Julia Collection Band 151

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HEISSES DINNER MIT DEM MILLIONÄR von YVONNE LINDSAY
„Mehr?“ Finn betrachtet gebannt Tamlyns Lippen, als sie einen Leckerbissen kostet. Dieses erotische Dinner könnte ihn in Teufels Küche bringen! Denn Tamlyn ist nach Neuseeland gekommen, um ihre Mutter zu finden – und er ist derjenige, der deren Spuren heimlich verwischt …

VERBOTENES VERLANGEN NACH DEM MILLIARDÄR von YVONNE LINDSAY
Lichterloh brennt die schöne Alexis für Raoul Benoit. Aber der attraktive Milliardär ist für sie tabu, denn sie ist die Nanny seiner Tochter. Und so teilt sie mit ihm zwar das elegante Anwesen in den Weinbergen, aber sein Herz scheint nur einer zu gehören – seiner verstorbenen Frau.

BERAUSCHT VON DEINEN WILDEN KÜSSEN von YVONNE LINDSAY
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  • Erscheinungstag 16.10.2020
  • Bandnummer 151
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715410
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Yvonne Lindsay

JULIA COLLECTION BAND 151

1. KAPITEL

„Was soll das heißen, du kündigst? Es sind nur noch viereinhalb Wochen bis Weihnachten! Wir haben mit all den Gästen so viel um die Ohren, dass wir kaum noch ein und aus wissen. Lass uns noch einmal darüber reden. Wenn du nicht zufrieden bist, finden wir eine andere Aufgabe für dich.“

Tamsyn seufzte innerlich. Eine andere Aufgabe. Klar, das ist die Lösung all meiner Probleme, dachte sie ironisch. Aber sie konnte ihrem Bruder Ethan keinen Vorwurf machen, wenn er versuchte, alles für sie in Ordnung zu bringen. Das tat er schließlich schon ihr ganzes Leben lang. Aber diese Situation konnte auch er nicht retten. Deshalb war sie ja weggefahren.

Sie hatte schon lange von Ferien geträumt. Die Arbeit auf dem Familienanwesen The Masters, einem Weingut mit luxuriösen Feriencottages bei Adelaide in Südaustralien, befriedigte sie nicht mehr. Sie fühlte sich ruhelos, als gehörte sie nicht mehr wirklich dazu – bei der Arbeit, zu Hause, in der Familie, sogar in ihrer Beziehung.

Das Debakel gestern Abend hatte ihr bewiesen, wie recht sie hatte.

„Ethan, ich kann jetzt nicht darüber reden. Ich bin in Neuseeland.“

„In Neuseeland? Ich dachte, du bist bei Trent in Adelaide?“

Ethan klang völlig fassungslos. Tamsyn griff das Steuer ihres Mietwagens fester und zählte stumm bis zehn, damit ihr Bruder sich beruhigen konnte, bevor sie antwortete: „Ich habe die Verlobung gelöst.“

Kurz herrschte Schweigen.

„Du hast was getan?“, fragte Ethan dann, als traute er seinen Ohren nicht.

„Es ist eine lange Geschichte.“ Sie schluckte gegen den Schmerz an, der sich mittlerweile zu einem beharrlichen dumpfen Pochen in ihrer Brust abgeschwächt hatte.

„Ich höre.“

„Jetzt nicht, Ethan. Ich … Ich kann nicht.“ Ihr versagte die Stimme, und Tränen strömten ihr plötzlich über die Wangen.

„Dem zeig ich’s“, schwor Ethan, ganz der große Bruder und Beschützer.

„Nein, lass es. Er ist es nicht wert.“

Sie hörte Ethans tiefem Seufzer seine ganze Besorgnis und Enttäuschung an. „Wann kommst du zurück?“

„Ich … Ich weiß es nicht. Das ist noch in der Schwebe.“ Sie glaubte nicht, dass es ein guter Zeitpunkt war, um ihm zu sagen, dass sie nur ein Ticket für den Hinflug gekauft hatte.

„Na, wenigstens hast du deinen Assistenten so gut eingewiesen, dass er im Notfall einspringen kann. Ist Zac auf dem neuesten Stand?“

Obwohl sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte, schüttelte Tamsyn den Kopf und biss sich auf die Lippen.

„Tam?“

„Nein. Ich habe ihn gefeuert.“

„Du hast …“ Ethan verstummte. Offenbar zählte er zwei und zwei zusammen und kam überraschend schnell zum richtigen Schluss. Ungläubig fragte er: „Zac und Trent?“

„Ja“, stieß sie mit zugeschnürter Kehle hervor.

„Kommst du zurecht? Ich fahre gleich zu dir. Sag mir einfach, wo du bist.“

„Nein, das ist nicht nötig. Ich erhole mich schon … früher oder später. Ich muss nur …“ Sie holte zitternd Luft.

Sie fand nicht die richtigen Worte, um auszudrücken, was sie wirklich brauchte. Aber sie wollte, dass ihr Bruder sie verstand. „Ich muss eine Weile allein sein und gründlich über alles nachdenken. Es tut mir leid, dass ich einfach so verschwunden bin. Du kennst ja das Passwort zu meinem Computer. Alle Buchungen stehen auch noch einmal auf dem Terminkalender an der Wand. Wenn es hart auf hart kommt, könnt ihr mich gern anrufen.“

„Wir kümmern uns schon um alles. Mach dir keine Sorgen.“

Die feste Überzeugung in der Stimme ihres großen Bruders zu hören, war fast so tröstlich, als wenn er neben ihr im Wagen gesessen hätte.

„Danke, Ethan.“

„Kein Problem. Aber, Tam? Wer kümmert sich um dich?“

„Ich“, sagte sie fest.

„Ich finde wirklich, dass du nach Hause kommen solltest.“

„Nein, ich weiß, was ich tun muss.“ Dieses Detail musste sie ihm verraten, obwohl sie wusste, dass er nicht erfreut sein würde. „Ich suche sie, Ethan.“

Erst schwieg er, dann seufzte ihr Bruder auf. „Bist du sicher, dass jetzt der beste Zeitpunkt ist, um nach unserer Mutter zu suchen?“

Sie hatten erst vor ein paar Monaten erfahren, dass ihre tot geglaubte Mutter am Leben war und in Neuseeland wohnte. Der Schock steckte Tamsyn noch immer in den Knochen. Zu hören, dass ihr Vater sie bis zu seinem Tod belogen und der Rest der Familie seine Lüge mitgetragen hatte, war schon schlimm genug gewesen. Aber die Erkenntnis, dass ihre Mutter nie versucht hatte, Kontakt zu Ethan und ihr aufzunehmen, hatte Tamsyns gesamtes Selbstbild ins Wanken gebracht.

Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Ein besserer Zeitpunkt als jetzt fällt dir doch auch nicht ein, oder?“

„Oh doch. Du bist gekränkt und verletzlich. Ich will nicht, dass du noch einmal enttäuscht wirst. Komm nach Hause. Lass mich einen Privatdetektiv auf sie ansetzen, damit du vorher weißt, worauf du dich einlässt.“

Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Ethan die Stirn runzelte und die Lippen besorgt zu einer schmalen Linie zusammenpresste. „Ich will es allein schaffen. Ich muss. Ich bin nicht mehr weit von der Adresse entfernt, die du mir vor ein paar Monaten gegeben hast. Ich lege jetzt besser auf“, sagte sie nach einem Blick auf den GPS-Bildschirm.

„Du willst einfach ohne Vorwarnung da auftauchen?“

„Warum nicht?“

„Sei vernünftig, Tam. Du kannst dich nicht einfach aus heiterem Himmel als die lange verlorene Tochter vorstellen.“

„Ich bin nicht verloren. Sie wusste die ganze Zeit über, wo wir waren. Sie ist diejenige, die gegangen und nicht zurückgekehrt ist.“

Tamsyn konnte nicht verhindern, dass der Schmerz in ihren Worten durchklang. Ein Schmerz, der sich mit so viel Groll, Zorn und Kummer vermischte, dass sie kaum eine Nacht durchgeschlafen hatte, seit sie wusste, dass es die Frau, die sie sich immer ausgemalt hatte, gar nicht gab. Die Mutter, von der sie geträumt hatte, die sie zu sehr geliebt hatte, um sie jemals im Stich zu lassen, existierte nicht.

Doch sie hatte viele Fragen und redete sich ein, stark genug zu sein, sich den Antworten zu stellen. Sie musste es sein, um wieder nach vorn schauen zu können, denn alles, woran sie bisher geglaubt hatte, fußte anscheinend auf Lügen.

Trents Verrat war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Sie wusste plötzlich nicht mehr, wer sie war, aber sie war bereit, es herauszufinden.

Ethans Stimme riss sie aus ihren Gedanken: „Tu mir einen Gefallen“, sagte er. „Such dir ein Motel und schlaf eine Nacht drüber, bevor du etwas tust, das du vielleicht bereust. Wir können uns morgen früh unterhalten.“

„Ich halte dich auf dem Laufenden“, antwortete Tamsyn, ohne auf seine Bitte einzugehen. „Ich ruf dich in ein paar Tagen an.“

Sie legte auf, bevor Ethan noch etwas sagen konnte. Die körperlose Stimme des GPS-Geräts kündigte an, dass sie in fünfhundert Metern abbiegen musste. Tamsyn wurde flau im Magen. Sie würde jetzt etwas tun, das völlig untypisch für sie war, denn normalerweise war sie jemand, der immer alles bis in alle Einzelheiten plante.

Vorsichtig bog sie in die von eindrucksvollen Mauern gesäumte Einfahrt ein, hielt an und schloss für einen Moment die Augen. Jetzt war es so weit: Gleich würde sie ihrer Mutter gegenüberstehen. Zum letzten Mal hatte sie sie gesehen, als sie drei Jahre alt gewesen war. Ein Schauer durchlief sie, und ihr Adrenalinspiegel stieg.

Die letzten vierundzwanzig Stunden waren eine Achterbahnfahrt der Gefühle gewesen: Ihr war abwechselnd schwindlig vor Vorfreude und übel vor Aufregung gewesen.

Sie öffnete die Augen und nahm den Fuß von der Bremse. Das Auto rumpelte wieder los; die Einfahrt führte einen Hügel hinauf.

Rechts und links vom Weg wuchsen Weinreben in schnurgeraden Reihen. Die Blätter waren üppig und grün, und Tamsyn sah erste Fruchtansätze an den Ranken. Mit ihrem Expertenblick kam sie zu dem Schluss, dass dem Weinberg eine Rekordernte bevorstand.

Die Einfahrt schlängelte sich weiter den steilen Hügel hinauf. Nach einer besonders engen Serpentine sah sie plötzlich das Haus vor sich liegen. Das ausgedehnte zweistöckige Gebäude aus Stein und Zedernholz beherrschte die Hügelkuppe.

Tamsyn presste die Lippen zusammen und dachte zynisch, dass es wohl kein Geldmangel gewesen war, der ihre Mutter davon abgehalten hatte, mit ihren Kindern in Kontakt zu treten. Hatte Ellen Masters das Geld, das ihr Mann ihr seit über zwanzig Jahren immer wieder gezahlt hatte, in diesem Anwesen angelegt?

Dieser Zynismus half ihr, den Mut aufzubringen, um aus dem Auto zu steigen und zur Haustür zu gehen. Jetzt oder nie. Sie holte tief Luft, griff nach dem eisernen Türklopfer, hob ihn hoch und ließ ihn schwungvoll fallen. Kurz darauf hörte sie Schritte im Hausinnern. Ihr Magen zog sich zusammen, und ihre Entschlossenheit verflog.

Was zum Teufel tat sie bloß hier?

Finn Gallagher öffnete die Haustür und musste sich zwingen, stehen zu bleiben und nicht erstaunt einen Schritt rückwärts zu machen. Er erkannte die Frau, die vor ihm stand, auf Anhieb. Es war Ellens Tochter.

Also hatte die kleine Prinzessin aus Australien endlich beschlossen, zu Besuch zu kommen. Zu spät, dachte Finn. Viel zu spät.

Die Bilder, die er von ihr im Laufe der Jahre gesehen hatte, wurden ihr nicht gerecht. Allerdings hatte er das Gefühl, dass dies heute nicht ihr bester Tag war. Er musterte ihr zerzaustes dunkelbraunes Haar, die blasse Haut und die dunklen Ringe unter ihren weit auseinanderstehenden braunen Augen. Augen, die ihn sehr an ihre Mutter erinnerten. Ellen Masters und ihr Lebensgefährte Lorenzo hatten ihn bei sich aufgenommen, als er seine Eltern verloren hatte.

Er konzentrierte sich wieder auf die Frau vor sich. Ihre Kleidung war zerknittert, aber modisch und schmiegte sich auf eine Art an ihren Körper, die seinen Blick automatisch auf ihren Blusenausschnitt und die verlockenden Rundungen lenkte. Ihr Rock lag eng an ihren Hüften und schlanken Oberschenkeln an und endete unmittelbar oberhalb der Knie. Nicht lang genug, um hausbacken zu wirken, und nicht kurz genug, um gewagt zu sein. Trotzdem wirkte es irgendwie verführerisch.

All das zeugte nur davon, wie verwöhnt diese Frau aufgewachsen war. Verbittert dachte Finn daran, wie sich Ellen Masters abgerackert hatte, um sich ein anständiges Leben leisten zu können. Die Familie Masters kümmerte sich anscheinend gut umeinander – aber nur, solange man nicht aus der Reihe tanzte.

Er hob den Blick wieder zu Tamsyns Gesicht und sah, dass ihre vollen Lippen leicht zitterten, bevor sie ein nervöses Lächeln aufsetzte.

„H…hallo. Ich wollte fragen, ob Ellen Masters hier lebt“, sagte sie.

Ihre Stimme klang gepresst, und im Sonnenlicht des Spätnachmittags entdeckte Finn verräterische Tränenspuren. Entschlossen drängte er die aufsteigende Neugier zurück. „Und Sie sind …“, fragte er, obwohl er die Antwort kannte.

„Oh, tut mir leid.“ Sie streckte ihm eine zierliche Hand entgegen. „Ich bin Tamsyn Masters. Ich suche meine Mutter, Ellen Masters.“

Finn ergriff ihre kühle Hand und bemerkte, wie zerbrechlich ihre Finger wirkten. Er kämpfte gegen seinen Beschützerinstinkt an. Mit Tamsyn Masters stimmte irgendetwas nicht, aber er rief sich ins Gedächtnis, dass das nicht sein Problem war.

Er musste sie nur von Ellen fernhalten.

„Hier wohnt keine Ellen Masters“, antwortete Finn und ließ Tamsyns Hand los. „Erwartet Ihre Mutter Sie?“

Tamsyn sah beschämt drein. „Nein, ich wollte sie überraschen.“

Sie hatte sich also keine Gedanken gemacht, ob ihre Mutter sie überhaupt sehen wollte. Oder ob Ellen dazu in der Lage sein würde. Wie typisch, dachte Finn ärgerlich. Solche Leute kannte er nur zu gut: verwöhnt und überzeugt, dass die Welt sich nur um ihr Vergnügen drehte. Leute wie Briana, seine Ex. Schön, scheinbar mitfühlend, in ein Leben voller Möglichkeiten hineingeboren, aber bei Licht besehen so gierig und berechnend wie der Bösewicht Fagin in Charles Dickens’ Oliver Twist.

„Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Adresse haben?“, fragte er mühsam beherrscht.

Tamsyn griff in ihre Handtasche, zog ein Stück Papier daraus hervor und las die Adresse ab. „Das stimmt doch, nicht wahr?“

„Ja, das ist meine Adresse, aber es gibt hier keine Ellen Masters. Sie haben sich vergeblich herbemüht.“

Die junge Frau sank in sich zusammen. In ihren Augen standen plötzlich Tränen, und ihre zarten Gesichtszüge erstarrten zu einer Maske der Trauer. Wieder regte sich in Finn das Bedürfnis, sie zu beschützen. Spontan verspürte er den Drang, ihr von der versteckt gelegenen Einfahrt am Fuße des Hügels zu erzählen, die zu dem Cottage führte, in dem Ellen und Lorenzo fünfundzwanzig Jahre lang gelebt hatten. Er unterdrückte den Impuls.

Tamsyn Masters war eine erwachsene Frau. Warum hatte sie ihre Mutter nicht früher besucht, als es Ellen vielleicht noch Freude gemacht hätte?

„Ich … Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe. Ich war anscheinend falsch informiert.“ Tamsyn griff in ihre Handtasche, zog eine übergroße Sonnenbrille daraus hervor und setzte sie auf, wohl um ihren gequälten Blick zu verbergen. Dabei fiel Finn der weiße Streifen am Ringfinger ihrer linken Hand auf. War die Verlobung, von der er vor über einem Jahr gelesen hatte, etwa in die Brüche gegangen? War das der Anstoß gewesen, den sie gebraucht hatte, um nach ihrer Mutter zu suchen?

Wie auch immer, es ging ihn nichts an.

„Kein Problem“, antwortete er und sah zu, wie sie zurück zu ihrem Auto ging.

Schon während sie losfuhr, griff er nach seinem Handy und tippte schnell eine Nummer ein. Der Anrufbeantworter sprang an, und er fluchte, als die körperlose Stimme ihn bat, eine Nachricht zu hinterlassen.

„Lorenzo, ruf mich zurück. Hier zu Hause gibt es Schwierigkeiten.“

Er steckte das Handy wieder ein und schloss die Tür. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er Tamsyn Masters nicht zum letzten Mal gesehen hatte.

Als Tamsyn den Weg, den sie gekommen war, wieder zurückfuhr, traf die Enttäuschung sie mit der Wucht einer Abrissbirne. Die Tränen, die sie im Gespräch mit dem Fremden noch zurückgehalten hatte, liefen ihr nun in Strömen über die Wangen. Sie schluchzte auf und versuchte, die Gefühle zu unterdrücken, die schon seit ihrem Aufbruch aus Adelaide in ihr brodelten.

Warum nur hatte sie geglaubt, dass alles ganz einfach sein würde? Sie hätte auf Ethan hören und sich erst mit dieser Sache beschäftigen sollen, wenn sie psychisch stabiler war. Sie hatte es aber jetzt getan: Sie war zu der Adresse gefahren, an die der Anwalt ihres Vaters all die Jahre lang die Schecks für ihre Mutter geschickt hatte – und es war die falsche gewesen.

Enttäuschung hinterließ einen bitteren Nachgeschmack – das stellte sie nun schon zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden fest. Es bewies ihr nur, dass es sich nicht lohnte, etwas zu tun, das ihr nicht ähnlich sah. Sie war sonst nie impulsiv, und jetzt wusste sie auch, warum: Es war sicherer. Man verzichtete damit zwar auf das erregende Gefühl, ein Risiko einzugehen, ersparte sich aber den Schmerz, den man ertragen musste, wenn etwas schiefging.

Sie dachte über den Mann nach, der ihr die Tür geöffnet hatte. Er war bestimmt über eins achtzig groß, sie hatte zu ihm aufschauen müssen. Sein Gesicht war markant: ein kantiges Kinn mit Dreitagebart, eine breite Stirn und gerade Augenbrauen, klare, schiefergraue Augen. Er hatte sehr charismatisch gewirkt. Wenn dieser Mann ein Zimmer betrat, wandten sich ihm sicher alle Blicke zu. Aber seinem Lächeln hatte die Wärme gefehlt.

Er hatte sie so seltsam angesehen, als ob …

Nein, das bildete sie sich nur ein. Er konnte sie nicht kennen, schließlich war sie ihm noch nie begegnet. Sie hätte sich bestimmt an ihn erinnert.

Die Sonne ging unter, und sie spürte die Erschöpfung in jedem Muskel ihres Körpers. Der anstrengende Tag und der Zeitunterschied forderten ihren Tribut. Sie musste ein Hotel finden, bevor sie noch vor Übermüdung in den nächsten Graben fuhr.

Tamsyn hielt am Straßenrand an und suchte mit dem GPS-Gerät nach Übernachtungsmöglichkeiten. Zum Glück gab es in der Nähe ein kleines Hotel. Sie rief dort an und war erleichtert, dass noch ein Zimmer frei war. Leider war es so teuer wie eine exklusive Übernachtung auf The Masters. Nachdem sie das Zimmer gebucht hatte, gab Tamsyn das Ziel ins GPS ein und folgte den Anweisungen, die sie zu einem pittoresken einstöckigen Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert lotsten.

Im Schein der goldenen Abendsonne wirkte es warm und einladend. Genau das, was sie brauchte.

Finn ging in seinem Büro auf und ab, unfähig, sich wieder in die Pläne zu vertiefen, die auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen. Sie waren ohnehin zum Scheitern verurteilt, wenn er nicht das Wegerecht erwerben konnte. Er brauchte den Zugang zu dem Grundstück, das er für dieses besondere Projekt nutzen wollte. Ungeduldig fuhr er sich mit beiden Händen durchs kurze Haar.

Das Klingeln seines Handys war eine willkommene Ablenkung.

„Gallagher.“

„Finn, gibt es ein Problem?“

„Ich bin froh, dass du anrufst, Lorenzo.“ Finn setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und wandte sich dem Fenster zu. Wie immer genoss er den Blick in die Landschaft, schaffte es aber nicht, seine Gedanken halbwegs zu ordnen. Tamsyns Besuch ging ihm nicht aus dem Kopf.

„Was ist los, mein Junge?“

Obwohl Lorenzo lange in Australien gelebt hatte und nun schon seit Jahrzehnten in Neuseeland wohnte, hörte man immer noch seinen italienischen Akzent.

„Sag mir erst, wie es Ellen geht.“

Lorenzo seufzte. „Nicht gut. Sie hat einen schlechten Tag.“

Als Ellen Anzeichen von Nieren- und Leberversagen gezeigt hatte, war sie in ein Krankenhaus in Wellington gekommen. Dort stand ihr die spezielle Pflege zur Verfügung, die ihre fortschreitende Demenz erforderte.

„Das tut mir leid.“

Er hörte geradezu, wie Lorenzo resigniert die Schultern zuckte. „So ist das eben. Ich habe Alexis gebeten, aus Italien zurückzukommen.“

„Geht es Ellen so schlecht?“

Alexis war Lorenzos und Ellens einziges gemeinsames Kind. Im Moment war sie zu Besuch bei Lorenzos Familie in der Toskana.

„Ellen hat aufgegeben. Wenn sie mich erkennt, ist es schon ein guter Tag, aber die werden immer seltener.“

Finn hörte ihm den Schmerz an.

Lorenzo holte tief Luft und fuhr fort: „Warum hast du vorhin angerufen?“

Finn kam lieber gleich auf den Punkt, statt um den heißen Brei herumzureden. „Tamsyn Masters ist heute hier aufgetaucht und wollte Ellen besuchen. Ich habe ihr gesagt, dass Ellen Masters nicht hier wohnt, und sie weggeschickt.“

Lorenzo lachte; es klang wie das Rascheln von Herbstlaub. „Aber du hast ihr nicht gesagt, wo Ellen Fabrini wohnt, nicht wahr?“

„Nein“, gestand Finn. Er hatte nicht direkt gelogen. Obwohl Lorenzo und Ellen nie geheiratet hatten, führte sie seinen Nachnamen, seit sie in Neuseeland lebte.

„Tamsyn ist aber noch nicht wieder in Australien, oder?“

Finn fragte sich, worauf Lorenzo hinauswollte. „Was meinst du?“

„Du weißt, dass ich nach allem, was die Masters meiner Ellen angetan haben, nichts mehr von der Sippschaft halte. Ich habe oft mit angesehen, wie Ellen weinend Briefe an diese Kinder geschrieben hat. Es hat ihr jedes Mal wieder das Herz gebrochen. Aber haben sie je versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen? Nein. Doch so sehr ich diese Leute zur Hölle wünsche, ich weiß, dass Ellen sie liebt. Wenn ihr Zustand sich stabilisiert, tut es ihr vielleicht gut, ihre Tochter zu sehen.“

„Du willst, dass ich Tamsyn Masters davon abhalte, abzureisen?“, fragte Finn ungläubig.

„Ja. Aber lass sie wenn möglich im Dunkeln darüber, wo Ellen sich aufhält. Wie es aussieht …“ Ihm versagte die Stimme.

„Ich verstehe“, sagte Finn tröstend.

Es machte ihn traurig, mitzuerleben, wie der Mann litt. Lorenzo war für ihn wie ein Vater gewesen, damals, nachdem sein leiblicher Vater gestorben war und seine Mutter einen psychischen Zusammenbruch erlitten hatte. Finn war erst zwölf gewesen. Ellen und Lorenzo, der Geschäftspartner seines Vaters, hatten ihn bei sich aufgenommen. Sie waren für ihn ein Fels in der Brandung gewesen, hatten ihn unerschütterlich unterstützt und den Grundbesitz seines Vaters umsichtig verwaltet. Finn verdankte ihnen alles.

„Ich kümmere mich darum. Mach dir keine Sorgen“, versicherte er Lorenzo, und sie beendeten das Gespräch.

Wie er sich darum kümmern sollte, war allerdings eine ganz andere Frage. Erst einmal musste er herausfinden, ob Tamsyn noch in der Nähe war. So erschöpft, wie sie vorhin ausgesehen hatte, bezweifelte er, dass sie noch weit gefahren war. Es kostete ihn nur wenige Anrufe, sie zu finden. Er war nicht überrascht, dass sie sich eines der teuersten Hotels der Gegend ausgesucht hatte.

Gut, nun wusste er also, wo sie war. Aber was sollte er jetzt tun?

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah nachdenklich aus dem Fenster.

Es dämmerte bereits, und der eindrucksvolle Gebirgszug der Kaikoura Ranges in der Ferne war kaum mehr zu erkennen. Stattdessen beherrschten die Weinberge rund ums Haus das Bild. Seine Weinberge. Sein Land. Sein Zuhause. Ein Zuhause, das er nicht mehr haben würde, wenn Lorenzo und Ellen nicht gewesen wären. Also was sollte er jetzt tun?

Alles, was menschenmöglich war, antwortete er sich selbst. Er würde sich sogar mit einer Frau anfreunden, die Ellen viel Leid zugefügt hatte.

In seiner Jugend hatte er dann und wann Geschichten über Ellens andere Kinder gehört. Sie hatte sie zurücklassen müssen, als ihre Ehe am Ende gewesen war. Schon damals hatte er ihr angesehen, wie sehr sie darunter gelitten hatte. Ellen hatte Trost im Alkohol gesucht, der schließlich ihre Krankheit ausgelöst hatte. Finn hatte sich oft gefragt, warum die Kinder sich nie bei ihrer Mutter gemeldet hatten, die sie aus tiefstem Herzen liebte.

Später hatte er im Internet recherchiert und herausgefunden, dass Ethan und Tamsyn Masters auf ihrem Weingut ein Leben im Luxus führten. Es hatte ihnen von klein auf nie an etwas gefehlt. Ihnen waren alle Möglichkeiten, etwas aus sich zu machen, auf dem Silbertablett präsentiert worden.

Finn nahm es Ellens anderer Familie übel, es so leicht gehabt zu haben. Ellen hatte mit so wenig auskommen müssen.

Sie hatte sich nur der Liebe des Mannes sicher sein können, für den sie ihre Kinder verlassen hatte. Er blieb bei ihr, auch als es ihr körperlich und geistig immer schlechter ging. Ellen war mittlerweile in einem so kritischen Zustand, dass Finn befürchtete, sie könnte vollends den Verstand verlieren, wenn es Tamsyn gelang, sie aufzuspüren.

Seine eigene Mutter war gestorben, als er sie nach ihrem Zusammenbruch endlich hatte besuchen dürfen. Sie hatte sich nie von der Begegnung erholt, die sie an ihr Versagen als Mutter erinnert hatte. Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes eine psychische Erkrankung bekommen – und sich beim Anblick ihres Sohnes so dafür geschämt, dass es die Erkrankung noch verschlimmert hatte. Die Erinnerung daran tat Finn bis heute weh. Er schob sie mit aller Macht von sich.

Tamsyn Masters – er durfte jetzt nur an sie denken. Er musste überlegen, wie er sie dazu bringen konnte, in der Gegend zu bleiben. Doch sie durfte die Wahrheit über Ellen nicht erfahren. Er dachte noch einmal darüber nach, was er über die junge Frau wusste, die heute bei ihm aufgetaucht war.

Sie war achtundzwanzig, fünf Jahre jünger als er, und mit irgendeinem aufstrebenden Anwalt aus Adelaide verlobt. Heute hatte sie keinen Verlobungsring getragen, aber das konnte alles und nichts heißen. Vielleicht hatte sie ihn abgenommen, um ihn reinigen oder ändern zu lassen. Womöglich hatte sie ihn auch nur beim Händewaschen abgestreift und vergessen, ihn wieder anzustecken.

Dann kam ihm ein anderer Gedanke. Vielleicht konnte sie ja einen Tröster gebrauchen, einen kleinen Flirt, der sie verlocken würde, eine Weile im Marlborough District zu bleiben? Wenn sie so oberflächlich war, wie er annahm, dann würde es für sie bloß ein Spaß sein, ohne dass er verletzte Gefühle riskierte.

Für ihn wäre es eine Gelegenheit, sie im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass sie nichts über Ellen herausfand. Natürlich würde es einen gewissen Aufwand erfordern, aber er war überzeugt, der Aufgabe gewachsen zu sein.

Ein Kribbeln der Vorfreude durchlief ihn. Ja, er war eindeutig der Richtige dafür, und bei dieser Gelegenheit würde er so viel wie möglich über Tamsyn Masters herausbekommen.

2. KAPITEL

Als Tamsyn am nächsten Morgen durch den holzgetäfelten Flur des Hotels zum Speisesaal ging, fühlte sie sich immer noch müde, aber das leichte Abendessen, das heiße Bad und die Nacht in einem bequemen Bett hatten ihr gutgetan.

Sie war entschlossener denn je, das Beste aus ihrer Zeit hier zu machen. Ellen musste in der Gegend leben, denn keiner der Schecks, die sie immer noch erhielt, war je an den Absender zurückgegangen. Gestern war Tamsyn zu entmutigt gewesen, sich an diese wichtige Einzelheit zu erinnern. Ein Anruf bei Ethan würde genügen, um sich zu vergewissern, welche Adresse dem Anwalt ihres Vaters vorlag.

Aber zuerst stand nach dem Frühstück eine Fahrt nach Blenheim auf dem Programm, um etwas Kleidung und einen Koffer zu kaufen. Sie hatte Adelaide so überstürzt verlassen, dass sie in Neuseeland nur mit der Kleidung, die sie trug, und ihrer Handtasche angekommen war.

Vor allem konnte sie es nicht abwarten, die Unterwäsche loszuwerden, die sie ausgewählt hatte, um ihren Verlobten zu verführen. Obwohl sie sie jetzt schon zweimal ausgewaschen und wieder getragen hatte, würde sie erst richtig erleichtert sein, wenn sie sie in den Mülleimer geworfen hatte.

Die Dessous erinnerten sie nur daran, wie naiv sie gewesen war – und wie sehr die Menschen, denen sie vertraut hatte, sie enttäuscht hatten. Galle stieg ihr in die Kehle, als sie daran dachte, wie sie vorgestern geplant hatte, Trent mit einem romantischen Abend zu überraschen, der damit enden sollte, dass sie sich langsam und verführerisch aus dieser Wäsche schälte. Aber die Überraschung hatte sie selbst erlebt, als sie Trent mit jemand anderem im Bett ertappt hatte – mit ihrem Assistenten Zac.

Nachdem der erste Schock sich gelegt hatte, war sie sich so dumm vorgekommen. Welche Frau merkte denn nicht, dass ihr Verlobter schwul war? Schlimmer noch, dass er nur vorgehabt hatte, sie zu heiraten, um den Schein zu wahren? Er hatte weiter in der konservativen Anwaltskanzlei, für die er arbeitete, Karriere machen wollen.

Sie hätte nur nach Hause fahren müssen, um sich von ihrer Familie trösten zu lassen. Der Gedanke war jedoch alles andere als tröstlich gewesen. Auch ihre Familie hatte sie belogen. Ihr Vater, ihr Onkel und ihre Tanten hatten alle gewusst, dass ihre Mutter noch am Leben war. Sogar Ethan hatte ihr die Wahrheit verschwiegen, als er sie nach dem Tod ihres Vaters erfahren hatte. Sie hatte all den Geheimnissen und Lügen entkommen wollen und war zum Flughafen gefahren mit dem Vorsatz, erst zurückzukehren, wenn sie zur Abwechslung endlich einmal Antworten bekam.

Bis jetzt lief es nicht gut.

Sie schluckte gegen das Brennen in ihrer Kehle an. Vielleicht war es doch keine so gute Idee zu frühstücken.

„Da ist sie ja“, hörte sie die Hotelchefin Penny sagen, als sie den Speisesaal erreichte. Penny stand von dem kleinen Tisch in der Fensternische auf, die auf einen entzückend altmodischen Garten hinausging. „Guten Morgen, Miss Masters. Haben Sie gut geschlafen?“

„Nennen Sie mich doch bitte Tamsyn. Und ja, mein Zimmer ist sehr gemütlich, vielen Dank.“

Tamsyns Blick huschte zu dem Mann, der Peggy gegenübersaß und nun aufstand, um sie zu begrüßen. Es war der Mann von gestern, der letzte Mensch, den sie heute Morgen zu sehen erwartet hatte. Aus reiner Höflichkeit nickte sie knapp.

Er streckte ihr die Hand hin. „Ich habe mich Ihnen gestern gar nicht vorgestellt. Finn Gallagher. Sehr erfreut, Sie wiederzusehen.“

Sie schüttelte ihm kurz die Hand. Die Wärme seiner starken Hand drang ihr in die Haut, den Arm hinauf und in den ganzen Körper. Sie löste sich von ihm.

„Wirklich, Mr. Gallagher? Ich hatte gestern den Eindruck, dass Sie nur zu froh waren, mich los zu sein.“

Seine schiefergrauen Augen funkelten vor Erheiterung. „Sie haben mich auf dem falschen Fuß erwischt. Es tut mir leid, und ich bin hier, um mich zu entschuldigen.“

Tamsyns Gedanken überschlugen sich. Wie hatte er sie aufgespürt? „Sind sie ein Stalker?“, fragte sie spontan.

„Hier kennt jeder jeden“, erklärte er.

Sein entschuldigendes Lächeln ließ Tamsyns Magen einen kleinen Purzelbaum schlagen.

„Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht“, fuhr er fort. „Sie waren müde, und hier in der Gegend kommen immer wieder Touristen von der Straße ab. Ich habe ein paar Hotels angerufen und war froh, von Penny zu hören, dass Sie sicher angekommen waren.“

Das klang plausibel, erklärte aber nicht, warum er hier war.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, sagte er: „Zum Ausgleich für meine Unhöflichkeit würde ich Ihnen gern die Gegend zeigen. Sie bleiben doch ein paar Tage?“

Er betonte die letzten Worte so nachdrücklich, als könnte sein Wunsch allein sie zum Bleiben veranlassen.

„Ja“, gestand sie, verriet aber nicht, dass sie noch gar kein Abreisedatum ins Auge gefasst hatte. „Aber ich komme schon zurecht.“

Sie war nicht hier, um Sehenswürdigkeiten zu bestaunen, sondern nur, um ihre Mutter zu finden.

„Dann gestatten Sie mir wenigstens, Sie zum Essen einzuladen. Als Entschuldigung dafür, dass ich gestern so kurz angebunden war.“

Tief in ihr regte sich ein angenehmes Gefühl von Wärme. Vielleicht war sie ja übertrieben misstrauisch. Er wirkte eigentlich ganz aufrichtig. Sie musterte ihn – die kurzen widerspenstigen Haare, die klaren grauen Augen, seinen fast bittenden Blick. Seine Körpersprache wirkte nicht bedrohlich. Er trug Jeans und ein eng anliegendes T-Shirt, also gab es keine versteckten Waffen. Nur seine unheimlich charismatische Art.

Tamsyn musste zugeben, dass Finn ein extrem gut aussehender Mann war. Ungeachtet dessen, was sie gerade mit Trent durchgemacht hatte, fand sie Finn wirklich anziehend. Und das Lächeln, das um seine Lippen spielte, zeigte ihr, dass er sie anders als ihr Ex-Verlobter auch attraktiv fand. Der Gedanke verstärkte die prickelnde Wärme in ihrem Innern noch.

Penny riss sie aus ihren Gedanken. „Wenn Sie sich Sorgen machen, kann ich bezeugen, dass Finn ein absoluter Gentleman ist. Er ist hier in der Gegend beliebt und sehr angesehen. Sie könnten nicht in besseren Händen sein.“

Tamsyn richtete den Blick automatisch auf die erwähnten Hände. Finn hatte starke Hände mit langen, schlanken Fingern. Die Wärme in ihr wurde zu einem lodernden Feuer, das sich rasend schnell ausbreitete. Sie spürte, wie ihre Brustwarzen sich zusammenzogen, als sie sich unwillkürlich ausmalte, wie er sie berührte. Sie holte tief Luft, sah ihm ins Gesicht und erkannte, dass er auf ihre Antwort wartete.

„Ich will Ihnen nicht zur Last fallen“, sagte sie und spürte, dass sie rot wurde. „Außerdem möchte ich einkaufen gehen.“

„Warum erledigen Sie Ihre Einkäufe nicht gleich heute Morgen? Penny kann Ihnen sagen, wohin Sie fahren müssen. Ich hole Sie dann gegen ein Uhr ab, zeige Ihnen die Gegend und bringe Sie heute Abend wieder hierher.“

Sie konnte nicht ablehnen. Er ließ den Plan so vernünftig klingen, und Penny hatte sich für ihn verbürgt. „Gern, vielen Dank.“

„Wunderbar. Dann überlasse ich Sie jetzt Ihrem Frühstück. Wir sehen uns nachher. Danke für den Kaffee, Penny.“

„Immer gern, Finn. Ich bringe dich zur Tür. Bitte bedienen Sie sich am Frühstücksbuffet, Tamsyn. Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, läuten Sie einfach mit der Glocke auf der Anrichte, dann kommt sofort jemand, um Ihre Bestellung aufzunehmen.“

Penny lächelte und führte Finn aus dem Zimmer.

Im Gehen zwinkerte Finn Tamsyn zu. „Ich freue mich auf heute Nachmittag“, sagte er so leise, dass nur sie es hören konnte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Sie lächelte zur Antwort nervös. Dann war er fort.

Tamsyn ging zu den Speisenwärmern auf der antiken Anrichte und hob die Deckel. Vor lauter Unruhe hatte sie das Gefühl, als ob Schmetterlinge in ihrem Bauch aufflatterten. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?

Sie füllte sich etwas Rührei mit gebratenen Champignons und eine halbe Grilltomate auf, stellte den Teller auf einen Tisch und kehrte zur Anrichte zurück, um sich eine Tasse Kaffee aus der silbernen Kanne auf dem Stövchen einzugießen. Die Räume waren modern und komfortabel eingerichtet, strahlten aber dank dieser eleganten Kleinigkeiten einen gewissen nostalgischen Charme aus. Ganz wie auf The Masters.

Für einen Augenblick wurde sie fast von Heimweh übermannt, von dem Wunsch, die Suche aufzugeben, nach Hause zu fahren und da weiterzumachen, wo sie aufgehört hatte. Aber sie konnte nicht zurück. Nach allem, was geschehen war, fühlte sie sich verloren. Sie brauchte diese Reise, um zu sich selbst zu finden.

Penny kehrte zurück. „Ah, sehr schön, Sie haben sich schon bedient. Ist alles recht so? Darf ich Ihnen vielleicht noch etwas bringen?“

„Alles ist sehr gut, vielen Dank.“

„Das freut mich“, sagte Penny und räumte eilig den Tisch ab, an dem sie und Finn gesessen hatten. „Finn scheint Sie zu mögen. Da können Sie nichts falsch machen. Mit ihm werden Sie schon Ihren Spaß haben.“

Bildete Tamsyn sich das nur ein, oder schwang eine gewisse Anzüglichkeit in Pennys Worten mit?

„Sie haben ihn gestern gar nicht erwähnt“, fuhr Penny fort.

„Man hatte mir eine Adresse genannt, aber leider war es seine und nicht die der Person, die ich suche.“

„Na, wenn einer ihnen helfen kann, hier in der Gegend jemanden zu finden, dann Finn“, meinte Penny lächelnd. „Kommen Sie in mein Büro, bevor Sie einkaufen fahren, und sagen Sie mir, wonach Sie suchen, dann gebe ich Ihnen ein paar Tipps.“

Wonach sie suchte? Die Steilvorlage konnte sie nicht ignorieren. Finn hatte selbst gesagt, dass hier jeder jeden kannte. Irgendjemand musste also auch ihre Mutter kennen.

„Da Sie es gerade erwähnen … Haben Sie vielleicht schon einmal von einer Ellen Masters gehört?“

Penny blieb wie vom Donner gerührt stehen. „Ellen Masters, sagen Sie?“ Sie zog kurz die Mundwinkel nach unten, bevor sie wieder ein strahlendes Lächeln aufsetzte, das nicht so aufrichtig wirkte wie noch ein paar Sekunden zuvor. „Nein, den Namen habe ich noch nie gehört. Ich will Sie auch gar nicht weiter beim Frühstück stören. Läuten Sie einfach, wenn Sie noch etwas brauchen.“

Tamsyn sah Penny nach, als sie den Speisesaal verließ. Sie wurde wohl langsam überempfindlich, denn kurz hatte sie das Gefühl gehabt, dass Penny log. Tamsyn trank einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war sie noch erschöpft von all den Aufregungen der letzten Zeit.

Aber noch wollte sie nicht aufgeben. Irgendjemand wusste bestimmt, wo ihre Mutter war, und sobald sie diesen Menschen gefunden hatte, würde sie die Wahrheit erfahren. Ellen Masters konnte doch nicht einfach spurlos verschwinden, oder?

Nach ihrem Einkaufsbummel in Blenheim fuhr Tamsyn zurück zum Hotel. Sie glaubte, auch ohne GPS den Rückweg zu finden, bog dann aber doch falsch ab und fand sich in einer quirligen Kleinstadt wieder.

Sie parkte in einer Straße voller Cafés, Boutiquen und Galerien und fragte sich, warum Penny sie zum Einkaufen nicht hierher geschickt hatte. Schulterzuckend stieg sie aus und schloss das Auto ab, bevor sie losspazierte und schließlich eine der Boutiquen betrat, um sich umzusehen.

„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fragte die ältere Dame hinter dem Tresen freundlich.

„Eigentlich nicht, aber das hier gefällt mir.“ Tamsyn sah sich ein ärmelloses Kleid in leuchtenden Lila- und Blautönen näher an.

„Das würde Ihnen zu Ihrer Haarfarbe wunderbar stehen. Die Umkleidekabine ist gleich links, wenn Sie es anprobieren möchten.“

„Ich weiß nicht …“ Tamsyn zögerte. Aber warum sollte sie sich nichts gönnen? Heute Morgen hatte sie überwiegend Praktisches gekauft: Jeans, T-Shirts, Shorts, Unterwäsche und Turnschuhe. Sie strich über die zarte Seide. Es würde sich himmlisch anfühlen, dieses Kleid zu tragen. „Na gut, ich probiere es an.“

Kurz darauf drehte sie sich vor dem Spiegel in der Umkleidekabine hin und her. Das Kleid saß perfekt. Mit den passenden Schuhen hätte sie es zum Mittagessen mit Finn tragen können. Nicht, dass sie darauf aus war, mit ihm zu flirten, aber eine Frau musste für alles gut gerüstet sein. In diesem Kleid wäre sie es.

„Passt es?“, fragte die Verkäuferin hinter dem Vorhang.

„Fantastisch, aber ich habe nicht die richtigen Schuhe dazu.“

„Oh, vielleicht haben wir welche hier. Wir führen ein paar Modelle. Tragen Sie Größe 39?“

Als Tamsyn bejahte, antwortete die Frau: „Ich bin gleich wieder da.“

Tamsyn nahm sich Zeit, ihr Spiegelbild noch einmal gründlich zu betrachten. Sie liebte das Kleid, die weiche Seide, die ihre Beine umspielte, und fühlte sich darin feminin und begehrenswert.

Ging es ihr eigentlich darum? Hatte sie sich unattraktiv gefühlt, weil Trent sie belogen hatte? Hatte sie vielleicht sogar selbst ihre Weiblichkeit infrage gestellt? Es wäre kein Wunder, wenn man bedachte, wie er sie ihre ganze Beziehung hindurch hintergangen hatte. Es tat noch immer weh, und jetzt, wo sie sich im Spiegel sah, ärgerte sie sich doppelt. Sie sah schön und sexy aus. Wieso hatte sie zugelassen, dass Trent sie daran zweifeln ließ? Warum hatte sie einen Mann heiraten wollen, bei dem sie sich nie unwiderstehlich gefühlt hatte?

Tamsyn war sich plötzlich ganz sicher, dass diese Reise genau das war, was sie brauchte. Sie musste herausfinden, wer sie wirklich war! Sie hoffte nur, dass ihre Mutter ein Teil davon sein wollte – ein Teil ihres Lebens.

„Bitte sehr!“

Tamsyn zog den Vorhang auf.

„Das Kleid ist ja wie für sie gemacht“, sagte die Verkäuferin. „Hier, probieren Sie die dazu an.“

Sie hielt ihr ein Paar hochhackige Sandalen in Lila-, Blau- und Pinktönen hin. Sie passten hervorragend, wie Tamsyn feststellte, nachdem sie ihre Turnschuhe abgestreift hatte und in die Sandalen geschlüpft war.

„Kommen Sie, wir haben einen größeren Spiegel gleich neben dem Tresen. Davor können sie besser tanzen“, sagte die Frau mit einem Augenzwinkern.

Tamsyn bekam wirklich Lust zu tanzen, als sie sich in dem großen Spiegel sah.

„Ich nehme beides …“, sagte sie impulsiv, „… das Kleid und die Schuhe. Stört es Sie, wenn ich es gleich anbehalte?“

„Warum sollte mich das stören? Sie sind eine perfekte Werbung auf zwei Beinen für eine unserer Designerinnen – Alexis Fabrini.“

„Führen Sie noch andere Modelle von ihr?“

Die Verkäuferin wies auf eine ganze Wand voller Kleidungsstücke. „Sie haben die freie Auswahl“, erklärte sie lächelnd. „Ich packe kurz Ihre alten Sachen ein und schneide die Preisschilder ab, dann können Sie los.“

Als Tamsyn bezahlte, ertönte Shania Twains Song Man! I Feel Like a Woman! aus den Lautsprechern des Ladens. Sie lächelte in sich hinein. Der Text passte: Sie fühlte sich jetzt wirklich wie eine Frau und freute sich auf das Mittagessen mit Finn.

„Sind Sie auf der Durchreise?“, fragte die Verkäuferin.

Tamsyn sah sie an und erkannte schlagartig, dass die Frau im selben Alter wie ihre Mutter war. „Ich bleibe ein paar Tage hier, vielleicht auch länger. Ich …“

Sie zögerte, beschloss dann aber, dass sie genauso gut die Wahrheit sagen konnte. Wenn sie nicht jeden, den sie traf, nach ihrer Mutter fragte, würde sie nie etwas herausfinden. „Ich suche nach meiner Mutter, Ellen Masters. Kennen Sie sie vielleicht?“

Die Verkäuferin runzelte die Stirn. „Hm, Ellen Masters? Nein. Ich habe noch niemanden getroffen, der so heißt, aber ich bin neu in der Gegend und kenne nicht alle hier.“

„Macht nichts“, sagte Tamsyn und setzte ein Lächeln auf, um ihre tiefe Enttäuschung zu verbergen. „Es war ein Schuss ins Blaue.“

„Viel Glück dabei, sie zu finden. Kommen Sie bald einmal wieder!“

Tamsyn nahm ihre Sachen und ging zum Auto zurück. Trotz des kleinen Rückschlags war sie zuversichtlicher als zuvor. Auf dem Weg zum Wagen kam ihr eine Idee, und sie blieb vor dem Fenster eines Maklerbüros stehen. Wenn sie ein Haus oder eine Wohnung mietete, konnte sie länger hierbleiben und ihre Suche ausweiten. Sie überflog die Angebote im Fenster, und eine Adresse fiel ihr ins Auge. Das Haus lag an derselben Straße wie Finn Gallaghers Anwesen, nach der Hausnummer zu urteilen sogar ganz in der Nähe.

Ein unbestimmbares Gefühl regte sich tief in ihrem Innern, als sie die Einzelheiten las. Das Haus war kurzfristig wochenweise zu vermieten. Sie vermutete, dass es wohl deshalb noch zu haben war. Viele Leute hatten sicher etwas dagegen, den Mietvertrag von Woche zu Woche verlängern zu müssen, aber für sie war es genau das Richtige, und noch dazu war es vollständig möbliert.

Sie stieß die Tür zum Maklerbüro auf und kam zwanzig Minuten später voller Vorfreude wieder ins Freie, in einer Hand den Mietvertrag, in der anderen den Hausschlüssel.

Als sie zum Hotel zurückkehrte, bemerkte sie, dass ein Porsche, ein Cayenne Turbo S, in der Einfahrt parkte. Sicher Finns Auto, dachte sie, als sie einen Blick auf die Uhr in ihrem Mietwagen warf. Durch den Abstecher zum Makler hatte sie sich verspätet, aber das machte ihr nichts aus. Von morgen an würde sie in einem eigenen Haus wohnen. Und wer weiß? Vielleicht konnte schon die nächste Person, die sie traf, ihr sagen, wo ihre Mutter war.

Finn stand in Pennys Büro am Fenster und beobachtete, wie Tamsyn aus ihrem Wagen stieg. Sogar aus dieser Entfernung sah er, dass sie aufgeregt war. Sie war von einer Aura aus Licht und Energie umgeben, die ihr gestern und heute Morgen gefehlt hatte. So war sie noch viel schöner.

Er unterdrückte das Begehren, das er plötzlich verspürte. Wenn er die Situation unter Kontrolle behalten wollte, musste er zuallererst sich selbst beherrschen. Körperliches Verlangen machte alles nur noch komplizierter. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass der Makler, der Lorenzos und Ellens Cottage betreute, vorhin angerufen hatte, um Bescheid zu sagen, dass eine gewisse Australierin es mieten wollte!

Finn hätte gern rundheraus abgelehnt, als der Makler ihn um seine Zustimmung gebeten hatte, doch wenigstens konnte er Tamsyn so leichter im Auge behalten. Außerdem wusste er, dass Lorenzos und Ellens persönliche Habseligkeiten in Alexis’ altem Zimmer verstaut waren. Der Raum hatte ein neues Türschloss bekommen, um sicherzustellen, dass Mieter zwar das Haus nutzen konnten, Privatangelegenheiten aber privat blieben. Was konnte also schiefgehen?

Vor allem musste er Ellens menschenfressende schwarze Katze Lucy jetzt nicht mehr füttern. Lucy war die Koseform von Lucifer, und Finn fand den Namen sehr passend. Bisher hatte das wilde Biest ihn noch jeden Morgen mit einem Fauchen begrüßt oder gleich die Krallen gezeigt.

„Sie war wohl shoppen“, bemerkte er zu Penny und sah zu, wie Tamsyn mehrere Einkaufstüten und einen kleinen Rollkoffer aus dem Kofferraum holte.

„Und nicht nur in Blenheim. Die rosa Tüte da ist aus einer hiesigen Boutique“, stellte Penny fest.

„Verdammt, hast du sie nicht nach Blenheim geschickt?“

„Doch, aber du kannst nicht von mir erwarten, dass ich sie auf Schritt und Tritt kontrolliere.“

„Schade“, sagte er missmutig und trat vom Fenster zurück, bevor Tamsyn ihn dabei ertappen konnte, ihr nachzuspionieren.

Penny lachte. „Sie hat den Ortskern anscheinend ganz allein gefunden und die hiesige Wirtschaft angekurbelt. Sie trägt ein Kleid von Alexis, und wir wissen doch beide, dass ihre Designerstücke nicht billig sind.“

Finn unterdrückte ein Stöhnen. Wie konnte es sein, dass Tamsyn Masters ausgerechnet ein Kleid kaufte, das ihre Halbschwester entworfen hatte, von der sie nichts erfahren durfte?

Als er ihre Absätze über den Holzboden der Eingangshalle klappern hörte, ging er hinaus, um sie zu begrüßen.

„Oh, hallo!“, sagte sie und blieb abrupt stehen, als er unmittelbar vor ihr aus dem Büro trat.

Ihr Parfüm stieg ihm in die Nase: ein blumiger und zugleich fruchtiger Duft mit einem Hauch von Würze, der jeden vernünftigen Gedanken aus seinem Verstand verscheuchte. Wildes Verlangen durchströmte seinen ganzen Körper.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, fuhr sie fort, ohne zu ahnen, welcher Gefühlsaufruhr in ihm tobte. „Ich bringe schnell die Sachen auf mein Zimmer, dann bin ich ganz für Sie da.“

Ganz für ihn da? Das wagte er zu bezweifeln. Aber interessant wird es sicher, dachte er lächelnd und sah zu, wie sie anmutig davonschwebte.

Jetzt war keine Spur mehr von dem Häufchen Elend zu entdecken, das gestern Abend vor seiner Tür gestanden hatte, oder von der verstörten jungen Frau heute Morgen. Jetzt war Tamsyn Masters purer Sex-Appeal auf zwei Beinen – und zwar auf sehr schönen Beinen, wie er sich eingestand, während er ihre schmalen Knöchel und die schlanken Fesseln bewunderte, als sie sich auf hohen Absätzen von ihm entfernte.

Erst als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, brach der Bann, trotzdem musste er sich zurückhalten, um ihr nicht zu folgen.

Sie hielt Wort, war nach wenigen Minuten zurück und schenkte ihm ein schüchternes Lächeln.

„Kann es losgehen?“, fragte er, und der Mund wurde ihm trocken, als er sie noch einmal betrachtete.

Das Lila des Kleides hob ihre braunen Augen äußerst vorteilhaft hervor. Er fühlte sich an ein Stiefmütterchen erinnert: farbenfroh, aber zugleich zart.

Verdammt, dachte er. Was zur Hölle war nur mit ihm los? Er war doch kein verliebter Teenager!

„Gern“, antwortete sie und hielt mit ihm Schritt, als er zur Tür ging. „Wohin fahren wir?“

Er nannte ihr ein Weingut in der Nähe. „Das Restaurant dort ist sehr beliebt, und die Weine sind weltberühmt.“

Tamsyn rieb sich den flachen Bauch und lachte. „Hoffentlich stimmt das. Nach all den Einkäufen habe ich einen Bärenhunger!“

„Sie werden nicht enttäuscht sein“, versicherte er ihr.

Auf der Fahrt zum Weingut plauderte er über ihr Ziel, um die Zeit zu überbrücken.

„Das klingt ganz wie zu Hause“, bemerkte Tamsyn. „Wir führen ein ähnliches Weingut mit Kellerverkauf und Restaurant. Ich bin gespannt auf den Vergleich. Ich könnte das fast als Geschäftsessen verbuchen, wenn …“ Sie brach ab.

„Wenn?“, hakte er nach.

„Wenn ich nicht gekündigt hätte“, sagte sie.

„Ach so? Waren Sie die Plackerei leid?“, fragte er neugierig. Das passte zu der verwöhnten Prinzessin, für die er sie hielt. Er nutzte den Gedanken, um seine auflodernde Libido zu ersticken.

„So etwas in der Art“, antwortete sie unverbindlich und wandte den Kopf, um aus dem Fenster zu sehen.

So etwas in der Art? Was hätte er nicht darum gegeben, zu erfahren, was sie damit meinte! Oberflächlich betrachtet, hatte Tamsyn seine Vorurteile bisher bestätigt: Sie war einfach hier aufgetaucht, was schreckliche Folgen hätte haben können, wenn Ellen da gewesen wäre. Sie gab ihr Geld mit vollen Händen aus und hatte dem Familienunternehmen und ihren Verpflichtungen den Rücken gekehrt.

Alles in allem ließ sie das ziemlich unsympathisch wirken – ganz wie Briana.

Warum um alles in der Welt fand er sie dann überhaupt nicht unsympathisch?

Das Mittagessen mit Finn wurde ein wahres Vergnügen, viel besser, als Tamsyn es sich ausgemalt hatte. Der Besuch auf dem Weingut verstärkte allerdings ihr Heimweh nach The Masters. Finn erfasste ihre Stimmung scheinbar instinktiv und lenkte sie mit Geschichten über die Gegend und die Bewohner ab, die ihm offensichtlich viel bedeuteten.

Kein Wunder also, dass immer wieder Restaurantbesucher an ihrem Tisch stehen blieben, um ihn zu begrüßen. Finn stellte sie zwar jedes Mal vor, ließ aber zugleich durchklingen, dass er nicht gestört werden wollte. Tamsyn war enttäuscht, wie gekonnt er alle auf Abstand hielt, denn sie hätte jeden gern nach ihrer Mutter gefragt. Dennoch war sie spätestens zu dem Zeitpunkt, als sie sich zum Nachtisch eine Tarte Tatin teilten, so entspannt wie schon lange nicht mehr.

Mehr noch: Sie fühlte sich geborgen, was seltsam war, da sie Finn ja gerade erst kennengelernt hatte. Doch er verhielt sich ihr gegenüber liebenswürdig und formvollendet und schenkte ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Nach dem köstlichen Mittagessen gingen sie auf Entdeckungstour in die Umgebung. Tamsyn verliebte sich auf Anhieb in die landschaftliche Schönheit der Marlborough Sounds, einer Gegend mit vielen kleinen Inseln, Halbinseln und Buchten sowie atemberaubenden Aussichten über Täler und Hügel.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich gestärkt, dem Tag ins Auge zu blicken. So schön der gestrige Nachmittag auch gewesen war, heute wartete ein ganz anderes und vielleicht recht anstrengendes Abenteuer auf sie: Sie würde ins Cottage einziehen. Soweit sie wusste, stand es seit Wochen leer. Hoffentlich war nicht alles muffig und staubig, wenn sie ankam.

„Haben Sie alles?“, fragte Penny, als Tamsyn ihren neuen Koffer zur Tür rollte.

Tamsyn hatte ihr am Vorabend mitgeteilt, dass sie heute abreisen würde. Penny war sichtlich erstaunt gewesen, als Tamsyn ihr gesagt hatte, wo sie wohnen würde. Sie hatte ihre Überraschung aber rasch überspielt, indem sie ihr angeboten hatte, sie mit einem kleinen Lebensmittelvorrat auszurüsten.

„Ja, und vielen Dank für den schönen Aufenthalt hier.“

„Immer gern“, sagte Penny lächelnd. „Sind Sie sicher, dass Sie ganz allein da draußen wohnen wollen? Es ist ziemlich einsam.“

„Ach, mein Leben war in letzter Zeit so hektisch, dass ich die Ruhe genießen werde. Ich freue mich darauf.“

Tamsyn fuhr zu der Adresse, die der Makler ihr genannt hatte, und entdeckte die Einfahrt erst auf den zweiten Blick. Wenn man nicht gefunden werden will, ist das ein gutes Versteck, dachte sie, als sie das Auto über den staubigen Weg lenkte. Das Cottage lag am Fuße des Hügels, auf dem Finns opulenter Palast aus Stein und Zedernholz thronte.

Sie hatte nicht geahnt, dass sie so nah bei ihm wohnen würde. Sie müsste nur über den Zaun steigen und durch den Weinberg gehen, um in zehn Minuten sein Haus zu erreichen. Das empfand sie als verstörend und tröstlich zugleich. Es war ja vorteilhaft, einen Nachbarn zu haben, wenn man einmal Hilfe brauchte … Aber ausgerechnet Finn?

So attraktiv er auch war, irgendwie machte er sie nervös. Sein aufmerksames Verhalten seit ihrer nicht allzu freundlichen ersten Begegnung gefiel ihr, und auch, dass er sie ansah, als hielte er sie für eine sehr interessante Frau. So kurz nach ihrer gescheiterten Verlobung war sie jedoch misstrauisch. Ihre Erfahrung mit Trent hatte sie wachgerüttelt.

Sie sollte nicht versuchen, ihren verletzten Stolz mithilfe eines gut aussehenden Mannes wiederaufzubauen – selbst dann nicht, wenn dieser Mann ihr Herzklopfen verursachte. Während sie es gestern noch schmeichelhaft gefunden hatte, dass Finn ihre Gesellschaft ganz für sich allein haben wollte, überkam sie nun das ungute Gefühl, dass er dabei Hintergedanken gehabt hatte.

Vielleicht war sie auch nur paranoid. Eine Frau fand schließlich nicht alle Tage heraus, dass der Mann, den sie heiraten wollte, sie jahrelang belogen hatte. Der dumpfe Schmerz, der sich in ihrer Brust eingenistet hatte, verstärkte sich wieder.

Sie parkte vor der Garage neben dem Cottage und stieg aus.

Das Haus war alt, wahrscheinlich um 1900 erbaut, wirkte aber sehr gepflegt. Eine breite Veranda erstreckte sich einladend über die gesamte Vorderseite. Tamsyn hoffte, dass das Innere genauso reizvoll war. Sie lud die Plastiktüten aus, die Penny begeistert mit allem gefüllt hatte, was sie für unverzichtbar hielt. Ihre Großzügigkeit hatte Tamsyn überwältigt. Sie würde mehrere Tage lang nicht einkaufen müssen, weil die Hotelchefin sie mit Lebensmitteln förmlich überhäuft hatte.

Der Schlüssel ließ sich mühelos im Schloss der Vordertür drehen. Tamsyn kam sich wie ein Eindringling vor, als sie das Haus betrat.

Staubkörnchen tanzten im goldenen Licht der Morgensonne, die durch die Fenster zu ihrer Linken schien, aber abgesehen davon wirkte das Cottage fast so, als wären die Besitzer nur für einen Augenblick spazieren gegangen.

Ein Schnurren ertönte. Tamsyn zuckte zusammen, als eine geschmeidige schwarze Katze ihr durch die Haustür folgte und sie aufmerksam aus goldenen Augen musterte.

„Hallo“, sagte Tamsyn und bückte sich, um die Katze zu streicheln. „Ich bin wohl für dich verantwortlich, solange ich hier wohne. Schade, dass mir niemand gesagt hat, wie du heißt.“

Der Makler hatte erwähnt, dass sie sich um die Haustiere kümmern musste, die bisher ein Nachbar gefüttert hatte. Ein paar Hühner, eine Katze. Das konnte ja nicht so schwer sein.

Die Katze schaute zu ihr auf und blinzelte träge, bevor sie geschmeidig aufs Fensterbrett sprang und sich in der Sonne putzte. Aus irgendeinem Grund sorgte das Tier dafür, dass Tamsyn sich wie zu Hause fühlte. Sie trug die Lebensmittel in die altmodische Küche und stellte sie in den Kühlschrank. Durchs Fenster über der Arbeitsfläche sah sie in einen verwilderten Gemüsegarten.

Sie schlang die Arme fest um sich. Es hätte nicht so aufregend sein sollen, dieses Zuhause auf Zeit zu beziehen, schließlich war sie auf einem wunderbaren Weingut aufgewachsen. Aber das gehörte ihrer Familie, nicht ihr allein. Sie war noch nie wirklich allein gewesen und staunte darüber, wie gut es ihr gefiel. Die nächsten paar Tage musste sie nirgendwohin fahren, wenn sie nicht wollte. Aber wie sollte sie ihre Mutter finden, wenn sie nicht weiter im Ort herumfragte?

Tamsyn stöhnte auf, als ihr eine Idee kam: das Internet. Warum hatte sie vorher nicht daran gedacht?

Weil sie von anderen Gedanken zu abgelenkt gewesen war – Gedanken an Trent und an den rätselhaften hochgewachsenen Mann, der auf dem Hügel lebte. Sie war gar nicht darauf gekommen, mit ihrem Smartphone im Internet nach ihrer Mutter zu suchen. Sobald sie ausgepackt hatte, würde sie sich an die Arbeit machen.

Tamsyn drehte sich auf dem Absatz um und schrie auf, als etwas ihr um die Beine strich. Die Katze. Ihr Herz raste. An die tierische Mitbewohnerin musste sie sich erst gewöhnen.

Die Katze schnurrte laut, bevor sie hocherhobenen Schwanzes auf einen Schrank zuschritt. Sie setzte sich davor auf den Boden und begann, an der Schranktür zu kratzen.

„Oh nein, mach das nicht“, sagte Tamsyn und ging eilig zum Schrank hinüber.

Sie schob das Tier von der Tür weg, aber es kehrte hartnäckig zurück. Besorgt, dass sich vielleicht eine Maus im Schrank versteckte, öffnete Tamsyn die Tür und seufzte erleichtert auf, als sie auf dem untersten Regalbrett einen Beutel mit Trockenfutter sah.

„Du hast wohl Hunger, was?“

Sie schaute sich nach einer Schüssel um und entdeckte auf dem Boden ein Plastikset, auf dem ein Napf und eine Wasserschale standen. Die Katze schnurrte zustimmend, als Tamsyn die leeren Näpfe ausspülte, abtrocknete und schließlich mit Katzenfutter und Wasser füllte.

„Bitte schön“, sagte sie, stellte beides wieder auf die Unterlage und streichelte die Katze.

Zufrieden mit sich ging sie zurück zum Auto und holte ihren Koffer. Dann erkundete sie ihr neues Zuhause. Rechts vom Flur entdeckte sie zwei Schlafzimmer, ein Bad und eine verschlossene Tür. Tamsyn entschied sich für das kleinere Zimmer und packte den Koffer aus. Während sie die paar Kleidungsstücke aufhängte, die sie nun besaß, kam sie zu dem Schluss, dass sich die Mühe kaum lohnte. Verglichen mit ihrem begehbaren Kleiderschrank zu Hause lebte sie hier geradezu asketisch.

Zu Hause. Wieder brach eine Welle des Heimwehs über sie herein. Sie musste ihren Bruder anrufen. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, hatte sie schon die Schnellwahltaste für seine Handynummer gedrückt.

„Ich dachte schon, ich müsste dich als vermisst melden“, begrüßte er sie.

Obwohl er sie aufzog, hörte sie seiner Stimme den besorgten Unterton an.

„Ich habe doch gesagt, dass ich dich anrufe. Es geht mir übrigens gut, danke auch, dass du fragst.“

„Bist du schon auf dem Heimweg?“

„Noch lange nicht. Wie kommt ihr ohne mich zurecht?“

„Erstaunlich gut. Tante Cynthia blüht richtig dabei auf, dich zu vertreten.“

Ethans Worte trafen sie wie ein Fausthieb. Hätten ihr Bruder und die anderen sie nicht wenigstens ein bisschen vermissen können? Anscheinend fehlte sie niemandem. Von Trent hatte sie noch nicht einmal eine SMS bekommen. Nicht dass sie unbedingt etwas von ihm hören wollte, aber sie waren schließlich über ein Jahr lang verlobt und vorher schon mehrere Monate liiert gewesen. Er schuldete ihr doch eine Erklärung, irgendetwas.

Sie unterdrückte den Gedanken an ihren Ex. Sie hatte ihn, seinen Geliebten und alles, was mit ihnen zu tun hatte, hinter sich gelassen. Es wurde Zeit, sich nicht mehr an die Vergangenheit zu klammern, sondern den Blick fest auf ihre neue Zukunft zu richten.

Sie zwang sich zu einem Lächeln und sagte: „Sag mal, kannst du für mich etwas nachsehen?“

„Was denn?“

„Die Adresse, an die Moms Schecks gehen. Kannst du sie mir noch einmal geben?“

„Einen Augenblick, ich suche eben die Mail“, antwortete Ethan.

Sie hörte, wie er mit seinem üblichen Adlersuchsystem auf die Tastatur einhackte, und lächelte in sich hinein. Ethan hielt Computer für ein notwendiges Übel. Er befasste sich viel lieber mit der Herstellung seiner weltberühmten Weine. Während er beschäftigt war, suchte Tamsyn in ihrer Handtasche nach Stift und Notizbuch.

„Ich habe sie“, sagte er kurz darauf und las die Adresse vor.

„Seltsam“, antwortete sie und kaute auf dem Ende ihres Stifts herum. „Das ist die Adresse, zu der ich am Samstag gefahren bin, aber der Mann dort sagt, er hätte noch nie etwas von Mom gehört.“

„Ich frage bei Dads Anwalt nach und melde mich dann wieder bei dir. Vielleicht hat jemand einen Fehler gemacht.“

Oder jemand lügt mich an.

Der Gedanke ging ihr nicht aus dem Kopf. Konnte es sein, dass Finn ihr absichtlich Informationen über ihre Mutter vorenthielt?

Bestimmt nicht. Er hatte dabei doch nichts zu gewinnen.

„Danke“, sagte sie zu Ethan. „Schick mir eine Mail, wenn du Bescheid weißt, ja? Ich habe hier inzwischen ein Cottage gemietet. Ich möchte eine Weile herumstöbern und sehen, ob ich nicht vielleicht jemanden treffe, der sie kennt.“

„Tam, bist du sicher, dass du das Richtige tust? Vielleicht will sie gar nicht gefunden werden.“

„Es geht nicht mehr darum, was Mom will“, sagte sie ungewohnt fest. „Es geht jetzt darum, was sie mir schuldet.“

Sie hörte ihren Bruder frustriert aufseufzen. „Übrigens habe ich mit Trent gesprochen“, sagte er. „Er hat mir erzählt, was passiert ist.“

Tamsyn fühlte sich, als hätte sich eine Faust um ihr Herz geschlossen. „A… Alles?“, stotterte sie.

„Ich musste ihn erst überreden.“ Ethans stahlharter Ton räumte jeden Zweifel daran aus, dass er ihrem Ex-Verlobten gegenüber nicht seine übliche Höflichkeit gezeigt hatte. „Ich kann es dir nicht verdenken, dass du etwas Zeit für dich allein brauchst. Er hat uns alle hinters Licht geführt, Tam. Hat uns weisgemacht, dass er dich lieben würde, wie du es verdienst, geliebt zu werden. Was er dir angetan hat, war absolut unverzeihlich. Isobel ist so wütend, dass ich sie daran hindern musste, in die Stadt zu fahren, um ihn sich vorzuknöpfen. Ich will, dass du weißt, dass wir voll hinter dir stehen.“

Tamsyn kamen die Tränen, doch sie versuchte, sie zurückzuhalten. Wenn sie jetzt die Beherrschung verlor, würde sie nicht wieder aufhören zu weinen, und wenn Ethan sie weinen hörte, würde er im Handumdrehen bei ihr sein. Aber das hier musste sie allein schaffen. Dieses eine Mal tat sie etwas nicht, um jemand anderem zu gefallen, sondern nur für sich selbst.

Zum Glück reizte die Vorstellung, dass Ethans zierliche blonde Verlobte Isobel Trent den Marsch blasen wollte, sie so zum Lächeln, dass sie sich etwas beruhigte.

„Danke“, flüsterte sie und holte tief Atem, um ihre Stimme kräftiger klingen zu lassen. „Ich melde mich, wenn ich etwas herausfinde, in Ordnung?“

„In Ordnung“, lenkte Ethan ein.

Tamsyn verabschiedete sich von ihm, legte auf und fühlte sich, als hätte sie eine Rettungsleine gekappt. Sie war dankbar für die Ablenkung, als sie Reifen auf dem Kies der Einfahrt hörte. Durchs Fenster sah sie einen SUV neben ihrem Mietwagen halten. Als Finn ausstieg und aufs Haus zukam, verdrängte eine ganz andere Art von Aufregung den Schmerz, den sie bis eben in der Brust gespürt hatte.

Sie ignorierte das unvermittelte Erwachen ihres Körpers, denn ein Verdacht ging ihr einfach nicht aus dem Kopf: Kannte Finn Gallagher die Antworten auf ihre Fragen?

3. KAPITEL

Finn war nicht ganz sicher, was er hier eigentlich tat. Lorenzo hatte ihn gebeten, ihn auf dem Laufenden zu halten, aber das war kein Grund, Tamsyn wie ein Stalker zu verfolgen.

Sie erschien an der Tür, als er gerade die Hand hob, um anzuklopfen. Heute trug sie eng anliegende Jeans und ein T-Shirt mit tiefem V-Ausschnitt. Der Baumwollstoff spannte sich über den Rundungen ihrer Brüste.

Finn zwang sich, den Blick zu heben und ihr ins Gesicht zu sehen. Mit Pferdeschwanz wirkte sie jünger, und die dunklen Ringe unter ihren Augen waren blasser als gestern.

„Hallo“, sagte er. „Ich bin gerade unterwegs und wollte nur fragen, ob Sie etwas aus der Stadt brauchen.“

Tamsyn lächelte liebenswürdig. „Das ist sehr zuvorkommend von Ihnen, aber Penny hat mir alles geschenkt, was ich für die nächsten Tage brauche.“

„Wie nett von ihr!“ Er suchte nach etwas, das er sagen konnte, um das Gespräch in die Länge zu ziehen. „Ach ja, ich wollte Ihnen auch meine Telefonnummer geben, falls Sie im Haus einmal Hilfe brauchen.“

Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie ihr. Sie nahm sie entgegen und streifte dabei seine Hand. Die Berührung brannte wie Feuer.

„Danke, aber wie es aussieht, benötige ich keine Hilfe. Haben Sie bisher die Tiere gefüttert?“, fragte sie.

„Ja. Bei den Hühnern ist das einfacher als bei dem Katzenmonster.“

Besagtes Monster kam auf Samtpfoten den Flur entlang, ließ sich zu Tamsyns Füßen nieder und musterte ihn Unheil verkündend.

„Das hier?“, fragte Tamsyn und beugte sich vor, um Lucy hinter den Ohren zu kraulen. „Wissen sie, wie sie heißt?“

„Lucy, eigentlich Lucifer, und der Name wird ihr gerecht. Sie dachten erst, es wäre ein Kater, und mussten den Namen ändern, als sie trächtig wurde.“

Finn sah überrascht zu, wie das Mistvieh Tamsyn schnurrend mit dem Kopf anstupste.

„Lucifer? Diese Süße hier?“ Tamsyn lachte. „Das ist aber hart, finden Sie nicht?“

Vielleicht hatte er sich in dem Tier getäuscht. Finn versuchte, es zu streicheln. Lucy legte sofort die Ohren an und fauchte.

Er zuckte zurück. „Nein, der Name passt. Komisch, dass sie Ihnen nichts tut. Normalerweise lässt sie sich nur von ihrer Besitzerin und deren Tochter anfassen.“

Kaum dass er es gesagt hatte, wünschte Finn, er hätte den Mund gehalten. Natürlich entwickelte Lucy eine Bindung zu Tamsyn. Sie war schließlich auch Ellens Tochter.

„Vielleicht mag sie Frauen einfach lieber“, sagte Tamsyn, ohne sein Unbehagen zu bemerken.

„Ja, das ist möglich.“

„Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Ich bin noch nicht sicher, wo alles steht, aber ich finde es bestimmt.“

Sollte er die Einladung annehmen? Warum nicht? „Gern, und da ich schon einmal hier bin, kann ich gleich nachsehen, ob das heiße Wasser angestellt ist. Ich weiß, dass der Makler sich darum kümmern wollte, aber vielleicht ist er noch nicht dazu gekommen.“

„Oh, das wäre nett! Ich würde mich heute Abend so gern in dieser grandiosen alten Badewanne rekeln!“

Finn erstarrte angesichts des Bildes, das vor sein inneres Auge trat. Er brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie Tamsyn die schlanken Arme auf dem Rand der frei stehenden Wanne mit den Löwenfüßen ruhen ließ, oder wie ihre zarten Schultern vor Badeöl glänzten.

Er riss sich zusammen. „Ich kümmere mich darum.“

„Ich setze das Wasser auf“, antwortete Tamsyn und bat ihn herein.

Lucy fauchte ihn noch einmal an, bevor sie davonschoss und es sich auf der Fensterbank gemütlich machte.

„Der Boiler ist in der alten Waschküche an der hinteren Veranda“, erklärte Finn, während er Tamsyn in die Küche folgte.

Er schloss die Hintertür auf, ging über die Veranda und griff nach dem Schlüssel, der auf dem Türrahmen lag. Er war mit diesem Haus so vertraut wie mit seinem eigenen. Lorenzo und Ellen hatten ihm hier ein Zuhause geschenkt, und obwohl er ihnen angeboten hatte, ihnen ein komfortableres Haus zu bauen, hatten sie immer behauptet, in ihrem kleinen Cottage glücklich zu sein.

Als er damit fertig war, den Boiler zu überprüfen, hörte er, dass in der Küche das Wasser kochte. Tamsyn summte vor sich hin, während sie Kaffee und Becher suchte.

„Sie trinken Ihren Kaffee doch schwarz?“, rief sie ihm zu.

Er war beeindruckt, dass sie es bemerkt und nicht vergessen hatte. Sie hatte ein Auge für Details – daran musste er denken, um keinen Fehler zu begehen. Vorhin hätte er beinahe Ellens Namen erwähnt.

„Stimmt“, antwortete er, schloss die Tür der Waschküche ab und legte den Schlüssel an seinen angestammten Platz.

„Sie scheinen sich hier gut auszukennen.“

„Wir sind schon lange Nachbarn. Außerdem habe ich die letzten paar Wochen über die Tiere versorgt.“

Sie lachte. „Gut, dass Lucy zumindest bereit war, sich von Ihnen füttern zu lassen.“

„Liebe geht durch den Magen“, gab er zurück. „Auch bei Katzen, das ist doch bekannt.“

„Keine Ahnung“, antwortete Tamsyn, während sie Zucker und Milch in ihren Kaffee gab. „Wir hatten nie Haustiere.“

„Gar keine?“

„Nein, mein Vater war dagegen. Manchmal hat zwar eine streunende Katze auf unserem Land Junge geworfen, aber er hat immer dafür gesorgt, dass sie anderswo unterkamen, bevor wir eines bei uns aufnehmen konnten.“

Finn dachte an die Hütehunde, die sein Vater gehalten hatte, selbst als er den Viehbestand reduziert und sich auf den Weinanbau konzentriert hatte. Die Tiere hatten zu seinem Leben gehört. Seine Mutter und Ellen hatten über die Jahre eine ganze Reihe von Katzen gehabt, sodass er sich gar nicht vorstellen konnte, ohne Haustiere aufzuwachsen.

Er hatte immer davon geträumt, selbst ein oder zwei Hunde zu halten, wenn das Haus fertig war, aber Briana war gegen Hunde allergisch gewesen. Seit sie vor einem Jahr gegangen war, hatte er zu viel zu tun gehabt, um sich ein Tier anzuschaffen.

„Wo sind Sie denn aufgewachsen, wenn Haustiere dort nicht willkommen waren?“, fragte er lächelnd.

„Auf unserem Weingut. Wir haben Weinberge, eine Kellerei, ein Restaurant und Ferienhäuser. Als ich klein war, gab es aber nur die Reben und die Kellerei. Dad und seine Geschwister haben sich damals abgerackert, um nach einem verheerenden Buschfeuer alles wiederaufzubauen.“

„Das klingt nach harter Arbeit.“

„Das war es auch, aber wir kannten es nicht anders. Mein Bruder, meine Cousins, meine Cousine und ich wussten alle, dass wir eines Tages dazugehören würden. Jeder von uns hat sich im Laufe der Jahre eine Nische im Familienunternehmen aufgebaut.“

Was sie sagte, passte nicht zu seinen Vorurteilen. Das weckte seine Neugier. „Und was ist Ihre Nische?“

Tamsyn rührte gedankenverloren ihren Kaffee um. „Das spielt im Augenblick keine Rolle“, sagte sie ausdruckslos.

Sie wollte offenbar nicht darüber reden, was Finn nur in seiner Entschlossenheit bestärkte, es herauszufinden. Aber er wusste, wann es besser war, jemanden nicht zu bedrängen. Er musste sich auf leisen Sohlen heranpirschen.

Er nippte an dem heißen Instantkaffee, den Tamsyn ihm eingegossen hatte, und verzog das Gesicht. „Irgendwann muss ich Ihnen zeigen, wie man die Espressomaschine bedient.“

„Er ist widerlich, stimmt’s?“, meinte sie lachend. „Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob es überhaupt Kaffee ist.“

„Wenn Sie mir nicht böse sind, schütte ich ihn lieber weg.“ Finn war schon auf dem Weg zur Spüle.

Sie machte im selben Augenblick einen Schritt dorthin, und er streifte mit dem Arm ihre Brüste. Es war keine Absicht, aber es störte ihn auch nicht. Ihre Brustwarzen zeichneten sich deutlich unter dem T-Shirt ab. Er war ihr nahe genug, um zu hören, wie ihr der Atem stockte.

Ihr Mund war leicht geöffnet. Es würde nur eine Sekunde dauern, sich vorzubeugen, diese Lippen zu küssen und ihr eine Reaktion zu entlocken. Die Luft zwischen ihnen war geladen wie bei einem Gewitter. Er hörte das Zirpen der Zikaden draußen im Garten und das träge Summen der Bienen über den Blumenbeeten. Und seinen eigenen schnellen Herzschlag.

Doch es war zu früh. Tamsyn war sehr zurückhaltend, beinahe schüchtern. Er musste sie ganz allmählich in Versuchung führen. Er trat einen Schritt zurück. Sein Körper vermisste sofort ihre Nähe.

„Ich fahre dann mal los“, sagte er so beherrscht, wie er konnte. „Ich würde mich ja gern für den Kaffee bedanken, aber …“

Sie lachte nervös. „Ich weiß. Danke, dass Sie nach dem heißen Wasser gesehen haben.“

„Kein Problem. Wenn Sie mögen, komme ich morgen kurz vorbei und zeige Ihnen, wie man die Espressomaschine benutzt.“

„Gern“, antwortete sie und folgte ihm zur Haustür.

Sie blieb, die Hände in den Hosentaschen, auf der Veranda stehen und sah zu, wie er schwungvoll wendete und dann die Einfahrt hinunterfuhr. Eine Vorahnung überkam ihn. Tamsyn Masters näher kennenzulernen, war eine größere Herausforderung, als er vorhergesehen hatte – und viel, viel schöner.

Tamsyn wartete, bis Finn außer Sichtweite war, bevor sie ins Cottage zurückkehrte. Ohne ihn fühlte es sich still und leer an. Sie sagte sich, dass sie sich das nur einredete, und ging durchs ganze Haus, um die Fenster zu öffnen und zu lüften. Lucy war verschwunden. Sie hatte offenbar eigene Pläne, sodass Tamsyn sich selbst überlassen war.

Sie zückte ihr Handy, goss sich ein Glas Wasser ein und machte es sich dann auf der Veranda in einem Korbsessel gemütlich, um festzustellen, ob der Name ihrer Mutter bei irgendeiner lokalisierten Suche auftauchte.

Eine Stunde später war sie völlig frustriert. Alles, was sie gefunden hatte, bezog sich auf das alte Leben ihrer Mutter in Adelaide. Die neuesten Nachrichten waren ihre über dreißig Jahre alte Hochzeitsanzeige mit einem körnigen Foto und die Geburtsanzeigen ihrer Kinder.

Tamsyn starrte das Hochzeitsfoto auf dem Handybildschirm an. Die Qualität war so schlecht, dass die Gesichter bis zur Unkenntlichkeit verschwammen. Das passte dazu, dass über Ellen Masters kaum etwas in Erfahrung zu bringen war.

Tamsyn suchte verzweifelt nach Erinnerungen an ihre Mutter, die über das vage Gefühl, wie es war, mit ihr zu kuscheln, hinausgingen. Am deutlichsten war ihr der Klang ihres Lachens im Gedächtnis geblieben, verbunden mit dem Geruch nach frischem Heu in der heißen Sommersonne.

Sie gab auf und fluchte so laut, dass sie die Vögel aufscheuchte, die auf dem Rasen gepickt hatten und nun empört kreischend in die nahen Bäume flüchteten. Dann schloss sie die Apps auf dem Handy und brachte ihr Glas ins Haus. Sie musste einfach irgendeinen Menschen direkt fragen. Vielleicht gab es ja die Möglichkeit, Einblick in ein Wählerverzeichnis zu nehmen. Das Gemeindebüro des nahen Städtchens konnte ihr sicher weiterhelfen.

Die Fahrt in die Stadt verlief ruhig; sie sah kaum ein Fahrzeug auf der Straße, bis sie innerhalb der Ortschaft war. Sie parkte in der Nähe der Boutique, in der sie eingekauft hatte, und stieg aus. Wenn sie sich recht entsann, hatte sie gestern am Ende der Hauptstraße ein Hinweisschild zum Gemeindebüro gesehen, und so ging sie in die entsprechende Richtung.

Sie lief direkt auf einen kleinen Gemeindesaal zu, der früher wahrscheinlich der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens gewesen war. Nach den vielen Leuten zu urteilen, die das Gebäude gerade mit Yogamatten unter dem Arm verließen, wurde er immer noch genutzt. Tamsyn entdeckte ein großes Anschlagbrett vor der Tür und war erstaunt, wie viele Veranstaltungen angeboten wurden.

Ein bunter Zettel stach ihr besonders ins Auge. Es war eine Stellenanzeige für eine ehrenamtliche Betreuerin, die bis Weihnachten einmal in der Woche Freizeitaktivitäten für Senioren gestalten sollte. Bewerberinnen wurden gebeten, sich im Büro zu melden.

Tamsyn musterte die Anzeige nachdenklich. Einmal die Woche, fünf Wochen lang? Darauf konnte sie sich einlassen. Wenn es so weiterging, würde es ohnehin so lange dauern, bis sie ihre Mutter gefunden hatte. Auch wenn es ihr früher gelingen sollte, wollte sie ein bisschen Zeit mit ihr verbringen, bevor sie nach Adelaide zurückkehrte.

Wenn sie überhaupt zurückkehrte.

Der Gedanke war nicht so verstörend, wie er hätte sein sollen. Stattdessen keimte bei der Vorstellung, noch einmal ganz von vorn anzufangen, freudige Erregung in ihr auf. Sie griff nach dem Zettel, nahm ihn ab und ging hinein.

Als sie die Hand hob, um an die Tür, an der „Büro“ stand, zu klopfen, flatterten ihr die Nerven. Dies war der erste Job, um den sie sich bewarb. Bisher hatte sie immer nur auf The Masters gearbeitet. Als Schülerin und Studentin hatte sie Hilfstätigkeiten verrichtet. Nach ihrem Abschluss hatte sie den Ausbau und die Verwaltung der Feriencottages übernommen und war später ins Eventmanagement eingestiegen. Eine Absage hatte sie noch nie kassiert.

Was, wenn sie abgelehnt wurde?

Sie schluckte gegen die lähmende Furcht an. Früher hatte sie nicht so an sich gezweifelt! Ihr wurde klar, wie sehr Trents Lügen sie verunsichert hatten. Jetzt war sie so durcheinander, dass sie schon Angst hatte, sich um einen ehrenamtlichen Job zu bewerben, von dem sie wusste, dass sie ihn blind erledigen konnte.

Sie zwang sich, anzuklopfen.

„Herein, wenn Sie hübsch genug sind!“, forderte jemand sie heiser auf.

Tamsyn musste lachen und öffnete die Tür. „Ich bin hier, um mich um die Stelle als Betreuerin zu bewerben“, sagte sie und wagte sich in das Chaos vor, das als Büro diente.

Überall lagen Papiere herum; dazwischen standen bunte Kaffeebecher. Am Schreibtisch saß eine Frau, die alles zwischen fünfzig und achtzig sein konnte. Ihr drahtiges Haar stand in alle Richtungen ab. Sie hatte sich eine noch nicht brennende Zigarette zwischen die Lippen gesteckt.

„Du bist aus Australien, was? Wie kommst du darauf, dass du für den Job geeignet bist?“

Tamsyn holte tief Luft. „Ich habe einen Abschluss in Kommunikationswissenschaften mit Schwerpunkt Eventmanagement. Ich habe sieben Jahre lang als Eventmanagerin gearbeitet und von Firmenfeiern bis hin zu Hochzeiten alle möglichen Veranstaltungen ausgerichtet.“

„Der Job ist ehrenamtlich.“

„Ich weiß. Geld spielt keine Rolle.“

„Hm. Du weißt aber, dass es nur für fünf Wochen ist, oder eigentlich bloß für vier, weil am Heiligabend ohnehin niemand kommt?“

„Fünf Wochen sind in Ordnung.“

„Die dusselige Frau, die sich sonst darum kümmert, hat sich letzte Woche beim Zimmerkegeln das Bein gebrochen. Ich schätze, du bist für die alten Knacker eine nette Abwechslung. Du bist eingestellt!“

Tamsyn sah sie überrascht an. „Einfach so? Wollen Sie keine Referenzen?“

„Sehe ich aus, als ob ich Referenzen brauche? Was ich brauche, ist eine Zigarette, aber man darf ja in öffentlichen Gebäuden nicht mehr rauchen.“

Insgeheim fand Tamsyn, dass das angesichts der vielen Papierstapel auch das Beste war. „Wann soll ich anfangen?“

„Das nächste Treffen findet diesen Mittwoch statt, von halb elf bis eins. Hier ist der Ordner mit den wöchentlichen Aktivitäten. Verlier ihn ja nicht!“

„Danke. Ich heiße übrigens Tamsyn Masters.“

„Gladys. Ich schmeiße den Laden hier, weil niemand sonst es kann. Wenn du Fragen hast, frag mich. Aber nicht jetzt. Die blöde Bingo-Ansagerin hat Kehlkopfentzündung, und ich muss irgendwen organisieren. Du hättest nicht zufällig Lust?“ Gladys sah Tamsyn an, die mit Nachdruck den Kopf schüttelte. „Hm, du gibst mir aber besser deine Telefonnummer, falls ich dich anrufen muss.“

Tamsyn gab ihr ihre Handynummer. „Darf ich mich hier ein bisschen umsehen?“

„Tu dir keinen Zwang an.“

Autor

Yvonne Lindsay
Die in Neuseeland geborene Schriftstellerin hat sich schon immer für das geschriebene Wort begeistert. Schon als Dreizehnjährige war sie eine echte Leseratte und blätterte zum ersten Mal fasziniert die Seiten eines Liebesromans um, den ihr eine ältere Nachbarin ausgeliehen hatte. Romantische Geschichten inspirierten Yvonne so sehr, dass sie bereits mit...
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