Julia Collection Band 14

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KOMET DER LEIDENSCHAFT von BEVARLY, ELIZABETH
Etwas Atemberaubendes soll passieren, wenn der Komet Bob wieder über Endicott erscheint... Angies Wunsch geht in Erfüllung! Während einer Recherche in Ethans Schlafzimmer, wird sie von dem attraktiven Hausherrn überrascht. Genau in dem Moment, als der Komet erscheint.

ZU DIR ODER ZU MIR? von BEVARLY, ELIZABETH
Magisch fühlt sich der Astrophysiker Willis nach Endicott gezogen. Wegen des Kometen Bob, vor allem aber wegen seiner Jugendliebe Rosemary. Schon immer fühlten sich beide zueinander hingezogen. Aber können sie jetzt ihre Leidenschaft endlich ausleben?

UNTER DEM STERN DER LIEBE von BEVARLY, ELIZABETH
Für Kirby sind Kometen so verlässlich wie der Mann, von dem sie träumt: James Nash. Für ihn sind es Vagabunden ohne Ziel wie er selbst. Doch beide haben sich vom Glücksstern Bob etwas gewünscht - und sind ihrem jäh entflammtem Verlangen ausgeliefert ...


  • Erscheinungstag 13.10.2009
  • Bandnummer 14
  • ISBN / Artikelnummer 9783862956562
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Elizabeth Bevarly

Ich wünsche mir … Liebe

ELIZABETH BEVARLY

Ich wünsche mir … Liebe

Komet der Leidenschaft

Nie brennt das Verlangen nach Liebe heißer in Endicott als in den Sommern, in denen der Komet Bob über die Stadt zieht. Ausgerechnet jetzt wird die Journalistin Angie von Ethan bei Recherchen in seinem Schlafzimmer ertappt. Überwältig spürt sie seinen Duft, seine Nähe, seine Berührungen – jeder Nerv in ihr reagiert auf diesen unfassbaren Mann …

Zu dir oder zu mir?

So lange hat sich Rosemary nach Willis’ zärtlicher Umarmung gesehnt. Aber erst muss der Komet Bob wieder erscheinen, damit der anziehende Astrophysiker nach Endicott zurückkehrt – wie ein Geschenk des Himmels! Ganz und gar überlässt sich Rosemary ihren sinnlichen Empfindungen. Der Komet ist weit weg, und Willis ist ihr ganz, ganz nah …

Unter dem Stern der Liebe

Was ist schon ein eiskalter Himmelskörper gegen eine verführerische Frau? Zwar ist auch James Nash, der begehrte Frauenschwarm, nach Endicott gekommen, um den Kometen Bob am Himmel zu erspähen. Doch was James durch sein Teleskop sieht, ist von höchst irdischer Natur: Eine hinreißende Frau, die seine glühende Leidenschaft weckt …

PROLOG

„Ich glaube, ich sehe ihn.“

„Wo?“

„Dort oben, direkt über dem Bergahorn, ungefähr zwanzig Zentimeter links vom Mond. Siehst du ihn auch?“

Die fünfzehnjährige Angie Ellison starrte angestrengt auf die Stelle am nächtlichen Himmel, auf die ihre Freundin Rosemary March zeigte. Doch das Einzige, was sie sah, war fleckige Schwärze um die Mondsichel herum und ein winziger Fleck weißen Lichts, der sich kaum von den übrigen Sternen am Himmel unterschied.

„Das kleine Ding?“, meldete sich ihre zweite Freundin, Kirby Connaught, ungläubig zu Wort. „Das ist Bob?“

Rosemary nickte. „Das ist er.“

„Das ist überhaupt nichts“, stellte Angie in jenem abfälligen Tonfall fest, der fünfzehnjährigen Mädchen mit Leichtigkeit über die Lippen kommt. „Ich bin nicht besonders beeindruckt. Was soll schon dran sein an diesem Kometen? Schließlich ist er nur ein riesiger gasförmiger Feuerball.“

Angie, Rosemary und Kirby hatten sich bei Angies Eltern im Garten versammelt. Hier, in der ruhigen Vorortsiedlung, konnten sie den Kometen ohne die störenden Lichter der Stadt beobachten. Sie lagen mit den Füßen nach außen sternförmig auf dem Rasen, die Arme unter den Köpfen verschränkt. Es war drei Uhr dreizehn morgens, und Komet Bob sollte in dieser Nacht um exakt drei Uhr siebzehn über dem nächtlichen Himmel von Endicott, Indiana, die größte Nähe zur Erde erreichen. Aus einem unerfindlichen Grund kehrte der Komet alle fünfzehn Jahre zur Erde zurück, jeweils in der dritten Septemberwoche. Und jedes Mal lag der Punkt seiner größten Erdnähe direkt über der Kleinstadt Endicott.

Das war eine Anomalie, für die die Wissenschaftler seit Generationen erfolglos eine Erklärung suchten, ein Rätsel, das sie wie die Lemminge alle fünfzehn Jahre in die kleine Stadt in Indiana lockte – nur, um nach Bobs Verschwinden stets aufs Neue kopfschüttelnd und ratlos wieder abzureisen. Und weil niemand bisher in der Lage gewesen war, die Regelmäßigkeit von Bobs Wiederkehr oder seine Vorliebe für Endicott zu erklären, war die Berühmtheit des Kometen immer größer geworden. Inzwischen betrachtete die kleine Stadt ihn sozusagen als ihr Eigentum.

Die Septembernacht war heiß und drückend, obwohl der Sommer schon zu Ende war, und die schwache Brise brachte kaum Abkühlung. Zwar hatte die Schule vor drei Wochen wieder begonnen, doch Bobs Rückkehr und das damit verbundene Fest erforderten einen zusätzlichen Feiertag. Die Schulen waren am nächsten Tag geschlossen, und alle Berufstätigen bekamen per Erlass des Bürgermeisters frei, damit jeder lange aufbleiben und Bob beobachten konnte.

In diesem Jahr aber schien Bob andere Pläne zu haben. Laut Aussage der Astronomen war er zwar pünktlich erschienen, doch aufgrund der starken Bewölkung war er in diesem Jahr für die meisten Beobachter bisher nicht sichtbar gewesen. Auch in dieser Nacht war der Himmel wieder nicht klar, was die Identifizierung des Kometen noch schwieriger machte.

Angie blickte konzentriert auf die Stelle, wo Bob sich nach Meinung der Experten zeigen sollte. Aber bis auf einen vagen hellen Fleck konnte sie nichts erkennen. „Ich fürchte, irgendjemand hat einen Fehler gemacht“, erklärte sie. „Ich glaube nicht, dass Bob sich heute Nacht blicken lässt.“

„Er wird kommen“, versicherte Kirby den anderen. „Es ist fünfzehn Jahre her, und er ist immer gekommen.“

„Bob ist schon da“, beharrte Rosemary. „Da, über dem Bergahorn, ungefähr zwanzig Zentimeter links vom Mond. Seht genau hin. Es ist schwer zu erkennen, aber es ist Bob.“

Eigentlich hatte Komet Bob einen weitaus komplizierteren Namen, aber niemand konnte ihn richtig aussprechen. Er war nach einem osteuropäischen Wissenschaftler benannt, in dessen Namen einige merkwürdige Vokale und noch seltsamere Konsonanten vorkamen und der seit über zweihundert Jahren tot war. Außerdem – was machte es schon für einen Unterschied? Das zumindest war die allgemeine Ansicht. Komet Bob war Komet Bob, mit selbst erworbenem Ruhm aus verschiedenen Gründen. Er war stets pünktlich, mit dem bloßen Auge erkennbar, sobald er der Erde nahe genug war, und Endicott, Indiana, profitierte alle fünfzehn Jahre reichlich von ihm.

Natürlich gab es da noch die Legenden. Jeder, der schon mehr als ein Auftauchen des Kometen erlebt hatte, wusste, dass er für alle möglichen Turbulenzen verantwortlich war. Manche Leute behaupteten, Bob verursache „kosmische Störungen“, die zur Folge hatten, dass sich die Einwohner Endicotts bei seinem Erscheinen äußerst merkwürdig benahmen. Andere wiederum waren überzeugt, dass die Menschen durch Bobs Einfluss die Geister ihrer Vergangenheit sehen konnten. Dann gab es noch jene, die fest daran glaubten, dass der Komet für die Entstehung von Liebesbeziehungen zwischen Menschen verantwortlich war, die sich normalerweise nicht einmal guten Tag sagten.

Nicht zu vergessen die Wünsche. Es war ein weit verbreiteter Glaube unter den Bürgern der Stadt, dass Bob denen, die in einem Jahr geboren worden waren, in dem er über Endicott erschien, ihre Wünsche erfüllte, wobei der zeitliche Ablauf dem Zyklus seines Auftauchens folgte. Angie hatte mit dieser Legende nichts im Sinn, aber Kirby beschäftigte es offenbar sehr.

„He, glaubt ihr eigentlich die Geschichte von den Wünschen?“, fragte sie ihre Freundinnen.

„Dass sie in Erfüllung gehen, wenn man im Jahr des Kometen geboren ist?“, meinte Angie.

„Genau“, bestätigte Kirby. „Glaubst du daran?“

„Nein“, erwiderte Angie. „Wünsche gehen nicht in Erfüllung, weder durch kosmische Hilfe noch durch irgendetwas anderes.“

Rosemary war geneigt, ihr zuzustimmen. „Ja, ich bezweifle, dass irgendjemandes Wunsch in Endicott jemals in Erfüllung gegangen ist.“

„Mrs. Marx’ schon“, sagte Kirby. „Das hat sie mir erzählt. Sie wurde im Jahr von Bobs Erscheinen geboren. Als er das nächste Mal kam, wünschte sie sich etwas, und als sie dreißig war und Bob auftauchte, ging ihr Wunsch in Erfüllung.“

Angie und Rosemary drehten die Köpfe und sahen neugierig Kirby an.

„Was hat sie sich gewünscht?“, fragte Rosemary.

Kirby sah erst die eine, dann die andere Freundin an. „Das wollte sie mir nicht verraten“, gestand sie schließlich.

Angie nickte wissend. „Das dachte ich mir.“

„Aber sie hat geschworen, dass ihr Wunsch in Erfüllung ging.“

Rosemary schnaubte entrüstet. „Ja, das kann ich mir vorstellen.“

„Warum sollte sie mich belügen?“, entgegnete Kirby. Doch da die anderen beiden nicht weiter darauf eingingen, hielt sie erneut nach dem Kometen Ausschau.

Angie sah ebenfalls wieder hinauf und stellte fest, dass der Himmel so dunkel war wie selten zuvor. Die drei Mädchen befanden sich außerhalb der Reichweite jeder künstlichen Lichtquelle und konnten kaum mehr als ihre Gesichter erkennen. Die Milliarden Sterne über ihnen kamen ihnen unendlich weit entfernt vor.

„Nun, wir sind alle drei im Jahr des Kometen geboren, nicht wahr?“, meinte Angie nachdenklich. „Also, wenn ihr euch nun etwas wünschen würdet und überzeugt wärt, dass dieser Wunsch in fünfzehn Jahren in Erfüllung ginge, was würdet ihr euch wünschen?“

Einen Moment lang schwiegen die drei Freundinnen, bis Rosemary, die gesprächigste, antwortete: „Ich wünsche mir, dass dieser Blödmann Willis Random eines Tages bekommt, was er verdient.“

Der dreizehnjährige Willis war Rosemarys Laborpartner in Chemie, ein Wissenschaftstalent, dessen jüngstes Hauptanliegen darin zu bestehen schien, Rosemary das Leben schwerzumachen. Sie war nie der Typ für wissenschaftliche Versuche gewesen, und Willis verachtete sie und machte sie schlecht wegen ihres mangelnden Verständnisses für den von ihm gewählten Kurs. Die Mädchen dagegen lästerten über sein „Streuselkuchengesicht“.

Angie nickte. Willis’ Untergang herbeizuwünschen kam ihr gerecht vor. „Wie steht es mit dir, Kirby?“, wandte sie sich an ihre andere Freundin.

Kirby seufzte wehmütig und sah zum Himmel hinauf. „Ich wünsche mir …“, begann sie leise und verstummte. Gerade als Angie sie zu einer Antwort drängen wollte, fuhr sie fort: „Ich wünsche mir wahre und ewige Liebe. Eine Liebe, von der man in Büchern liest und die man in den alten Filmen sieht.“

Kirbys ganzes Leben drehte sich darum, zur Schule zu gehen und sich um ihre invalide Mutter zu kümmern. Für etwas anderes blieb ihr kaum Zeit. Zudem fanden die meisten Jungen aus Endicott, dass sie zu brav sei, um sich mit ihr zu verabreden. Der Wunsch, jemand möge kommen und Romantik in ihr Leben bringen, war also keineswegs überraschend.

„Diese Art von Liebe gibt es nicht“, verkündete Rosemary.

„Doch, es gibt sie“, konterte Kirby.

„Nein, gibt es nicht.“

„Und ob.“

Da die beiden sich die ganze Nacht weiterstreiten würden – Bob bewirkte, dass sich jeder in diesen Tagen merkwürdig benahm –, unterbrach Angie sie und sagte: „Vielleicht finden wir es in fünfzehn Jahren heraus.“

„Das bezweifle ich“, murmelte Rosemary.

„Wie ist es mit dir, Angie?“, wollte Kirby wissen. „Wenn du dir etwas wünschen könntest, was wäre es?“

„Ja, was würdest du dir wünschen?“, drängte Rosemary.

„Ich?“, meinte Angie nachdenklich. „Keine Ahnung. Ich wünsche mir wohl, dass eines Tages mal etwas Aufregendes in dieser langweiligen Stadt passiert oder jemand Aufregendes hier auftaucht.“

„Na sicher“, bemerkte Rosemary. „Kein Problem.“ Sie stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete ihre Freundinnen mit wissender Miene. „Angie“, begann sie geduldig, „dies hier ist Endicott. Hier passiert niemals etwas Aufregendes. Nicht einmal Bob kann Wunder vollbringen.“

„Aber ich wünsche es mir trotzdem“, erwiderte Angie.

„Na schön. Hörst du das, Bob?“, rief Rosemary zum Himmel hinauf. „Meine Freundin hier, Angie Ellison, will, dass etwas Aufregendes passiert oder jemand Aufregendes auftaucht, wenn du das nächste Mal kommst. Schreib’s dir auf, ja? Sonst vergisst du es noch!“

Und hoch oben am Nachthimmel über Endicott, Indiana, zog Bob blinkend vorbei. Er würde wiederkommen. In exakt fünfzehn Jahren.

1. KAPITEL

Angie Ellison konnte nicht fassen, was sie gleich tun würde. Es war gefährlich, unmoralisch und illegal. Es war schlichtweg nicht richtig. Doch es war ihre einzige Möglichkeit, den Lebensunterhalt ihres Vaters und vielleicht sogar sein Leben zu retten.

Sie kauerte hinter einem dichten Busch, der noch in voller Blüte stand, hielt sich die Nase zu, um ein drohendes Niesen zu verhindern, und spähte zu dem Fenster hinauf, das ihrer Einschätzung nach zu Ethan Zorns Schlafzimmer gehören musste. Sie war erst zweimal in dem Haus gewesen – einmal als Zweitklässlerin bei einem Schulausflug zu dem, was einmal eine historische Attraktion und unter dem Namen Stately Randall House bekannt gewesen war, und zum zweiten Mal letzte Woche, als sie sich für eine Beraterin von „Junebug Cosmetics“ ausgegeben hatte, um das Haus genauer auszukundschaften.

Beim ersten Mal hatte Ethan Zorn noch nicht in Endicott gelebt und keine Bedrohung für Angies Familie dargestellt. Bei ihrem zweiten Besuch war Mr. Zorn, der das Haus gemietet hatte, nicht daheim gewesen. Natürlich hatte Angie gewusst, dass er nicht zu Hause sein würde, als sie den schweren Messingtürklopfer betätigte. Sie hatte der Haushälterin ihren falschen Probenkoffer präsentiert und schließlich einen verdorbenen Magen vorgetäuscht, um das Bad benutzen zu können, wo sie einige ziemlich echt klingende Würgegeräusche von sich gegeben hatte.

Die Haushälterin war daraufhin in die Küche gelaufen, um eine Magentablette und ein Glas Wasser zu holen. Angie war nach oben geeilt und hatte sich rasch umgesehen. Und soweit sie sich jetzt erinnern konnte, musste das Fenster direkt über dem Busch zum Schlafzimmer gehören. Zumindest hoffte sie das, denn genau dort würde sie gleich einsteigen.

Eine feuchte blonde Strähne löste sich aus der Baseballkappe, die sie mit dem Schirm nach hinten auf dem Kopf trug, und fiel ihr in die Stirn. Angie versuchte vergeblich, sie wegzupusten, doch sie klebte an ihrer Haut. Wegen der Hitze fühlte sie sich keineswegs wohl in dem langärmeligen schwarzen T-Shirt und der Jeans.

Der September in Indiana ist wie der Juli im Amazonasdschungel, dachte sie. Die Luft war drückend und schwül und einem Einbruch in keiner Weise förderlich. Sie musste jedoch etwas tragen, das ihre goldblonden Haare und die helle Haut verbarg, weil sie sonst Gefahr lief, im Mondlicht erkannt zu werden.

Langsam richtete sie sich auf und schlich um das große Backsteingebäude herum. Ihre schwarzen Turnschuhe verursachten ein leises Rascheln auf dem trockenen Gras. Angies Atem ging unregelmäßig. Zu spät fiel ihr ein, dass es wahrscheinlich eine Alarmanlage gab, mit der sie sich auseinandersetzen musste. Andererseits schlossen die Menschen in Endicott nicht einmal ihre Türen ab, weil hier nie etwas geschah. Selbst Gangster wie Ethan Zorn rechneten wahrscheinlich nicht mit ungebetenen Besuchern. So etwas gab es in Endicott einfach nicht, und nicht einmal Mitglieder der Mafia mussten sich deswegen Sorgen machen.

Also waren Angies Chancen etwa fünfzig-fünfzig, dass sie bei ihrem ersten und zweifellos letzten Versuch, das Gesetz und die organisierte Kriminalität gleichzeitig herauszufordern, erfolgreich sein würde. Das musste sie auch unbedingt, denn falls es ihr nicht gelang zu beweisen, was für ein übler Gangster Ethan Zorn war, konnte ihre Familie alles verlieren.

Sie näherte sich einem offenen Fenster, aus dem Musik drang. Es waren die „Brandenburgischen Konzerte“. Da Musik ihr Nebenfach auf dem College gewesen war, hätte sie die wilde, tosende Komposition überall erkannt. Natürlich hatten solche Studien ihr bei ihrer Journalistenkarriere nicht weitergeholfen. Schließlich arbeitete sie noch immer für den „Endicott Examiner“ und hatte selbst dort noch immer keine Titelgeschichte veröffentlichen können. Nicht dass es so schlecht war, für die Berichterstattung über Kriminalfälle zuständig zu sein. Immerhin hatte sie Kriminalreporterin werden wollen. Sie wünschte nur, es gebe in Endicott irgendwelche Verbrechen, über die sie schreiben könnte. Das würde ihre Arbeit bedeutend interessanter machen.

Nicht zum ersten Mal hoffte sie, dass die heutige Eskapade ihr eine richtig gute Story brachte, abgesehen davon, dass sie damit ihrer Familie half. Dann würde Marlene, die Herausgeberin des „Examiner“, Angies journalistische Integrität und ihren Mut belohnen müssen. Vielleicht würde die Story sogar von einer Presseagentur an andere Zeitungen verkauft werden. In ihrer Fantasie sah sie ihren Namen bereits auf der Titelseite der „New York Times“.

Natürlich wüsste die Mafia dann, wo sie zu finden war. Das führte sie einen Moment lang zu der Überlegung, ob sie wirklich das Richtige tat. Plötzlich endete die Musik, sodass Angie keine Zeit mehr zum Nachdenken blieb. Sie hielt sich im Schatten der kühlen Backsteinmauer und bemühte sich, nicht in Panik zu geraten. Ethan Zorn war schließlich nicht in der Stadt. Das wusste sie, weil sie ihre Freundin Rosemary angerufen hatte, die im Reisebüro arbeitete. Durch sie hatte Angie Zorns Reisepläne erfahren. Also musste die Haushälterin die Musik abgestellt haben.

Angie wagte einen Blick durch das Fenster im Erdgeschoss und entdeckte die weißhaarige, sanftmütige Mrs. MacNamara, die an den Knöpfen der Stereoanlage drehte. Gute drei Minuten beschäftigte sie sich damit, bis sie den Rocksender des Kommunikationskurses der örtlichen Highschool fand. Hämmernde Rockklänge dröhnten aus der Anlage, und Mrs. MacNamara kehrte zufrieden zu ihrem Sessel neben dem Klavier zurück, wo sie sich wieder ihrer Strickarbeit widmete.

Das ist der verdammte Komet, dachte Angie und schüttelte erstaunt den Kopf. In anderthalb Wochen würde er direkt über Endicott hinwegfliegen, und es hieß allgemein, dass er die Menschen dazu brachte, Dinge zu tun, auf die sie gewöhnlich niemals verfallen würden. Wie zum Beispiel in ein Haus einzubrechen, dachte sie und bückte sich, um auf allen vieren unter dem offenen Fenster entlangzukriechen. Oder die Wut eines bösartigen Killers wie Ethan Zorn auf sich zu ziehen.

Eigentlich wusste sie gar nicht genau, ob Ethan Zorn schon jemanden umgebracht hatte. Aufgrund seiner Arbeit nahm sie es einfach an. Mafiosi brachten schließlich dauernd Leute um, oder? Sie waren für ihre Grausamkeit berüchtigt und schreckten vor nichts zurück. Bis vor Kurzem hatte es in Endicott noch keine Mafia gegeben. Bis Mr. Zorn aufgetaucht war. Und jetzt kursierten hier Gerüchte über kriminelle Aktivitäten. Angie wünschte nur, sie wüsste genau, worum es sich im Einzelnen handelte.

Leise bewegte sie sich weiter, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Mrs. MacNamara die einzige Person im Haus war, schlich sie zurück unter das angebliche Schlafzimmerfenster im ersten Stock. Bei Tageslicht hatte es gar nicht so hoch ausgesehen. Doch als sie jetzt in der Dunkelheit hinaufsah, schien es eine ziemliche Kletterpartie zu werden.

Angie holte tief Luft. Ihr blieb keine andere Wahl. Außerdem führte die Regenrinne so nah am Fenster vorbei, dass sie unmöglich widerstehen konnte. Sie packte das Metallrohr mit einer Hand, die in einem schwarzen Lederhandschuh steckte, schob die Schuhspitze in den breiten Fugenzwischenraum der Mauer und zog sich hoch. Langsam und sicher kletterte sie so die Backsteinfassade hinauf. Sie fühlte sich richtig großartig, wie eine Superheldin aus einem Comic.

Erst als sie das Schlafzimmerfenster erreichte, geriet sie in Panik. Denn insgeheim hatte sie gehofft, dass das Fenster verschlossen war, damit sie die ganze verrückte Aktion guten Gewissens abbrechen und nach Hause gehen konnte. Unglücklicherweise aber war das Fenster nicht nur unverriegelt, sondern stand auch noch sperrangelweit offen. Es würde ein leichtes sein, in Ethan Zorns Schlafzimmer einzubrechen.

Mit einem letzten schweren Seufzer erreichte sie den steinernen Fenstersims. Einen Moment lang hing sie mit beiden Armen daran und tadelte sich erneut dafür, etwas so Dummes zu tun. Dann zog sie sich hoch und rollte sich über den Sims ins Zimmer.

Ethan Zorn parkte den kleinen, unverschämt teuren Wagen vor seinem gemieteten Haus und schwor sich erneut, dass er niemals wieder Stand-by fliegen würde. Es war zu stressig, zu unvorhersehbar, zu unkomfortabel.

Natürlich hatte es Zeiten gegeben, in denen es ihm nichts ausgemacht hatte, spontan und unkomfortabel zu reisen. Doch für Stress hatte er nie etwas übrig gehabt. Es war schon bemerkenswert, wie in den letzten zehn Jahren die Dinge, die er mochte, immer mehr aus seinem Leben verschwunden waren, während der Stress immer größer geworden war.

Er verdrängte diese trüben Gedanken und zwängte sich aus dem Wagen, um sich auf dem Gehsteig erst einmal genüsslich zu strecken. Dann nahm er seine Aktentasche und seine Reisetasche vom Rücksitz. Beide schienen seine ständigen Begleiter zu sein, und vage registrierte er, dass sie bereits deutliche Abnutzungserscheinungen zeigten. Genau wie ich, dachte er ironisch. Aber Männer wie er überlebten diese Art von Arbeit normalerweise auch nicht so lange.

Er trat die Tür mit dem Absatz zu, aktivierte die Alarmanlage und fragte sich, weshalb er sich überhaupt darum kümmerte. Sein neues Hauptquartier – er zögerte, die Kleinstadt Endicott sein Zuhause zu nennen – war ein anständiger, erbaulicher Ort. Aber er war es gewohnt, stets auf der Hut zu sein, und würde nicht gerade jetzt damit aufhören.

Die Haustürschlüssel klimperten leise, als er die Stufen hinaufstieg und die breite Veranda überquerte. Die Tür war wieder einmal unverschlossen. Er würde sich also erneut ernsthaft mit der Haushälterin unterhalten müssen.

Natürlich war Mrs. MacNamara hier aufgewachsen und konnte daher nicht verstehen, dass es draußen in der bösen Welt kriminelle Elemente gab. Endicott war das Herz und die Seele des Mittleren Westens Amerikas, ein Ort, an dem noch immer Träume und Wünsche in Erfüllung gehen konnten.

Im Grunde waren die Naivität und selige Unwissenheit der Einwohner dieser Stadt zum Lachen. Wenn die Leute wüssten, was Ethan hier wirklich tat, würden sie ihre Kinder von der Straße holen und aus der Stadt flüchten. Zum Glück hatte er sich gut getarnt. Aber das war bei seinem Job auch überlebenswichtig. Ein falscher Schritt konnte den Tod bedeuten.

Die Haustür knarrte behaglich, und Ethan wurde von harter Rockmusik empfangen. Er folgte dem Lärm ins Wohnzimmer und entdeckte Mrs. MacNamara friedlich schlafend, das Strickzeug auf dem Schoß, während die Boxen mit jedem Baßwummern förmlich im Regal tanzten. Ethan ging zur Stereoanlage und schaltete sie aus. Herrliche Stille kehrte ein und weckte die Haushälterin. Sie blinzelte.

„Oh, Mr. Zorn. Sie sind schon zurück. Ich habe Sie nicht vor morgen Abend erwartet.“

Ethan fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Meine Geschäfte waren früher als geplant erledigt, daher habe ich mich gleich auf den Heimweg gemacht. Ist alles in Ordnung?“

Die Haushälterin nickte. „Soweit man das mit Bob am Himmel behaupten kann.“

Er runzelte die Stirn. Mrs. MacNamara hatte sich von diesem Unsinn also auch anstecken lassen. Das war das einzig Ärgerliche an dieser Stadt. Die Kometen-Hysterie schien seit Ethans Ankunft vor einigen Wochen jeden erfasst zu haben. Komet Bob wurde für alles verantwortlich gemacht, von entlaufenen Haustieren und Stromausfällen bis hin zu verspäteter Post. Und jedes Mal, wenn ein Bürger der Stadt etwas Unvernünftiges tat – sei es nun eine Geschwindigkeitsübertretung direkt vor den Augen eines Verkehrspolizisten, oder jemand wurde in flagranti vom Ehepartner erwischt –, dann wurde die Schuld dafür natürlich auf Bob geschoben.

„Gut“, sagte Ethan, um ein Gespräch über den Kometen von vornherein abzuwürgen. Plötzlich hatte er auch keine Lust mehr, Mrs. MacNamara wegen der offenen Haustür zu tadeln. Er fuhr sich durch die schwarzen Haare und meinte: „Dann gehe ich jetzt ins Bett.“

Mrs. MacNamara nickte. „Ich auch. Seit Bob letzten Monat wieder aufgekreuzt ist, habe ich überhaupt keine Energie mehr.“

Das hatte natürlich nichts damit zu tun, dass die Frau schon fast achtzig Jahre alt war und erst vor Kurzem die Verantwortung für ihren vierzehnjährigen Urenkel übernommen hatte, der ein jugendlicher Straftäter war.

„Tun Sie das, Mrs. MacNamara“, sagte er und wartete, bis die Frau gegangen war, ehe er sein Brioni-Jackett auszog und über den Arm legte. Er rollte die Schultern, da das Holster drückte. Die große MAC-10-Pistole, die darin steckte, hatte er auf dem Flug von Philadelphia in Einzelteile zerlegt in seiner Reisetasche transportiert. Sobald er sein Gepäck in Empfang genommen hatte, war er auf der nächsten Herrentoilette verschwunden und hatte die Waffe zusammengebaut, um sie bei sich tragen zu können. Ohne sie kam er sich viel zu schutzlos vor.

Er löste den Knoten seiner Krawatte, warf sich den Trageriemen der Reisetasche über die Schulter und stieg die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf. Auf dem Weg nach oben wechselte er die Aktentasche von einer Hand in die andere und begann sein Versace-Hemd zu öffnen und es aus der Hose zu ziehen. Er wollte es nur noch bequem haben und sich entspannen. Vor seiner Schlafzimmertür streifte er die Gucci-Halbschuhe ab und wollte gerade eintreten und das Licht einschalten, als er in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Zimmers ein eigenartiges Geräusch hörte. Offenbar war jemand in seinem Zimmer.

Er wich einen Schritt zurück und stellte sein Gepäck lautlos auf den Boden. Dann zog er die MAC-10 und entsicherte sie. Plötzlich kam ihm die milde Nacht drückend schwül vor, und er wischte sich einen dünnen Schweißfilm von der Oberlippe. Er trat auf die Schlafzimmertür zu, legte die Hand flach an die Wand und tastete nach dem Lichtschalter.

Als das Licht anging, sprang Ethan mit vorgehaltener Waffe und gespreizten Beinen ins Zimmer. Er hatte mit mehreren bedrohlichen Gestalten gerechnet, die ihn erwarteten. Stattdessen sah er sich einer ganz in Schwarz gekleideten zierlichen Blondine gegenüber, die auf Zehenspitzen am Kopfende seines Bettes stand. Sie stand auf den Kissen, und ihre Haltung verriet, dass sie das über dem Bett hängende Gemälde von Moby Dick zu erreichen versuchte. Sie wirbelte herum, verlor prompt das Gleichgewicht und landete auf ihrem niedlichen Po.

Als sie Ethan in bedrohlicher Position mit der großen schwarzen Waffe in der Hand erblickte, schlug sie die Hände vor den Mund, als wollte sie einen Aufschrei ersticken. Ihre dunklen Augen waren vor Entsetzen geweitet, doch sie gab keinen Laut von sich. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Brüste hoben und senkten sich heftig mit jedem schweren Atemzug.

Ethan erfasste sofort, dass sie nicht in sein Haus eingebrochen war, um einen Anschlag auf ihn zu verüben. Aus welchem Grund sie es sonst getan haben mochte, war ihm allerdings absolut schleierhaft. Zwar wohnte er schon seit zwei Wochen in Endicott, aber er konnte sich nicht erinnern, diese Frau bisher gesehen zu haben. Zudem hätte er diese Augen nicht vergessen.

Eine Blondine mit braunen Augen, dachte er. Dafür hatte er schon immer eine große Schwäche gehabt. Was für ein Glück, jetzt sogar eine in seinem Bett vorzufinden.

Als er ihre Angst bemerkte, musste er unwillkürlich lächeln. Rasch umfasste er die Waffe fester, um die Frau noch ein wenig mehr einzuschüchtern und für seine Fragen empfänglicher zu machen. Er kam näher, trat die Tür mit dem Absatz zu und schloss sie ab, ohne die Fremde aus den Augen zu lassen. Er zog den Schlüssel ab und warf ihn achtlos auf die andere Seite des Zimmers.

Die Frau hielt sich weiter die Hände vor den Mund und beobachtete, wie der Schlüssel hinter den Queen-Anne-Sessel beim Kamin fiel. Dann sah sie zu dem offenen Fenster gegenüber dem Bett, und es war offensichtlich, dass sie ihre Fluchtchancen abwägte. Netter Versuch, dachte Ethan. Aber so leicht würde er sie nicht entwischen lassen.

Beim Näherkommen registrierte er, dass sie kleiner war, als er zunächst angenommen hatte. Sie sah ihn erschrocken an und ließ die Hände sinken, gab jedoch noch immer keinen Laut von sich. Auch machte sie keine Anstalten, vom Bett aufzustehen. Er fragte sich, was sie sich bei dem Einbruch gedacht hatte. Vielleicht lebte sie gern gefährlich?

Ethan musste sich beherrschen, nicht einfach zu ihr ins Bett zu steigen. Stattdessen blieb er vor dem Bett stehen und betrachtete die umgedrehte Baseballkappe, unter der die goldblonden Haare hervorlugten. Dann ließ er bewusst lüstern den Blick über ihren Körper gleiten.

„So, so“, sagte er leise und setzte sich langsam auf die Bettkante. Die Frau wich zurück. „Wen haben wir denn da in meinem Bett?“

Grundgütiger, dachte Angie benommen. Jetzt steckte sie mächtig in der Klemme. Sie sah dem Mann, der sie in seinem Schlafzimmer erwischt hatte, ins Gesicht – das war immer noch besser, als auf den Lauf der Pistole vor ihrer Brust zu starren – und fragte sich, was sie jetzt machen sollte. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich von vornherein einen Fluchtplan zu überlegen, für den Fall, dass Ethan Zorn sie überraschte. Aber es war ihr so unwahrscheinlich vorgekommen. Außerdem war sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die passende Kleidung für den Einbruch auszuwählen.

Wenn sie sich sehr anstrengte, konnte sie sich womöglich einreden, dass der bedrohlich wirkende Mr. Zorn nicht vorhatte, sie zu erschießen. Sonst hätte er wohl kaum die Tür abgeschlossen und den Schlüssel weggeworfen. Das würde es ihm nur erschweren, ihre Leiche zu beseitigen. Außerdem hätte er bereits den Abzug gespannt, wenn er sie tatsächlich erschießen wollte. Also versuchte er vermutlich nur, ihr mit der Pistole Angst einzujagen. Was ihm auch gelang.

„Sie werden mich nicht fesseln, oder?“ Die Frage war heraus, bevor sie sich dessen ganz bewusst war. Sie kniff die Augen zu und schalt sich eine Närrin. Warum in aller Welt hatte sie ihn denn so etwas gefragt? Ethan Zorn musterte sie nachdenklich. Offenbar fand er die Idee verlockend.

„Wollen Sie denn von mir gefesselt werden?“

Angie kam sich schon dumm genug vor, daher biss sie die Zähne zusammen, um nicht etwas noch Blödsinnigeres von sich zu geben.

„Ich bin sicher, ich könnte irgendwo im Haus ein Seil auftreiben.“ Er grinste. „Falls es Ihnen so wichtig ist. Oder würde es Ihnen besser gefallen, wenn ich meine Krawatten benutze?“, fügte er mit einem anzüglichen Lächeln hinzu. „Immerhin sind die aus Seide und hinterlassen vermutlich keine Striemen.“

Angie starrte ihn weiter an, unfähig, auch nur einen Laut herauszubringen.

„Na ja, dann vielleicht ein andermal“, sagte er. Es tat ihm offensichtlich leid, dass sie auf seinen Vorschlag nicht reagiert hatte. Er musterte sie genauer. „Wenn Sie also nicht auf billiges Vergnügen aus sind – das ich Ihnen nur allzu gern bereiten würde –, was tun Sie dann in meinem Schlafzimmer?“

Angie war nicht imstande zu antworten.

„Nun?“, drängte er.

Endlich fand sie ihre Stimme wieder, auch wenn es nur ein Krächzen war. „Nun was?“

Er gestikulierte mit der Pistole, zum Zeichen dafür, dass sie inzwischen wissen müsste, wovon er sprach.

Angie zuckte die Schultern und tat ahnungslos. Sie hoffte auf eine göttliche Eingebung oder einen medizinischen Zwischenfall, der ihr die Flucht ermöglichte. Immerhin bewegte sie sich sicher auf eine Herzattacke zu. Wenn sie noch ein paar Minuten herausschinden konnte, würde es vielleicht sogar ein tödlicher Herzanfall werden, der ihr ein Ende durch eine Kugel ersparte.

Ethan sah sie neugierig an. „Ich warte auf eine Erklärung, Blondie. Was machen Sie in meinem Bett?“

Für einen kurzen Moment fand Angie, dass Ethan Zorn die schönsten, unergründlichsten und sanftesten Augen besaß, die sie je gesehen hatte. Dann nahm sie sich zusammen und erinnerte sich daran, dass er höchstwahrscheinlich ein Killer war. Und Killer hatten keine sanften braunen Augen.

„Oh, das ist Ihr Haus?“ Sie spielte die Erstaunte, da sie immer noch hoffte, dadurch Zeit gewinnen zu können.

Er war jedoch keineswegs überzeugt. „Mein Arbeitgeber hat es mir für die Dauer meiner Geschäfte hier gemietet.“

Sie schaute sich überrascht um und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Na so was! Das ist mir aber peinlich! Ich dachte, das wäre Bumper Shaugnessys Haus. Sie kennen doch Bumper, oder?“

„Nein“, antwortete er. „Ich kann nicht behaupten, Bumpers Bekanntschaft schon gemacht zu haben.“

Angie tat verblüfft. „Aber jeder in Endicott kennt Bumper seit dem Vorfall mit der Maiskönigin auf dem Jahrmarkt von Madison. Na, davon werden Sie doch wohl gehört haben.“

Erneut musterte er sie nachdenklich. „Tut mir leid, davon weiß ich nichts.“

Angie wedelte lebhaft mit der Hand. „Das ist eine tolle Geschichte. Die wird Ihnen gefallen. Also, Bumper ging nämlich eigentlich mit Dierdres Zwillingsschwester Daphne. Dierdre ist natürlich die Maiskönigin, und er merkte gar nicht …“

„Wer sind Sie?“

Angie blinzelte nervös. „Ich bin Angie Ellison.“

„Warum sind Sie in meinem Haus? In der Dunkelheit und ganz in Schwarz gekleidet wie ein Einbrecher?“

„Das habe ich Ihnen doch gerade erklärt“, meinte sie leise und bekam plötzlich einen trockenen Mund. „Ich dachte, es wäre Bumper Shaugnessys Haus.“

„Unsinn, das kaufe ich Ihnen nicht ab.“ Er richtete die Waffe auf die Decke, ließ mit einem metallischen Klicken das Magazin herausgleiten, überprüfte es und schob es wieder hinein. Dann zielte er erneut auf Angie. „Versuchen wir es noch einmal. Wer sind Sie, und was treiben Sie hier?“

„Ich bin Angie Ellison“, wiederholte sie.

„Ihren Namen habe ich schon beim ersten Mal verstanden, Süße. Helfen Sie mir weiter, sonst muss ich etwas tun, was ich ungern tun würde.“

Sie holte tief Luft und suchte verzweifelt nach einem Einfall, der ihre Anwesenheit wenigstens einigermaßen plausibel erscheinen ließ. „Würden Sie mir glauben, dass ich Ihrer Haushälterin ein paar Kosmetika gebracht habe, die sie letzte Woche bei mir bestellt hat?“

Ethan Zorn hob eine Braue. „Nein, das würde ich Ihnen nicht abnehmen. Nächster Versuch.“

„Würden Sie mir glauben, dass ich Sie heimlich bewundere und Ihre Bekanntschaft machen wollte?“ Ihre Worte hellten seine einschüchternde Miene auf. Leider erschien auf seinem Gesicht ein begehrlicher Ausdruck, und Angie überlegte, ob diese Ausrede wirklich eine so gute Idee gewesen war.

„Obwohl mir die Vorstellung gefällt, von Ihnen bewundert zu werden, sagt mir etwas, dass das noch nicht alles ist.“ Er hob die Pistole, die er hatte sinken lassen. „Das waren zwei Versuche. Machen Sie noch einen letzten, und sagen Sie mir diesmal die Wahrheit, dann können Sie gehen.“

2. KAPITEL

Ethan Zorn war schon lange in dem Geschäft und hatte schon jede Menge schräger Typen getroffen. Manny Moran, genannt „Der Fleischerhaken“, zum Beispiel, und Zwei-Finger-Nick, Joey das Messer oder Goosey Lucy. Und dann war da noch dieser Junge aus dem südlichen Philadelphia, dessen Name wie „Lenny Einkaufstüte“ klang.

Jemandem wie Angie Ellison war er jedoch noch nie begegnet. Angel nannte er sie im Stillen. Irgendwie passte der Name zu ihr. Sie hatte etwas von einem Engel oder einer Fee an sich. Zusätzlich zu ihrer Schönheit, die man nur ätherisch nennen konnte, besaß sie auch noch etwas Unschuldiges. Die Menschen in dieser hinterwäldlerischen Stadt waren schon reichlich naiv, aber diese Frau überbot sie alle. Ethan wünschte nur, er wüsste, wer sie war und was sie im Schilde führte.

Eigentlich müsste sie Angst vor ihm haben. Er war immerhin bewaffnet und mit ihr eingeschlossen. Sie musste befürchten, dass er sie zu töten beabsichtigte. Jede andere Frau hätte vor Furcht kein Wort mehr herausbekommen. Angie Ellison dagegen flirtete regelrecht mit ihm. Nur so konnte er ihren Blick interpretieren, ihre Stimmlage, die Verspieltheit hinter ihren Worten. Sicher, sie versuchte, ihr Leben zu retten. Aber sie tat es so … unbekümmert. Das war ihm nicht geheuer.

Vielleicht war diese relative Unbesorgtheit darauf zurückzuführen, dass sie Einwohnerin von Endicott war. Denn eines hatte Ethan seit seiner Ankunft gelernt: Die Menschen lebten hier noch wie in der guten alten Zeit miteinander und hatten nicht die leiseste Ahnung, wie es in der Welt draußen aussah.

Also war Angie sich ihrer prekären Situation womöglich gar nicht richtig bewusst. Was wiederum bedeutete, dass er ihr ein bisschen Dampf machen sollte.

„Angel“, begann er.

„Angie“, verbesserte sie ihn sofort.

„Angel“, beharrte er, „es gibt mehrere Möglichkeiten, wie es jetzt weitergeht.“

Sie machte einen so unbekümmerten Eindruck, dass sie ebenso gut beim Tee hätten zusammensitzen können.

„Ich glaube Ihnen einfach nicht, dass Sie mein Haus mit dem von Boomer verwechselt haben.“

„Bumper“, unterbrach sie ihn. „Bumper Shaugnessy.“

„Wie auch immer“, meinte er müde und ließ die Hand mit der Waffe erneut sinken. Diesmal hob er sie nicht mehr, um wieder auf Angie zu zielen. „Ich weiß zwar nicht, weswegen Sie hier sind, aber es hat sicher etwas mit mir zu tun.“

Sie schob den Kopf vor. „Und Ihr Name ist …?“

„Ethan Zorn.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Sie klang aufrichtig erfreut. „Sind Sie nur zu Besuch in Endicott? Haben Sie Verwandte hier?“

„Was ich hier tue, Angel …“

„Angie.“

„… geht Sie nichts an. Was Sie jedoch in meinem Haus machen, geht mich eine ganze Menge an. Vor allem, da Sie weiterhin meiner Frage ausweichen.“

„Ich weiche Ihnen nicht aus“, widersprach sie. „Ich versuche nur, höfliche Konversation zu machen.“

„Fein, aber ich würde lieber aus dieser Geschichte schlau werden.“ Er rückte näher zu ihr, bis sein Oberschenkel ihren berührte. Dann schnappte er sich ihre Baseballkappe und warf sie auf den Boden. Sie stieß einen Laut der Überraschung aus, und ihre goldblonden Haare fielen ihr in schimmernden Locken auf die Schultern. Mit einem finsteren Grinsen packte er eine Handvoll Haare am Nacken, hatte jedoch nicht die Absicht, grob zu werden. „Also dann“, fuhr er fort und nahm den Duft ihrer Haare wahr. Sie rochen nach Frühlingsblumen. „Was machen Sie in meinem Haus?“

Jetzt geht der Tanz los, dachte Angie. Oder was immer sie in diesen Gangsterfilmen sagten, die sie als Teenager im Roxy Kino in der Willow Street gesehen hatte. Sie konnte keine Zeit mehr schinden, und in ihrem Kopf drehte sich bereits alles von dem Versuch, sich mit ihrem Geplauder am Leben zu halten. Allmählich wurde Ethan Zorn ungeduldig. Zwar wusste sie nicht, wie ungeduldige Gangster sich verhielten, aber sie war ziemlich sicher, dass es nicht angenehm ausfallen würde.

In dieser Vermutung wurde sie bestärkt, als er ihren Kopf zurückzog und ihr den Lauf der Pistole an den Hals setzte.

„Raus mit der Sprache“, forderte er.

„Oh!“ Ihr Herz pochte wie wild, und sie spürte das kalte, harte Metall der Waffe an ihrer Haut. So hatte sie sich den Verlauf des Abends nicht ausgemalt. Ethan zog erneut an ihren Haaren, noch fester diesmal. „Bitte“, flehte sie, „Sie tun mir weh.“

Zu ihrer Beschämung traten ihr Tränen in die Augen, was jedoch mehr ein Resultat ihrer Angst war als des Schmerzes. Sie biss sich auf die Lippe. Dieser Mann sollte sie nicht weinen sehen. Zu weinen war ein Zeichen von Schwäche, und die wollte sie vor Ethan Zorn auf keinen Fall zeigen.

Beim Anblick ihrer Tränen lockerte er den Griff ein wenig, und seine Miene wurde tatsächlich sanfter. Merkwürdig, dachte Angie, dass ein Gangster wegen etwas so Unbedeutendem wie den Tränen einer Frau schuldbewusst und reuevoll aussehen konnte. Er nahm die Pistole von ihrem Hals, sicherte sie und steckte sie in sein Schulterholster zurück. Angies Haare ließ er jedoch noch nicht los. Er bewegte ihre Strähnen zwischen Daumen und Zeigefinger, als hätte er einen Talisman mit Zauberkraft entdeckt.

„Das ist Ihre letzte Chance“, erklärte er, doch es klang schon nicht mehr so bedrohlich wie vorher.

„Na schön“, gab sie nach, da er sie nicht gehen lassen würde, ehe sie seine Fragen beantwortet hatte. „Wie ich schon gesagt habe, mein Name ist Angie Ellison, und ich arbeite für den ‚Endicott Examiner‘.“

„Die Zeitung?“ Das verblüffte ihn.

Sie nickte heftig. „Ich bin absichtlich hier eingebrochen und wusste, dass es sich um Ihr Haus handelt.“

Er musterte sie einen Augenblick. „Warum?“, fragte er schließlich leise.

Sie schluckte. „Weil ich weiß, wer Sie sind“, antwortete sie zögernd.

„Ach, und wer bin ich?“

Angies Herz schlug schneller. „Sie sind Ethan Zorn, und Sie … Sie arbeiten für die Mafia.“

Seine einzige Reaktion auf ihre Anschuldigung war ein leichtes Zucken in seiner Wange. Außerdem verdunkelten sich seine Augen ein wenig. Hätte Angie nicht so nah bei ihm gesessen, hätte sie es kaum bemerkt. Einen kurzen, angespannten Moment lang schien er von ihrer Einschätzung verblüfft. Dann aber war er amüsiert. „Für die Mafia? Das glauben Sie?“

„Ich weiß es.“

„Angel, Sie haben eine lebhafte Fantasie.“

„Ich heiße Angie“, korrigierte sie ihn gereizt. Ob er nun eine Waffe hatte oder nicht, sie hasste es, Angel genannt zu werden, besonders in diesem anzüglichen Ton. „Und Sie arbeiten für die Mafia. Versuchen Sie nicht, es abzustreiten, denn ich weiß es.“

„Ich arbeite für die Cokely Chemical Corporation“, erwiderte er. „Ich bin für einige Wochen geschäftlich hier und versuche, neue Kunden zu gewinnen.“

„Na klar“, spottete sie und fand allmählich ihren Mut wieder. „Cokely schickt ihre Vertreter ja auch immer mit großen Pistolen los. Damit soll wahrscheinlich sichergestellt werden, dass der potenzielle Kunde auch wirklich anbeißt, wie?“

Er sah auf seine Pistole, dann wieder zu Angie. „Reisende Geschäftsleute sind ein leichtes Ziel. Ich will nur keine böse Überraschung erleben.“

„Oder Sie wissen nie, wann Sie einen neugierigen Journalisten aus dem Weg räumen müssen“, konterte sie impulsiv, ohne über ihre Worte nachzudenken.

Er lachte. „Sie haben wohl zu viele Humphrey-Bogart-Filme gesehen. Ich bin Vertreter für die Cokely Chemical Corporation, das ist alles.“

„Das ist doch bloß Ihre Tarnung“, meinte sie kopfnickend, was sie schmerzhaft daran erinnerte, dass er noch immer ihre Haare gepackt hielt. „Mein Vater besitzt eine pharmazeutische Fabrik, und ihn haben Sie bisher noch nicht angerufen. Warum würde ein Vertreter zwei Wochen lang den besten Kunden in der Stadt übersehen? Die Firma meines Vaters hätten Sie zuerst aufgesucht. Das ergibt doch keinen Sinn. Sie arbeiten nicht für Cokely.“

„Na schön, nehmen wir mal an, das stimmt. Wie kommen Sie aber darauf, dass ich für die Mafia arbeite?“

„Ich habe meine Quellen.“

„Cokely gehört offenbar nicht dazu. Wenn Sie sich nämlich die Mühe gemacht hätten, dort nachzufragen, hätte man Ihnen die Auskunft gegeben, dass ich seit Jahren für sie arbeite.“

„Das hat man mir tatsächlich erzählt.“ Sie machte eine Pause und fügte dann hinzu: „Aber ich habe noch andere Informationsquellen. Außerdem brauchen Sie nur jemanden zu bestechen, damit er Ihre Anstellung bestätigt, sobald sich jemand danach erkundigt.“

Ethan Zorn ließ ihre Haare los, stand schweigend vom Bett auf und ging gelassen zum Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers. Er nahm einen großen weißen Umschlag aus der obersten Schublade. Dann zog er seine Brieftasche aus der Gesäßtasche, warf sie aufgeklappt auf das Bett und kippte den Inhalt des Umschlags daneben.

„Meine Referenzen“, erklärte er. „Überzeugen Sie sich selbst.“

Angie musterte ihn misstrauisch, wollte sich die Gelegenheit jedoch nicht entgehen lassen, seine Papiere genauer zu untersuchen. Vorsichtig hob sie die Brieftasche auf und warf einen Blick auf den Führerschein hinter der Klarsichtfolie. Er war in Pennsylvania ausgestellt. Die Adresse in Philadelphia sagte ihr absolut nichts, doch sie merkte sie sich, um sie morgen früh zu überprüfen.

Außerdem befanden sich in den dafür vorgesehenen Fächern verschiedene Kreditkarten, alles goldene. Sie untersuchte jede einzelne von ihnen. Alle waren auf den gleichen Namen ausgestellt: Ethan Zorn. Mutiger geworden, spähte sie in das Geldfach, überlegte es sich jedoch anders und sah um Erlaubnis bittend auf.

„Nur zu“, meinte er. „Überzeugen Sie sich ruhig selbst.“

Sie schob den Daumen ins Geldfach und blätterte die nach Wert geordneten Geldscheine durch. Sie zählte dreihundertsiebenundachtzig Dollar. Wer lief mit so viel Bargeld herum? Sofort fand sie eine Antwort darauf: Mafiosi.

Ethan grinste. „Ich benutze nicht gern Travellerschecks“, kommentierte er ihre unausgesprochene Frage.

„Warum nicht? Weil man sie nachverfolgen kann?“

„Das kann man bei Kreditkarten auch.“

„Ja, wenn man sie benutzt. Wer sagt denn, dass sie nicht einfach nur zur Tarnung dienen?“

Er verzog das Gesicht. „Sagen wir einfach, ich will meinen Namen nicht zu sehr in Umlauf bringen.“

„Ich kenne einen anderen Grund“, erwiderte sie.

Er seufzte. „Und der wäre?“

„Sie gehören zur Mafia!“

Ethan lachte trocken, was keineswegs überzeugend klang. „Und was sollte ein Mafiagangster wie ich in einer Gegend wie dieser tun?“

„Sie haben es auf die Firma meines Vaters abgesehen.“

„Aha. Und welchen Grund sollte ich dafür haben?“

„Damit Sie und die Mafia sie für Ihren dreckigen Drogenhandel benutzen können.“

Er grinste sichtlich amüsiert. „Das soll wohl ein Witz sein.“

„Streiten Sie es nicht ab“, meinte Angie gereizt wegen seiner heiteren Stimmung. „Ich weiß, dass Sie deswegen hier sind.“

„Angel, ich bin hier, um Geschäfte für Cokely zu machen, das ist alles. Von dieser kleinen Stadt aus kann ich hervorragend andere kleine Orte in drei weiteren Bundesstaaten erreichen.“

Nach einer kurzen Pause fragte er: „Sie sagten, Ihr Vater besitze eine pharmazeutische Fabrik? Könnten Sie mir seine Karte geben?“

„Sehr witzig.“

„He, ich meine es ernst. Ich kann jede Hilfe gebrauchen. Und Sie sollten wissen, dass Cokely ihm ein weitaus besseres Angebot machen kann als sein bisheriger Chemielieferant.“

„Vielen Dank, aber mein Vater macht keine Geschäfte mit Verbrechern.“

Ethan zeigte auf die Sachen auf dem Bett. „Schauen Sie sich das genau an. Ich bin der, für den ich mich ausgebe. Vertrauen Sie mir.“

Na klar, dachte Angie. Der letzte Kerl, der das gesagt hatte, war innerhalb von dreißig Sekunden über sie hergefallen, nachdem sie sich in sein Auto gesetzt hatte. Zu ihrem Glück hatte sich ihr Selbstverteidigungskurs ausgezahlt, da es ihr mühelos gelungen war, ihm das Knie zwischen die Beine zu rammen. Allerdings ahnte sie, dass Ethan Zorn auf ein solches Manöver vorbereitet wäre, wenn sie es bei ihm versuchen würde.

Trotzdem untersuchte sie die Sachen auf dem Bett weiter. Ein echt aussehender Cokely-Firmenausweis war darunter, verschiedene Arbeitsaufträge, Straßenkarten von Endicott und den umliegenden Gemeinden, Einladungen der örtlichen Industrie- und Handelskammer, sogar ein Brief der Bürgermeisterin, in dem diese betonte, wie unternehmensfreundlich Endicott sei.

Na schön, viele dieser Sachen ließen darauf schließen, dass Ethan Zorn tatsächlich bloß ein Vertreter der Cokely Chemical Corporation war. Doch Angie blieb skeptisch. Wie sie ihm schon erklärt hatte, sie besaß ihre Quellen und hatte selbst einige Nachforschungen angestellt. Sie hatte guten Grund zu der Annahme, dass sie mit ihren Vorwürfen richtig lag.

„Zufrieden?“, fragte er.

Sie schob die Referenzen zurück in den Umschlag. „Nein“, antwortete sie schlicht. „Es ist leicht, diese Sachen zu fälschen.“

„Glauben Sie etwa, ich würde einen Brief Ihrer Bürgermeisterin fälschen?“

Sie zuckte die Schultern. „Vielleicht.“

„Dann rufen Sie sie doch einfach an und fragen sie, ob sie mit mir wegen der lokalen Unternehmen Kontakt aufgenommen hat.“

„Vielleicht werde ich das auch tun.“

„Ms. Ellison“, begann er, hielt jedoch abrupt inne und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Einen Moment. Natürlich! Jetzt weiß ich es. Ihr Nachname ist Ellison?“

Angie nickte steif.

„Ellisons Pharmaceuticals. Ich bin am Freitag dort gewesen.“

„Sie sind seit über zwei Wochen in Endicott und besuchen erst jetzt meinen Vater?“

„Ich hatte viel vorbereitend zu erledigen und musste zudem noch einmal kurz zurück nach Philadelphia. Ich bin heute Abend erst zurückgekommen.“

„Aha.“

Statt auf ihren zweifelnden Ton einzugehen, streckte er lediglich die Hand nach ihr aus, als wollte er ihr beim Aussteigen aus einem Wagen helfen. Zum ersten Mal, seit er sie in seinem Zimmer entdeckt hatte, bekam Angie Gelegenheit, ihn richtig zu betrachten. Sein Hemd war offen und zeigte seine breite, dunkel behaarte Brust. Er hatte lange Beine, und trotz der weiten Hose ahnte Angie, dass sie wundervoll geformt waren. Die Unterarme, die aus den aufgekrempelten Ärmeln ragten, waren jedenfalls muskulös. Und dann seine Hände … Angie musste ein Seufzen unterdrücken. Wer hätte gedacht, dass die Hände eines mutmaßlichen Killers so unglaublich sexy sein könnten?

Eine seltsame Wärme durchströmte sie, und plötzlich war sie sich seiner nicht mehr als Bedrohung, sondern als Mann bewusst. Seit er nach Endicott gekommen war, hatte sie ihn höchstens mal kurz aus der Ferne gesehen. Doch jetzt, wo sie ihn aus der Nähe betrachten konnte, wurde ihr klar, dass er nicht nur aus einem Grund für sie unerreichbar war.

Er hatte ein sympathisches Gesicht, wie man es kaum mit einem Mafiosi in Verbindung bringen würde. Seine Augen waren dunkel, verträumt und wunderschön, die Nase schmal und gerade. Offenbar war sie nie in einem Faustkampf gebrochen worden – was sie bei einem Mann wie ihm erwartet hätte. Seine Lippen waren voll und sinnlich, wie man es normalerweise bei Filmstars fand. Seine Wimpern waren dicht und so schwarz wie seine Haare, seine Gesichtszüge schmal und markant.

Mit seiner teuren italienischen Kleidung, die er so nachlässig trug, und seinem sinnlichen Blick sah er aus wie ein Model aus einer Versace-Werbung in der Zeitschrift „GQ“. Niemand würde Angie davon überzeugen können, dass dieser Mann ein Vertreter war. Bei allem Respekt für die Angehörigen dieses Berufsstandes, aber Ethan hatte einfach zu viel Stil. Irgendwie kam er ihr aber auch nicht wie ein Gangster vor, jetzt, nachdem sie ihn persönlich kennengelernt hatte. Was er in Wahrheit war, konnte sie sich allerdings auch nicht vorstellen. Hatte sie sich womöglich in ihm geirrt? Waren ihre Informationen etwa falsch gewesen?

Er stand noch immer vor ihr, die Hand schweigend nach ihr ausgestreckt, und ohne nachzudenken, legte sie ihre Hand in seine. Sofort umschlossen seine Finger ihre. Seine Haut war warm, sein Griff fest und besitzergreifend. Angie hatte den Eindruck, dass er in dieser Welt alles erreichen konnte, wozu er sich entschloss.

„Danke“, murmelte sie und ließ sich von ihm hochziehen. Doch anstatt sich damit zufriedenzugeben, ihr beim Aufstehen zu helfen, zog Ethan sie weiter an sich, bis ihre Brüste seinen Oberkörper berührten.

„Hoppla“, sagte er freundlich.

„Würden Sie mich bitte loslassen?“ Sie versuchte sich zu befreien.

Doch er ließ nicht locker, sondern drückte sie noch fester an sich. „Immerhin sind Sie in mein Bett gestiegen“, meinte er. „Ich führe die Dinge nur logisch weiter. Darf ich nicht annehmen, dass Sie daran ebenso interessiert sind wie ich? Sie haben doch zugegeben, dass Sie mich bewundert haben. Und auf diesen Geschäftsreisen ist man manchmal sehr einsam.“

Angie hielt in ihren Befreiungsversuchen inne und sah wütend zu ihm auf. „Sie sollten überhaupt nichts annehmen! Ich habe Sie nicht bewundert, und es ist mir völlig gleichgültig, wie einsam Sie auf Geschäftsreisen sind!“

„Aber Sie haben doch gesagt …“

„Das war gelogen, kapiert? Überrascht, wie? Sie haben selbst gesagt, dass Sie mir nicht glauben, als ich es behauptet habe.“

„Ich habe gerade entschieden, dass ich Ihnen doch glauben werde. Sie scheinen mir nicht unaufrichtig zu sein.“

Angie ignorierte seine Worte und erwiderte stattdessen: „Im Übrigen bin ich nicht in Ihr Bett gestiegen!“ Da sie ihm wenigstens eine kleine Erklärung dafür schuldete, fügte sie hinzu: „Ich bin auf das Bett gestiegen. Das ist ein großer Unterschied.“

„Meiner Ansicht nach nicht.“ Sein Griff wurde fester, und er neigte den Kopf, als hätte er die Absicht, sie zu küssen. „Sind Sie sicher, dass Sie von mir nicht gefesselt werden wollen?“ Seine Stimme klang tief und ernst.

Angies Herz schlug schneller. Ethans Atem streifte ihre Stirn, und seine muskulösen Arme lagen um ihre Schultern und ihren Rücken, seine Finger berührten wie zufällig ihren Po. Und alles, was sie tun konnte, war dastehen und es geschehen lassen. Der Himmel möge ihr beistehen, aber Ethan erregte sie zutiefst. Diese Erkenntnis kam wie ein Schock. Sie fühlte sich hingezogen zu einem Gangster – wenn auch einem äußerst attraktiven –, der sie ebenso gut erschießen wie mit ihr schlafen konnte.

„Nein“, versicherte sie ihm, wobei sie sich nur noch halbwegs an seine Frage erinnerte. Grundgütiger, waren seine Augen umwerfend!

„Heißt das, dass Sie nicht gefesselt werden wollen oder dass Sie nicht sicher sind? Denn falls Sie sich nicht sicher sind, Angel, dann sollten wir vielleicht …“

„Nein, ich will nicht, dass Sie mich fesseln“, unterbrach sie ihn rasch, doch es klang wenig überzeugend. „Und ich heiße Angie, nicht Angel.“

Er lächelte, aber das war auch sein einziges Zugeständnis. „Wie ich schon sagte, dann vielleicht ein andermal.“

Doch noch immer ließ er sie nicht los, und für einen langen Moment unternahm Angie auch keinen Versuch mehr, sich zu befreien. Sie stand einfach da, ließ sich von ihm in den Armen halten und wünschte sich insgeheim, dass er tatsächlich ein Vertreter der Cokely Chemical Corporation war und sie Chefin der Handelskammer von Endicott. Denn dann könnte sie jetzt etwas mit ihm tun, wonach sie sich im tiefsten Innern sehnte, und sich einreden, es geschehe zum Wohl ihrer Gemeinde, weil es Jobs schaffe und die lokale Wirtschaft ankurbele und somit in gewisser Hinsicht ihrer Bürgerpflicht entsprach.

In diesen Sekunden begriff sie, dass an dem Mythos von Bob doch etwas wahr sein musste. Natürlich hatte sie selbst schon miterlebt, wie der Einfluss des Kometen dafür gesorgt hatte, dass Menschen sich zu Dingen hinreißen ließen, die sie unter normalen Umständen weit von sich gewiesen hätten. Doch jetzt, so lächerlich es auch schien, begann sie allmählich ebenfalls an einen weiteren Einfluss des Kometen zu glauben. Möglicherweise stiftete er tatsächlich Beziehungen zwischen Menschen, die sich normalerweise niemals zueinander hingezogen fühlen würden.

Während Angie noch darüber nachdachte, legte Ethan seine Stirn an ihre. „Eigentlich sollte ich die Polizei rufen“, sagte er zärtlich. „Immerhin sind Sie in mein Haus eingebrochen.“

„Aber das werden Sie nicht tun, weil Sie zur Mafia gehören. Da können Sie keine Polizei gebrauchen, auch wenn es sich nur um die örtlichen Cops handelt.“

„Nein“, flüsterte er. „Ich werde sie nicht rufen, weil es sich nicht lohnt.“

„Schöne Entschuldigung.“

„Dafür vielleicht“, sagte er. „Doch hierfür gibt es keine.“

Ehe Angie protestieren konnte, küsste Ethan Zorn sie. Sie erwiderte den Kuss instinktiv. Einige Sekunden lang erlag sie ihren Gefühlen und hörte auf zu denken. Doch diese Sekunden waren unvergleichlich sinnlich. Heiß durchpulste das Blut ihre Adern, und ihr Herz hämmerte. Ethans Lippen berührten ihre kaum, doch diese hauchzarte, sanfte Berührung erschütterte Angie in ihrem tiefsten Innern. Sie konnte sich nur noch wundern, dass ein Mann wie er so zärtlich sein konnte.

Ethan war ebenfalls viel zu benommen, um sich zu fragen, weshalb er Angie so küsste. Zwar war er sich vage der enormen Dummheit dieser Handlung bewusst, doch konnte er es einfach nicht verhindern. Sie reagierte auf seinen Kuss, wie noch keine Frau je zuvor darauf reagiert hatte. Sie öffnete sich ihm vollständig und schien ihm trotz allem zu vertrauen.

Du Mistkerl!, verfluchte er sich selbst. Du solltest dich schämen, dieses nette Mädchen zu benutzen. Unglücklicherweise richtete dieser Tadel nichts mehr aus, denn schließlich hatte sie auf seinem Bett gesessen und ihn nicht gerade weggestoßen, als er sich ihr näherte.

Dennoch zwang er sich, den Kuss zu beenden, bevor die Situation außer Kontrolle geriet. Angie blinzelte verstört, und er rechnete schon damit, dass sie wütend sein würde. Stattdessen aber schien sie eher enttäuscht, dass er aufgehört hatte.

„Vielleicht können wir diese Sache mit dem Fesseln nächstes Mal probieren“, schlug er leise vor. „Aber zunächst …“ Er fuhr mit dem Daumen über ihre Unterlippe. „Zunächst sollten wir uns erst einmal besser kennenlernen.“

Angie starrte ihn verwirrt an. „Ich muss gehen“, erklärte sie schließlich, als hätten sie sich zu einem Rendezvous getroffen und als sei sie nicht in seine Wohnung eingebrochen und hätte ihm vorgeworfen, für die Mafia mit Drogen zu handeln.

Ethan nickte. „Ich rufe dich an.“

„Einverstanden.“

Schweigend durchquerte sie das Zimmer. Doch statt den Schlüssel aufzuheben und die Tür aufzuschließen, kletterte sie auf die Fensterbank und setzte sich rittlings darauf. Noch einmal sah sie kurz zu Ethan, und er hätte alles darum gegeben, in diesem Moment ihre Gedanken zu kennen. Wenn sie auch nur halb so durcheinander war wie er, konnte es gefährlich sein, aus dem ersten Stock zu klettern.

Aber bevor er sie aufhalten konnte, schwang sie sich geschickt aus dem Fenster. Er sah nur noch Finger in schwarzen Handschuhen am Fenstersims. Dann verschwand die eine Hand, danach die andere, und Ethan blieb allein im Zimmer zurück mit der Frage, ob er das Ganze nur geträumt hatte.

Er hatte den Geschichten, die in der Stadt über den Kometen kursierten, nur mit halbem Ohr zugehört. Der alte Bob, dessen regelmäßige Wiederkehr alle fünfzehn Jahre gerade gefeiert wurde, sollte für allerlei Merkwürdigkeiten verantwortlich sein. Unter seinem Einfluss stellten die Leute die eigenartigsten Dinge an. Ethan hatte das alles für Märchen gehalten, die verbreitet wurden, damit die Touristen zur Feier kamen und viel Geld für Souvenirs ausgaben. Inzwischen aber fragte er sich, ob an diesem Kometen-Theater nicht doch etwas dran war. Denn sosehr er sich auch bemühte, er fand keinen einzigen vernünftigen Grund für das, was er getan hatte. Warum hatte er Angie Ellison geküsst, die neugierige Journalistin und Tochter des Mannes, den er überprüfen sollte? Fast war es ihm vorgekommen, als hätte er sich durch diesen Kuss vor der ewigen Verdammnis zu retten versucht. Sollten seine Vorgesetzten dahinterkommen, würden sie ihm die Hölle heiß machen.

Von allen verrückten Dingen aber, die ihm gerade durch den Kopf wirbelten, hob sich ein immer wiederkehrender Gedanke alarmierend ab. Wie hatte Angie wissen können, dass er tatsächlich nach Endicott gekommen war, um die Pharmafabrik ihres Vaters im Hinblick auf die Tauglichkeit für den Drogenhandel unter die Lupe zu nehmen?

3. KAPITEL

Angie erwachte am nächsten Morgen und fühlte sich seltsam wohl. Ihr Kissen und ihre Matratze kamen ihr weicher vor als sonst, und ihre Baumwolllaken schienen sich in Seide verwandelt zu haben. Eine sanfte, nach frisch gemähtem Gras und dem einsetzenden Herbst duftende Brise bewegte leicht die Vorhänge des offenen Fensters über ihrem Kopf, und in der Nähe sang fröhlich ein Dompfaff. Trotz der frühen Stunde lachten die Kinder auf dem Hof der gegenüberliegenden Schule, und aus dem Fenster einer der Nachbarwohnungen drang Jazzmusik.

Was für eine herrliche Art aufzuwachen, dachte Angie und streckte sich genüsslich. Und was für ein wundervoller Tag! Die Sonne schien, die Luft war warm und angenehm, die Kinder lachten, die Vögel sangen … und sie hatte letzte Nacht einen Gangster geküsst!

Mit Entsetzen erinnerte sie sich daran und erstarrte. In quälenden Einzelheiten rekapitulierte sie die Ereignisse des gestrigen Abends, nachdem Ethan Zorn sie in seinem Schlafzimmer entdeckt hatte.

Gütiger Himmel, hatte sie das wirklich getan? Hatte sie sich wirklich von ihm küssen lassen und seinen Kuss tatsächlich erwidert? Und was noch schlimmer war: Hatte sie womöglich angedeutet, dass sie sich von ihm fesseln lassen wollte?

Angie stöhnte auf und schlug die Hände vors Gesicht. Sie hatte alles vermasselt. Nicht genug damit, dass sie sich zum Narren gemacht hatte, jetzt hatte Ethan Zorn sie auch noch durchschaut und würde bei jedem Schritt auf der Hut sein. Damit war jede Chance vertan, ihn auf frischer Tat zu ertappen und ihn als gefährlichen Gangster zu überführen.

Er versuchte, die Firma ihres Vaters für die Mafia zu gewinnen, und dafür würde er ihren Vater, ja sogar die ganze Familie aus dem Weg räumen. Und diesen Mann hatte sie geküsst! Schlimmer war jedoch, dass sie ihn kaum kannte. Was musste er von ihr denken?

Du liebe Zeit, Ethan Zorn war ein Krimineller, und sie machte sich Sorgen, was er über ihre Moral dachte? Trotzdem befürchtete sie, er könnte sie für eine beschränkte sexhungrige journalistische Anfängerin halten. So zumindest fühlte sie sich momentan.

„Ich bin keine Anfängerin“, protestierte sie laut. Sie ließ die Hände sinken und setzte sich auf. „Ich bin eine seriöse Reporterin, die einer heißen Story auf der Spur ist, die diese Stadt umhauen wird.“ Falls Ethan Zorn sie nicht vorher aus dem Weg räumte.

Angie seufzte erneut, diesmal nicht nur über das, was sie letzte Nacht getan hatte, sondern vor allem, weil sie es so genossen hatte. Schuld daran ist nur der verdammte Komet, versuchte sie sich zu trösten. Unter normalen Umständen hätte sie einen Mann wie Ethan Zorn nicht zweimal angesehen. Bob brachte die Einwohner von Endicott jedes Mal durcheinander. Wie sonst hatte sie sich in den Armen eines solchen Kriminellen so gut fühlen können?

Denk einfach nicht mehr daran, befahl sie sich. Doch sie wusste bereits, dass das leichter gesagt als getan war. Sie stieg aus dem Bett, duschte rasch und zog sich für die Arbeit an. Sie wollte heute halbwegs professionell auftreten, daher entschied sie sich für eine weite beigefarbene Hose und eine ärmellose pinkfarbene Bluse. Dann holte sie noch einen elfenbeinfarbenen Blazer aus dem Schrank, für den Fall, dass es abkühlte. Der September im südlichen Indiana war unbeständig. Und da die Stadt direkt am Fluss lag, war das Wetter nie zuverlässig vorauszusagen.

Auf dem Weg durch die Küche schnappte sie sich eine Schachtel Kekse und nahm zwei heraus. Noch am zweiten Keks kauend, verließ sie die Wohnung. Dann wandte sie sich den Fahrstühlen auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs zu und blieb wie angewurzelt stehen. Ethan Zorn stand dort und wartete auf sie.

Angie schluckte mühsam den Keks hinunter. Obwohl der Instinkt ihr riet, sofort wieder in ihre Wohnung zurückzukehren und sich darin zu verbarrikadieren, blieb sie vor ihrer Tür stehen und versuchte, nicht in Panik zu geraten, obwohl Ethan Zorn sie fixierte und seine unergründliche Miene sie irritierte.

Er lehnte neben dem Fahrstuhl mit dem Rücken an der Wand, die Füße an den Knöcheln gekreuzt, die Hände lässig in den Taschen seiner schwarzen maßgeschneiderten Hose vergraben. Das Jackett trug er offen über einem gestärkten weißen Hemd, dazu eine seidene Krawatte mit einem geometrischen Muster in gedämpften Blau-, Burgunder- und Grüntönen. Er war rasiert, wie Angie mit einem Anflug von Enttäuschung registrierte. Die dunklen Bartstoppeln letzte Nacht hatten ihm ein wundervoll verwegenes Aussehen verliehen. Glattrasiert sah er fast zu gut aus.

Seine Augen leuchteten und verrieten den Verführer, den Kriminellen. Er machte sich über sie lustig. Angie hatte das sichere Gefühl, Gegenstand eines ganz persönlichen Witzes zu sein, den er sehr genoss. Ihr Gesicht verfinsterte sich.

Von wegen Vertreter, dachte sie und musterte seine Hose und sein Jackett. Während ihrer Collegezeit hatte sie bei „Buddy’s Man About Town“ in der Herrenabteilung Kleidung verkauft, daher kannte sie sich aus. Ethan Zorn musste schon einiges an seinen Drogengeschäften verdienen, um sich Anzüge für zwölfhundert Dollar und Krawatten für hundert Dollar leisten zu können. Außerdem hatte sie den roten Flitzer gesehen, mit dem er durch die Stadt fuhr, und sie kannte keine Firma, die ihren Mitarbeitern Porsches als Dienstfahrzeuge zur Verfügung stellte.

„Was machen Sie hier?“, stellte sie ihn schroff zur Rede. Nach Höflichkeit stand ihr absolut nicht der Sinn. „Wie haben Sie herausgefunden, wo ich wohne?“

Er stieß sich von der Wand ab und schlenderte auf Angie zu. „Durch eine hilfreiche kleine Sache, die ich auf meinem Kühlschrank gefunden habe: ein Telefonbuch. Vielleicht haben Sie schon davon gehört.“

Sie presste die Lippen zusammen. „Folgen Sie mir etwa?“

Er lächelte. „Noch nicht. Sie sind ja noch nirgendwo hingegangen.“

Sie verdrehte die Augen. „Haben Sie die Absicht, mir zu folgen?“

„Das kommt darauf an, wohin Sie wollen.“

„Ich gehe zur Arbeit.“

„Soll ich Sie mitnehmen?“

„Nein.“

„Wie wäre es später zum Essen?“

„Nein, danke, auch da brauche ich niemanden, der mich mitnimmt.“

„Ich meinte eher, was Sie davon halten, mit mir zu essen.“

„Das geht nicht“, erwiderte sie und hoffte, dass sie heiter und uninteressiert klang, obwohl ihr Herz wild pochte.

„Warum nicht?“, wollte er wissen.

Sie lächelte kühl. „Ich bin bereits zum Essen verabredet.“

Ethan beugte sich ein wenig vor und sah sie durchdringend an. „Dann sagen Sie ab.“

Angie war überrascht über seine Dreistigkeit. „Wie bitte?“

Er nahm die Hände aus den Taschen, stemmte die eine in die Hüfte und stützte sich mit der anderen neben Angies Kopf an der Wand ab. Dann beugte er sich noch ein wenig weiter vor. „Sagen Sie einfach ab“, wiederholte er leise.

Sie versuchte zurückzuweichen, was jedoch lediglich zur Folge hatte, dass sie mit dem Kopf gegen ihre Wohnungstür stieß. Sie zuckte zusammen. „Junge, Sie sind ganz schön hartnäckig“, meinte sie und rieb sich den Hinterkopf.

„Das habe ich schon öfter gehört“, entgegnete er grinsend. „Wann soll ich Sie nach der Arbeit abholen?“

„Ich werde nicht mit Ihnen essen gehen“, beharrte sie. „Weder jetzt noch sonst irgendwann. Ich gehe nicht mit Kriminellen aus.“

„Na schön. Dann essen wir eben nicht auswärts. Nicht viele wissen, dass ich ein ausgezeichneter Koch bin. Wie wäre es also, wenn Sie zu mir kommen, sagen wir um sieben?“

Vielleicht ist Ethan Zorn doch genau der, für den er sich ausgibt. In diesem Fall wäre es nicht weiter schlimm, mit ihm zu Abend zu essen, dachte sie und betrachtete seine breite, muskulöse Brust, die sich deutlich unter dem Hemd abzeichnete. Ich muss Maury, meine Informationsquelle, unbedingt noch einmal anrufen.

Stopp!, ermahnte sie sich. Er ist der, für den du ihn hältst, und du solltest besser auf der Hut sein. Er betrachtete sie schweigend, nachdem er die Einladung ausgesprochen hatte, und ihr Magen zog sich zusammen. Wenn er sie nur nicht so ansehen würde, denn das weckte Ideen in ihr, die sie besser nicht haben sollte. Ganz zu schweigen von den Zweifeln über seine wahre Identität.

„Weshalb sind Sie gekommen?“, fragte sie und wunderte sich, dass ihre Stimme ganz normal klang.

Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. „Ich wollte mich nur vergewissern, dass es Ihnen gutgeht und Sie letzte Nacht sicher und heil nach Hause gekommen sind. Eine Frau, die allein wohnt, kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein.“

Sie runzelte die Stirn. „Ist das eine Drohung?“

„Nein, Angel, bloß eine Tatsache.“

Die Art, wie er den von ihm gewählten Spitznamen für sie aussprach, beschleunigte ihren Puls. „Nennen Sie mich nicht so.“ Doch sie klang wenig überzeugend.

„Warum nicht? Weil Sie kein Engel sind?“

„Ich bin absolut anständig“, versicherte sie ihm.

Er lachte leise. „Das glaube ich.“ Er hob die Hand und strich mit der Fingerspitze sacht über ihre Unterlippe. „Wie schade“, fügte er hinzu.

Die zärtliche Berührung war beinahe mehr, als Angie ertragen konnte. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und genoss das verbotene Vergnügen. Dann wich sie ihm aus, wenn auch widerstrebend. Doch seine Hand folgte ihr.

„Für wen ist es schade?“, fragte sie ein wenig atemlos. „Für Sie oder für mich?“

„Vielleicht für uns beide“, erwiderte er.

Angie versuchte, der sinnlichen Verführung seiner Finger zu entkommen – und stieß erneut mit dem Kopf gegen die Tür. „Autsch“, sagte sie und sah Ethan wütend an. „Würden Sie jetzt bitte gehen und mich allein lassen?“

„Ich werde gehen“, versprach er und wich einen Schritt zurück. „Zumindest fürs Erste. Aber glauben Sie nicht, dass ich Sie in Ruhe lassen kann.“

Angie wollte darauf etwas erwidern, doch ihr fiel absolut nichts ein. Sie konnte lediglich dastehen und zuschauen, wie Ethan sich zur Treppe wandte. Zum Glück wird er mich nicht in Ruhe lassen, dachte sie. Ich hatte nämlich schon Angst, ich müsste dieses ganze Kometen-Chaos allein überstehen.

Rosemary saß bereits an ihrem Stammtisch im hinteren Teil des Maple Leaf Cafés, als Angie es an diesem Abend betrat. Allerdings war Kirby nirgends zu sehen, also nahm sie an, dass ihre Freundin wohl später kommen würde. Das machte aber nichts, denn so würde es leichter sein, dass Gespräch auf irgendein bedeutungsloses Thema zu bringen. Mit etwas Glück würde der Name Ethan Zorn nicht fallen, bis Kirby auftauchte.

Rosemary begrüßte sie abwesend, als Angie sich setzte, und sofort kam die Kellnerin an ihren Tisch. Angie bestellte das Übliche und nahm automatisch zwei Zuckertütchen aus der Schale und begann sie in Erwartung der Rückkehr der Kellnerin zu schütteln. Nur dass die Kellnerin nicht Angies Bestellung brachte.

Angie hielt sie am Arm fest, bevor sie wieder verschwinden konnte. „Stephanie“, sagte sie und sah auf die trübe bräunliche Flüssigkeit. „Was ist das für ein Zeug, das du mir gebracht hast?“

Stephanie zuckte die Schultern. „Das Übliche. Pflaumensaft und Limonade mit einem Spritzer Angostura und einem Schuss Jack Daniels.“

Angie verzog das Gesicht. „Das ist nicht das, was ich normalerweise bestelle.“

Stephanie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Du hast recht, das ist nicht dein Lieblingsdrink, sondern Tippy Brodys.“ Sie nahm Angies Glas. „Dieser schreckliche Komet bringt mich jetzt schon seit einer Woche durcheinander. Ständig mache ich Fehler bei den Bestellungen.“

„Das kenne ich“, pflichtete Angie ihr bei. „Ich bin letzte Nacht sogar bei jemandem eingebrochen.“

„Dieser Bob“, meinte Stephanie lachend und mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Er narrt uns alle.“

„Und wie.“

Die Kellnerin seufzte. „Anscheinend habe ich Tippy deinen Eistee gebracht. Ich bringe dir einen neuen.“

„Danke.“

Sobald Angie ihren Eistee bekommen und so gesüßt hatte, wie sie es mochte, wandte sie sich an Rosemary. „He, es gehen Gerüchte in der Zeitung, dass dein Laborpartner und Erzfeind aus der Schulzeit, Willis Random, wieder in der Stadt ist.“

Rosemary sah hastig auf, wodurch ihre kinnlangen dunkelbraunen Locken wippten. „O ja, er ist zurück, dieser Blödmann. Er ist inzwischen Astrophysiker mit fünf verdammten Abschlüssen, was natürlich keine Überraschung ist. Er ist hier, um Bob zu beobachten.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Und um mir das Leben schwerzumachen.“

„Wie sieht er aus?“, wollte Angie wissen. „Hat er immer noch so ein Streuselkuchengesicht?“

Rosemarys Gesicht hatte einen Ausdruck, den Angie nicht deuten konnte. „Kaum noch“, erwiderte sie mürrisch.

Da ihre Freundin nicht weiter darauf einging, sondern sich stattdessen ein Brötchen aus dem Brotkorb schnappte und es mit übertriebener Gewalt durchschnitt, fragte Angie weiter: „Und?“

Rosemary starrte angestrengt auf ihr Brötchen, ehe sie es mit Butter bestrich. „Was und?“, erwiderte sie bissig.

„Spuck es schon aus. Was gibt es Neues von Willis?“

Rosemary bearbeitete weiter ihr Brötchen und zischte: „Du meinst, abgesehen davon, dass er mich in meiner Unterwäsche gesehen hat?“

Angie starrte ihre Freundin an. „Was hat er? Wie konnte das denn passieren?“

„Ich möchte nicht darüber sprechen.“ Rosemary biss von ihrem Brötchen ab.

Angie wollte sie gerade drängen, doch mehr zu erzählen, als Kirby mit ihrer typisch energischen Art an den Tisch trat. Ihre hellblonden Haare wirbelten ihr um die Schultern, während sie sich besorgt umschaute, als seien ihr gefährliche Verfolger auf den Fersen. Aus ihrer seltsamen Miene wurde Angie ebenfalls nicht schlau. „He, Kirb“, begrüßte sie sie. „Was gibt’s Neues?“

Kirby ließ sich auf ihren Stuhl fallen, griff nach der Speisenkarte und sah von einer Freundin zur anderen. Dann widmete sie sich der Karte. „Nichts“, antwortete sie kühl. „Tut mir leid, dass ich zu spät komme.“

Angie sah neugierig zu Rosemary, doch die zuckte lediglich die Schultern. Offenbar war ihr Kirbys Verhalten ebenfalls rätselhaft. Nach einem Moment des Schweigens meinte Rosemary: „Jetzt, wo ihr beide da seid, habe ich euch ein wenig Klatsch zu berichten. Wollt ihr ihn hören?“

Angie und Kirby murmelten verhaltene Zustimmung. Mit schelmischer Miene berichtete Rosemary: „Endlich hat es sich einmal bezahlt gemacht, dass ich in einem Reisebüro arbeite. Ratet mal, für wen ich in der Stadt Zimmer gemietet habe und wer zum Kometen-Festival nach Endicott kommt? Das findet ihr nie heraus.“

„Wer?“, drängte Angie.

„Du kommst nicht drauf“, meinte Rosemary.

„Dann gib mir einen Hinweis.“

„Er ist eine internationale Berühmtheit“, verkündete sie. „Ein rauer Cowboy mit einem ganz schlechten Ruf. Er ist reich, er ist berühmt, er sieht umwerfend gut aus, er ist exzentrisch, ein Kometen-Fan und Amateur-Astronom. Ihr werdet es nie erraten!“

„James Nash.“

Rosemary starrte Kirby an, und Angies Verwirrung wuchs. „Woher weißt du, dass er in der Stadt ist?“, erkundigte sich Rosemary.

„Er ist in der Stadt“, meinte Kirby nur.

„Du hast ihn gesehen?“, wollte Angie wissen. „Du hast James Nash gesehen?“ Für manche war das gleichbedeutend mit einer Elvis-Erscheinung.

„Ich habe ihn nicht nur gesehen, sondern auch kennengelernt“, bestätigte Kirby, die noch immer in die Speisenkarte vertieft war.

„Du hast ihn kennengelernt?“, wiederholten Rosemary und Angie gleichzeitig.

Kirby nickte.

„Und?“, drängte Angie.

„Was und?“

„Nun rück schon mit den Einzelheiten heraus“, forderte Angie ungeduldig.

Mit zusammengebissenen Zähnen erwiderte Kirby: „Er hat mich nackt gesehen. Reicht das?“

Die anderen beiden starrten sie perplex an. Schließlich fand Rosemary ihre Sprache wieder. „Aber Kirby, dich hat noch kein Mann in Endicott nackt gesehen.“ Dann setzte sie einschränkend hinzu: „Nicht, dass du es nicht versucht hättest …“

„James Nash hat es aber, verstanden?“, gab Kirby unwirsch zurück.

„Aber wie um alles in der Welt konnte das passieren?“, fragte Angie.

Kirby richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Karte. „Ich möchte nicht darüber sprechen.“

Angie verzog das Gesicht. „Was ist mit euch beiden denn heute los? Ich verrate alles über Ethan Zorn und seine Verbindung zur Mafia, da will ich auch alles von euren Kerlen erfahren. Darauf habe ich wohl ein Recht.“

Kirby sah zu Rosemary, die plötzlich ihrerseits sehr in die Karte vertieft war. „Rosemary hat einen Kerl? Wen?“

„Willis Random ist wieder in der Stadt“, erklärte Angie mit wissendem Grinsen.

„Du machst Witze“, entgegnete Kirby lachend. „Ist er immer noch der steuselkuchengesichtige kleine Blödmann?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Angie. „Frag Rosemary.“

Autor

Elizabeth Bevarly
<p>Elizabeth Bevarly stammt aus Louisville, Kentucky, und machte dort auch an der Universität 1983 mit summa cum laude ihren Abschluss in Englisch. Obwohl sie niemals etwas anderes als Romanschriftstellerin werden wollte, jobbte sie in Kinos, Restaurants, Boutiquen und Kaufhäusern, bis ihre Karriere als Autorin so richtig in Schwung kam. Sie...
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