Julia Collection Band 137

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Sie leben auf der ganzen Welt verstreut, doch ihre schottischen Wurzeln haben sie nie vergessen: die drei Brüder aus dem einst mächtigen Clan der Drummonds. Ein alter Mythos bringt sie wieder zusammen: Angeblich sollen dreihundert Jahre Pech enden, sobald die drei Teile eines Pokals aus dem Familienerbe wieder zusammengesetzt werden. Ob damit auch die Liebe wieder Einzug in das Leben der Brüder hält?

DARF EIN BOSS SO SEXY SEIN?
Endlich nimmt er sie wahr! Annie soll für ihren sexy Boss ein Ballkleid seiner Vorfahren anprobieren - und Sinclair hilft ihr: Knopf für Knopf. Als er sie dann küsst, träumt Annie schon von einer Zukunft mit dem Erben der Drummond-Dynastie - da erlebt sie ein jähes Erwachen …

LIEBE - WILD WIE DAS MEER
Jack Drummonds Duft nach Seeluft ist noch genauso unwiderstehlich wie damals. Sechs Jahre, nachdem der Schatzsucher Vicki verlassen hat, will sie mit ihm den versunkenen Pokal aufspüren. Der Finderlohn soll sie vor dem Ruin retten - doch wer rettet ihr Herz, wenn sie Jack noch einmal verliert?

MILLIARDÄR SUCHT TRAUMFRAU
Eine Ehe, um seinen Milliardendeal zu retten. Die Idee gefällt James Drummond. Genau wie die schöne Fiona. Auf seinem Schloss in den Highlands schlägt er ihr eine Zweckehe vor. Doch ehe Fiona Ja sagt, will sie eine Wette mit ihm abschließen - und der Einsatz ist weit höher, als James glaubt …


  • Erscheinungstag 13.09.2019
  • Bandnummer 137
  • ISBN / Artikelnummer 9783733713409
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jennifer Lewis

JULIA COLLECTION BAND 137

1. KAPITEL

„Bist du sicher, dass das hält?“

Annie versuchte, nicht auf Sinclair Drummonds höchst verführerische Rückseite zu starren, während er vor ihr die wackligen Stufen hinaufschritt.

„Nicht wirklich.“ Er drehte sich zu ihr um und lächelte, dass ihr die Knie weich wurden. „Vor allem nicht bei dem Fluch, der auf uns liegt.“

Annie seufzte und trat vorsichtig auf die erste Stufe der Holztreppe, die mehr einer Leiter glich.

Als seine Angestellte blieb ihr keine andere Wahl, als ihm auf den Dachboden der alten Scheune zu folgen. Die Scheune grenzte direkt an das Haus, sodass die Vorfahren der Drummonds nicht den starken Winden vom Long Island Sound ausgesetzt gewesen waren, wenn sie nach ihren Tieren gesehen hatten. Jetzt befanden sich außer altem Zaumzeug nur noch reichlich Spinnweben darin.

„Bist du schon mal oben gewesen?“, fragte sie. Sie selbst war erstaunlicherweise nie so weit vorgedrungen.

Er stieß die Bodenklappe auf. „Klar. Als Kind habe ich mich oft hier versteckt, wenn meine Eltern sich gestritten haben.“

Annie kannte Sinclairs Mom nur als ruhige und kultivierte Frau. Schwer vorzustellen, dass sie jemals die Stimme erhob. Der Vater war bereits vor vielen Jahren verunglückt.

„Ich glaube, seitdem war niemand mehr hier“, sagte Sinclair, während er den dunklen Dachboden betrat.

Erwartungsvoll folgte ihm Annie.

Sinclair schaltete das Licht ein. „Zum Glück funktioniert es noch. Ich habe keine Lust, bei Kerzenlicht hier herumzusuchen.“

Wegen des Regens, der aufs Dach trommelte, verstand Annie Sinclair nur schlecht, und sie beeilte sich, zu ihm zu kommen.

Im Schein der wenigen Glühbirnen schaute sie sich um. Überall standen Schachteln und Kisten, dazwischen alte Tische, Stühle und andere Möbelstücke. Eine Seite war durch große Überseekoffer mit Aufklebern von Dampfern fast völlig verstellt. So groß der Speicher auch war – vom Holzfußboden war wenig zu sehen.

„In drei Jahrhunderten sammelt sich so allerhand an“, bemerkte Annie lachend. „Wo fangen wir an?“ Sie konnte es kaum erwarten, sich mit den Dingen der Drummonds zu beschäftigen – dabei tat sie genau genommen den ganzen Tag nichts anderes. Aber natürlich waren Abstauben und Silberpolieren nicht halb so interessant wie das Herumstöbern in geheimnisvollen Koffern.

Sinclair hob den Deckel einer Truhe, in der sich säuberlich zusammengelegte Decken befanden. „Wenn ich das wüsste! Am besten einfach irgendwo – und dann können wir nur hoffen, dass wir fündig werden.“

Fasziniert sah sie zu, wie er sich die Ärmel über den muskulösen Unterarmen aufkrempelte. „Das Bruchstück des Pokals ist offenbar aus Metall“, fuhr er fort. „Vielleicht aus Silber, eher aber aus Zinn. Vom Material her ist es nicht wertvoll.“ Während er in der Truhe herumkramte, spannte das Hemd über seinem breiten Rücken.

Annies Herz schlug schneller. Warum musste ihr Boss nur so umwerfend gut aussehen? Das war nicht fair! Seit sechs Jahren arbeitete sie für ihn, und in dieser Zeit war er maskuliner geworden und damit noch attraktiver. Jetzt war er zweiunddreißig. In seinen dunklen Haaren zeigte sich nicht die kleinste graue Strähne – und das trotz seiner zwei Scheidungen.

„Und das Bruchstück soll verflucht sein?“ Sie unterdrückte ein Schaudern. Ihre irischen Vorfahren hätten sich bei dieser Gelegenheit bekreuzigt.

„Der Fluch liegt auf der Familie, nicht auf dem Pokal“, erklärte Sinclair. „Angeblich sollen dreihundert Jahre Pech enden, sobald die drei Teile dieses alten Pokals wieder zusammengesetzt werden – eigentlich haarsträubender Unsinn. Aber Mom ist ganz aufgeregt deswegen. Sie glaubt fest daran, dass sich dadurch alles ändert.“

„Ich bin froh, dass es ihr wieder besser geht. Hat man herausgefunden, warum sie so krank war?“

„So wie es aussieht, hat sie sich eine seltene Tropenkrankheit eingefangen, so etwas Ähnliches wie Cholera. Zum Glück hat sie überlebt! Jetzt habe ich sie hierher zur Erholung eingeladen.“

„Das freut mich sehr! Ich kümmere mich gern um sie.“

„Hoffentlich kann sie schon auf eigene Faust Nachforschungen anstellen, damit die Suche nicht an dir hängen bleibt.“

Schade. Also würde sie nicht den Sommer mit Sinclair auf dem Dachboden verbringen und zusehen, wie er mit seinen schönen kräftigen Händen Kisten und Kästen durchsuchte …

In gewisser Hinsicht waren sie einander fremd geblieben – trotz der sechs Jahre, die sie schon mit ihm zusammenarbeitete. Sie liebte es, mit ihm allein zu sein, ohne Gäste. Dann war er immer viel entspannter. Auf die Suche nach dem Pokal hatte sie sich besonders gefreut, weil sie sie als eine gute Gelegenheit erachtet hatte, ihren Boss noch besser kennenzulernen. Aber so wie es aussah, würde sie wohl ohne ihn hier oben unter dem Dachgebälk schwitzen. Trotzdem fand sie die ganze Geschichte überaus faszinierend.

Sie öffnete den Deckel eines großen runden Korbes, in dem ein zusammengerolltes dickes Seil lag. Während sie es betrachtete, stellte sie sich vor, wie es lange vor der Erfindung von Maschinen von Hand hergestellt worden war. Alle Dinge hier oben erzählten ihre eigene Geschichte. „Warum glaubt deine Mom, dass die Familie verflucht ist? Die Drummonds sind doch alle sehr erfolgreich.“

Schon nach einem Bruchteil ihres Reichtums würde sich ihre Familie die Finger lecken!

„Ja, wir sind all die Jahre gut zurechtgekommen. Aber eine alte Familienlegende hat Mom auf die Sache mit dem Fluch gebracht. Darum ist sie auch krank geworden.“

Er nahm ein Bündel Kleidung heraus, und Annie hatte die Gelegenheit, seine gut trainierten Beinmuskeln zu bewundern, die sich unter der Khakihose abzeichneten.

Wie ertappt zuckte sie zusammen, als er aufsah. „Und darum kann niemand von uns lange verheiratet bleiben.“ In seinen blaugrauen Augen lag Humor, gemischt mit einer Portion schlechten Gewissens. „Jedenfalls will sie unbedingt die drei Teile finden und zusammensetzen, damit sich alles zum Guten wendet.“

Er legte die Kleider zurück in die Truhe und schloss den Deckel. „Natürlich glaube ich nicht an den Fluch. Aber ich würde alles tun, damit sie wieder gesund wird. Und weil die Geschichte sie so sehr fasziniert, habe ich versprochen, ihr zu helfen.“

„Das ist lieb von dir.“

„Nicht wirklich.“ Angespannt fuhr er sich durch die Haare. „Solange sie abgelenkt ist, nervt sie mich wenigstens nicht damit, dass ich ein drittes Mal heiraten soll.“

Annie hatte zähneknirschend mitverfolgt, wie sich seine zweite Frau an ihn herangemacht hatte.

Noch einmal würde sie das nicht aushalten. „Wahrscheinlich wünscht sie sich Enkelkinder.“

„Ja, vermutlich. Nur warum? Um den Fluch an die nächste Generation weiterzugeben?“ Er lachte jungenhaft.

Auch Annie musste lachen.

Klar wollte seine Mom Enkel zum Verwöhnen. Aber wenn Sinclairs Geschmack sich nicht änderte, würde es nie so weit kommen. Seine zweite Frau, Diana Lakeland, hätte nie ihre Figur für eine Schwangerschaft aufs Spiel gesetzt.

Sie hatte Sinclair, der zu New Yorks begehrtesten Junggesellen gehörte, nur wegen seines Reichtums und Ansehens geheiratet. Als sich herausgestellt hatte, dass er nicht mit ihr um den Erdball jetten wollte, um jeden Abend Partys zu besuchen, war sie seiner schnell müde geworden.

Wenn er doch einsehen würde, dass er sich an diese verwöhnten Prinzessinnen nur verschwendete! Sagen konnte sie ihm das ja leider nicht. Zwar gehörte es zu ihrem Job, sich freundlich, ja mitunter sogar vertraut zu zeigen. Aber sie wusste genau, wo die Grenze zwischen einem professionellen und persönlichen Verhältnis lag.

Seufzend schloss sie den Korb und nahm aus einem der Regale eine Holzschatulle. Darin befanden sich kostbare Haarspangen aus Schildkrötenpanzer und Knochen. Wie alt die wohl waren? Wie ihre Besitzerin wohl ausgesehen hatte?

„Mich erinnert das Ganze an die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Interessant ist es allerdings schon. Wem hat denn der Pokal gehört?“

„Ursprünglich stammen die Drummonds aus den schottischen Highlands. Gaylord Drummond war ein Spieler und Trinker und hat im Jahr 1712 den Familienbesitz verloren. Seinen drei Söhnen blieb nichts anderes übrig, als nach Amerika auszuwandern. Als ihr Schiff angelegt hatte, haben sie offenbar den Pokal zerlegt, sodass jeder ein Stück davon bekam. Dann gingen sie getrennte Wege. Sie wollten ihr Glück versuchen und sich später wieder treffen. Einer von ihnen blieb hier in Long Island und wurde Farmer. Er hat dieses Haus gebaut.“

„Das erklärt, warum das Grundstück so groß ist. Trotz der unbezahlbaren Lage hier am Wasser.“ Im Lauf der Jahre war das Farmhaus zu einem exklusiven Cottage mit vielen Giebeln und Veranden ausgebaut worden. Aus dem einstigen Kartoffelacker war längst eine makellose Rasenfläche geworden. Zum Anwesen gehörten weitläufige Obstgärten mit Apfel-, Birnen- und Pfirsichbäumen.

Dog Harbor, einst ein verschlafenes Städtchen, lag nun im Einzugsgebiet von New York City. Einer der Vorfahren hatte nach dem Krieg Land für den Bau von Reihenhäusern verkauft, aber Sinclairs Vater hatte es mit erheblichen Kosten zurückerworben und wieder begrünt.

Hundert Meter vor dem Haus spülte das kühle Wasser des Long Island Sounds gegen einen gepflegten Kiesstrand.

Sinclair lachte. „Ja. Aus dem einstigen Bauernhof ist eine richtig wertvolle Immobilie geworden.“

„Was ich nicht verstehe, ist … Wie zerlegt man so einen Pokal?“

„Meine Mutter sagt, er war von vornherein so konstruiert. Vermutlich handelt es sich um einen alten Abendmahlskelch, den man auf diese Art vor Wikingern oder Reformern versteckt hat, je nachdem in welcher Zeit das war. Die Geschichte wurde von Generation zu Generation weitergegeben, obwohl niemand weiß, was mit den Teilen passiert ist. Mom hat inzwischen Nachkommen der Brüder aufgespürt und Kontakt zu ihnen aufgenommen.“

„Ist ja aufregend. Eine gute Gelegenheit, die Familie wieder zusammenzuführen.“

Sinclair zuckte mit den Schultern. „Von den anderen Drummonds habe ich nicht viel Gutes gehört. Ich glaube, wir sind alle so veranlagt, dass wir am liebsten nur für uns bleiben.“

„Du nicht“, entfuhr es Annie und zuckte erschrocken zusammen.

Auf keinen Fall durfte er merken, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte! „Jedenfalls nicht immer“, schränkte sie ein. Sie spürte, wie sie rot wurde, und machte sich in einer dunklen Ecke an einer Schublade zu schaffen. „Und wo leben die anderen Drummonds?“

„Einer der Brüder wurde Pirat an der Ostküste und in der Karibik. Ein Nachkomme von ihm lebt auf einer Insel vor Florida. Aber Jack Drummond ist selbst ein bekannter Schatzsucher – also wird er uns kaum bei unserer Suche helfen.“

„Vielleicht macht er es für die Familie.“

„Wohl kaum. Der andere Bruder von damals kam in Kanada zu Geld. Dann ist er wieder nach Schottland und hat den Familienbesitz zurückgekauft, wo sein Nachkomme heute noch wohnt. Allerdings hat James Drummond noch nicht auf Moms E-Mails reagiert. Aber ich kenne Mom, sie wird nicht lockerlassen.“

Er nahm eine Schachtel von einem Schrank. „Viele Drummonds scheint es nicht zu geben. Sieht so aus, als hätte die Familie immer nur wenige Kinder gehabt. Oder die Menschen sind jung gestorben. Vielleicht ist an dem Fluch doch etwas dran.“

War Sinclair verflucht? Nein, das Gegenteil war der Fall. Immerhin führte er ein wunderbares Leben! Abwechselnd bewohnte er sein Penthouse in Manhattan und eins seiner anderen zahlreichen Häuser.

Annie sah ihn nur an wenigen Wochenenden und im Sommer für ein paar Wochen. Das reichte, um ihren Träumen neue Nahrung zu geben – aber nicht, um Sinclair wirklich kennenzulernen, seine Geheimnisse, Leidenschaften und Sehnsüchte … Aber natürlich ging sie, die Haushälterin, all das nichts an.

„Manches ist wirklich zu schade, um hier oben herumzuliegen“, sagte sie und hielt eine Servierplatte aus Porzellan hoch. „Schau mal, die wäre was für eine Antiquitätenshow im Fernsehen.“

„Damit sich herausstellt, dass sie in den Fünfzigerjahren bei Woolworth gekauft wurde?“, fragte er lächelnd. Er öffnete einen Koffer, der größer und augenscheinlich auch älter war als die anderen.

„Wow, was für ein schöner Stoff!“ Sie trat neben Sinclair – und versuchte dabei, seinen unwiderstehlichen Duft zu ignorieren. Vorsichtig strich sie über die feine Spitze. „Sieht überhaupt nicht getragen aus.“ Sie nahm das Kleid heraus, offenbar ein Nachthemd. „Wem das wohl gehört hat?“

„Keine Ahnung. Ich habe mich hier oben immer nur mit dem Jungenspielzeug beschäftigt.“ Er grinste. „Die Mädchensachen haben mich nie interessiert.“

„Schau dir das an!“ Im Koffer lag ein sorgfältig gearbeitetes Mieder aus grünem Satin, das rot und golden eingefasst war. Es sah aus wie neu. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“

Sinclair nahm das Kleidungsstück heraus und hielt es hoch – ein wunderschönes Ballkleid.

„Sagenhaft. Und erst das blaue darunter!“ Es war ein herrliches pfauenblaues Seidenkleid mit Perlenstickerei. „Die Kleider gehören eigentlich ins Museum.“ Eine Schande, sie hier oben verstauben zu lassen. „Komm“, schlug sie vor, „wir bringen sie ins Haus und hängen sie ordentlich auf.“

„Meinst du?“, fragte er wenig begeistert. Verständlich, denn ihm ging es ja in erster Linie um den Pokal. „Also gut. Machen wir“, setzte er verbindlicher hinzu.

Hatte er etwa ihre Enttäuschung bemerkt? Sie freute sich darüber und lächelte. „Super. Ich nehme so viele, wie ich tragen kann.“

Ohne zu zögern, schritt Sinclair mit einem Arm voll Kleider die wacklige Treppe hinunter. Annie, ebenfalls schwer beladen, folgte ihm vorsichtig. „Hängen wir sie in den großen Schrank im vierten Gästezimmer. Dort ist Platz, seit deine Mom ihre Pelzmäntel weggegeben hat.“

Im Gästezimmer angekommen, legten sie ihre Last auf das breite Doppelbett. „Ich kann nicht glauben, wie sorgfältig die Stoffe gewebt und die Kleider geschneidert sind.“

„Das hat sicher lange gedauert. Jedes ist ein Kunstwerk für sich.“

„Ich glaube, normale Leute sind mit solchen Kostbarkeiten nicht in Berührung gekommen.“ Beinah andächtig strich sie über ein silbergraues Kleid. „Außer als Bedienstete, wenn sie beim Ankleiden geholfen haben.“

Das wäre ihr Job gewesen, wenn sie damals gelebt hätte. Und im Grunde war er es noch heute – in einer Zeit, in der die meisten Frauen ihr Geld in Büros verdienten. „Das ist wirklich ein traumhaftes Kleid.“ Sie seufzte.

„Warum probierst du es nicht an?“

„Ich? Das geht doch nicht! Erstens sind das Museumsstücke, und zweitens bin ich nicht dünn genug.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Was deine Figur angeht, meine ich.“ Einen Moment betrachtete er ihre Taille.

Gebannt hielt Annie die Luft an. Das hatte er noch nie getan.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Gewiss konnte sie die Kleider auch zu einem späteren Zeitpunkt anprobieren, wenn sie allein im Haus war. Aber wenn sie dabei verknitterten oder sonst wie zu Schaden kamen, würde es auffallen. Nein, jetzt war ihre Chance! „Na ja …“ Während sie noch überlegte, zog sie vorsichtig das pfauenblaue Kleid heraus.

„Ich dreh mich um, bis du meine Hilfe beim Zuknöpfen brauchst“, bot Sinclair diskret an und ging zum Fenster am anderen Ende des Zimmers.

Annie konnte es nicht glauben. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie damit eine Grenze überschritten. Sinclair ließ sie die Kleider anprobieren! Was hatte das zu bedeuten?

Nichts. Das hat er nur gesagt, weil er glaubt, dass es mir Spaß macht. Kein Grund, völlig aus dem Häuschen zu geraten.

Überhaupt sollte sie es besser sein lassen. Was, wenn dabei womöglich noch ein Saum abriss? „Bestimmt braucht man das passende Korsett dazu, um überhaupt …“

„Willst du etwa lieber weiter nach dem Pokal suchen?“

Sie zögerte, dann gab sie sich geschlagen. „Also gut.“

Lächelnd nickte Sinclair. Dann drehte er sich um.

Wie süß, dass er ihr erlaubte, etwas aus seinem Familienbesitz anzuziehen. Ohne Zögern entschied sie, bei dem pfauenblauen Kleid zu bleiben. Die Länge stimmte in etwa, und vielleicht würde es sogar in der Taille passen.

Während sie die Bluse aufknöpfte, war sie sich sicher, dass Sinclair auch wirklich wegschaute. Schließlich konnte er reihenweise Frauen haben, ohne sich besonders anstrengen zu müssen.

Sie streifte die Hose ab und zog das Kleid an. Es war ein bisschen zerknittert, weil es so lange zusammengefaltet gewesen war, und roch leicht nach Kampfer. Doch davon abgesehen wirkte es wie neu. Die Perlen berührten ihre Haut, als sie mit den Armen in die kurzen gebauschten Ärmel schlüpfte. Da der weite Ausschnitt den Blick auf ihren BH freigab, beeilte sie sich, den Büstenhalter durch einen der Ärmel loszuwerden.

Als sie mit dem Zuknöpfen halb fertig war, erkundigte sich Sinclair, ob sie Hilfe brauchte.

„Es sind höchstens noch hundert Stück“, scherzte sie und lächelte. Sie fühlte sich prächtig, wie eine richtige Prinzessin. Der Saum bedeckte den Boden – klar, es fehlten noch die hohen Schuhe.

„Wow.“ Sinclair hatte sich umgedreht und starrte sie an. „Annie, du siehst ja umwerfend aus.“ Während er sie von oben bis unten betrachtete, bemerkte sie, wie sich seine Pupillen weiteten. „Ganz anders als sonst.“

Durch den Raum kam er auf sie zu und trat hinter sie, um die restlichen Knöpfe zu schließen. „Es passt genau.“

„Komisch, nicht wahr?“ Auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ, insgeheim fühlte sie sich aufgedreht wie ein kleines Mädchen, das Verkleiden spielte. Dass sie Sinclairs Hände auf der Haut spürte, machte die Aufregung noch größer. „Die Menschen vor zweihundert Jahren haben nicht so viel anders ausgesehen als wir.“

„Nein, haben sie nicht“, bestätigte er. Seine Stimme klang tiefer als sonst.

Er hatte das Kleid fertig zugeknöpft und betrachtete sie eingehend.

Befangen strich sie sich eine Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte.

„Du siehst gut aus mit hochgesteckten Haaren.“

„Ich trage mein Haar immer hochgesteckt.“

„Wirklich? Keine Ahnung, warum mir das noch nie aufgefallen ist.“

Sie spürte, wie ihr unter seinem Blick heiß wurde. „Muss am Kleid liegen.“

„Wahrscheinlich. Wenn du normal angezogen bist, sieht man gar nicht, was du für eine gute Figur hast.“

Welch ein Kompliment! Als sie tief einatmete, wurden ihre Brüste gegen das enge Oberteil gedrückt, das dadurch wie ein Büstenhalter wirkte – fast wie ein Wonderbra. „Komisch, so ein Dekolleté hatte ich noch nie.“ Nervös lachend versuchte sie, das eben Gesagte zu überspielen, aber Sinclair sah sie so ernst an, dass sie verstummte.

„Es steht dir“, stellte er fest. „Du solltest dich öfter so schön anziehen.“

„Dazu fehlt mir die Gelegenheit.“ Sie blickte in den Spiegel. In dem langen Kleid sah sie wirklich eindrucksvoll aus, und die spektakuläre blaue Farbe zauberte rotgoldene Reflexe in ihr Haar.

Mit seinen breiten Schultern verdeckte Sinclair ihr Dekolleté, das er voller Bewunderung betrachtete. Durch die veränderte Perspektive im Spiegel sahen sie beide aus … wie ein Paar.

Als ob das jemals wahr werden könnte …

Wieder versuchte sie zu lachen, und wieder gelang es ihr nicht wirklich. Plötzlich fühlte sich die Luft im Zimmer drückend heiß an.

Sinclair stand angespannt und mit gerunzelter Stirn da.

Wortlos schauten sie einander an. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei …

Dann zog er sie in die Arme und küsste sie.

Nach sechs langen Jahren, in denen sie sich heimlich nach ihm gesehnt hatte, konnte Annie nicht anders, als bereitwillig die Lippen zu öffnen. Sie schmolz förmlich dahin. Es wurde ein Kuss wie ein starker Cocktail, der schlagartig den ganzen Körper erwärmte.

Als ihre Zungen sich berührten, wurde Annie derart von ihren Emotionen überwältigt, dass sie fürchtete, die Knie würden unter ihr nachgeben. Fest schlang sie Sinclair die Arme um den Nacken. Nie hatte sie damit gerechnet, dass sie ihm jemals so nah sein würde.

Er roch männlich und sehr einladend. Seine Wange an ihrer fühlte sich rau an. Zärtlich strich er ihr durch die Haare und löste den Knoten.

Als er dabei aufstöhnte, wurde auch sie von einem Lustgefühl durchströmt, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Sein Sehnen übertrug sich unmittelbar auf sie. Sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Ohr.

Was tun wir da!

Der Gedanke drang nur vage in ihr Bewusstsein; fast war es, als ob jemand anders ihn dachte. Seufzend fuhr sie durch Sinclairs dichte dunkle Haare, die sich glatt wie Seide anfühlten.

Sinclair ließ die Hände an ihrem Rücken tiefer gleiten und umfasste ihre Pobacken. Sein Atem ging stoßweise und gab seinen Küssen etwas Fieberhaftes, Verzweifeltes.

Ich küsse Sinclair.

Statt sich durch diese Tatsache alarmiert zu fühlen, konnte Annie ihr Glück kaum glauben. Wie oft hatte sie nachts wach gelegen und sich genau das ausgemalt!

Die Küsse waren leidenschaftlicher als in ihrer Fantasie, voller Sehnsucht und intensiver, als sie je zu träumen gewagt hatte.

Aufstöhnend zog Sinclair sie fester an sich, und sie spürte deutlich das Anzeichen seiner Erregung, den unwiderlegbaren Beweis, wie sehr er sie begehrte – sie! Rau flüsterte er ihren Namen.

Eilig zog sie ihm das Hemd aus der Hose und streichelte die nackte warme Haut.

Sie hatte ihn schon öfter mit nacktem Oberkörper gesehen, aber die festen Muskeln berühren zu dürfen, seine Kraft unter den Fingern zu spüren, das war etwas ganz anderes.

Hastig öffnete er die Knöpfe des Kleides, die sie gerade eben erst geschlossen hatten. Gespannt hielt Annie den Atem an.

Aber … sollte sie sich tatsächlich von ihm ausziehen lassen? Ihr ganzer Körper gab ihr darauf eine unmissverständliche Antwort. Sinclair musste seine Gefühle ebenso verborgen haben wie sie selbst. Seltsam, dass sie nichts davon bemerkt hatte.

Im ersten Moment kitzelte es, als er die Hand unter das Kleid schob und ihren Rücken streichelte. Dann fühlten sich seine Finger auf der Haut warm an, verführerisch und gefährlich.

Sie erbebte, als er ihr das Kleid über die Hüften nach unten zog und voller Bewunderung ihre Brüste betrachtete. Dabei fiel ihm völlig untypischerweise eine dunkle Haarsträhne in die Stirn.

Eigentlich schade, das Kleid jetzt schon wieder auszuziehen! schoss es ihr durch den Kopf. Andererseits … seinen Zauber hatte es bereits gewirkt. Schon nach diesen wenigen Minuten …

Sie schritt über das Kleid hinweg und knöpfte Sinclair das Hemd auf. Als sie es ihm über die Schultern gestreift hatte, sog sie scharf die Luft ein. Seine breite Brust mit den dunklen Härchen bot einen wirklich atemberaubenden Anblick.

In diesem Moment kannte ihre Erregung keine Grenzen mehr. Hastig wollte sie seinen Gürtel öffnen. Aber das Leder war steif, und Sinclair lenkte sie ab, weil er an ihrem Ohr knabberte.

Sie spürte, wie er die Hände in ihren Slip schob, und wünschte insgeheim, ein ansprechenderes Modell zu tragen – und nicht einen ihrer bewährten Baumwollschlüpfer. Was würde Sinclair wohl dazu sagen?

Aber ihn schien das gar nicht zu interessieren. Schwer atmend bedeckte er ihren Hals und Nacken mit Küssen.

Nachdem sie seinen Gürtel geöffnet hatte, bemühte sie sich mit zitternden Fingern, den Reißverschluss der Hose aufzuziehen. Als sie es geschafft hatte, wurde sie von dem Anblick seiner eindrucksvollen Erektion belohnt.

Auch ihr eigener Atem kam jetzt nur noch stoßweise.

Sie konnte es kaum erwarten, sich an ihn zu schmiegen. Gemeinsam zogen sie ihm die Hose aus. Dann standen sie sich gegenüber, nur ein paar Handbreit voneinander entfernt. Besser als Sinclair konnte ein Mann nicht aussehen.

Annie schluckte. Würden sie sich jetzt lieben? Alles deutete darauf hin.

Mit geschlossenen Augen stand Sinclair vor ihr und streichelte sie. Vorsichtig küsste sie ihn auf den Mund. Wie konnte sich ein ganz gewöhnlicher Tag zu etwas so Besonderem und Wundervollem entwickeln? Vielleicht hatte es etwas mit dem geheimnisvollen Pokal zu tun?

Oder mit dem Fluch?

Der Hauch eines plötzlichen Zweifels wehte sie an wie ein kalter Luftzug. Immerhin war der Mann ihr Boss! Andererseits war es ohnehin zu spät, um jetzt noch aufzuhören. Sie standen nackt im Gästezimmer; ihre Kleidung hatten sie achtlos auf dem Boden verstreut.

Außerdem wollte sie nicht, dass es endete, im Gegenteil: Diesen Moment nie erwarteter Intimität wollte sie bis zur Neige auskosten, um für ewig davon zu zehren.

Sollte sie ihm sagen, dass sie geschützt war? Dass sie eine Hormonspirale trug, die ihre heftigen Monatsblutungen lindern half?

Sie entschied sich, nichts zu sagen, um den kostbaren Augenblick nicht zu zerstören.

„Annie“, stöhnte Sinclair, „oh Annie.“ Wie herrlich ihr Name aus seinem Munde klang!

Kein Zweifel, er begehrte sie so sehr wie sie ihn. Sie konnte es nicht erwarten, ihn zu spüren.

Im nächsten Moment lagen sie im Bett, und er drang behutsam in sie ein. Dabei küsste er sie unentwegt.

Annie war zwar keine Jungfrau mehr, hatte aber keine große sexuelle Erfahrung. Das, was sie jetzt mit Sinclair erlebte, war ihr völlig neu. Derart intensive Gefühle hatte sie niemals zuvor erlebt.

In höchster Erregung grub er ihr die Finger ins Fleisch, während er sie gleichzeitig küsste und in die Lippen biss, dass sie vor Lust stöhnte. Sie hatte ihn schon immer sehr anziehend gefunden, aber dass er eine so animalische Seite besaß, hätte sie nie vermutet. Eher war er ihr etwas altmodisch und zurückhaltend erschienen. Aber offensichtlich war es an der Zeit, ihr Bild von Sinclair Drummond zu korrigieren.

Einfühlsam liebkoste und reizte er sie, bis sie es fast nicht mehr aushielt, veränderte seine Position und steigerte ihre Lust ins Unermessliche. Ihn so atemlos vor Begierde nach ihr zu sehen – und zu spüren – machte sie fast verrückt.

„Oh Annie.“ Wieder hörte sie ihn ihren Namen flüstern. Konnte ausnahmsweise die Realität schöner sein als alle Fantasie?

Sie spürte ihn in sich und fühlte sich eins mit ihm, vereinigt und verschmolzen zu einem einzigen Wesen.

„Oh Sin.“ So hatte sie ihn in ihren Träumen oft genannt und sich dabei vorgestellt, es wäre ihr ganz besonderer Kosename für ihn. Als wäre er ein Adliger aus einem ihrer Lieblingsromane. Dass sie diese Kurzform jetzt tatsächlich ausgesprochen hatte und sie sich noch dazu völlig natürlich anhörte, ließ sie fast auflachen vor lauter Glück.

Sin. Sünde. Genau das war es vermutlich. Aber es fühlte sich so gut an, dass es nicht völlig falsch sein konnte. Sinclair küsste sie, dass ihr Hören und Sehen verging und sie sich ganz ihren ekstatischen Empfindungen überließ. Wie im Rausch klammerte sie sich an ihn.

Oh Gott. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Das musste der berühmte, in Zeitschriften oft so blumig beschriebene Höhepunkt sein!

Sinclair stöhnte auf, ließ sich gegen sie sinken und rang nach Atem. Im nächsten Moment rollte er sie beide herum, sodass sie auf ihm lag. Fest hielt er sie umarmt.

„Verdammt“, stieß er hervor, dann noch einmal leiser: „Verdammt.“

2. KAPITEL

Sinclair zog die wunderbare Frau fester in die Arme. Ihre rotblonden Haare berührten sein Gesicht. Unter dichten Wimpern hervor sah sie ihn aus hellblauen Augen an und lächelte schüchtern. Er küsste sie, und ihre Lippen waren weich wie Samt …

Er fühlte sich unendlich erleichtert. Offenbar hatte seine zweite Scheidung doch einige Nerven gekostet. So entspannt wie jetzt im Moment war er lange nicht gewesen.

Vorsichtig küsste er Annie auf die Wange mit den reizenden Sommersprossen. „Du bist ein Wunder“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Die angenehme Schwere ihres Körpers, ihr liebenswürdiges Lächeln – welch ein Zauber ging von ihr aus.

Tief seufzte er auf. Das Leben konnte so kompliziert sein, dabei reichte es manchmal, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Versonnen spielte er mit einer Strähne ihres glänzenden Haars.

„Das war unerwartet.“

Ihre Stimme klang wie Musik in seinen Ohren. „Allerdings“, stimmte er zu. „Und wunderschön.“

„Ja. Nur habe ich meinen Rinderbraten total vergessen. Wie viel Uhr ist es?“

Rinderbraten? Sinclair zog die Hand unter ihrem Rücken hervor und schaute auf die Armbanduhr. „Fast fünf.“

Fünf Uhr nachmittags. Ein Rinderbraten, der vor sich hin schmorte. Sinclair spürte, wie er sich verspannte. Der Alltag hatte ihn wieder, ob es ihm passte oder nicht. Es war keine Fee, mit der er hier auf der weichen Matratze lag, sondern Annie Sullivan, seine langjährige Haushälterin.

„Was hast du?“, fragte sie besorgt.

Seine Anspannung verstärkte sich. Wie war das nur geschehen? Hatte er sie tatsächlich geküsst und ins Bett gezogen? Aus reiner Lust? War er denn nicht bei Verstand gewesen? Seine Freunde hatten ihn davor gewarnt, dass zu lange Enthaltsamkeit einen Mann verrückt machen konnte.

Und jetzt lag er nackt und erschöpft neben einer Frau, deren Figur sich als atemberaubend attraktiv erwiesen hatte – und die normalerweise sein Silber polierte.

Er ließ den Kopf auf das Kissen sinken. Vermutlich hatten sich seine Vorfahren dem weiblichen Personal gegenüber genauso benommen – und er selbst hatte es nun nicht besser gemacht. Ein weiterer Beweis dafür, dass Lügen, Betrug und Untreue bei den Drummonds in der Familie lagen.

Annie war sein Stimmungsumschwung nicht entgangen. Auch sie hatte sich merklich verspannt. Schnell rückte sie von ihm ab und rollte zur Seite.

Dabei war die dünne weiße Bettdecke um sie geschlungen; Sinclair zog sie weg und über sich, um nicht nackt dazuliegen. Eine wenig ritterliche Geste, wie er sofort feststellte. „Bitte entschuldige.“

Annie wurde über und über rot und schlang nervös die Tagesdecke um sich.

Sinclair schämte sich bis ins Mark, dass er mit einer so sympathischen Frau einfach so ins Bett gegangen war. „Ehrlich … ich weiß gar nicht, was über mich gekommen ist.“ Er setzte sich auf und stützte den Kopf in die Hände.

Verhütung!

„Ich weiß nicht, ob du die Pille nimmst …“ Wie gänzlich unromantisch sich das anhörte! Unbehaglich zog er die Bettdecke höher.

„Die Pille nicht, aber etwas anderes“, sagte sie leise. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, die Tagesdecke um sich geschlungen.

Bisher war ihm ihre schöne weibliche Figur überhaupt nicht aufgefallen, weil er sie nur in Blusen oder Sweatshirts und weiten Khakihosen kannte. Das allerdings hatte sich jetzt gründlich geändert. Beim bloßen Gedanken an ihre sexy Rundungen überlief ihn heißes Begehren. Vorsichtshalber zog er die Bettdecke noch ein Stück höher.

Annie war gerade dabei, sich wieder anzuziehen. Mit flinken Fingern knöpfte sie sich die Bluse zu.

Sinclair schaute absichtlich nicht hin und verwünschte insgeheim den Teufel, der ihn geritten hatte. Ab jetzt würde er mehr Sport treiben und regelmäßig kalt duschen, damit so etwas nicht noch einmal vorkam. Schlimm genug, dass ihm das in seinem eigenen Hause passiert war. Aber was, wenn er sich plötzlich auch im Büro so benahm? Wer würde sein nächstes Opfer sein? Seine Sekretärin? Oder die Empfangsdame?

Er fluchte, und Annie zuckte zusammen. Sofort begriff er, dass er sie damit erst recht verletzt hatte. „Sorry, der Fluch hat mir selbst gegolten. Ich weiß wirklich nicht, was los war.“

„Geht mir genauso“, sagte sie leise und hob das pfauenblaue Kleid auf. „Ich hänge es in den Schrank.“ Ihre Stimme verriet keinerlei Gefühle, und ihre herrliche Figur war wieder unter der üblichen Kleidung versteckt.

Sinclair atmete tief ein. Er musste so schnell wie möglich hier weg. Nach Manhattan, sich in die Arbeit flüchten …

Als Annie das Zimmer verlassen hatte, stand er auf und zog sich an. Er bückte sich, um die Schuhe anzuziehen, und sah dabei ihr Haargummi auf dem Boden liegen. Sie musste es verloren haben, als sie beide … Wieder fragte er sich, wie es so weit hatte kommen können, legte er doch in allen Lebenslagen Wert darauf, die Selbstbeherrschung zu wahren. Dass dieses Prinzip versagt hatte, verwirrte ihn zutiefst.

Er betrachtete die Kleider, die auf einem Sessel lagen. Die kostbaren Stoffe wirkten eigentümlich leblos – kein Vergleich zu dem Eindruck, den das pfauenblaue Kleid an Annie mit ihren schönen Kurven gemacht hatte …

Wieder fluchte er. Ja, er musste verrückt geworden sein, eine andere Erklärung gab es nicht. Schnell zog er sich fertig an und ging aus dem Zimmer. In der Halle war es still, der Holzboden schimmerte in der Vormittagssonne. Von Annie war nichts zu sehen. Zu ihren Stärken als Haushälterin gehörte auch die Kunst, sich diskret zurückziehen. Und ebenso, im richtigen Moment wieder aufzutauchen.

Überhaupt besaß sie Vorzüge, die ihm besser verborgen geblieben wären … zum Beispiel wie samtweich sich ihre Haut anfühlte. Oder wie süß ihre Küsse schmeckten. Oder dass ihre hellblauen Augen dunkler wurden, wenn sie erregt war.

Wenn er am Wochenende herkam, nahm er kaum etwas mit. Hier trug er meist nur Freizeitkleidung, von der er genug im Schrank hatte. Alles, was er brauchte, waren seine Brieftasche und die Schlüssel, die wie gewöhnlich auf dem Schreibtisch lagen.

Er nahm sie an sich, und erleichtert verließ er das Haus durch die Seitentür, wo sein Wagen stand.

Mit Höchstgeschwindigkeit kehrte er in sein normales Leben zurück.

Als Annie das Reifengeräusch auf dem Kiesweg hörte, wusste sie, dass eingetreten war, was sie gehofft und befürchtet hatte: Sinclair war weg. Einen Moment lehnte sie sich gegen den Pfosten ihres Bettes, aber ihre widerstreitenden Gefühle beruhigten sich nicht so schnell.

Noch immer erschien es ihr, als ob sie Sinclairs Liebkosungen spürte. Nur wenige Minuten lag es zurück, dass er sie zu ungeahnten emotionalen Höhen geführt hatte.

Sie schloss die Augen. Wieso war das passiert? Und warum ausgerechnet jetzt, da alles seinen geregelten Gang ging? Jeden Monat legte sie einen ansehnlichen Betrag zurück, um sich eines Tages ein eigenes Zuhause leisten zu können. So wie das Haus der Drummonds, nur viel kleiner. Das würde ihr ein Mindestmaß an Unabhängigkeit garantieren.

Sogar einen weiteren Job hatte sie inzwischen, wenn auch mehr zum Spaß: Sie häkelte Armbänder und Schals, die sie im Internet verkaufte. Wer weiß, vielleicht würde sie eines Tages selbstständig sein? Mit einem eigenen Laden?

Natürlich klappte das mit dem Nebenverdienst nur, weil sie den überwiegenden Teil der Zeit allein verbrachte. Denn die Drummonds hielten sich meist in Manhattan auf oder wohnten in einem ihrer anderen Häuser.

Annies Job war ein Traum, wenn man Ruhe und Frieden suchte – als Gegenleistung für etwas Staubwischen und Wäschewaschen. Noch dazu war er gut bezahlt, und sie war sozialversichert. Eigentlich fast unglaublich …

Und jetzt hatte sie sich all das kaputt gemacht.

Sie blickte hinaus auf den grauen, von alten Eichen gesäumten Kiesweg. Nein, von Sinclair war weit und breit nichts mehr zu sehen. Er war in sein anderes Leben zurückgekehrt – und zu den zahlreichen Frauen, die ihn zweifelsohne bereits erwarteten. Tief atmete sie ein und ging in die Halle.

Ihr Zimmer lag im Erdgeschoss, in der Nähe der Küche, ziemlich weit weg von den Suiten der Familie. Das Haus war leer und ruhig wie immer, aber die normalerweise so friedvolle Atmosphäre schien allgegenwärtiger Reue gewichen zu sein.

Sie betrat das vierte der Gästezimmer, das selten genutzt wurde … in dem sie …

Beim Anblick des zerwühlten Bettes wurde ihr das Herz schwer. Ein Kopfkissen lag auf dem Boden, die Decke war achtlos ans Ende der Matratze geschoben.

Ihr Blick fiel auf den Sessel mit den Kleidern. Und auf den Schrank, dessen Tür offen stand. Darin hing das Kleid, das sie zuerst angezogen und das Sinclair ihr gleich darauf wieder ausgezogen hatte. Es sah völlig unschuldig aus. Wie sollte auch ein Kleid für das verantwortlich sein, was sie getan hatten?

Zwei bestickte Dekokissen waren im Rausch der Leidenschaft ebenfalls auf dem Boden gelandet. Nur – woher war diese plötzliche Leidenschaft gekommen?

Seit sie hier arbeitete, drehten sich ihre Träume und Fantasien um Sinclair. Kein Wunder. Er war groß, dunkelhaarig, attraktiv – und unglaublich reich. Darüber hinaus benahm er sich stets wie ein vollendeter Gentleman. Ein Kavalier der Neuzeit, höflich und rücksichtsvoll. Wie sollte sie da nicht von ihm träumen?

Sie hob die Zierkissen hoch und schüttelte sie auf. Dann zögerte sie. Auf das Durcheinander des Bettes wollte sie sie nicht legen; es musste abgezogen und die Wäsche gewaschen werden. Schnell räumte sie die kleinen Kissen in den Schrank.

Der Impuls, noch einmal Sinclairs Duft zu riechen, ließ sich nicht unterdrücken. Sie hob das Kopfkissen vom Boden auf und steckte die Nase hinein. Und wirklich, der weiße Baumwollstoff ließ Sinclairs angenehm männlichen Duft noch erahnen. Mit geschlossenen Augen träumte sie sich zurück in seine Arme.

Schluss jetzt! ermahnte sie sich. Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein! Jetzt dachte er bestimmt, sie gehörte zu den Frauen, die für einen Mann schnell zu haben waren. Und in der Tat, mehr als fünf Minuten waren vom Anziehen des Kleides bis zum heißen Sex nicht verstrichen. Viel schneller ging es nicht.

Sie schüttelte den Kopf und zog den Kissenbezug ab. Würde sie Sinclair je wieder ins Gesicht sehen können?

Zu Annies großer Erleichterung kam Sinclair auch am folgenden Wochenende nicht. Weisungsgemäß ging sie weiter die Sachen auf dem Speicher durch. Inzwischen hatte sie so viel Interessantes gefunden, dass sie sich entschlossen hatte, ein Bestandsverzeichnis anzulegen. Nach wie vor war sie der Ansicht, dass vieles davon zu schade zum Verstauben war. Vom Bruchstück des Pokals allerdings keine Spur …

Im Verzeichnis ließ sich auch nachverfolgen, wie viel sie bisher durchgesehen hatte. Bei der Menge der Dinge fiel das am Dachboden selbst fast nicht auf. Und sie wollte nicht, dass Sinclair glaubte, dass sie nachlässig wurde, weil sie mit ihm geschlafen hatte.

Die Erinnerung daran bedrückte sie. Er hatte nicht angerufen, aber wozu auch? Schließlich hatte er sich bereits für den Vorfall entschuldigt. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

Tief im Herzen freilich war sie anderer Meinung, aber sie vermied es, sich falschen Hoffnungen hinzugeben. Ein Mann wie Sinclair Drummond konnte niemals echte Gefühle für sie hegen.

Nicht nur, dass er weiß Gott mehr als genug Geld und Sachwerte geerbt hatte – zusätzlich hatte er mit einem eigenen Hedgefonds Millionen gemacht. Das hatte sie in den entsprechenden Finanzzeitschriften gelesen. Was genau ein Hedgefonds allerdings war, wusste sie noch immer nicht.

Sinclair hatte die Princeton University erfolgreich abgeschlossen, und sie selbst besaß nur einen einfachen Schulabschluss. Er war zweimal verheiratet gewesen, während sie es noch nicht mal zu einer festen Beziehung gebracht hatte.

Sie hatten buchstäblich nichts gemeinsam, außer dass sie hier in seinem Haus unter einem Dach schliefen – sie weitaus öfter als er.

Eine weitere Woche verging ohne ihn, bis wieder das Wochenende bevorstand. Am Freitagabend wurde Annie für gewöhnlich unruhig, denn oft kamen Gäste – und das nicht immer angekündigt.

Daher sorgte Annie grundsätzlich dafür, dass das Haus blitzblank und der Kühlschrank gut gefüllt war. Vorsorglich bezog sie auch die Betten neu und hielt frische Strandtücher bereit.

Normalerweise wartete sie ängstlich am Fenster, ob Sinclair auftauchte. Doch an diesem Tag war sie besonders unruhig: Was, wenn er eine Frau mitbrachte?

Nervös kaute sie an einem Fingernagel. Würde sie unter diesen Umständen ihr übliches freundliches Lächeln zustande bringen, so als ob nichts geschehen wäre? Als ob sie nie seinen heißen Atem an ihrem Hals, nie seine Hände auf der Haut gespürt hätte?

Als ein Wagen vorfuhr, erkannte sie schon am Motorengeräusch, dass es Sinclairs war. Ihre Aufregung wuchs.

Gerade noch widerstand sie dem Impuls, sich in der Küche zu verschanzen. Hoffentlich hat er keine Frau dabei. Wenn ihr dies doch erspart bliebe, wenigstens eine Zeit lang, bis sie nicht mehr so oft an seine Küsse dachte …

Sie zuckte zusammen, als auf der Beifahrerseite eine elegant frisierte Blondine ausstieg. Danke, Sinclair, sehr rücksichtsvoll.

Tief atmete sie ein. Wollte er ihr auf diese unsanfte Weise vermitteln, dass es keine gemeinsame Zukunft für sie beide gab? Dabei hatten bereits seine Entschuldigungen und seine hastige Abreise zwei Wochen zuvor kaum Zweifel daran gelassen.

Am liebsten wäre sie davongelaufen.

Ich schaffe das. Schließlich bin ich Profi. Tief durchatmend strich sie sich die rosa und weiß gestreifte Bluse glatt. Wenn Sinclair so tun konnte, als wäre nichts geschehen, konnte sie das auch. Früher oder später würden sie reden, und wer weiß – vielleicht lachten sie eines Tages sogar darüber.

Oder sie würden das Thema nie wieder erwähnen. Verrückte Dinge passierten nun einmal.

Nur normalerweise anderen Leuten, nicht ihr.

Sie öffnete die Haustür. „Guten Tag“, grüßte sie höflich, obwohl sich alles in ihr sträubte.

„Hallo, Annie.“ Es tat weh, Sinclairs dunkle Stimme zu hören. „Erinnerst du dich noch an meine Mom?“

„Ach, Mrs. Drummond! Schön, Sie zu sehen!“

Leicht gebräunt und gertenschlank wirkte Sinclairs Mutter, die doch einiges über fünfzig sein musste, weitaus jünger. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Kultur- und Städtereisen in exotische Länder. Annie hatte sie fast elf Monate lang nicht gesehen und in ihrer Aufregung nicht sofort erkannt.

„Annie, Darling. Ich hoffe, dass ich Ihnen nicht zur Last falle.“ Um die großen hellgrauen Augen herum wirkte Mrs. Drummond leicht müde, und auch der Teint war bei genauerem Hinsehen blasser als sonst. „Aber der Arzt meint, jetzt, wo ich dem Tod von der Schippe gesprungen bin, würde mir frische Seeluft guttun.“

„Wunderbar, ich freue mich.“ Annie beeilte sich, Sinclair beim Ausladen des Gepäcks zu helfen. In diesem Moment ging auf der Beifahrerseite die hintere Tür auf.

Annie machte einen regelrechten Satz, dann erstarrte sie.

Eine schlanke dunkelhaarige Frau stieg aus, die mit einem Handy telefonierte. Also hatte er doch eine neue Freundin! Der Schreck saß tief.

Trotzdem wollte Annie Sinclair beim Gepäcktragen helfen. Ohne sie anzusehen, murmelte er: „Lass nur, das mache ich schon“ und ging mit den Koffern ins Haus.

Annie nahm sich zusammen. „Mrs. Drummond, kommen Sie doch herein. Ich mache Ihnen einen guten Tee“, sagte sie freundlich.

Mit drei großen Taschen und dem Telefon in den Händen versuchte die schlanke junge Frau, die Autotür zu schließen.

So hilfsbereit sie sonst war – Annie schaffte es nicht, sich zu rühren.

„Annie, meine Liebe, das ist Vicki“, sagte Mrs. Drummond.

Vicki lächelte kurz und nicht besonders freundlich.

Na großartig. Diese Vicki entsprach genau dem Frauentyp, für den Sinclair zu schade war – und für den er offenbar eine Schwäche hatte. Arrogant, kühl und fordernd. Vielleicht verdiente er es nicht anders!

„Hallo, Vicki. Lassen Sie mich das nehmen“, bot Annie jetzt doch an.

Ohne ihr Telefonat zu unterbrechen, hielt Vicki ihr eine silberne Tasche mit dem Logo von Dolce & Gabbana hin.

Insgeheim dachte Annie an ihre Schwester, die immer schon der Ansicht gewesen war, dass eine Haushälterin sich noch lange nicht wie ein Dienstmädchen aus früheren Zeiten zu benehmen hatte.

Unterdrückt seufzend und – selbstverständlich – freundlich lächelnd ging Annie voraus zum Haus. Glücklicherweise hatte sie wie immer alle Wochenendvorbereitungen getroffen.

Sinclair war verschwunden, vermutlich in sein Zimmer.

Die Tasche in der Hand, ging sie die Treppe hoch. Vicki folgte, wobei sie lachend weitertelefonierte.

Mit einem kurzen Blick in Mrs. Drummonds Suite überzeugte sich Annie, dass Sinclair die Koffer bereits aufs Bett gelegt hatte. Das nächste Zimmer war seines. Vickis Tasche … Sollte sie sie dort hineinbringen?

„Sie glauben doch nicht etwa, dass ich bei Sinclair schlafe?“, ließ Vicki sich vernehmen.

Annie drehte sich um.

Vicki lachte. „Um Himmels willen! Ich glaube, dass wir nicht einmal als Teenager zusammen geschlafen haben. Aber das ist so lange her … ich weiß es nicht mehr.“

„Vicki kann die blaue Suite haben“, schaltete Mrs. Drummond sich ein.

„Oh ja. Gut! Blau soll ja gut für die Nerven sein.“ Vicki blieb stehen und gab Annie damit Gelegenheit, ihre topmoderne graue Hose aus Fallschirmseide und das enge weiße Tanktop zu bewundern.

Annie blinzelte. Also war Vicki doch nicht Sinclairs neue Freundin. Eher hatte sie etwas mit seiner Vergangenheit zu tun.

„Vicki ist eine alte Freundin der Familie. Es wundert mich, dass Sie sie noch nicht kennen, Annie.“

„Ich hatte lange nicht mehr das Vergnügen, Gast im Haus der Drummonds zu sein“, erklärte Vicki und drückte ihre Clutch aus Schlangenleder an sich. „Wie die Zeit vergeht! Jedenfalls freue ich mich, jetzt bei euch zu sein.“

Täuschte sich Annie, oder schwang da eine Portion Ironie mit? Machte Vicki sich über sie lustig? Aber warum?

„Und wir freuen uns, dass du da bist, Darling“, erwiderte Mrs. Drummond. Sie ging auf Vicki zu und küsste sie überschwänglich auf die Wange, während sich auf ihrer Miene ein Ausdruck des Schmerzes zeigte.

Annie wunderte sich. Ein solcher Gefühlsausbruch sah Mrs. Drummond gar nicht ähnlich. „Es wird wie in alten Zeiten“, fügte sie sogar noch hinzu.

„Nur das nicht“, entgegnete Vicki. „Ich schaue lieber nach vorne. Aber bei alten Freunden bin ich gern. Welches ist die blaue Suite? Eine schöne warme Dusche wird mir jetzt guttun.“

„Diese Tür. Ich bringe Ihnen frische Handtücher. Brauchen Sie sonst noch etwas?“

„Nein danke. Ich habe alles dabei, außer dem fließenden Wasser.“ Etwas zu lange sah sie Annie an.

Annie hatte ein komisches Gefühl in der Magengrube. Wer war diese Vicki? Und was wollte sie hier?

Zum Dinner machte Annie Katherine Drummonds Leibspeise: Lachs mit Brombeersauce, neuen Kartoffeln und frischen grünen Bohnen vom Markt.

„Wie nett! Also hat Sinclair Bescheid gesagt, dass wir kommen. So sicher bin ich mir da nämlich bei ihm nie.“ Katherine warf ihrem Sohn einen nachsichtigen Blick zu.

Annie servierte lächelnd und vermied es, Sinclair anzusehen. Die Erfahrung lehrte, dass man auf alles gefasst sein musste. Und ihr machte es Spaß, gut in ihrem Job zu sein und für Behaglichkeit zu sorgen.

Der Raum wurde von echten Bienenwachskerzen erhellt, die sie bei einem Kunsthandwerker vor Ort gekauft hatte. Durch die frisch geputzten Fenster drang das warme Licht der Abendsonne.

Während sie Sinclair Wein eingoss, betrachtete Annie ihn unauffällig. Er musste zum Friseur; sein dunkles Haar berührte schon den Kragen. Als sie daran denken musste, wie seidenglatt es sich zwischen ihren Fingern angefühlt hatte, hielt sie unwillkürlich den Atem an.

Als sie wieder aufblickte, begegnete sie einem neugierigen Blick aus veilchenblauen Augen. Hatte Vicki womöglich etwas bemerkt?

Nervös wandte Annie sich ab und goss auch die anderen Gläser wieder voll.

„Es ist doch unfair, dass Annie ständig herumrennen muss – wo sie uns das gute Essen gekocht hat“, ließ sich Vicki plötzlich vernehmen.

Annie zuckte zusammen.

„Da hast du völlig recht“, stimmte Katherine zu. „Annie, meine Liebe, holen Sie sich einen Teller, und setzen Sie sich zu uns. Wir sind ja heute Abend unter uns. Sozusagen eine Familie.“ Sie nahm Vickis Hand.

Vicki sah überrascht aus, zog die Hand aber nicht weg und lächelte.

Annie zögerte. Ihr Stolz war verletzt. Kochen und Servieren machten ihr Spaß, aber bei dem Gedanken, mit der Familie Drummond mitzuessen, fühlte sie sich unbehaglich.

Wie sollte sie dann wissen, wann sie aufstehen und den nächsten Gang servieren sollte? Sollte sie ein Glas Wein trinken oder lieber bei Mineralwasser bleiben, damit ihr anschließend das Schokosoufflé nicht misslang? „Danke, aber ich habe schon gegessen“, log sie.

„Setzen Sie sich trotzdem zu uns?“, fragte Katherine und wies auf den freien Platz neben Sinclair. „Dann können Sie uns erzählen, wie weit Sie auf dem Dachboden schon gekommen sind. Ich bin ja so gespannt.“

Annie setzte sich – so weit entfernt von Sinclair wie möglich. Er sah nicht von seinem Essen auf. Hatte er sie an diesem Abend überhaupt schon angesehen?

Vielleicht war es besser, dass er es ließ. Lieber sollte er sie gar nicht anschauen – als voller Ablehnung und Zweifel bezüglich seines eignen Urteilsvermögens.

„Ich habe angefangen, aber es ist noch sehr viel. Eine Bestandsliste habe ich auch angelegt. Soll ich sie holen?“ Wie gern wäre sie aufgestanden!

„Nein danke, im Moment nicht. Also noch keine Spur von dem Bruchstück.“

„Ich untersuche alles, was ich finde, ganz genau, ob es vielleicht Teil eines Pokals sein könnte. Aber bisher war nichts dabei. Eine Beschreibung gibt es keine, oder?“

Katherine nippte an ihrem Weinglas. „Viel wissen wir nicht – außer dass das Material Silber ist und die Ausführung eher schlicht, ohne aufwendige Edelsteinverzierung. Möglich auch, dass es sich in Wahrheit sogar nur um Zinn handelt. Eigentlich komisch: eine solche Kostbarkeit – und dabei im Grunde ohne richtigen Wert.“

Vicki lehnte sich zurück. „Vielleicht hat man damals aus Vorsicht ein unedles Metall gewählt“, mutmaßte sie. „Um zu vermeiden, dass der Pokal eingeschmolzen und umgearbeitet wird. Stammt er aus der Zeit, als die Brüder Schottland verlassen haben?“

„Das wissen wir nicht.“ Katherine aß von ihren grünen Bohnen. Langsam und in kleinen Bissen, sicher wegen ihrer Krankheit.

„Gut möglich, dass er sich schon vor der Auswanderung im Familienbesitz befunden hat“, fuhr Katherine fort. „Woher die Legende stammt, weiß niemand. Als ich Steven geheiratet habe, Sinclairs Vater …“ Sie schaute Annie an. „… hat seine Mutter noch gelebt. Sie hat gern von der Familiengeschichte erzählt. Und sie fand, dass wir den Pokal suchen sollten.“ Sie zog eine Braue hoch. „Ihre eigene Ehe war nicht glücklich, und ihre Söhne waren ziemlich wild – mein Mann eingeschlossen.“

Gedankenverloren sah sie zu Sinclair. „Seit damals habe ich mich immer wieder gefragt, ob der Pokal tatsächlich das Familiengeschick zum Guten wenden könnte. Wäre doch schön, wenn das Leben für uns alle leichter würde.“ Verschwörerisch lehnte sie sich zu Vicki hinüber. „Der Legende nach bringt er zwar den Männern Glück, aber davon profitieren schließlich auch wir Frauen.“

Annie stutzte. Plötzlich fühlte sich ihr leerer Magen an, als läge ein kalter Stein darin. Also hatte Katherine Vicki doch in der Hoffnung mitgebracht, dass sie Sinclairs nächste Frau wurde!

Um sich selbst abzulenken, beeilte sie sich zu sagen: „Ich habe viele interessante Dinge gefunden, vom Jagdhorn bis zur Perlenbrosche. Vieles ist zu schade, um unentdeckt zu verstauben. Deswegen habe ich das Verzeichnis angelegt.“

„Manchmal ist es besser, die Dinge bleiben unentdeckt“, gab Katherine zu bedenken. „Vor allem im Zeitalter von eBay. Auch wenn du wahrscheinlich anderer Meinung bist, Vicki.“

Vicki lachte. „Mir gefällt es am besten, wenn jedes Ding zu seinem idealen Eigentümer findet.“

„Vicki ist Antiquitätenhändlerin“, erklärte Katherine.

„Was für den einen nutzloses Zeug ist, kann dem anderen unheimlich viel bedeuten“, führte Vicki aus. „Der Wert liegt eben im Auge des Betrachters.“

„Ich dachte, die Schönheit“, meldete sich Sinclair zu Wort. Zum ersten Mal während dieses Essens. Stille trat ein.

„Ist das nicht dasselbe?“ Vicki nippte an ihrem Weinglas und sah Sinclair dabei an.

Annie schluckte. Vicki strahlte Selbstbewusstsein aus, in intellektueller wie in sexueller Hinsicht. Sicher sehr anziehend für Sinclair. Sie selbst dagegen … „Ich räume den Tisch ab.“ Schnell stand sie auf und trug zwei Teller ab.

„Wert und Schönheit haben oft genug nichts miteinander zu tun“, hörte sie Sinclair sagen. „Meine einträglichsten Investitionen betreffen Dinge, bei denen es nicht im Entferntesten um Schönheit geht: Uran, Bauxit und Erdgas.“

„So wie es aussieht, interessierst du dich für ziemlich schlichte und langweilige Dinge“, sagte Vicki.

Annie zuckte zusammen. Aus irgendeinem Grund erschien es ihr, als wäre sie damit gemeint. Dabei konnte von Sinclairs Interesse gar keine Rede sein; er hatte sie ja nicht einmal richtig angesehen.

„Für nützliche Dinge“, stellte er klar.

„Was sollen wir nur mit deinem Sohn machen?“, fragte Vicki Katherine im Scherz.

„Ich habe mich jahrelang darum bemüht, dass er lockerer wird, aber ohne Erfolg“, ließ sich Katherine vernehmen. „Ich glaube, der Pokal ist unsere einzige Chance.“

Die Frauen lachten, und Annie hatte mehr denn je das Gefühl, nicht dazuzugehören.

Schweigend kehrte sie aus der Küche zurück ins Esszimmer, um fertig abzuräumen. Das Gespräch drehte sich jetzt um irgendeine bevorstehende Party. Einen Sekundenbruchteil fühlte sie sich wie Aschenputtel, wie Cinderella, die allen behilflich ist, die auf den Ball gehen, und die selbst niemals die Chance dazu bekommt.

Während sie den Brotkorb fortnahm, konnte sie nicht widerstehen und sah Sinclair an. Ihre Blicke begegneten sich.

Seine Augen wirkten dunkel und kühl, doch die Anziehung ließ sich nicht leugnen. Dann schaute er zur Seite. „Morgen gehe ich segeln“, sagte er an Katherine gewandt. „Wahrscheinlich bin ich den ganzen Tag weg.“

„Vicki und ich gehen in der Zeit auf den Dachboden.“

Da Annie die Hände zitterten, klapperten die beiden Teller, die sie gerade abtrug. Sie fühlte sich verdrängt. Nun erst wurde ihr bewusst, dass sie den Speicher mit seinen Schätzen fast schon wie etwas Eigenes betrachtet hatte.

Was logischerweise Unsinn war. Nichts davon gehörte ihr oder würde ihr je gehören. Das blaue Kleid, das jetzt im Schrank des Gästezimmers hing, hatte sich für kurze Zeit angefühlt wie für sie gemacht. Es hatte sie regelrecht in eine andere Person verwandelt. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie sich von den alten Sachen mit ihrem geheimnisvollen Zauber fernhielt.

Während sie den Geschirrspüler einräumte, versuchte sie auszumachen, ob Sinclair etwas sagte. Aber nur die beiden Frauen sprachen.

Er interessiert sich nicht für mich. Für ihn war es nichts weiter als ein verrückter Ausrutscher.

„Annie.“ Seine Stimme ließ sie herumfahren. In voller Pracht stand er hinter ihr. „Wir müssen reden.“

Sie schluckte. „Ja.“

„Morgen.“ Er kniff die Augen zusammen, wobei sich auf der Stirn eine tiefe Falte bildete. „Wenn wir allein sind.“

Annie nickte. Mit klopfendem Herzen sah sie ihn weggehen. Sein gestärktes Hemd spannte über den breiten Schultern.

Warum war er an diesem Abend so schweigsam gewesen? Was dachte er?

Erst hatte sie geglaubt, dass er so tun wollte, als wäre nichts geschehen. Zwei Wochen lang hatte er keinen Kontakt zu ihr aufgenommen. Inzwischen kam es ihr fast so vor, als hätte sie sich alles nur eingebildet. Aber jetzt wollte er mit ihr allein sein. Und mit ihr reden. Was kam da auf sie zu? Schlimmstenfalls die Kündigung. Und bestenfalls?

Nervös biss sie sich auf die Unterlippe.

„Annie, Darling, würden Sie uns noch etwas von dem Chablis bringen?“

Sie trocknete sich die Hände ab und ging in den Weinkeller.

3. KAPITEL

Meist machte sich Sinclair selbst Kaffee und Toast. Weil Annie aber nicht wusste, was Vicki und Katherine frühstücken wollten, hielt sie sich in der Küche bereit. Ob Sinclair als Erster aufstand? Damit sie sich ungestört unterhalten konnten?

Sie ging in die Halle, doch zu ihrer Bestürzung war es Vicki, die gähnend die Treppe herunterkam. Sie trug eine enge Caprihose und ein bauchfreies T-Shirt. Die glatten schwarzen Haare hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt. Sie wirkte ausgesprochen attraktiv und schlank. „Guten Morgen, Annie. Kommen Sie mir etwa entgegen, um mich zu fragen, was ich zum Frühstück will?“

„Warum nicht? Betrachten Sie es als besonderen Service. Was darf ich Ihnen machen?“, sagte Annie und rang sich ein Lächeln ab. Bisher waren die Gäste immer mit ihrem Service zufrieden gewesen.

„Haben Sie Grapefruits?“

„Ich habe Obstsalat vorbereitet, mit Melone, Weintrauben und Ananas. Grapefruits habe ich keine, tut mir leid. Soll ich Ihnen welche besorgen?“ Möglicherweise machte Vicki ja irgendeine verrückte Diät – jedenfalls sah sie ganz danach aus …

„Um Himmels Willen nein! Der Obstsalat hört sich gut an. Dazu hätte ich gern Eier und Bacon, wenn möglich. Ist Sinclair schon da?“

Annie blinzelte. „Bisher nicht.“

„Vielleicht ist er schon ganz früh weg, um uns aus dem Weg zu gehen“, mutmaßte Vicki und lächelte verschwörerisch. „Er ist nicht besonders kontaktfreudig, stimmt’s?“

Annie überlegte. Es kam öfter vor, dass Sinclair schon bei Tagesanbruch zum Schwimmen an den Strand ging. Nur tat er das normalerweise nicht, wenn Gäste da waren. Sie zog es vor, die Frage unbeantwortet zu lassen.

Soweit sie es beurteilen konnte, kam er gut mit Menschen zurecht. Ansonsten hätte er es wohl kaum zum erfolgreichen Investmentbanker geschafft. „Möchten Sie den Bacon gut durchgebraten?“

„Ja bitte.“ Vicki ging ins Esszimmer und nahm sich die New York Times.

Annie begab sich in die Küche und begann mit der Zubereitung. Menschen wie Vicki gaben gerne Anweisungen, vermutlich weil sie es von Kindesbeinen an nicht anders gewöhnt waren.

Und ihr Job war es, diesen Anweisungen zu folgen – und wenn sie erst ein Schwein fangen musste, um an den gewünschten Bacon zu kommen …

Als die Eier in der Pfanne vor sich hin brutzelten, schwang die Küchentür auf.

Vor Schreck machte Annie einen regelrechten Satz – sie erwartete, Sinclairs eindrucksvolle Silhouette zu sehen.

Vicki stand da und lächelte süffisant. „Oje, Sie sind ja vielleicht nervös! Offensichtlich haben Sie jemand anderen erwartet, oder?“

„Nein“, antwortete Annie viel zu schnell – und spürte gleichzeitig, wie sie rot wurde. Sie konnte nur hoffen, dass Vicki die Wärme des Herdes dafür verantwortlich machen würde …

Vicki blieb in der Tür stehen. „Sinclair ist ein Buch mit sieben Siegeln.“

Annie brannte darauf, zu widersprechen, aber ihre innere Stimme sagte ihr, dass Vicki nur darauf wartete. Gekonnt richtete sie die Rühreier an. „Soll ich Ihr Frühstück ins Esszimmer bringen?“, fragte sie stattdessen.

„Ach nein, ich nehme es selbst mit“, gab Vicki zurück und nahm Annie Besteck und Teller aus der Hand. „Und vielen Dank, dass Sie das so gut gemacht haben.“ Sie lächelte strahlend.

Als sie gegangen war, atmete Annie tief durch. Ahnte Vicki etwas?

Nervös strich sie sich ein paar lose Haarsträhnen zurück. Hoffentlich hatte sie sich nicht durch irgendetwas verraten.

Gegen zehn kam Katherine herunter und aß etwas von ihrem extra für sie zusammengestellten Müsli. „Ist mein Sohn schon weg?“

„Weiß ich nicht. Ich habe ihn heute Morgen noch nicht gesehen.“ Annie goss Saft nach und überlegte. Sie selbst war bereits vor Sonnenaufgang aufgestanden. Wenn Sinclair noch früher das Haus verlassen hatte, musste er sehr entschlossen gewesen sein, ihr aus dem Weg zu gehen. Kein gutes Zeichen für ihr bevorstehendes Gespräch …

„Ich kann es kaum erwarten, auf den Dachboden zu kommen, aber ich muss es langsam angehen. Der Arzt sagt, ich darf nicht länger als eine halbe Stunde stehen.“ Sie schüttelte so vehement den Kopf, dass ihr elegant frisierter blonder Bob herumschwang. „Keine Ahnung, wie man etwas Vernünftiges tun soll, wenn man sich alle dreißig Minuten setzen muss. Aber der Mann ist eine Kapazität auf seinem Gebiet, und ich habe versprochen, auf ihn zu hören.“

„Und wie fühlen Sie sich?“

„Schwach.“ Sie lachte leise. „Erschöpft. Ich soll alles mögliche Gesunde essen, um Kraft zu bekommen, aber ich habe keinen Appetit. Vielleicht sollte ich es mal mit Akupunktur versuchen. Eine meiner Freundinnen schwört darauf.“

„Meine Schwester wollte damit das Rauchen aufgeben, aber es hat nicht funktioniert“, sagte Annie. „Wahrscheinlich lag es an ihr. Ich weiß nicht, ob sie wirklich entschlossen war …“

Katherine lächelte – ein warmes und sympathisches Lächeln. „Aber ich bin entschlossen, wieder gesund zu werden. Ich habe noch viel vor. Bis jetzt habe ich noch nicht einmal ein Enkelkind.“

Annie erschrak, sodass der Saft in der Kanne überschwappte. Außer Sinclair hatte Katherine keine Kinder – verständlich also, wenn sie all ihre Hoffnungen auf eine weitere Ehe ihres Sohnes setzte. Die bloße Aussicht erfüllte Annie mit Bestürzung. Dennoch sagte sie: „Enkel sind etwas, worauf man sich ganz besonders freut.“

Katherine nickte, dann fragte sie: „Und was ist mit Ihnen, Annie? Gibt es jemanden in Ihrem Leben?“

Annie erstarrte vor Schreck. Sollte das eine Anspielung sein?

„Sie leben hier so zurückgezogen. Ich bin ein bisschen in Sorge, dass wir Sie von der Außenwelt und sozialen Kontakten abschneiden. Vielleicht sollten Sie mal versuchen, über das Internet zu daten.“

Offenbar dachte Katherine nicht im Mindesten daran, dass zwischen Sinclair und seiner Hausangestellten etwas laufen könnte. „Ich bin ganz zufrieden so. Eines Tages wird mein Prinz schon noch kommen“, sagte sie so überzeugend wie möglich.

„Heutzutage bringt es nichts mehr, auf irgendwelche Prinzen zu warten. Besser, man macht sich selbst auf die Suche, bevor alle guten Männer vergeben sind.“

Sinclair war schon zweimal vergeben, und jetzt ist er wieder zu haben. Annie hütete sich, diesen Gedanken auszusprechen. Aber … war ein mehrfach geschiedener Mann wirklich eine gute Option? Sie unterdrückte ein Seufzen. „Außerdem habe ich gar keine Zeit für Dates. Ich will Abendkurse auf dem College belegen.“

„Wirklich?“, fragte Katherine erstaunt.

Sofort bereute Annie ihre Worte. Der Plan war noch unausgegoren – und jetzt nahmen ihre Arbeitgeber vielleicht an, sie würde ihre Pflichten vernachlässigen. Warum nur hatte sie das gesagt? Nur um nicht dazustehen, als wolle sie bis an ihr Lebensende das Silber anderer Leute polieren?

„Ach, nichts Besonderes. Nur ein paar Grundkurse über geschäftliche Zusammenhänge.“ Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. Lieber den Traum vom eigenen Laden nicht erwähnen …

„Das ist ja wunderbar, Annie. Wenn ich Ihnen dabei irgendwie helfen kann, zum Beispiel durch persönliche Empfehlung, brauchen Sie es nur zu sagen. Sinclair wird sich auch freuen.“

Annie neigte den Kopf zur Seite. Sie bezweifelte, dass Sinclair diesem Thema gegenüber besonders aufgeschlossen wäre. Wobei … vielleicht war er froh, wenn sich auf diese Art ihre Beschäftigungschancen erhöhten. Sicher gefiel es ihm nicht, wenn sie noch jahrelang hierblieb, nach diesem … Zwischenfall.

Ja, genauso fühlte es sich an. Ebenso unangenehm wie ein Autounfall. Oder zumindest wie ein Blechschaden mit Beulen und Schrammen, der sie von ihrem Weg abgebracht hatte.

„Danke, sehr nett von Ihnen. Möchten Sie noch etwas Toast?“

„Nein danke. Ich würde jetzt gern auf den Speicher gehen. Wenn Sie auch so weit sind?“

Annie verbrachte den Tag mit Katherine und Vicki auf dem Dachboden, wo es zunehmend heißer wurde. Vicki zeigte sich überraschend schweigsam. Fachmännisch begutachtete sie einzelne Dinge, als ob sie sich im Geiste Notizen machte.

Unter anderem entdeckten sie Schnitzarbeiten aus dem achtzehnten Jahrhundert und zwei sorgfältig verpackte chinesische Vasen, aber im Großen und Ganzen nichts wirklich Wertvolles. Am Nachmittag hatten sie genug von alten Hemdkragen und verbeulten Hüten.

„Ich glaube, jetzt ist es Zeit für einen Eistee“, sagte Katherine und erhob sich von dem Klappstuhl, den Annie für sie mit hochgebracht hatte.

„Geht doch schon mal voraus“, schlug Vicki vor, die gerade einen großen schwarzen Koffer durchsuchte. „Ich komme nach.“

„Und?“, fragte Katherine. „Ist was Interessantes drin?“

„Weiß ich noch nicht.“

„Komm, Annie, wir gehen runter. Wenn du mir nur bitte auf der Treppe die Hand gibst“, bat Katherine.

Annie gefiel es gar nicht, Vicki mit all den Familienschätzen allein zu lassen, aber ihr blieb nichts anderes übrig.

In der folgenden Stunde war sie damit beschäftigt, Scones zu backen, Teegebäck mit einer Füllung aus Sahne und Marmelade. Dabei lauschte sie ständig, ob Sinclair zurückkam.

Katherine war in einem bequemen Sessel im Schatten eingenickt, und Vicki telefonierte mit ihrem Handy, als Annie den Wagen vorfahren hörte.

Sie beschloss, in der Küche zu bleiben. Wenn Sinclair zu ihr wollte, wusste er ja, wo er sie fand. Insgeheim ärgerte sie sich darüber, dass sie ihr Aussehen in einem glänzenden Edelstahltopf überprüfte und sich eine Haarsträhne zurückstrich.

Schwere Schritte auf der Treppe verrieten, dass Sinclair in sein Zimmer ging. Annie seufzte; Erleichterung mischte sich mit Enttäuschung. Sehr eilig hatte er es offenbar nicht, sie zu sehen.

Natürlich konnte sie zu ihm. Um frische Handtücher zu bringen. Oder um die Wäsche einzusammeln. Und ja … an einem normalen Wochenende hätte sie vermutlich genau das getan. Aber nichts würde je wieder normal werden.

Jetzt waren leisere Schritte zu hören … Vicki. War sie auf dem Weg zu ihm? Um die Arme um ihn zu schlingen und sich gespannt nach seinen Segelabenteuern zu erkundigen?

Wieder ärgerte sich Annie über sich selbst: Warum machte sie sich darüber überhaupt Gedanken? Sinclair würde ihr nie gehören, nicht einmal für einen winzigen Moment. Sie hätte nie zulassen dürfen, dass er sie küsste. Wenn sich doch die Uhr zurückdrehen ließe! Bis zu diesem verrückten Augenblick, als seine Lippen ihren plötzlich ganz nah gewesen waren …

„Glaub mir, er gehört zu den einfühlsamsten Porträtisten unserer Zeit, aber wenn du meinst …“, tönte Vickis Stimme später am Nachmittag aus der Halle des ersten Stocks. „Katherine, Sinclair will nicht mit uns kommen. Also gehen nur wir beide.“

„Ich habe ihm schon oft gesagt, er soll der Kunst mehr Beachtung schenken, als Geldanlage und um ihrer Schönheit willen, aber er hört ja nicht auf mich …“

Während die Frauen ihren Spaziergang zur Ausstellung besprachen, rechnete Annie aus, wie lange sie mit Sinclair allein sein würde. Sicherlich lang genug für ein Gespräch. Vielleicht auch lang genug für etwas anderes – aber darauf würde sie sich mit Sicherheit nicht einlassen. Schließlich hatte sie schon genug Probleme.

Sie war gerade dabei, das Abendessen zuzubereiten, als Katherine und Vicki die Treppe herunterkamen, beide top gestylt. Katherine trug einen glänzenden Hosenanzug und eine Kette aus grüner Jade. Ihr blonder kinnlanger Bob war sorgfältig frisiert wie immer. Vicki sah aus wie gerade aus dem Bett aufgestanden – und dennoch schön wie eine Göttin. Sicher kostete es einige Mühe, diesen Effekt zu erzielen. Ein durchsichtiges Kleid betonte ihre schlanke Figur und die langen Beine.

Annie widerstand gerade noch der Versuchung, an sich selbst hinabzusehen. Mit Frauen wie ihnen konnte sie sich nicht vergleichen. Sie traten gewissermaßen in einer anderen Liga an. Nur leider fühlte sich ihre adrette Kleidung, die sie wie eine Uniform trug, in diesem Moment doch sehr hausbacken an …

Als die beiden gegangen waren, verschwand sie wieder in der Küche.

Wieder dachte sie, dass Sinclair, wenn er zu ihr wollte, ja wusste, wo er sie fand. Und so war es auch.

„I…ich habe dich gar nicht kommen hören“, stammelte sie, als sie ihn plötzlich mit ernster Miene in der schmalen Türöffnung stehen sah. Die alte Küche, die noch aus der Kolonialzeit stammte, war modernisiert und mit den neuesten Geräten ausgestattet worden – aber das änderte nichts an der niedrigen Decke und den altmodischen Abmessungen, die Sinclair wie einen Hünen wirken ließen.

Seine Haare waren nass und zurückgekämmt, aber eine Strähne fiel ihm in die Stirn. Er trug ein hellgraues Poloshirt und eine Khakihose und ging barfuß. Wie konnte ein Mann in ganz gewöhnlicher Freizeitkleidung so attraktiv und gepflegt aussehen?

„Annie, hör zu …“

Ihr blieb offensichtlich keine andere Wahl.

„Was den Tag neulich betrifft …“ Er runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll …“

„Ich auch nicht“, unterbrach sie ihn. „Es kam sehr unerwartet.“

Er wirkte erleichtert – und irgendwie schmerzte das. Aber immerhin tat er nicht so, als wäre nichts geschehen.

Nur leider sagte er genau in diesem Moment: „Ich finde, wir sollten beide vergessen, dass es je passiert ist.“

„Natürlich“, hörte sie sich sagen – ein verzweifelter Versuch, das Gesicht zu wahren.

Nach dieser Übereinkunft hätte er gehen können, tat es aber nicht. Stattdessen blieb er an Ort und Stelle stehen und blockierte damit Annies Sicht in die Halle und – jetzt, da sie darüber nachdachte – ihren einzigen Fluchtweg. „Du bist ein nettes Mädchen, Annie.“

Sie konnte sich vorstellen, was jetzt kam. Etwas wie: „… nimm es nicht persönlich, bestimmt lernst du bald jemand anderen kennen …“ Sein Mitleid war das Letzte, was sie brauchte.

„Du bist auch sehr nett“, erwiderte sie. Wie sich das anhörte! Klang fast nach Kindergarten! Kein Wunder, wenn er eine Frau mit einem so bescheidenen Intelligenzquotienten nicht fesselnd fand.

„Nicht wirklich, fürchte ich.“ Angespannt rieb er sich mit dem Handballen über die Brust, und Annie dachte unwillkürlich daran, wie sie an ebendieser muskulösen Brust wohlig seufzend gelegen hatte. Jetzt wirkten seine dunklen Augen schmerzerfüllt.

Vermutlich dachte er an seine Exfrauen. Seine zweite hatte der Presse gegenüber viele unschöne Dinge über ihn gesagt – nachdem geklärt war, dass sie in der nur kurzen Ehe keinen Anspruch auf Unterhalt erworben hatte.

„Ich weiß, dass du das nicht wolltest“, sagte sie. Was genau hatten sie da eigentlich getan? „Sich lieben“ oder „miteinander schlafen“ ließ sich das kaum nennen. Es war einfach nur Sex gewesen. „Du hattest es nicht geplant, und es tut dir leid“, brachte sie mühsam hervor und schluckte. Was die seligste Stunde ihres Lebens hätte sein können, war für ihn offensichtlich nur ein peinliches Intermezzo.

„Genau.“

Die Bestätigung tat weh.

Wieso klammerte sie sich noch immer so verzweifelt an die Hoffnung, dass ihm die Küsse und all die Leidenschaft etwas bedeutet hatten? Dass seine Erregung nicht bloß eine körperliche Reaktion auf sie gewesen war?

„Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist“, hörte sie sich sagen. Abgesehen von der Tatsache, dass ich schon viel zu lange verrückt nach dir bin. „Jedenfalls ziehe ich nie wieder eins von den Kleidern an.“ Sie rang sich ein Lächeln ab.

„Du hast umwerfend ausgesehen, Annie.“

Ihr Name aus seinem Mund – in Verbindung mit diesem Kompliment! Ihr Herz machte einen Hüpfer. „Die Kleider sind wundervoll! Und sehen erstaunlich neu aus, so als wären sie niemals getragen worden.“

„Außer dem einen“, schränkte er ein.

„Ja, aber das war ja nur kurz.“ Sie atmete tief aus. Auf so engem Raum mit Sinclair zusammen zu sein machte sie verrückt. Sie nahm den vertrauten Duft seines herben Rasierwassers wahr und sah die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln, die verrieten, wie oft er – obwohl er als so ernst galt – lächelte. „Vielleicht gibt es einen Grund, dass sie ungetragen in einem Koffer verstaut wurden.“

„Du meinst … den Fluch?“, fragte er amüsiert. Ganz klar, er glaubte nicht ein Wort von dem ganzen Aberglauben.

„Vielleicht ein Zauber“, überlegte sie. „Ein Zauber, der aus einer vernünftigen Frau eine Verführerin werden lässt.“

„Der Zauber hat ja gut funktioniert.“ Er sah sie einen Augenblick zu lange an. „Nicht, dass du mich absichtlich verführt hast“, fügte er hinzu. „Das meine ich damit nicht.“

„Ich glaube, wir wissen beide, wie es gemeint war.“ Annie spürte, wie ihr heiß wurde. Sinclair ahnte ja nicht, dass die leiseste Berührung ausreichen würde, um genau dieselbe Situation erneut heraufzubeschwören.

War es Einbildung, oder hatte er sie gerade unauffällig von oben bis unten gemustert? Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Brustspitzen sich bei dem Gedanken aufrichteten und ihr die Knie weich wurden. Sie hätte schwören können, seine Blicke regelrecht gespürt zu haben, bevor er ihr wieder ins Gesicht schaute.

Wahrscheinlich spielte ihr nur ihre Fantasie einen Streich. Oder Sinclair hatte sich gefragt, wie er mit einem solchen Mauerblümchen so weit hatte gehen können. Er war nicht der Typ Mann, der sich einfach mal so mit einer Angestellten einließ. Der ganze Vorfall war reichlich seltsam.

Und unvergesslich.

Na prima, dachte sie. Nun würde sie bis ans Ende ihrer Tage andere Männer mit Sinclair Drummond vergleichen.

Er durchquerte die Küche und nahm sich ein Glas aus einem der Oberschränke. Als er die Schranktür schloss, spannte der Ärmel seines Poloshirts über dem muskulösen Oberarm. Und das Shirt rutschte ein kleines Stück aus der Hose … gerade so weit, dass Annie sich vorstellte, wie es sich angefühlt hatte, die Hände in seinen Hosenbund gleiten zu lassen …

„Möchtest du Eistee?“, fragte sie, um sich abzulenken.

„Nein danke, Annie. Ich nehme mir Wasser.“ Er stellte das Glas in den Automaten.

Früher oder später würde sie sich eine andere Anstellung suchen müssen. Hierzubleiben wäre auf Dauer unerträglich. Wie sollte sie für einen Mann arbeiten, mit dem sie Sex gehabt hatte? Wie sollte sie seine ständige Nähe aushalten?

Klar, einen Job wie diesen – gut bezahlt und mit vielen Vorteilen – würde sie nie wieder finden. Nur hier wohnte sie kostenlos in einem wunderschönen Haus am Strand. Nur hier war sie fünfundneunzig Prozent der Zeit ihr eigener Herr und konnte nebenbei Kurse auf dem College belegen.

Eine lange Gesprächspause entstand.

Sie sah ihm zu, wie er mit langsamen Schlucken sein Glas leerte. Schrecklich, dass sie sich im selben Raum aufhielten, ohne ein Wort zu reden. Andererseits, bis vor zwei Wochen wäre daran nichts ungewöhnlich gewesen. Sie gehörten beide nicht zu den mitteilsamen Menschen. Ihnen lag es eher, schweigend den Geräuschen eines Frühlingsabends zu lauschen oder den eigenen Gedanken nachzuhängen.

In dieser Hinsicht unterschied sie sich sehr vom Rest ihrer Familie. Die anderen wollten ständig reden, Musik hören oder fernsehen.

„Meine Mom will den Sommer über hierbleiben“, sagte Sinclair mit einem besorgten Unterton. „Ich glaube, das ist das Beste für sie. Die frische Luft wird ihr guttun, und bei dir ist sie in guten Händen.“

Annie erschrak. „Ja, prima!“, erwiderte sie. „Kein Problem.“ Selbstverständlich hatte sie nichts gegen Katherine Drummond, im Gegenteil. Aber im Augenblick wäre sie viel lieber allein gewesen.

„Vicki bleibt auch hier und leistet ihr Gesellschaft. Dadurch brauchst du sie nicht ständig zu unterhalten.“

Annie zuckte zurück und stieß dabei versehentlich gegen eine Blechdose mit Zucker. Schlimmer konnte es kaum noch kommen.

Wie entschuldigend sah Sinclair sie an, bevor er fortfuhr: „Außerdem hat Mom mich überredet, die nächsten Wochen von zu Hause aus zu arbeiten. Sie findet, ich sollte mal einen Gang zurückschalten.“

„Großartig.“ Das hörte sich leer und unaufrichtig an.

„Du und ich – wir sind ja beide vernünftig und erwachsen. Ich bin mir sicher, dass wir weiterleben können wie zuvor.“

„Aber klar“, beeilte sie sich zuzustimmen. Er hatte ja keine Ahnung, wie viel ihr dieser Nachmittag bedeutet hatte.

Es tat weh, ihn anzusehen, so sehr sehnte sie sich nach ihm. Wie sollte sie es ertragen, ihm gleichzeitig so nah und doch so fern zu sein? „Keine Angst, ich bin die Diskretion in Person“, versicherte sie.

„Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, Annie.“

Sehnsüchtig dachte sie daran, wie er ihr ihren Namen in höchster Leidenschaft ins Ohr geflüstert hatte. Dadurch, dass er sie derart oft beim Namen nannte, entstand eine so … vertrauliche Atmosphäre zwischen ihnen. Niemals hätte sie so oft Sinclair sagen können wie er Annie.

Aber genau darin lag das Problem. Sie kamen aus völlig verschiedenen sozialen Schichten. Eigentlich sollte das im einundzwanzigsten Jahrhundert kein Problem mehr darstellen, aber doch war es so. Vielleicht würde sich daran etwas ändern, wenn sie aufs College gehen und Karriere machen würde. Wenn sie als Büroangestellte Seite an Seite mit ihm in New York City zusammenarbeiten würde.

Aber das war nun einmal nicht ihre Welt. Sie lebte hier, Seite an Seite mit ihm, während sie mit dem Schwammtuch herumhantierte und ihm den Haushalt führte.

Wenn er doch gehen würde! Aber stattdessen … betrachtete er sie weiterhin. Klar war es seine Küche. Und sie war seine Angestellte. Wenn er wollte, konnte er ewig hier stehen und sie mitleidig ansehen. Und sie hatte keine Chance, sich dem zu entziehen.

„Ich gehe ein bisschen spazieren“, sagte er schließlich, machte jedoch keine Anstalten, die Küche zu verlassen.

„Okay.“ Als ob es auf ihre Meinung ankam …

Autor

Jennifer Lewis
Jennifer Lewis gehört zu den Menschen, die schon in frühester Kindheit Geschichten erfunden haben. Sie ist eine Tagträumerin und musste als Kind einigen Spott über sich ergehen lassen. Doch sie ist immer noch überzeugt davon, dass es eine konstruktive Tätigkeit ist, in die Luft zu starren und sich Wolkenschlösser auszumalen....
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