Julia Collection Band 147

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Als Mitarbeiterinnen bei einer erfolgreichen Daily Soap kennen die Freundinnen Sadie, Grace und Claudia sich mit den Irrungen und Wirrungen der Liebe ganz genau aus - das glauben sie zumindest. Doch manchmal hält sich das Leben nicht an das, was im Drehbuch steht.

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  • Erscheinungstag 26.06.2020
  • Bandnummer 147
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715373
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sarah Mayberry

JULIA COLLECTION BAND 147

1. KAPITEL

„Sadie, hör mit der Zappelei auf! Du bist eine Braut und solltest Würde ausstrahlen“, sagte Claudia.

„Entschuldige. Ich wollte nur einen Blick in den Spiegel werfen“, erwiderte Sadie.

„Das geht nicht. Nicht, bevor ich fertig bin.“ Claudia Dostis fuhr fort, das Mieder von Sadies Hochzeitskleid zu schnüren.

„Das gilt auch für deinen Kopf“, sagte die andere Brautjungfer Grace Wellington, als Sadie nickte. Grace versuchte gerade, den Schleier auf Sadies Hochsteckfrisur zu befestigen.

Claudia und Grace waren Sadies beste Freundinnen und ihre Arbeitskolleginnen, denen sie völlig vertraute. Also hielt sie die nächsten Minuten gehorsam still.

„Fertig!“, sagte Claudia endlich.

„Ich auch“, meinte Grace.

Beide traten einen Schritt zurück, musterten Sadie zufrieden und lobten sich gegenseitig für ihre Arbeit.

Sadie hob amüsiert eine Augenbraue. „Heißt das, dass ich mich jetzt anschauen kann?“

Die Freundinnen umfassten ihre Schultern und drehten sie sanft zum Spiegel um. Die Frau, die Sadie darin sah, kam ihr wie eine elegante Märchenprinzessin in elfenbeinfarbener Seide vor. Die moderne Hochsteckfrisur betonte ihren langen anmutigen Hals. Ihre helle Haut war makellos, und die großen braunen Augen wirkten dramatisch und sexy. „Du meine Güte. Bin das wirklich ich?“

„Ja, wunderschön wie immer“, bestätigte Claudia.

Das Kompliment ließ Sadie erröten, und beim unvermeidlichen Blick auf ihre Brüste runzelte sie die Stirn. Mit deren Größe werde ich wahrscheinlich nie hundertprozentig glücklich sein, gestand sie sich ein. Als Teenager hatte sie sehr darunter gelitten, dass sie in der Beziehung eine echte Spätentwicklerin war.

„Was ist los? Stimmt etwas nicht?“ Graces grüne Augen nahmen einen besorgten Ausdruck an.

„Es ist alles perfekt, danke“, beschwichtigte Sadie ihre Freundin. Inzwischen trug sie B-Cup, was durchaus okay war. Dieser Komplex aus ihrer Jugend quälte sie nur wieder, weil sie so nervös war. Als ihr Blick auf die Uhr fiel, bekam sie einen Adrenalinschub. „Ihr macht euch jetzt besser auch fertig.“

„Ich weiß nicht mehr, wie ich mich zu diesem Kleid überreden lassen konnte“, murmelte Grace, während sie das trägerlose hautenge Kleid anzog, das extra für sie angefertigt worden war. Es rückte ihre kurvenreiche Figur perfekt ins rechte Licht.

„Wir haben dich zwei zu eins überstimmt“, erinnerte Claudia sie und schlüpfte in eine kleinere Ausgabe des gleichen Kleides. Obwohl sie zierlich war, hatte sie dennoch ansehnliche Rundungen. Mit ihrer leicht oliv getönten Haut und den dunklen Mandelaugen sah sie atemberaubend aus.

„Oh nein.“

Sadie wandte ihren bewundernden Blick von Claudia ab und drehte sich zu Grace um, die inzwischen ihre Stilettos angezogen hatte. Das rote Seidenkleid setzte die sehr schmale Taille ihrer Freundin und deren sexy Hüften dramatisch in Szene. „Du siehst total heiß aus.“

Grace wurde rot. „Ich sehe wie ein zu lange gekochtes Würstchen aus. Falls eine der Nähte platzt, solltet ihr schnellstens in Deckung gehen.“

Mit einem Lachen schüttelte Sadie den Kopf. Beide Freundinnen sahen sehr schön aus. „Ich denke, wir brauchen mehr Champagner.“ Sie trat an die Anrichte und nahm die Flasche aus dem Eiskübel. Claudia war strikte Antialkoholikerin, aber Grace und sie, Sadie, hatten zusammen bereits etwas getrunken, während sie sich frisiert und geschminkt hatten. Sie hatte gehofft, damit ihre Nerven zu beruhigen.

Sie würde heiraten! Sadie dachte an Greg Sinclair, den blonden, gut aussehenden Mann, der schon bald ihr Ehemann sein würde, und seufzte glücklich, während sie den Champagner einschenkte. In ihrem Leben lief im Moment alles rund. Es war schon toll, als Script-Producerin bei der täglichen Soap Ocean Boulevard mit Grace zusammenzuarbeiten. Ihre Aufgabe war es, den Überblick über alle Figuren zu behalten und die Handlung weiterzuentwickeln und sicherzustellen, dass das Autorenteam sich an die Vorgaben hielt. Und nun gehörte auch noch Claudia als Produzentin zu ihrem Team. Besser konnte es nicht mehr werden.

Sie liebte ihren Job und hatte ihre beiden engsten Freundinnen an ihrer Seite. Und in nicht einmal einer Stunde würde sie mit einem wunderbaren, lustigen, gescheiten und gut aussehenden Mann verheiratet sein. „Kneif mich, schnell“, bat sie Grace, die ihr eins der Gläser abnahm.

„Sicher.“ Grace tat ihr den Gefallen und schlang dann einen Arm um ihre Taille. „Besser?“

Sadie grinste. „Was wäre ich ohne euch?“

Claudia gesellte sich zu ihnen und legte ebenfalls einen Arm um Sadies Taille.

„Ich liebe euch. Danke, dass ihr für mich da seid.“ Einen Augenblick lang musste Sadie wie verrückt blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten.

„Nicht weinen, Sadie“, meinte Claudia. „Als Braut kannst du dir keine verheulten Augen leisten.“

Pünktlich auf die Minute klingelte es an der Tür. Mit einem Lachen fand Sadie ihr inneres Gleichgewicht wieder. „Die Limousine ist schon da.“ Ihre Nerven flatterten.

Während der nächsten Minuten suchten sie schnell alles zusammen, was sie für die Trauung und den anschließenden Empfang brauchten. Dann schnappten sie sich den restlichen Champagner und stiegen in die Limousine. Sadie saß in der Mitte, und die Freundinnen achteten sorgfältig darauf, dass ihr Brautkleid nicht zerknittert wurde.

Als sie an der Kirche ankamen, winkte Sadies Onkel Gus, der auf dem Bürgersteig stand, ihnen wild mit beiden Armen zu und wies den Chauffeur an vorbeizufahren.

„Hallo?“ Sadie klopfte an die Glasscheibe, die den Fahrerbereich vom hinteren Teil des Wagens trennte. „War das nicht eben die Kirche?“

„Ja, aber wir sollen weiterfahren. Ich werde eine Runde drehen.“

Konsterniert starrte sie zuerst Claudia und dann Grace an. „Was ist los, zum Teufel?“

Ihre Freundinnen wirkten genauso verwirrt wie sie.

„Vielleicht warten sie auf etwas“, meinte Grace.

Sadie kam ein fürchterlicher Gedanke. Schließlich arbeitete sie fürs Fernsehen und hatte im Laufe der Jahre schon mehrmals solch eine Szene mit ausgetüftelt. Eine glückliche Braut, ein perfekter Tag – und dann das Desaster. Der Bräutigam hatte einen Autounfall, war tot oder schwer verletzt. „Können wir bitte umkehren? Ich möchte nicht um die Kirche herumfahren.“

„Aber …“

„Sie haben gehört, was die Braut gesagt hat. Drehen Sie um“, befahl Claudia.

Mit einem Seufzer wendete der Fahrer und steuerte auf die Kirche zu.

Als sie näher kamen, konnte Sadie sehen, dass jetzt ihre Tante Martha neben ihrem Onkel stand. Die beiden debattierten aufgeregt.

„Mist“, murmelte Sadie, und eine weitere Reihe von Schreckensszenarien ging ihr durch den Kopf: Die Kirche muss wegen einer Bombendrohung geräumt werden. Oder der Bräutigam stellt sich überraschend als Bruder der Braut heraus.

„Ich weiß, was du denkst, und ich weiß, womit wir unser Geld verdienen. Aber das hier ist nicht Ocean Boulevard“, sagte Grace bestimmt. „Wahrscheinlich hat der Pfarrer einfach zu viel vom Messwein getrunken.“

Sadie atmete tief durch. Grace hatte recht. Was auch immer nicht stimmen mochte – es würde sich eine Lösung dafür finden. Als die Limousine hielt, runzelte ihr Onkel die Stirn. Trotz ihrer Absicht, ruhig zu bleiben, lehnte Sadie sich hinüber zum Türgriff und ließ die Tür aufschwingen. Die Freundinnen stiegen aus.

„Was ist los?“, fragte Sadie ihren Onkel.

„Tut mir leid, Liebes“, sagte Gus.

Da wusste Sadie, dass sie mit ihren Befürchtungen richtig gelegen hatte. „Greg ist nicht hier?“

„Er hat dir eine Nachricht zukommen lassen.“ Martha überreichte ihr einen Briefumschlag.

Sadie starrte einen Moment lang darauf, bevor sie ihn mit zitternden Händen öffnete und den Briefbogen herausnahm. Die Nachricht war erschütternd kurz. Allzu viele Gedanken, wie er ihr sein Verhalten am besten erklären konnte, hatte Greg sich wohl nicht gemacht.

Liebe Sadie,

ich weiß, dass ich derjenige war, dem es nicht schnell genug gehen konnte. Aber du hattest recht. Es ist noch zu früh für eine Heirat. Keine Sorge – ich werde für alles aufkommen. Ich brauche einfach Zeit, um mir über einiges klar zu werden. Leite die anfallenden Rechnungen umgehend an mich weiter.

Dein Greg

Blinzelnd kämpfte sie gegen die aufsteigenden Tränen an. Was war das denn? Er ließ sie vor dem Traualtar sitzen und speiste sie mit wenigen Worten ab?

„Was schreibt er?“, fragte Claudia.

Sadie gab ihr den Brief. Es herrschte Schweigen, während Claudia und Grace die Nachricht lasen und den Brief dann ihrem Onkel und ihrer Tante reichten.

„Er hat nie etwas gesagt? Irgendeinen Hinweis gegeben?“, fragte Martha verwirrt.

Claudia wurde wütend. „Sie meinen, so etwas in der Art, wie ‚Sadie, glaub bloß nicht, dass ich morgen auftauchen werde‘?“

Sadie legte ihrer Freundin beruhigend eine Hand auf den Arm. Ihre Tante konnte schließlich nichts dafür. Sie war immer für sie da gewesen, seit Sadies Eltern vor sieben Jahren bei einem Autounfall tödlich verunglückt waren.

„Ich kann das nicht glauben.“ Grace überflog noch einmal die Zeilen.

Sadie warf einen Blick auf die Kirche. Drinnen warteten mehr als zweihundert Gäste. Gregs und ihre Freunde und Verwandten waren da, um ihre Hochzeit zu feiern. Sie ballte die Hände zu Fäusten, als eine Welle der Scham und des Schmerzes in ihr aufstieg. Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle aus dem Staub gemacht, so gedemütigt fühlte sie sich. Am liebsten würde sie so tun, als hätte sie Greg niemals geglaubt, als er ihr sagte, dass er sie über alles liebte und so bald wie möglich heiraten wollte.

„Lass uns gehen“, sagte Claudia entschieden und deutete auf die Limousine.

„Ja, deine Freundin hat recht, Liebes“, meinte Gus. „Du verschwindest, und wir werden allen mitteilen, dass es einen Zwischenfall gegeben hat und die Hochzeit verschoben ist.“

Sadie wusste, dass ihr Onkel es ihr leichter machen wollte, aber jeder in der Kirche würde sich die Wahrheit denken können. Es war ziemlich offensichtlich, was passiert war – der Bräutigam war nicht zur Hochzeit erschienen. Sie konnte sich vorstellen, wie drinnen alle miteinander flüsterten. Warum dauert das so lange? Wo ist der Bräutigam? Sollte er nicht vor dem Altar warten? Plötzlich kam ihr das alles schrecklich vertraut vor. Einen Moment lang erinnerte sie sich an eine Situation auf der Highschool, als sie vor ihren Mitschülern bloßgestellt und dann von ihnen verspottet und bemitleidet worden war.

„Nein, ich werde nicht abhauen.“ Sie war entschlossen, die Vergangenheit abzuschütteln, und marschierte auf die Kirche zu, bevor sie der Mut verließ.

„Du musst das nicht tun“, meinte Claudia, die Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.

„Doch, ich werde es tun. Da drinnen warten meine Freunde und meine Familie.“

„Wir können es ihnen erklären“, meinte Grace, die sich jetzt an die Spitze setzte. „Lass es uns tun.“

Sadie wusste, dass alle sie bemitleiden würden. In der kühlen Vorhalle der Kirche angekommen, blieb sie stehen, weil Schmerz und Scham sie erneut zu überwältigen drohten. Aber sie musste es tun. Für sich. Also raffte sie die Schleppe ihres Kleides, um besser laufen zu können. Claudia und Grace öffneten ihr mit gequälten Gesichtern die Doppeltür.

Gut zweihundert Gäste verstummten abrupt und drehten die Köpfe nach ihr um. Die Organistin stimmte automatisch den Hochzeitsmarsch an und hörte dann schnell wieder auf zu spielen.

Sadie sah stur geradeaus, als sie, flankiert von Claudia und Grace, den Gang zum Altar hinunterging, wo Pfarrer Baker stand und sie mitfühlend musterte. Sie konzentrierte sich ganz darauf, nicht zu weinen und einfach weiterzugehen. Zu mehr war sie im Moment nicht in der Lage.

Der Pfarrer kam ihr entgegen. „Sadie, meine Liebe.“ Er reichte ihr die Hand.

„Entschuldigen Sie, dass wir Ihre Zeit verschwendet haben. Noch einen Moment bitte, dann werden wir hier verschwunden sein.“ Sie ging an ihm vorbei zum Mikrofon auf der Kanzel, schaltete es ein, holte tief Luft und blickte in die Gesichter der Gäste.

„Es tut mir leid, dass ich euch alle habe warten lassen“, begann sie. Ihr versagte die Stimme, und sie blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. Dann spürte sie Graces Hand auf ihrem Rücken. Ihre Freundinnen waren hinter sie getreten. Grace und Claudia an ihrer Seite zu wissen, half ihr fortzufahren.

„Wie ihr wohl schon bemerkt habt, mangelt es uns an einem Bräutigam. Zu dumm. Ich nehme nicht an, dass jemand freiwillig einspringen will?“ Sie sah sich um. Die Leute wurden unruhig, einige lachten verlegen. „Kommt keiner in Versuchung? Schade! Dann ist es jetzt wohl Zeit, richtig zu feiern. Und ich erwarte, jeden von euch auf dem Empfang zu sehen. Greg hat mir versichert, dass er alles bezahlen wird. Also sorgt dafür, dass er eine horrende Rechnung bekommt.“ Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und trat vom Mikrofon zurück.

Claudia war blass geworden. „Bist du sicher? Ich meine, was den Empfang angeht?“

„Ja … nein. Ich weiß nicht.“ Sadie hatte keine Ahnung, wie sie das alles durchstehen sollte, aber irgendwie würde sie es schaffen müssen.

Als sie hoch erhobenen Hauptes die Kirche verließ, war gedämpftes Gemurmel zu hören. Draußen hielt der Chauffeur der Limousine ihr die Tür auf. Sie stieg hastig ein, schnappte sich sofort die Champagnerflasche und nahm gierig einen großen Schluck.

Dylan Anderson lächelte, als er in seinem Büro das letzte Polaroidfoto von der Pinnwand nahm, um es, wie die anderen auch, als Erinnerung mitzunehmen. Es war während eines langen Nachmittags im Konferenzraum aufgenommen worden, als das Team völlig entnervt versucht hatte, Ideen zu entwickeln, um die sechzig Minuten einer Folge von The Boardroom zu füllen.

Er betrachtete die Arbeit an der erfolgreichen Serie des Privatsenders Box-Office Cable als seine bisher beste Erfahrung als TV-Autor. Das seltene Zusammenspiel eines guten Konzepts, eines sympathischen Redaktionsteams, begabter Regisseure und Schauspieler und einer ausgezeichneten Crew war ein absoluter Glücksfall gewesen.

Dennoch hatte er sich entschieden, seinen Vertrag nicht um ein weiteres Jahr zu verlängern. Natürlich war er versucht gewesen zu bleiben, da seine Arbeit konstant durch Nominierungen für TV-Auszeichnungen, tolle Kritiken und hohe Einschaltquoten anerkannt wurde. Aber er hatte große Ziele, und von denen würde er sich durch nichts und niemanden abbringen lassen.

Er strich fast zärtlich über den dicken, bereits adressierten Umschlag auf seinem Tisch. Sein Drehbuch zu einem Spielfilm, das ihn unendlich viel Zeit und Schweiß gekostet hatte, war endlich fertig. Seine Agentin konnte es jetzt verschiedenen Produktionsfirmen anbieten. Er hoffte, dass es das erste Kinodrehbuch von vielen werden würde.

Dylan war stolz darauf, die neunzig Seiten selbst geschrieben und dabei weder bei der Rechtschreibung noch bei der Grammatik einen Fehler gemacht zu haben. Als Kind hatte er sich im Vergleich zu seinen Mitschülern für dumm gehalten und war sogar von der Schule geflogen. Aber damals hatte er noch nicht gewusst, dass er unter Dyslexie, einer Lesestörung, litt. Er hatte massive Probleme beim Lesen und Verstehen von Texten gehabt.

Als Dylan merkte, dass er über seine verkorkste Jugend nachdachte, schüttelte er den Kopf. All das war lange vorbei und mittlerweile völlig unwichtig. Er legte den Umschlag auf den Karton mit seinen persönlichen Gegenständen und ging damit zur Tür. Das Team von The Boardroom hatte ihn zu einem Abendessen bei seinem Lieblingsmexikaner in Hollywood eingeladen. Dort würde er sich endgültig von allen verabschieden.

Gerade als er die Bürotür aufmachen wollte, läutete das Telefon. Mit einem Seufzer stellte er den Karton ab. „Anderson hier“, meldete er sich.

„Dylan. Ich bin es, Ruby. Hast du eine Sekunde Zeit?“, fragte seine Agentin, ließ ihn jedoch gar nicht zu Wort kommen. „Ich weiß, dass du eine Weile ausspannen wolltest, aber ich habe gerade einen sehr interessanten Anruf erhalten.“

„Vergiss es“, sagte er. „Ich bin nicht interessiert. Zumindest während der nächsten beiden Monate nicht. Dann bin ich für Jobangebote wieder offen.“

„Willst du nicht einmal hören, worum es geht?“

„Nein. Morgen wirst du mein Drehbuch auf dem Schreibtisch haben“, erklärte Dylan. „Damit wirst du ausreichend beschäftigt sein.“ Er hatte vor, die nächsten beiden Monate einige Konzepte für TV-Sendungen weiterzuentwickeln, und wollte an mehreren Drehbüchern arbeiten, für die er bereits Recherchen angestellt hatte. Er wollte erst wieder einen festen Job annehmen, wenn er den Grundstein für seinen nächsten Karriereschritt gelegt hatte.

„Schade. Dann werde ich mich nach anderen potenziellen Kandidaten umhören.“ Ruby seufzte hörbar.

„Versuch es bei Olly Jones. Ich weiß, dass er es satthat, frei zu arbeiten.“

„Ja, das habe ich auch gehört. Er hat letzte Woche bei Crime Scene unterschrieben.“

„He, das ist großartig!“ Dylan freute sich für seinen Freund und nahm sich vor, ihn anzurufen. Er wusste überhaupt nicht mehr, wann er sich das letzte Mal mit Freunden getroffen hatte.

„Okay. Dann werde ich mich wieder bei dir melden, wenn ich das Drehbuch gelesen habe.“

„Ja. Bis dann.“

„Du willst also wirklich nicht einmal wissen, welcher Job zu haben ist?“, ließ Ruby nicht locker.

„Ruby, das wird nicht funktionieren. Ich habe auch so sehr viel Arbeit vor mir.“

„Gut. Dann gestalte eben nicht Amerikas erfolgreichste tägliche Soap mit. Mir ist das egal.“

Dylan zögerte einen Moment. Jetzt war sein Interesse doch geweckt. „Du meinst Ocean Boulevard?“

„Genau die meine ich“, sagte seine Agentin. „Der hauptverantwortliche Autor des Drehbuchteams hatte einen Unfall und wird sechs Monate ausfallen. Der Job des Story-Editors ist im Moment also nicht besetzt.“

Dylan wusste, dass Sadie Post seit vier Jahren für Ocean Boulevard arbeitete. So etwas sprach sich in dem Metier herum, und er konnte nicht einmal an sie denken, ohne wütend zu werden. Eine Reihe von Bildern tauchte vor seinem geistigen Auge auf … Sadie, die ihn vor der Klasse demütigte und ihn absichtlich mit Fragen bombardierte, die er nicht beantworten konnte. Die Missbilligung des Berufsberaters, nachdem er, Dylan, von der Highschool geflogen war. Der geringschätzige Blick seines Vaters, der hinnehmen musste, dass sein ignoranter Sohn gerade mal dazu taugte, Hamburger zu verkaufen …

„Dylan? Bist du noch dran?“

„Erzähl weiter“, meinte er nach einem Moment. Vielleicht war er doch nicht so beschäftigt.

Zehn Tage später parkte Sadie ihr Cabrio auf dem für sie reservierten Platz vor den Produktionsbüros von Ocean Boulevard in Santa Monica. Sie warf kurz einen Blick in den Spiegel. Ihre blonde Mähne war zerzaust, aber das passte zur Sonnenbräune, die sie sich während ihrer allein absolvierten Hochzeitsreise in die Karibik zugelegt hatte.

Sie nahm ihre Mappe und stieg aus. Sie konnte es kaum erwarten, wieder an die Arbeit zu gehen. Ocean Boulevard war ihre Rettung, denn sie wusste, dass sie dafür ihre ganze Energie und Konzentration brauchen würde. Das würde ihr helfen, die nächsten Wochen und Monate zu überstehen.

Nach zehn Tagen voller Selbstmitleid hatte sie sich wieder einigermaßen gefangen. Das Leben ging weiter. So einfach war das. Dass sie immer noch nichts von Greg gehört hatte, half ihr dabei, wieder auf die Füße zu kommen. Am liebsten wäre es ihr, wenn sie nie wieder etwas von ihm hörte. Dann könnte sie so tun, als wären die sechs Monate, in denen sie in ihn verliebt gewesen war, nur eine Halluzination gewesen.

Während Sadie auf das Gebäude zuging, konzentrierte sie sich auf ihre Arbeit. Sie wollte ihren ersten Tag nutzen, um sich auf den aktuellen Stand zu bringen, bevor das Drehbuchteam ihr die Ideen für die Episoden der kommenden Wochen vortrug. Schnell rekapitulierte sie die Handlungsstränge der Story von vor anderthalb Wochen. Ocean Boulevard spielte in Santa Monica. Das Geschehen drehte sich um Menschen, die in einem Apartmentblock in der gleichnamigen Straße wohnten. Die jeweils einstündige Sendung lief an fünf Tagen in der Woche. Daher gab es immer viel zu tun.

Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und winkte einigen Mitarbeitern im Vorbeigehen zu, denn sie wollte nicht auf ihre geplatzte Hochzeit angesprochen werden. In ihrem Büro schaltete sie den Computer ein und klickte sich durch ihr E-Mail-Programm.

Claudia erschien in der Tür. „Ich wusste, dass du früh hier auftauchen würdest, du Workaholic.“ Sie war wie meistens ganz in Schwarz gekleidet.

„Ja, die Ferien sind vorbei.“

„Ich muss schnell etwas Geschäftliches mit dir besprechen. Reg dich nicht auf, aber Joss hatte einen Autounfall. Er hat sich das Becken gebrochen.“

Sadie schnappte nach Luft. „Oh nein. Ist er okay? Wurde noch jemand verletzt?“

„Zum Glück nicht. Ein Hund lief über die Straße, und er wollte ausweichen und ist gegen einen Baum gefahren. Es wird mindestens sechs Monate dauern, bis er wieder auf den Beinen ist. Nur gut, dass seine Krankenversicherung für alles aufkommt. Aber wir brauchen Ersatz für ihn.“

Das hatte Sadie in ihrer Sorge einen Moment lang vergessen. „Meine Güte, ja. Wir müssen einen neuen Autor finden.“ Das würde nicht einfach werden. Der Story-Editor hatte die größte Verantwortung im Drehbuchteam. Er musste mit neuen Ideen die Geschichte vorantreiben und die Einfälle und Texte der anderen beurteilen. Und er war ihr als Script-Producerin direkt unterstellt. Also war es ihre Aufgabe, möglichst schnell einen Ersatz für Joss aufzutreiben. Automatisch griff sie nach ihrem Adressbuch.

Claudia winkte ab. „Entspann dich. Ich habe mich schon darum gekümmert. Wir haben Glück.“

„Ja?“

„Du wirst ihn lieben. Er hat fünf Jahre lang in London bei verschiedenen Sendungen Erfahrungen gesammelt und zuletzt drei Jahre lang für Box-Office Cable an The Boardroom mitgearbeitet. Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir ihn bekommen konnten. Aber er stand gerade zwischen zwei Verträgen und mag unsere Soap sehr.“

All das kam Sadie bekannt vor, und bei ihr begannen sämtliche Alarmglocken zu schrillen. „Ich bin nicht sicher …“

„Da kommt er ja“, unterbrach Claudia sie. „Ihr beiden könnt euch ein bisschen unterhalten, bis alle eingetrudelt sind.“

Sadie wich das Blut aus dem Gesicht, als sie den dunkelhaarigen Mann entdeckte, der hinter Claudia auftauchte. Er sah immer noch umwerfend aus mit seinen grauen Augen, die wie damals einen großspurigen und zu selbstsicheren Ausdruck hatten. Sie sah ihn an, als wäre ihr schlimmster Albtraum wahr geworden.

Als Teenager auf der Highschool war sie heimlich in ihn verknallt gewesen, doch er hatte sie öffentlich gedemütigt. Beim Abschlussball, bei dem er aufgetaucht war, obwohl er kurz vorher von der Schule geflogen war, hatte sie ihre letzte Chance gesehen, ihm zu imponieren. Daher hatte sie in ihrer Verzweiflung ihren BH unter ihrem weit ausgeschnittenen Kleid mit Papiertaschentüchern ausgestopft, um ihren damals noch sehr kleinen Brüsten mehr Fülle zu verleihen. Dylan hatte das bemerkt und die Papiertaschentücher vor den Augen der Schulkameraden aus ihrem BH gezogen. Sie war sich nie so lächerlich vorgekommen.

Und jetzt war er der neue Hauptautor der Serie, mit dem sie eng zusammenarbeiten musste.

2. KAPITEL

Sobald Dylan Sadie Post sah, wurden all seine Erwartungen hinfällig, die er mit der Arbeit an Ocean Boulevard verbunden hatte. Nach den ersten Gesprächen mit Claudia war er fasziniert von dem Gedanken gewesen, an der Soap mitzuschreiben. Die fünf einstündigen Folgen pro Woche waren eine enorme Herausforderung, und er würde viele wertvolle Erfahrungen machen können.

Tatsächlich hatte er seine ursprünglichen Pläne einfach über den Haufen geworfen, weil Claudia ihn ohne Sadies Wissen engagiert hatte. Der Gedanke, dass Sadie Post aus ihrem Urlaub zurückkehren und ihn als den wichtigsten Drehbuchautor der Serie vorfinden würde, war schlichtweg unwiderstehlich gewesen. Denn trotz seiner beruflichen Erfolge hatte er nie verwunden, dass sie ihn auf der Highschool vor der ganzen Klasse blamiert und gedemütigt hatte.

Doch nun war Sadie nicht mehr das unscheinbare dünne Mädchen in den zu weiten Sachen mit dem schlichten, straffen Pferdeschwanz. Die Frau, die aufstand, um ihm gegenüberzutreten, war eine umwerfend schöne Amazone. Sie war groß und hatte eine blonde zerzauste Mähne wie Pamela Anderson. Ihr schlanker Körper hatte Rundungen an den richtigen Stellen, und die wurden von einem engen schwarzen T-Shirt und einer schwarzen Jeans ausgezeichnet in Szene gesetzt. Außerdem hatte sie endlos lange, schlanke Beine – genauso wie er es mochte.

Einen Moment lang war er so perplex, dass er sie nur anstarrte, doch dann setzte er wieder sein Pokerface auf. Okay, dann war sie also eine sehr attraktive Frau geworden. Das änderte absolut nichts. Er hatte schon entschieden, dass er sich kühl und gelassen geben und keinerlei Anspielung auf die Highschool machen würde. Sie waren in dieselbe Klasse gegangen – mehr war nicht. Er würde Sadie nicht die Genugtuung verschaffen, ihr gemeines Verhalten von damals auch nur zu erwähnen. Hier ging es darum, die Vergangenheit zu bewältigen, und nicht darum, sie wiederaufleben zu lassen.

„Sadie, toll, dich wiederzusehen“, log er und brachte sogar ein professionelles Lächeln zustande. Er streckte ihr eine Hand hin.

Sadie zögerte, bevor sie ihm die Hand reichte. Ihre Haut fühlte sich kühl und seidig an, und er betrachtete fasziniert ihre samtbraunen Augen. Doch sofort rief er sich zur Ordnung. Dass sie große Rehaugen hatte, sollte ihm nun wirklich völlig egal sein.

„Ihr kennt euch also schon?“

Claudia sah gespannt zwischen ihnen hin und her, und Dylan nahm an, dass sie sich fragte, weshalb er das im Einstellungsgespräch nicht erwähnt hatte.

„Sadie und ich sind zusammen zur Schule gegangen“, erklärte er möglichst harmlos. Er sah Sadie in die Augen und entdeckte für einen kurzen Moment einen verletzlichen und schmerzlichen Ausdruck darin. Erneut war er irritiert und aus dem Konzept gebracht, denn er hatte erwartet, dass sie abwehrend oder gleichgültig auf ihn reagieren würde.

„Das stimmt. Dylan und ich waren auf derselben Highschool“, erklärte sie.

„Oh! Das hat Dylan überhaupt nicht erwähnt.“ Claudia sah ihn fragend an.

Er zuckte die Achseln. „Es ist doch schon so lange her. Ich wusste nicht, ob Sadie sich noch an mich erinnern würde.“ Mit Genugtuung registrierte er, dass seine ehemalige Mitschülerin sich unbehaglich fühlte.

„Ja, die Welt ist klein.“ Claudia akzeptierte seine Ausrede.

Sadie hatte sich wieder unter Kontrolle. „Ich dachte, du wärst bei The Boardroom unter Vertrag“, sagte sie und errötete, als ihr bewusst wurde, was sie damit zugegeben hatte.

Also hat sie meine Karriere verfolgt, dachte Dylan. Wahrscheinlich hat sie nur darauf gewartet, dass ich Hollywood wieder verlassen muss. „Ich hatte den Job gerade quittiert, als Claudias Angebot mich erreichte“, meinte er lässig. „Wie ich hörte, hast du Urlaub in der Karibik gemacht. Wo genau warst du?“

„In St. Barts“, meinte sie zögernd und schaute Claudia fragend an.

Dylan sah aus den Augenwinkeln, dass Claudia den Kopf schüttelte. Hatten die beiden ein Geheimnis? „Ich war vor einigen Jahren dort. Bist du getaucht?“, hakte er nach.

„Nein. Ich habe Strandurlaub gemacht, viel gelesen und Schlaf nachgeholt“, antwortete Sadie abweisend.

Er hatte vermutet, dass sie mit einer Freundin oder ihrem Freund Urlaub gemacht hatte. Doch es klang so, als wäre sie allein gewesen. Das konnte er sich bei einer so attraktiven Frau wie ihr kaum vorstellen. Natürlich musste man in Betracht ziehen, was für ein Biest sie war. Das schreckte Männer trotz ihres sexy Körpers ab. „Das klingt großartig.“

„Ja, das war es.“ Sadie hob herausfordernd das Kinn.

Hier stimmt definitiv etwas nicht, dachte Dylan. Näheres würde er schon noch herausfinden. In TV-Produktionsbüros wurde immer viel geklatscht, und wenn er es geschickt anstellte, würde er bis hin zu ihrer Schuhgröße bald alles über Sadie Post wissen.

„Dann lasse ich euch jetzt allein.“ Claudia ging zur Tür. „Sadie wird nach ihrem Urlaub wahrscheinlich auf den neuesten Stand gebracht werden müssen.“

Ohne um Erlaubnis zu fragen, machte Dylan es sich auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch bequem. Es hatte ihn kurz aus der Bahn geworfen, weil aus der Bohnenstange eine sehr erotische Frau geworden war. Aber jetzt hatte er sich wieder in der Hand und würde ihr deutlich machen, mit wem sie es in den kommenden Monaten zu tun hatte.

Sadie fühlte sich zunehmend gestresst, als Dylan sich im Stuhl ihr gegenüber zurücklehnte und lässig die Hände hinter dem Kopf verschränkte. Sie war verwirrt, wütend und hatte Angst. Dylan Anderson hatte mindestens fünf Jahre lang nach diesem grauenvollen Abschlussball auf der Highschool ihre Albträume beherrscht. Sie hatte ihm die Pest an den Hals gewünscht. Und jetzt saß er ihr großspurig gegenüber, schien sich pudelwohl zu fühlen und verursachte ihr Beklemmungen. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Nach Gregs Verrat war ihr Selbstbewusstsein ohnehin angeknackst. Das war einfach zu viel!

In den letzten Jahren hatte Sadie sich immer mal wieder vorgestellt, ihm zu begegnen. Aber in ihren Rachefantasien hatte sie höchstens noch Mitleid für ihn empfinden können. Denn darin hatte er immer ein kugeliges Bäuchlein und schütteres Haar oder eine Glatze gehabt. Manchmal hatte sie ihm sogar eine Zahnlücke angedichtet. Warum auch nicht, zum Teufel?

Leider hatten es die vergangenen Jahre sehr gut mit Dylan gemeint. Obwohl er immer noch schlank war, waren seine Schultern breit, und er wirkte muskulös. Seine Bizepse zeichneten sich unter dem grünen T-Shirt ab. Das schwarze Haar trug er nicht mehr rebellisch lang, sondern kurz. Eine Locke fiel ihm in die Stirn. Sogar die leichten Falten um seine Augen und seinen Mund machten den Mistkerl noch attraktiver.

Sie verachtete ihn. Einen Moment lang drohten ihre Gefühle Sadie fast zu überwältigen. Ihr fielen all die Dinge ein, die sie ihm hatte sagen wollen, nachdem ihre Kränkung in Zorn umgeschlagen war. Doch nach dem Abschlussball war er plötzlich verschwunden gewesen, und sie hatte angenommen, dass er nie mehr in ihrem Leben auftauchen würde. Dann hatte sie vor drei Jahren im Nachspann von The Boardroom mit Schrecken den Namen Dylan Anderson entdeckt und sich durch eine kleine Recherche vergewissert, dass er tatsachlich ihr ehemaliger Schulkamerad war. Seitdem hatte sie sich immer mal wieder darüber informiert, wo er war und was er tat, um ihn im Auge zu behalten.

Und jetzt saß er ihr gegenüber und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Zum Glück hatte Claudia ihm nichts von ihrer katastrophalen Hochzeit erzählt. Allein der Gedanke, dass er von diesem Desaster in ihrem Privatleben erfuhr, verursachte Sadie Übelkeit.

Am meisten hatte sie die lässige Art auf die Palme gebracht, mit der er erwähnt hatte, dass sie zusammen zur Schule gegangen waren und dass er nicht gewusst hätte, ob sie sich noch an ihn erinnerte. Als ob seine Grausamkeit nicht einer der zentralen Momente in ihrem Leben gewesen wäre! Der Gedanke an sein unglaublich demütigendes Verhalten damals, das für ihn anscheinend nicht der Rede wert war, gab ihr den nötigen Kick, um ihm Paroli zu bieten. Dylan Anderson würde sie nicht noch einmal derart kränken. Sie straffte die Schultern. „Ich nehme an, dass du letzte Woche hier an Bord gegangen bist, richtig?“

„Ja. Ich habe einfach da weitergemacht, wo Joss aufgehört hat. Das Team war großartig.“

Alles in Sadie sträubte sich, weil es klang, als hätte er persönlich die Leute ausgesucht und eingearbeitet.

„Ja, es ist ein tolles Team. Sehr erfahren. Es überrascht mich, dass Claudia nicht in Erwägung gezogen hat, jemanden aus dem Team zum Story-Editor aufsteigen zu lassen.“ In dem Moment, in dem sie das gesagt hatte, wusste sie, dass sie einen taktischen Fehler gemacht hatte. Zum einen war niemand aus dem Team schon so weit, unvermittelt diesen Job zu übernehmen, und nach einer Woche Arbeit mit der Redaktion wusste Dylan das auch. Zum anderen – und das wog viel schwerer – wusste der Mistkerl jetzt, dass sie ihn nicht im Team haben wollte.

Ihm war das offensichtlich egal, denn er erklärte kühl: „Ich denke, darüber wirst du mit Claudia reden müssen.“

Sadie verkniff sich das Schimpfwort, das ihr auf der Zunge lag. „Da du dich schon so gut eingelebt hast, können wir ja sofort mit der Arbeit anfangen.“

„Natürlich. Möchtest du, dass ich die Episoden der letzten Woche rekapituliere, oder hattest du Gelegenheit, die Drehbücher zu lesen, bevor du hergekommen bist?“

„Geh einfach die wichtigsten Punkte mit mir durch.“

„Okay.“

Sadie legte die Fingerspitzen aneinander und versuchte, selbstsicher und kontrolliert zu wirken. Sie würde alles tun, um diese erste Begegnung würdevoll hinter sich zu bringen.

Dylan versuchte sich zu konzentrieren, während er zu einer kurzen Zusammenfassung der Episoden der letzten Woche ansetzte. Das war nicht einfach, weil sein Blick automatisch zum Ausschnitt von Sadies eng anliegendem T-Shirt ging.

„Wir haben alle sechs Handlungsstränge weitergeführt, aber entschieden, dass das Scheidungsszenario von Kirk und Loni während der vorangegangenen Folgen genug ausgewalzt worden ist. Also haben wir Kirk in der letzten Woche prinzipiell einer Scheidung zustimmen lassen.“

Während Sadie ihm zuhörte, betrachtete Dylan ihr Gesicht. Sie hatte eine schöne Haut, die jetzt auf natürliche Art von der Sonne gebräunt war. Offensichtlich hatte sie kaum Make-up aufgelegt.

„Unsere Zukunftsplanung für Kirk und Loni sieht vor, dass sie sich wieder versöhnen werden. Wir wollen keine Scheidung“, wandte Sadie ein.

„Das habe ich gesehen. Ich dachte, wir könnten noch einige Verwicklungen einbauen, bevor wir sie wieder zusammenkommen lassen. Also hat Kirk die Scheidungspapiere unterschrieben – aber er hat sie noch nicht abgeschickt.“ Dylan stellte fest, dass Sadie ihn angespannt ansah. Sie hat hinreißende Augen, dachte er. Warum waren ihm ihre Augen nicht in Erinnerung geblieben? Anders als ihre Brüste musste sie die doch schon auf der Highschool gehabt haben.

„Und was wird ihn davon abhalten, seinem Anwalt die Papiere zu schicken?“

„Diese Woche wird Loni von einer alten Flamme besucht werden. Dass plötzlich ein Konkurrent auftaucht, wird die Sache anheizen.“ Er grinste großspurig.

„Das klingt alles sehr interessant“, meinte Sadie mit unbewegtem Gesicht. „Doch ich denke, es ist mir lieber, wenn ich die Episoden lese, anstatt sie mündlich durchzugehen. Dann wird mir keine Nuance entgehen.“ Einen Moment lang presste sie die Lippen aufeinander.

Ihr Mund ist sehr sexy, stellte Dylan fest. Erst nachträglich wurde ihm bewusst, dass er Sadie Post in Augenschein nahm, und er rief sich zur Ordnung. „Sicher. Schließlich bist du der Boss.“

Sadie hatte sich Notizen gemacht, hob bei dieser Bemerkung aber den Kopf. Sie starrten sich einen Augenblick lang an, dann sagte sie: „Der Rest des Teams ist jetzt da. Ich will dich nicht aufhalten.“

Dylan hätte schwören können, dass sie erleichtert war, was sich bestätigte, als sie aufstand, um ihm zu signalisieren, dass das Gespräch beendet war. Er genoss es, dass sie verunsichert wirkte, und nahm sich vor, sie in den kommenden Monaten noch weit mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Anstatt auf ihren Hinweis einzugehen, blieb er sitzen, um zu sehen, wie weit er gehen konnte. Langsam ließ er den Blick über ihren Körper gleiten, um sie bewusst zu provozieren.

Doch es stellte sich heraus, dass es ihm gefiel, Sadie von Kopf bis Fuß zu mustern. Sie hatte einen anmutigen, geschmeidigen Körper mit festen Brüsten, der nackt hinreißend aussehen musste. Ihren Po hatte er bisher noch nicht gesehen, aber er wäre jede Wette eingegangen, dass er toll war. Er überlegte sich, was für Slips sie wohl trug. Vielleicht Strings?

„Weißt du, wenn ich dir auf der Straße begegnet wäre, hätte ich dich nicht erkannt.“ Dylan schaute ihr jetzt wieder ins Gesicht und registrierte zufrieden, dass sie rot wurde. Ihre Augen blitzen vor Wut. „Du hast dich ziemlich verändert.“

„Ja. Aber du bist noch ganz der Alte.“

Er wusste, dass Sadie das nicht als Kompliment gemeint hatte. Langsam stand er auf. Es machte ihm Spaß, sie zu überragen, auch wenn er nur ein paar Zentimeter größer war als sie. „Ich freue mich wirklich sehr auf die kommenden Monate, Sadie“, sagte er, bevor er ging.

Sadie hielt sich an ihrem Schreibtisch fest, als Dylan ihr Büro verließ, weil sie plötzlich weiche Knie hatte. Automatisch musterte sie ihn von hinten und betrachtete die breiten Schultern und schmalen Hüften. Die Jeans betonte seinen perfekt geformten Po. Er war so knackig und maskulin, dass wohl jede Frau ihn zum Anbeißen fand.

Jede Frau – außer ihr natürlich. Sie war für alle Ewigkeit unempfänglich für Dylans sogenannten Charme. Überwältigt ließ sie sich auf ihren Stuhl sinken. Ihr war zumute, als wäre sie vom Blitz getroffen worden. Dylan war ihr Feind, sie wollte ihn nicht bei Ocean Boulevard haben. Wie hatte Claudia ihr das nur antun können? Aber natürlich wusste sie, dass es nicht Claudias Schuld war. Wenn Dylan Anderson nicht der wäre, der er war, wäre er ein echter Gewinn und ein Aushängeschild für ihr Team. Er war für eine Reihe von TV-Preisen nominiert worden und wurde in der Branche respektiert, ja sogar bewundert – sosehr ihr das auch missfiel.

Als Grace in ihr Büro kam, sich setzte und die Beine übereinanderschlug, war Sadie ungeheuer froh über die Ablenkung. Sie registrierte die violetten Stilettos, die ihre Freundin trug. „He, die sind neu!“

„Ja. Ich habe sie in einem kleinen Laden am Sunset Strip entdeckt.“

Obwohl Grace zu den Schuhen ein hellgrünes Kleid mit weißen Paspeln im Stil der Fünfzigerjahre anhatte, schaffte sie es wie gewöhnlich, dass die unmögliche Zusammenstellung irgendwie zusammenpasste. Ihr tizianrotes Haar trug sie lang mit einem sehr kurzen Pony. Sie ist ein halbes Jahrhundert zu spät geboren, dachte Sadie.

„Also, was hältst du von unserem sexy Neuzugang?“, fragte Grace.

„Ich hasse ihn!“, platzte Sadie heraus und schlug sich dann betroffen die Hand vor den Mund. Sie hatte das eigentlich für sich behalten wollen.

Ihre Freundin machte ein verblüfftes Gesicht. „Wirklich? Meine Güte, was hat er gesagt? Er war doch nur eine halbe Stunde bei dir.“

„Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“

„Das gibt es doch nicht.“ Grace sah ihre Freundin aufmerksam an. „Warum spüre ich bei dir eine angestaute, panische Angst aus Teenagerzeiten?“

Plötzlich stiegen Sadie Tränen in die Augen, und sie blinzelte wild.

„He, bist du okay?“ Grace stand besorgt auf und ging um den Tisch herum, um ihre Freundin zu trösten.

Sadie hielt abwehrend eine Hand hoch. „Bitte nicht! Ich will nicht, dass er mitbekommt, wie durcheinander ich bin.“ Sie warf einen argwöhnischen Blick in den Flur, wo Dylan sich mit zwei Teammitgliedern unterhielt.

„Okay.“ Grace setzte sich wieder. „Dieser Mann macht dir ja wirklich schwer zu schaffen.“

Sadie seufzte tief. „Es ist eine alte Geschichte. Er sollte nicht mehr eine solche Macht über mich haben. Ich meine, ich bin jetzt erwachsen. Nichts von all dem spielt noch eine Rolle.“

Grace kaufte ihr das nicht ab. „Ich denke, du solltest es Claudia sagen.“

„Nein.“

„Warum nicht? Du selbst hättest diesen Schuft doch nie engagiert. Claudia wird das verstehen.“

Dass ihre Freundin Dylan bereits als Schuft eingestuft hatte, ohne die Geschichte zu kennen, tat Sadie gut. „Ich kann nicht. Was soll ich sagen? Er war in der Schule gemein zu mir, also sorge dafür, dass er verschwindet? Das geht nicht.“

„Was willst du dann tun?“

„Ich weiß es nicht. Es irgendwie hinter mich bringen, vermutlich. Er hat ja nur einen Vertrag über sechs Monate, nicht wahr?“ Im Moment kam ihr das wie eine lebenslängliche Freiheitsstrafe vor, aber sie war auch kalt erwischt worden. Wenn sie erst einmal Zeit zum Nachdenken hatte, um eine geeignete Strategie zu entwickeln, würde es ihr wieder besser gehen.

„Rede mit Claudia“, wiederholte Grace.

„Wir brauchen einen kompetenten Story-Editor. Ich möchte nicht, dass sie glaubt, mir auf Kosten der Sendung einen Gefallen tun zu müssen. Sie hat den Job als Produzentin erst seit fünf Wochen. Das wäre nicht fair.“ Plötzlich fühlte Sadie sich sehr müde und wollte nur noch eine Weile ihre Ruhe haben.

Ihre Freundin spürte das und stand auf. „Du weißt, wo du mich findest. Und in meiner untersten Schreibtischschublade liegt ein großer Vorrat an Schokolade.“

„Danke.“ Sadie lächelte Grace an, doch sobald sie allein war, runzelte sie die Stirn. Sie hatte eine echte Pechsträhne. An diesem Tag vermied sie alles, was über einen sehr kurzen und oberflächlichen Kontakt mit Dylan hinausging. Aber sie wusste, dass es nicht so weitergehen konnte.

Als Sadie nach Hause kam, war sie immer noch völlig konsterniert. Doch nachdem sie heiß geduscht, ihren bequemsten Pyjama angezogen und sich zum Abendessen eine große Portion ihrer Lieblingseiscreme und Kekse genehmigt hatte, fand sie ihr inneres Gleichgewicht allmählich wieder.

Inzwischen sah sie die Sache aus einer anderen Perspektive. Sie würde schon damit umgehen können, dass Dylan Anderson eine Zeit lang bei Ocean Boulevard arbeitete. Schließlich lag diese Sache lange zurück, und sie war jetzt eine erwachsene Frau. Die alten Verletzungen spielten keine Rolle mehr. Letztendlich war er ein Mitarbeiter wie jeder andere auch. Sadie kuschelte sich unter die Bettdecke. Ein paar Stunden erholsamer Schlaf, und sie würde der Welt wieder gegenübertreten können.

Doch dann hatte sie den Traum, der von ihren Erinnerungen handelte und der sie schon lange nicht mehr verfolgt hatte …

Die Schulstunden waren vorbei, und die anderen Kids waren schon nach Hause gegangen. Sadie wollte gerade den Umkleideraum der Mädchen betreten, hörte jedoch im Umkleideraum der Jungen nebenan jemanden singen. Als sie die Stimme erkannte, schlug ihr Herz schneller. Sie schlich hinüber und hörte Wasser rauschen. Dylan Anderson duschte und sang dabei. Ihr wurde heiß, als sie ihn sich nackt unter der Dusche vorstellte.

Wie ferngesteuert ging sie weiter zu der Reihe von Spinden, die sie vom Waschraum trennte. Normalerweise tat sie nie etwas, das so gewagt war, denn sie war eine gute und immer korrekte Schülerin. Aber jetzt stand sie im Umkleideraum der Jungen, um einen Blick auf den nackten Dylan Anderson zu erhaschen, und fragte sich, ob sie plötzlich den Verstand verloren hatte.

Dennoch ging sie weiter und hielt den Atem an, während sie vorsichtig einen Blick um die Ecke riskierte. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Das Wasser lief ihm über die breiten Schultern den Rücken hinunter und über seinen knackigen Po. Der Anblick weckte Sadies Hunger auf etwas, für das sie nicht einmal einen Namen hatte.

Die nassen Haare hingen ihm auf die Schultern, und sie verfolgte das Spiel seiner Rückenmuskeln, als er seinen Bauch wusch. Dann drehte er ihr das Profil zu. Sie musterte mit großen Augen seine Brust und ließ schnell den Blick über seinen festen Bauch bis zu der Stelle gleiten, auf die sie am neugierigsten war. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie ein männliches Glied. Beeindruckt vergaß sie zu atmen und presste unwillkürlich die Knie zusammen. Oh, Mann!

Dann drehte Dylan sich ihr ganz zu und legte den Kopf in den Nacken. Sadie nahm begierig jeden Zentimeter seines Körpers in Augenschein. Seine Oberschenkel waren durchtrainiert und seine Waden so perfekt proportioniert wie der Rest. Er hielt die Augen geschlossen, wusch sich mit der einen Hand die Brust, und mit der anderen strich er sich die nassen Haare aus der Stirn.

Er war prachtvoll, und sein Anblick war noch sehr viel besser als in ihren Fantasien. Der Gedanke, dass er sie berühren, sie an seine breite Brust ziehen und sie seine Erregung spüren lassen könnte, machte sie benommen vor Lust und Sehnsucht. Sie war so fasziniert, dass sie erst aufschreckte, als Dylan plötzlich das Wasser abdrehte und nach seinem Handtuch griff.

Hastig versteckte sie sich hinter der ersten Reihe von Spinden. Sie war überzeugt, sie würde sterben, wenn er sie erwischte. Verzweifelt sah sie sich um und bemerkte, dass seine Kleider auf der Bank vor seinem Spind lagen. Als sie hörte, dass er kam, floh sie hastig ans Ende des Gangs und kauerte sich hinter einen Behälter mit schmutzigen Handtüchern. Dort wartete sie voller Angst auf die Strafe für ihre Dreistigkeit.

Sie hörte, dass Dylan ein Deospray benutzte und sich anzuziehen begann. Offensichtlich bemerkte er sie nicht, und sie wartete regungslos darauf, dass er den Umkleideraum verließ. Aber alles blieb still. Verunsichert wagte sie einen kurzen Blick über den Rand des Behälters, um zu sehen, ob Dylan noch da war. Sofort ging sie wieder in Deckung, denn er saß bedrückt auf der Bank und hielt ein Blatt in der Hand. Sie riskierte noch einen Blick und stellte fest, dass er völlig resigniert und verstört auf das Papier starrte. Plötzlich fluchte er, knüllte das Blatt zusammen und warf es in den nächsten Mülleimer. Dann nahm er seine Lederjacke und ging hinaus.

Sadie wartete, bis seine Schritte verhallt waren, bevor sie das Blatt aus dem Mülleimer fischte. Dann lief sie in den Umkleideraum der Mädchen, schloss sich auf der Toilette ein und strich das Papier glatt. Es war der unangekündigte Test in Amerikanischer Literatur, bei dem Dylan sehr schlecht abgeschnitten hatte. Es war nicht neu für sie, dass er nicht gerade ein guter Schüler war. Sie saß neben ihm und hatte oft genug mitbekommen, dass er wegen nicht erledigter Hausaufgaben oder falscher Antworten ermahnt worden war. Häufig hatte sie versucht, ihn zu schützen, indem sie Mr. McMasters, den Lehrer in Amerikanischer Literatur, durch Fragen abgelenkt oder sich vorgedrängt hatte.

Bisher hatte sie immer geglaubt, Dylan wären seine mangelhaften Leistungen völlig egal. Doch jetzt realisierte sie, dass sie sich getäuscht hatte. Sie war seit über einem Jahr heimlich in Dylan verliebt, und zum ersten Mal machte sie sich Hoffnungen, weil sie wusste, dass sie ihm helfen konnte. Amerikanische Literatur war ihr bestes Fach. Wenn sie ihm zu Hilfe käme, würde er sie bestimmt zur Kenntnis nehmen, auch wenn sie mit ihren kleinen Brüsten und den schlaksigen Beinen äußerlich nicht anziehend war. Vielleicht könnten sie sogar Freunde werden. Und dann würde er vielleicht …

Sadie saß aufgeschreckt im Bett und schlug die Decke zurück. Ihre Haut fühlte sich klamm an, obwohl ihr heiß war. Sie schaltete die Nachttischlampe an. Wenigstens hatte sie es geschafft, aufzuwachen und den Traum nicht zu Ende zu träumen. Sie wünschte, sie könnte die alten Erinnerungen einfach ausmerzen. Genervt verschränkte sie die Arme vor der Brust und bemerkte, dass sich ihre Brustwarzen aufgerichtet hatten. Dass die Erinnerung an den nackten Dylan Anderson sie immer noch erregte, machte sie noch wütender als die Tatsache, dass der alte Traum nach langer Zeit wieder aufgetaucht war.

Sie hasste Dylan und hatte nichts als Verachtung für ihn übrig, auch wenn ihre körperliche Reaktion etwas anderes vermuten ließ. Es war jämmerlich, und sie war verdammt sicher, dass Dylan nicht gerade aufgewühlt im Bett saß und sich ihren nackten Körper vorstellte.

Diese Einsicht half Sadie, ihre Empfindungen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die Vergangenheit und ihre damaligen Gefühle hatten absolut keine Bedeutung mehr. Im Büro waren sie auf ihrem Territorium, und sie war der Boss. Diesmal würde es anders laufen. Sie würde Dylan Anderson die Stirn bieten. Entschlossen legte sie sich wieder hin, um zu schlafen.

3. KAPITEL

Als Dylan eine Woche später sein Motorrad auf dem Parkplatz vor den Produktionsbüros von Ocean Boulevard abstellte, sagte er sich, dass er so früh anfing, weil er bestens vorbereitet sein wollte. Bis zu einem gewissen Grad stimmte das auch. Denn wegen seiner Dyslexie hatte er sich angewöhnt, immer gut vorbereitet an die Arbeit zu gehen. Aber die ganze Wahrheit war, dass er die halbe Nacht an die Decke gestarrt und an Sadie gedacht hatte. Er hatte ihre Beine, die samtbraunen Augen und die zerzauste Mähne vor Augen gehabt. Er hatte sich an die enge schwarze Jeans erinnert, die sie getragen hatte. An ihren schlanken Hals und den Anblick ihres Dekolletés …

Er hatte eine ganze Woche gebraucht, um es sich schließlich einzugestehen – Sadie Post, die hinterhältige und gemeine Streberin aus der Highschool, war eine total heiße Frau geworden. Dylan hatte sich nie viele Illusionen über Sex gemacht. Wenn er sich mit Frauen verabredete, war er schonungslos offen zu ihnen. Er hatte nie einer Frau gesagt, dass er sie liebte. Er war nicht einmal sicher, ob er an die Liebe glaubte, und suchte auch nicht danach. Aber er hatte sich auch noch nie zu jemandem hingezogen gefühlt, den er noch nicht einmal mochte.

Und Sadie mochte er definitiv nicht. In der letzten Woche hatte er unentwegt mit seinem neuen Boss im Clinch gelegen. Über jede einfache Entscheidung war endlos gestritten worden. Er hatte keine Nacht mehr gut geschlafen, seitdem er sie das erste Mal in ihrem Büro getroffen hatte. Ihr aufregender Körper ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Aber er würde sie niemals anfassen, geschweige denn mit einem Biest wie ihr im Bett landen, nur weil sie tolle Beine und tolle Brüste hatte.

Dylan nahm den Helm ab. In diesem Moment bemerkte er das silberfarbene Cabrio auf dem Parkplatz. Weil es noch so früh war, vermutete er, dass jemand das Auto über Nacht hatte stehen lassen und aus irgendeinem Grund ein Taxi genommen hatte. Froh darüber, noch einige Stunden für sich zu haben, bevor das Team aufkreuzte, betrat er das Gebäude.

Als er wenig später registrierte, dass er doch nicht allein war, hielt er abrupt inne.

Sadie stand in der Teeküche und war gerade dabei, ihren Pullover auszuziehen. Das war an sich harmlos – wenn man von der Tatsache absah, dass das Poloshirt, das sie darunter trug, hartnäckig am Pullover klebte, während sie die Arme hob und ihn auszuziehen versuchte. Einen Moment lang war ihre schmale, nackte Taille und ein Teil ihres BHs aus weißer Spitze zu sehen. Dylan konnte nicht anders, als einen Schritt auf sie zuzugehen. Nun hielt sie den Pullover in der einen Hand, zog mit der anderen das T-Shirt herunter und schüttelte ihr Haar wieder zurecht.

So schnell das auch über die Bühne gegangen war, Dylan hatte der Anblick sehr erregt. Sadie schien ihn zu bemerken und drehte sich zu ihm um. Als sie ihn sah, riss sie die Augen auf und zog erneut an ihrem Poloshirt. Er wusste genau, was sie jetzt dachte. Wie lange steht er schon dort? Ihre Unsicherheit erfüllte ihn mit Genugtuung. Mit einem leichten Lächeln ging er auf sie zu. „Guten Morgen, Sadie.“

Sie sah ihn argwöhnisch an und straffte die Schultern. „Guten Morgen, Dylan. Du bist früh hier.“

„Ja.“ Er ließ den Blick von ihrem Gesicht zu den Brüsten, dem Jeansminirock und den Cowboystiefeln gleiten, die sie trug. Dann betrachtete er ihre langen, gebräunten Beine. Er wollte sie aus dem Gleichgewicht bringen. Sie sollte weiter darüber nachdenken, ob er ihren kleinen Striptease gesehen hatte. Allerdings hatte er nicht bedacht, welche Wirkung seine Musterung auf ihn haben würde. Sein Körper reagierte sehr deutlich, was er eilig zu verdecken versuchte, indem er seine Mappe vor seinen Unterkörper hielt. Er fühlte sich wie ein Teenager im Hormonrausch. Auf keinen Fall sollte Sadie bemerken, dass er sie wollte. Selbstverständlich tat er das auch nicht wirklich. Aber sie könnte auf den Gedanken kommen, wenn sie seinen heiklen Zustand bemerkte.

Mittlerweile hatte sich Sadies Verlegenheit gelegt. „Ich habe einige Anmerkungen zu den Episoden von letzter Woche.“ Sadie schenkte sich einen Becher Kaffee ein. „Nichts von Bedeutung, nur einige Dinge, die wir klären müssen.“

Dylan wartete, ob sie etwas darüber sagen würde, wie spannend die Episoden gewesen waren, die er mit dem Team erarbeitet hatte. Oder wie emotional und packend das Ende der Folge am Freitag gewesen war, das die Zuschauer dazu verführen sollte, sich die Fortsetzungen in der nächsten Woche anzusehen. Aber sie goss sich nur schweigend Milch in den Kaffee.

„Und mit dem Ende der Episode am Freitag hattest du kein Problem?“, fragte er und ärgerte sich sofort über sich selbst. Er brauchte ihr Lob nicht.

„Es war gut. Ich erwarte, dass du in der Folge am Montag geschickt daran anknüpst“, meinte Sadie höflich.

Gut? Die Fans vor dem Fernseher waren ganz sicher zu Tränen gerührt gewesen. Dylan ballte seine Rechte zur Faust, schlug aber ebenfalls einen gelangweilten Ton an. „Wir können es beim Redaktionsmeeting diskutieren.“ Er bemerkte, dass in ihren Augen kurz Ärger aufblitzte, weil er nicht direkt auf ihre Bemerkung eingegangen war.

„Es wird sicherlich interessant werden zu sehen, welche Ideen du hast.“

Er hörte die Herausforderung in ihrem Ton und wusste, dass sie plante, es ihm so schwer wie möglich zu machen. Schon das Redaktionsmeeting in der vergangenen Woche war schwierig für ihn gewesen. Jetzt hatten sie sich aufgewärmt, und der Kampf würde wohl erst richtig losgehen. Er grinste, denn er liebte Herausforderungen. „Ja, sehr interessant.“

Mit einem misstrauischen Blick ging Sadie zur Tür. „Ich möchte dich nicht von der Arbeit abhalten.“

Instinktiv glitt Dylans Blick über die verführerischen Rundungen ihres Po und über ihre Oberschenkel. Dass er erneut scharf auf sie wurde, nervte ihn so sehr, das er ihren Namen rief und sagte: „Ich würde gern etwas mit dir besprechen.“

Sie zögerte einen Moment, bevor sie sich zu ihm umdrehte. „Sicher. In meinem Büro.“

Er folgte ihr und musste widerwillig zugeben, dass sie einen verdammt sexy Gang hatte.

Sadie setzte sich hinter ihren Schreibtisch. Ganz offensichtlich erwartete sie, dass er sich auf den Stuhl gegenüber setzte. Stattdessen blieb Dylan stehen und lehnte sich gegen einen Aktenschrank. Nun musste sie zu ihm aufsehen und war im Nachteil. Er versuchte nicht einmal, sein überlegenes Grinsen zu unterdrücken. Solange er sein körperliches Verlangen nach ihr unter Kontrolle halten konnte, würde er sie während der kommenden sechs Monate mit großem Spaß und so oft wie möglich provozieren.

„Also, um was geht es?“

„Ich wollte mit dir über die Idee sprechen, während der Spitzeneinschaltzeiten im Winter eine zusätzliche Episode in Spielfilmlänge zu produzieren. Mit diesem Konzept haben einige der europäischen und australischen Soaps großen Erfolg gehabt und noch mehr Zuschauer gewonnen.“

Nach kurzem Zögern drehte Sadie sich ihm frustriert zu, sodass sie ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. „Wir haben ab und zu schon mit der Idee gespielt. Aber der vorherige Produzent war nicht begeistert davon. Claudia ist dafür aber wohl offener“, informierte sie ihn nur widerwillig.

„Großartig. Dann schlagen wir ihr das vor.“

„Noch nicht. Du bist erst die dritte Woche hier, Dylan.“

„Und?“

„Du hast genug damit zu tun, dich gründlich einzuarbeiten. Dir obendrein noch eine zusätzliche Episode in Spielfilmlänge zuzumuten wäre tollkühn.“

Verärgert straffte er die Schultern. „Damit werde ich schon fertig. Ich denke, wir sollten es tun. Oder willst du keine höheren Einschaltquoten?“

Sadie schlug die Beine übereinander, und sein Blick fiel auf ihre gebräunten Schenkel.

„Wir haben die besten Einschaltquoten seit zehn Jahren“, meinte sie lässig.

„Dann reicht es dir also, dich auf deinen Lorbeeren auszuruhen, ja?“, konterte Dylan. Sie wussten beide, dass er sie provozierte.

„Wir müssen schon bald damit beginnen, die Geschichten für die Episoden im Winter zu entwickeln, und du hast noch nie vorher in deiner Karriere Woche für Woche so viel produzieren müssen. Ich denke, du solltest aufpassen, dich nicht zu übernehmen.“

Dylan schluckte das Schimpfwort hinunter, das er auf den Lippen hatte. Sie wirkte so zimperlich, wie sie da mit geradem Rücken vor ihm saß und ihm diesen Vortrag hielt. Jetzt erinnerte sie ihn wieder an die korrekte Musterschülerin von früher.

„Bist du sicher, dass du nur deshalb Schwierigkeiten siehst, weil die Idee nicht von dir stammt?““

„Absolut“, entgegnete Sadie. „Ich bin auch sicher, dass ich meine Entscheidungen nicht vor dir rechtfertigen muss. So hart das auch für dein Ego sein mag.“

„Ich habe kein Ego-Problem.“ Dylan grinste spöttisch. „Ich weiß, was ich wert bin.“

„Ach ja?“

Er grinste. Die Auseinandersetzung machte ihm Spaß. „Ich werde es vorschlagen, um zu sehen, was sie davon hält.“

Gereizt stand Sadie auf. „Denk nicht einmal daran. Du hast meine Antwort. Gib dich damit zufrieden.“ Sie schnappte sich das Drehbuch der Episoden für die kommende Woche, das auf ihrem Schreibtisch lag. Dutzende von aufgeklebten Notizzetteln zeigten, wie viele Änderungen sie daran vorgenommen haben wollte. „Bist du wirklich so arrogant zu glauben, dass du innerhalb von zwei Wochen eine Soap mit unzähligen Handlungssträngen und Charakteren im Griff hast, die seit über fünfzehn Jahren läuft?“ Sie knallte das Drehbuch wirkungsvoll auf den Schreibtisch.

Dylan betrachtete die vielen Notizzettel und zuckte mit den Schultern. „Die Änderungen beziehen sich nur auf die Hintergrundgeschichten. In zwei Wochen haben die sich erledigt.“

„Du hast wirklich ein kolossales Ego.“ Sadie sah ihn missbilligend an.

„Da haben wir wohl etwas gemeinsam, Süße.“

Sadie sprang auf. „Erstens, nenn mich nie wieder Süße. Ich leite die Drehbuchentwicklung und bin damit deine Vorgesetzte. Das solltest du besser nicht vergessen. Zweitens habe ich sieben Tage in der Woche und vierundzwanzig Stunden am Tag gearbeitet, als ich den Job hier übernommen habe. Ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich sechs Monate gebraucht habe, um zu wissen, was ich tat. Ich habe keine Angst zuzugeben, dass ich Dinge zu lernen habe. Und du?“

Dylan starrte sie an. Ihre überraschende Offenheit nahm ihm den Wind aus den Segeln. „Ich denke, du machst einen Fehler“, sagte er jetzt deutlich ruhiger.

„Damit kann ich leben.“

Er drehte sich auf dem Absatz um. „Danke für das Gespräch“, warf er ihr über die Schulter zu, als er hinausging.

„Jederzeit gern, Dylan. Meine Tür steht immer offen!“, rief Sadie ihm in zuckersüßem Ton nach.

Auf dem Weg zu seinem Büro zog Dylan eine Grimasse. Meine Tür steht immer offen. Ihn würde sie nicht zum Narren halten – sie wollte ihn fertigmachen. Im Büro fuhr er sein Notebook hoch. Sadie Post mochte diese Schlacht gewonnen haben, aber den Krieg würde sie verlieren.

Nachdem Dylan ihr Büro verlassen hatte, sank Sadie auf ihren Stuhl. Ihr Herz raste. Verdammt. Sie verfluchte seine grauen Augen, mit denen er sie frech musterte, und seinen beeindruckenden Körper mit den breiten Schultern. Für wen, zum Teufel, hielt er sich, dass er sich in ihrem Büro so selbstherrlich aufführte? Doch als sie sich daran erinnerte, dass sie zum ersten Mal als Siegerin aus einer ihrer Auseinandersetzungen hervorgegangen war, lächelte sie zufrieden. Die Debatten in der letzten Woche waren immer unentschieden ausgegangen. Dylan hatte auf alles schlagfertig eine passende Antwort parat gehabt.

Unerwartet kam Sadie ein hinterhältiger, aber verlockender Gedanke. Wenn sie wollte, könnte sie sich mit einem Schlag dafür rächen, dass er sie in der Vergangenheit so gedemütigt hatte. Sie war seine Chefin. Sie könnte seine Karriere ruinieren, ihn entlassen und zerstören. Sie könnte Dylan wegen einer Meinungsverschiedenheit in einen Streit verwickeln und den dann als Vorwand benutzen, ihn hinauszuwerfen. Zudem könnte sie Gerüchte in die Welt setzen, die ihn als schwierig, launig und eigensinnig erscheinen ließen. So etwas war tödlich für einen Autor beim Fernsehen.

Sie schlug ihr Adressbuch auf und notierte sich schnell einige Namen von Autoren, die ihn ersetzen könnten. Wenn sie einen passenden Kandidaten in der Hinterhand hätte, könnte sie Dylan das nächste Mal, wenn er sie schikanierte, vor die Tür setzen. Sadie fühlte sich ungeheuer mächtig, als sie den Telefonhörer in die Hand nahm, um den ersten seiner potenziellen Nachfolger anzurufen.

Als sie darauf wartete, dass die Verbindung hergestellt wurde, ging Claudia an ihrer offenen Bürotür vorbei und warf ihr ein Lächeln zu. Sofort bekam Sadie Gewissensbisse, weil sie hinter dem Rücken ihrer Freundin intrigieren wollte. Zurück in der Realität, fielen ihr jetzt auch all die Gründe ein, weshalb sie so einen heimtückischen Plan nicht durchziehen konnte. Dazu war sie einfach nicht kalt und berechnend genug. Sie wollte schon auflegen, als sie am anderen Ende der Leitung eine Stimme hörte.

„Olly Jones hier.“

„Hallo, Olly. Hier … hier ist Sadie Post von Ocean Boulevard. Wir kennen uns vom Writers Guild Seminar letztes Jahr.“ Verflixt, was sollte sie ihm jetzt sagen?

„Sicher, Sadie. Wie geht es dir? Wie läuft es mit der Sendung?“

„Großartig. Wirklich großartig.“

„Gut zu hören.“

Sadie war klar, dass er sich fragte, warum sie ihn aus heiterem Himmel anrief. Aber ihr fiel absolut kein plausibler Grund ein. Das Schweigen schien sich endlos hinzuziehen. Da sagte sie sich, dass es ja nicht schaden konnte, sich zu erkundigen, ob er auf Jobsuche war. Auch wenn die Information jetzt nicht mehr relevant für sie war. „Ich habe mich gefragt, ob du immer noch nach einem festen Job Ausschau hältst?“

„Nein. Ich habe gerade bei Crime Scene unterschrieben. Immer wenn es einmal läuft, hagelt es Angebote“, meinte Olly entschuldigend. „Vorher habe ich monatelang darauf gewartet, dass das Telefon klingelt.“

„Nun, du kennst die Branche ja.“ Sadie war ungeheuer erleichtert, weil sie gar keinen Job für ihn hatte. Sie wechselten noch ein paar Worte über gemeinsame Bekannte, bevor sie das Gespräch beendete.

Als sie dann auf die Uhr sah, war es Zeit für das Redaktionsmeeting. Sadie nahm ihre Unterlagen und atmete tief durch. Sie machte sich keine Illusionen. Nach dem Gespräch am Morgen war die Atmosphäre zwischen ihr und Dylan noch angespannter, und der Kampf ging erst richtig los. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als das durchzustehen und ihn mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen.

In dem Moment, als sie den Konferenzraum betrat, krampfte sich ihr Magen zusammen. Wegen ihres dummen Anrufs bei Olly war sie etwas spät dran, und das Team hatte sich schon vollzählig eingefunden. Nur der Platz direkt neben Dylan war noch frei. Sie hasste den Gedanken, sich so dicht neben ihm aufhalten zu müssen. Bisher hatten sie jeweils immer am anderen Ende des Tisches gesessen und sich eisige Blicke zugeworfen. Das war ihr gerade recht gewesen. Doch heute würde sie sich in das Unvermeidliche fügen müssen.

Sadie biss die Zähne zusammen und setzte sich schließlich steif neben ihn. Nun war sie ihm so nah, dass sie sein Aftershave wahrnehmen konnte. Entschlossen, jede Andeutung eines Körperkontaktes zu vermeiden, rückte sie so weit wie möglich von ihm ab. Sie fühlte sich schrecklich unbehaglich und wagte nicht, ihn anzusehen. Als sie dann auch noch bemerkte, dass sich ihre Brustspitzen aufgerichtet hatten und sich deutlich unter ihrem Poloshirt abzeichneten, erstarrte sie. Ihr Körper, dieser Verräter, zwang sie, sich das heiße Kribbeln einzugestehen, das sie erfasst hatte, seitdem sie neben Dylan saß. Verärgert verschränkte sie die Arme vor der Brust und wusste gleichzeitig, dass diese beschämende Reaktion ein Relikt aus ihrer Teenagerzeit war, als sie bis über beide Ohren in Dylan verknallt gewesen war.

Sie starrte auf ihre Notizen, konnte aber nichts dagegen tun, dass sie sich des Mannes neben ihr nur zu deutlich bewusst war. Sie konnte die Wärme spüren, die von seinem Körper ausging, und rutschte auf ihrem Sitz hin und her. Ich verachte Dylan Anderson, sagte sie sich. Ich fühle mich nicht zu ihm hingezogen. Er ist ein egoistischer Schuft.

Als Dylan schließlich aufstand und einen guten Meter weit weg zur Weißwandtafel ging, unterdrückte Sadie einen Seufzer der Erleichterung und hoffte, sich jetzt auf die anstehende Arbeit konzentrieren zu können.

„Willkommen zur Staffel 735“, eröffnete er das Meeting, und alle sahen ihn an. Alle, bis auf Sadie, denn sie wollte sich nicht noch mehr in Verlegenheit bringen.

„Fangen wir gleich mal mit Loni und Kirk an. Kirk, der letzte Woche sehr eifersüchtig wurde, weil Lonis alte Flamme J.B. aufgetaucht ist. Er hat die Scheidungspapiere vorerst nicht an seinen Anwalt geschickt. Es ist an der Zeit, dass Loni das herausfindet und dass Kirk sie beschuldigt, mit J.B. zu schlafen.“

Während Dylan fortfuhr, machte Sadie sich zu den Punkten Notizen, die sie von Dylan und dem Team exakter ausgearbeitet haben wollte. Widerwillig empfand sie Bewunderung für die zu Herzen gehende Story, die er vortrug. Sie wollte seine Ideen hassen und ihn kritisieren, aber er war sehr gut.

Eingelullt von seiner angenehmen Stimme ließ sie einen Moment lang den Blick über seinen Körper gleiten, obwohl sie sich das eigentlich verboten hatte. Dylan ging auf und ab, während er mit leidenschaftlichen Gesten seine Ideen erläuterte. Das Spiel seiner Muskeln war unter dem T-Shirt zu erkennen, und einmal hob er sogar den Saum des T-Shirts, um sich flüchtig zu kratzen. Sie erhaschte kurz einen Blick auf seinen muskulösen Rücken. Automatisch musterte sie daraufhin seinen knackigen Po und seine muskulösen Oberschenkel in der engen Jeans. Irgendwann registrierte sie, dass sie ihn fasziniert anstarrte und seit einer ganzen Weile keine Notiz mehr gemacht hatte.

Dass sie Probleme dieser Art mit Dylan Anderson haben würde, hatte Sadie nun wirklich nicht erwartet. Sie hasste ihn. Zumindest verabscheute sie den Jungen, der er einmal gewesen war. Wie er nun aussah, sollte keinen Unterschied machen – aber das tat es, gestand sie sich beschämt ein. Ihre Anspannung nahm zu. „Wie weit soll deiner Planung nach der Flirt Lonis mit ihrer alten Flamme gehen?“, fragte sie abrupt.

„Ich denke an einen Kuss, den Kirk zufällig sieht.“

„Ja, das liegt nahe. Aber ich finde, du solltest aufpassen. J.B. ist ein neuer Charakter für unser Publikum, und das will, dass Loni bei Kirk bleibt. Wenn Loni J.B. küsst, wird sie in den Augen des Publikums zur Ehebrecherin.“

„Da sehe ich kein Problem. Es gibt unzählige Möglichkeiten, Loni wieder zu rehabilitieren“, widersprach Dylan.

„Aber ich. Lass Loni im letzten Moment einem Kuss ausweichen und sagen, dass sie momentan zu verwirrt ist, um sich auf jemanden näher einzulassen. Wenn Kirk dann die beiden zufällig in einer verfänglichen Situation sieht, weiß das Publikum Bescheid.“

Claudia meldete sich zu Wort. „Die entscheidende Frage ist doch, welche Verhaltensweise eher Lonis Charakter entspricht.“

„Loni liebt Kirk. Das tat sie schon immer“, warf Luke ein.

Als die anderen Luke zustimmten, warf Sadie Dylan kurz einen Blick zu. Er sah sie drohend an, und sie schaute schnell weg.

Bis zur Mittagspause war Dylan so verärgert, dass er etwas tun musste, um seinen Frust abzubauen. Da er seine Sporttasche dabeihatte, zog er Shorts, ein Tanktop und Laufschuhe an und joggte eine Runde am Strand von Santa Monica.

Dabei versuchte er, Sadies triumphierendes Lächeln zu vergessen, während sie ihm im Meeting das Leben schwer gemacht hatte. Er wusste, dass er gute Arbeit leistete. Alle erkannten das an. Nur Sadie nicht. Aber er würde nicht klein beigeben, sondern um jedes Detail kämpfen.

„He, Dylan. Du legst ein Tempo vor, als wäre der Teufel hinter dir her!“, rief jemand hinter ihm.

Dylan drehte sich um, entdeckte seinen alten Kollegen und Freund Olly und verlangsamte seine Schritte. „Hallo, Olly, erzähl mir nicht, dass du schon wieder gefeuert bist?“, zog er ihn auf, als der ihn eingeholt hatte.

„Nein, ich arbeite daheim an einem Drehbuch. Aber vielen Dank für die Ermutigung.“

Die beiden joggten gemächlich nebeneinander her.

„Jederzeit gern.“

„Und du genießt deine Auszeit, du Glücklicher?“

„Die musste ich auf später verschieben, denn ich habe für ein halbes Jahr einen Vertrag bei Ocean Boulevard unterschrieben.“

Zu Dylans Überraschung blieb Olly unvermittelt stehen.

„Das gibt es doch nicht! Erst heute Morgen hat mich die Script-Producerin Sadie Post angerufen und wollte wissen, ob ich für einen festen Job zur Verfügung stehe. Ich nahm an, dass es um die Stelle des leitenden Drehbuchautors ging. Aber dann muss es sich wohl um etwas anderes gehandelt haben.“

Dylan biss die Zähne zusammen. Sadie hatte also Olly angerufen, um ihm seinen Job anzubieten. Nett, wirklich sehr nett. Aber eigentlich hatte er genau so etwas von ihr erwartet. Auf der Highschool hatte sie sich nicht anders verhalten. Ein Gutes hatte diese Geschichte allerdings. Seine absurde Lust auf sie würde ihm nun endlich vergehen. Im Moment konnte er sich jedenfalls nicht vorstellen, jemals wieder scharf auf sie zu sein.

Auf dem Weg zurück zum Büro und sogar noch unter der Dusche dachte er über Sadies Verhalten nach. Als er angezogen war und wieder an die Arbeit gehen wollte, war er total wütend auf sie.

„He, tolles Meeting heute Morgen“, sagte Claudia, als sie ihm auf dem Flur begegnete. Sie war zusammen mit Sadie unterwegs. „Mir gefällt es wirklich sehr, wie gut alles läuft.“

„Danke“, meinte Dylan knapp. Gereizt sah er Sadie an. Nur zu gern hätte er sie damit konfrontiert, was sie am Morgen getan hatte.

„Ich will dir keinen Honig ums Maul schmieren.“ Claudia bemerkte Dylans Vorbehalte. „Ich meine das so. Es ist, als ob du schon ewig bei uns wärst.“

Sadie sagte keinen Ton zu dem Lob, und plötzlich fiel ihm ein, wie er sich rächen konnte. „Das freut mich, Claudia. Ich wollte dir ohnehin eine Idee vorschlagen.“ Er sah Sadie an und hob bedeutungsvoll eine Augenbraue.

Sadie ahnte, was jetzt kommen würde, und funkelte ihn wütend an. Er wandte sich wieder an Claudia: „Was hältst du davon, eine zusätzliche, in sich abgeschlossene Episode in Spielfilmlänge zu produzieren und sie im Winter zur besten Sendezeit auszustrahlen?“

Claudias Miene hellte sich auf. „Das hört sich klasse an. Was meinst du, Sadie?“

Sadie biss die Zähne so fest zusammen, dass ihre Kiefermuskeln hervortraten.

Dylan lächelte das erste Mal, seitdem er mit Olly gesprochen hatte. „Das ist mir gerade eben in der Mittagspause eingefallen, als ich mit meinem alten Kumpel Olly joggen war“, erklärte er, bevor Sadie etwas sagen konnte. Es war ihr anzusehen, das sie sich ertappt fühlte und ein schlechtes Gewissen hatte.

„Natürlich muss ich erst mit dem Sender reden. Aber ich denke, die Geschäftsleitung wird begeistert sein.“ Wieder sah Claudia Sadie fragend an.

Dylan verschränkte die Arme vor der Brust und wartete.

„Das hört sich nach einer wirklich interessanten Idee an“, erklärte Sadie schließlich widerwillig.

„Ich weiß, dass das für die Redaktion und dich zusätzliche Arbeit bedeutet. Aber du hast doch ein paar freie Texter an der Hand, die sehr gern mitarbeiten werden, nicht wahr?“ Claudia war sichtlich begeistert.

„Doch, ja“, meinte Sadie.

Claudia wandte sich wieder an Dylan. „Ich denke, wir sollten es machen. Ich werde dir Bescheid geben, wenn ich mit den Verantwortlichen gesprochen habe.“

„Ausgezeichnet.“ Dylan lächelte breit. „Wenn ihr mich jetzt entschuldigt. Ich gehe besser wieder an meine Arbeit.“ Er warf Sadie einen letzten triumphierenden Blick zu. Auf dem Weg in sein Büro pfiff er leise vor sich hin.

Für den Rest des Nachmittags kochte Sadie vor Wut. Auch wenn Dylan zu recht sauer auf sie war, brachte sie die clevere und kaltblütige Art auf die Palme, mit der er sie hatte auflaufen lassen. Diese hinterhältige Ratte! Sie erinnerte sich daran, wie er ausgesehen hatte, als er Claudia seine Idee nahegelegt hatte. Sein Haar war noch feucht von der Dusche gewesen, und er hatte frisch, kraftvoll und vital gewirkt. Und sie hatte die ganze Zeit über den Blick nicht von ihm lassen können. Das war das Schlimmste.

Nach einem kurzen Klopfen an der Tür kam Claudia in ihr Büro. „Ich bin auf dem Weg nach Hause, wollte dir aber noch schnell sagen, dass der Sender zugestimmt hat. Wir werden Dylans Idee umsetzen.“

„Fantastisch.“ Sadie biss die Zähne zusammen.

Nachdem Claudia weg war, starrte sie geschlagene zehn Minuten auf ihren Schreibtisch und ballte die Fäuste. Sie hasste es, dass Dylan aufgetaucht war und ihre Welt auf den Kopf stellte. Sie hasste es, dass sie körperlich so stark auf ihn ansprach und sich in seiner Nähe verletzlich fühlte. Abrupt stand sie auf. Sie wusste plötzlich genau, was sie zu tun hatte. Es war unvermeidlich.

Ohne anzuklopfen, stürmte sie in Dylans Büro. Er stand neben dem Schreibtisch und war gerade dabei, sein Notebook einzupacken. Sie kickte mit dem Fuß die Tür hinter sich zu und klemmte einen Stuhl unter den Türgriff, damit sie nicht gestört werden konnten.

Autor

Sarah Mayberry
<p>Sarah Mayberry wurde in Melbourne in Australien als mittleres von drei Kindern geboren. Sie hat die Leidenschaft für Liebesromane von Ihren beiden Großmüttern geerbt und wollte Schriftstellerin werden, solange sie denken kann. Dieses Ziel verfolgte sie ehrgeizig, indem sie zunächst eine Bachelor in professionellem Schreiben und Literatur machte. Trotzdem hat...
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