals erinnern....

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