Julia Collection Band 154

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Declan, Finn und Nicolai wohnen zwar im romantischsten Viertel Londons. Aber ein filmreifes Happy End haben die drei Playboys aus Notting Hill nicht für sich geplant! Bis die Frauen auftauchen, die dazu bestimmt sind, in ihrem Leben die Hauptrolle zu übernehmen …

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  • Erscheinungstag 08.01.2021
  • Bandnummer 154
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502665
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sara Craven, Mary Lyons, Sophie Weston

JULIA COLLECTION BAND 154

1. KAPITEL

„Der Zug fährt in den Bahnhof Paddington ein. Nehmen Sie bitte Ihr Gepäck und alle persönlichen Gegenstände mit“, wurden die Reisenden im Zug über Lautsprecher aufgefordert.

Olivia schluckte und stand auf. Sie ging durch den schaukelnden Waggon und holte den Koffer aus dem Gepäckfach am anderen Ende. Sie war schon den ganzen Morgen schrecklich nervös gewesen, doch jetzt, so kurz vor dem Ziel, schlug ihr die Aufregung auch noch auf den Magen.

Sobald ich bei Jeremy bin, geht es mir wieder besser, versuchte sie, sich zu beruhigen. Rasch zog sie einen Zettel aus der Tasche und prägte sich die Adresse zum hundertsten Mal ein.

„Lancey Gardens liegt in Notting Hill“, hatte Beth, ihre Mitbewohnerin, erklärt, die sich in London auskannte. „Vornehme Gegend.“

„Er hat ja auch einen guten Job und kann es sich leisten, dort zu wohnen“, erwiderte Olivia stolz.

„Einen guten Job hast du auch. Weshalb gibst du einfach alles so leichtfertig auf?“ Beth blickte sie prüfend an.

„Das weißt du genau.“

„Livvy, er ist verheiratet, du liebe Zeit.“

„Seine Frau wohnt in Bristol, er in London. Was ist das denn für eine Ehe? Glaub mir, Beth, da ist nichts zu retten. Schon seit über einem Jahr spielt sich zwischen den beiden nichts mehr ab. Seine Frau interessiert sich nur für ihre Karriere. Hast du denn nicht in der Zeitung gelesen, dass die renommierte Anwaltskanzlei, in der sie angestellt war, sie zur Partnerin ernannt hat?“

„Das beweist nur, dass sie gut ist. Es ist kein Vorrecht der Männer mehr, beruflich erfolgreich zu sein“, antwortete Beth ungerührt. „Deshalb brauchst du noch lange nicht hinter ihrem Mann herzulaufen.“

„Jeremy und ich wollen zusammen sein. Es ist Zeit, dass wir endlich etwas dafür tun.“

„Meint er das auch?“ Beth runzelte die Stirn. „Livvy, du hast ihm doch hoffentlich gesagt, dass du kommst, oder?“

„Na ja, nicht direkt“, gab Olivia widerstrebend zu. „Aber wir waren uns immer einig, dass wir in London zusammenleben. Der Zeitpunkt ist jetzt günstig.“

„Hättet ihr nicht erst einmal alles in Ruhe besprechen müssen?“

Olivia zuckte die Schultern. „Wir haben telefoniert und uns geschrieben.“

„Du hast ihm geschrieben, und er hat ab und zu angerufen“, stellte Beth die Sache richtig.

Olivia kniff die Lippen zusammen. „Du magst Jeremy nicht, stimmt’s?“

„Er ist mir egal. Aber es gefällt mir nicht, was er mit dir macht. Er spielt mit dir. Jedenfalls erwarte ich von einer Freundschaft oder einer Beziehung mehr als nur vage Versprechungen“, antwortete Beth gereizt.

„Wenn du Sex meinst …“ Olivia errötete.

„Ja, genau das meine ich.“

„Natürlich wollen wir Sex haben, aber er lebte ja hier in Bristol noch mit Maria zusammen. Nachdem sie sich getrennt haben, wird unsere Beziehung natürlich viel enger.“

„Klingt richtig leidenschaftlich.“ Beth verzog das Gesicht.

„Wir wollen keine flüchtiges Affäre, sondern uns zusammen etwas aufbauen und eine Familie gründen. Jetzt mache ich den ersten Schritt und fahre zu ihm nach London.“

„Dann hoffe ich für dich, dass alles so wird, wie du es dir vorstellst.“ Beth hatte sie flüchtig umarmt. „Dein Zimmer vermiete ich noch nicht weiter – einfach vorsichtshalber.“

Daran erinnerte Olivia sich jetzt, als sie ausstieg und mit dem Koffer dem Ausgang zustrebte. Mühsam bahnte sie sich den Weg durch die vielen Menschen, von denen die meisten an diesem Samstag wahrscheinlich zum Einkaufen in die Stadt kamen. Am Taxistand stellte sie sich ans Ende der Schlange.

Sie kannte Jeremy seit der Kindheit, sie waren im selben Dorf in Somerset aufgewachsen. Schon immer hatte Olivia für den sechs Jahre älteren, gut aussehenden Jungen mit dem blonden Haar geschwärmt. Wenn er in den Ferien nach Hause kam, freute sie sich über jede noch so kleine Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte.

Im zweiten Jahr seines Studiums verkauften seine Eltern das Haus und zogen ans Meer. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen. Erst vor einem Jahr hatten sie sich zufällig in einer Weinbar in Bristol getroffen.

Jeremy saß inmitten einer Gruppe von jungen Leuten am anderen Ende des Raums. Die Bar war überfüllt, das Licht gedämpft. Dennoch erkannte Olivia ihn sogleich an seinem hinreißenden Lächeln und seiner Stimme.

Als er aufstand, um sich noch einen Drink zu holen, sprach sie ihn an.

„Hallo, Jeremy. Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht an mich …“

Er drehte sich um und zog die Augenbrauen hoch. Plötzlich erhellte ein Lächeln sein Gesicht. „Livvy Butler! Ich glaube es nicht! Das ist ja wunderbar. Wie lange haben wir uns nicht gesehen?“

Viel zu lange, dachte sie und freute sich über die herzliche Begrüßung.

„Du siehst fantastisch aus.“ Mit seinen blauen Augen musterte er sie prüfend von oben bis unten. Die helleren Strähnen in ihrem braunen Haar waren nach dem zweiwöchigen Griechenlandurlaub noch heller geworden, und ihre Füße mit den pinkfarben lackierten Zehennägeln steckten in eleganten, hochhackigen Sandaletten. „Hast du noch Zeit?“

„Ich wollte gerade gehen …“

„Nein, bitte nicht. Setz dich doch an den Tisch dahinten in der Ecke. Ich hole uns etwas zu trinken. Für dich auch einen Chardonnay?“

Sie nickte. Ihr war alles recht.

„Haben deine Freunde nichts dagegen, dass du sie allein lässt?“, fragte Olivia, als er neben ihr saß.

Er zuckte die Schultern. „Mich vermisst niemand.“ Er reichte ihr das Glas, hob seins und trank ihr zu. „Auf unser Wiedersehen, Livvy! Was machst du eigentlich hier in Bristol?“

Ich habe auf dich gewartet, was mir erst jetzt bewusst geworden ist, hatte sie insgeheim geantwortet.

Die Schlange am Taxistand bewegte sich vorwärts. Warum können alle diese Leute, die in eins der großen Kaufhäuser wollen, sich nicht ein Taxi teilen, statt ihr Geld und meine kostbare Zeit zu verschwenden? überlegte Olivia ungeduldig.

Sie konnte es kaum erwarten, bei Jeremy zu sein. Sie freute sich auf sein strahlendes Lächeln, mit dem er sie begrüßen würde.

Am Anfang war es eine rein platonische Freundschaft gewesen. Sie hatten sich gelegentlich zum Essen oder auf einen Drink getroffen. Jeremy hatte ihr nicht verheimlicht, dass er verheiratet war, was sie ihm hoch anrechnete.

Er hatte immer voller Stolz über die Karriere seiner Frau gesprochen. Doch über die persönliche Beziehung schwieg er sich aus, was Olivia irgendwann auffiel.

Eines Tages rief er sie an und lud sie seltsam gereizt zum Dinner ein.

„Ich habe Geburtstag“, erklärte Jeremy ruhig, als sie sich im Restaurant trafen. „Leider ist meine Frau zu beschäftigt, um heute mit mir auszugehen. Sie muss sich auf eine Gerichtsverhandlung vorbereiten. Danke, dass du gekommen bist, Livvy.“

Danach sprach er offen über seine Ehe.

„Für Maria steht ihr Beruf an erster, zweiter und dritter Stelle“, erklärte er verbittert. „Ich weiß noch nicht einmal, ob ich an vierter Stelle komme.“

„Das siehst du sicher falsch.“ Olivia legte ihre Hand auf seine. „Ihr seid doch erst kurze Zeit verheiratet und könnt bestimmt einen Kompromiss finden …“

„Wie kann man mit jemandem reden, der so tut, als würde es kein Problem geben?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin mir gar nicht sicher, ob unsere Ehe überhaupt einmal funktioniert hat.“ Er nahm ihre Hand. „Ich hätte warten sollen, Livvy“, hatte er rau hinzugefügt. „Auf dich. Das ist mir jetzt klar. Sag mir, dass es noch nicht zu spät ist.“

„Nicht einschlafen, meine Liebe“, der Taxifahrer unterbrach sie in ihren Gedanken. „Brauchen Sie ein Taxi oder nicht?“

„Doch, ja.“ Olivia errötete und nannte ihm die Adresse, ehe sie den Koffer verstaute und sich auf den Rücksitz sinken ließ.

Sie kannte London eigentlich überhaupt nicht. Ein einziges Mal war sie hier gewesen und hatte eine Stadtrundfahrt gemacht. Deshalb war sie ziemlich entsetzt über das Verkehrschaos. Das Taxi kam nur langsam voran, und nur selten gelang es dem Fahrer, eine Lücke zu erwischen und schneller zu fahren.

Olivia hatte ihr Auto verkauft, ein weiser Entschluss, wie sie jetzt fand, denn sie würde es bestimmt nicht wagen, sich in dieses Gewühl zu stürzen. Der Lärm dröhnte ihr in den Ohren, und die Luft, die durch das halb offene Fenster neben ihr hereindrang, war schlecht und roch nach Abgasen.

Schon bald gelangten sie in eine beeindruckend vornehme Gegend. Es kann nicht mehr weit sein, dachte Olivia und hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl.

Schließlich bog das Taxi in eine Seitenstraße ein mit einer Reihe eleganter weißer Terrassenhäuser. „Nummer sechzehn haben Sie gesagt?“, vergewisserte sich der Mann.

„Ja.“ Der Mund wurde ihr ganz trocken, als der Wagen anhielt. An diesem sonnigen Septembertag wirkten die blühenden Blumen in den Kästen neben den breiten hellen Stufen, die zum Eingang führten, ganz besonders dekorativ.

Nachdem sie ausgestiegen war und bezahlt hatte, blickte sie hinter dem Taxi her, als wäre ihre letzte Verbindung zur Realität abgerissen. Dann drehte sie sich um und betrachtete das Haus. Die Vorhänge waren halb zugezogen, aber im Parterre war ein Fenster geöffnet, aus dem leise Musik drang.

Offenbar war Jeremy zu Hause. Erleichtert trug Olivia den Koffer die Stufen hinauf und läutete.

Eine halbe Ewigkeit passierte gar nichts. Doch als sie gerade noch einmal auf die Klingel drücken wollte, wurde der Schlüssel im Schloss herumgedreht.

Olivia atmete tief ein und versuchte aufgeregt, ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Dann wurde die Tür geöffnet – und Olivia stand einem Fremden gegenüber. Obwohl sie diesen Mann noch nie gesehen hatte, kam er ihr irgendwie bekannt vor.

Er war groß, und das dunkle Haar fiel ihm unordentlich in die Stirn. Die Farbe seiner Augen war nicht eindeutig zu definieren, es war eine Mischung aus Blau und Grau. Sie schimmerten silbrig und wurden von langen, dichten Wimpern umrahmt. Seine heruntergezogenen Mundwinkel schienen anzudeuten, dass er gern spottete und sich über andere lustig machte.

Sein marineblauer Morgenmantel aus Seide, der seine muskulösen Oberschenkel zur Hälfte bedeckte, war bis zur Taille weit geöffnet und zeigte seine muskulöse, behaarte Brust. Olivia wurde klar, dass er darunter nichts anhatte, und sie fühlte sich plötzlich seltsam unbehaglich.

Er musterte sie leicht verächtlich, betrachtete den kurzen Jeansrock, die weiße Bluse und den schwarzen Blazer. Herausfordernd erwiderte sie seinen herablassenden Blick.

„Ja?“, fragte er und kniff die Lippen zusammen.

Energisch hob sie das Kinn. „Ich möchte zu Jeremy Attwood. Er … erwartet mich“, erklärte sie.

Beim Anblick ihres Koffers runzelte der Fremde die Stirn. „Das glaube ich nicht“, antwortete er und wollte die Tür zuschlagen.

„Oh … warten Sie.“ Entsetzt schob Olivia ihre Hand dazwischen. „Wenn Sie Jeremy sagen würden, dass ich hier bin …“

Er schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Lassen Sie bitte meine Tür los, sonst verlieren Sie noch Ihre Finger“, forderte er sie kühl auf.

Sie ignorierte seine Bemerkung. „Aber er wohnt doch hier, oder?“ Als er kurz nickte, fügte sie hinzu: „Warum wollen Sie ihn dann nicht rufen?“

„Weil er nicht zu Hause ist“, erklärte der Mann. „Er ist übers Wochenende weggefahren, und das beweist, dass er nicht mit Ihrem Besuch gerechnet hat. Seien Sie ein braves Mädchen, und verschwinden Sie.“

„Er ist nicht hier?“, wiederholte Olivia wie betäubt. „Das glaube ich nicht.“

In seinen Augen blitzte es kühl auf. „Wollen Sie etwa das Haus durchsuchen, Miss? Wie heißen Sie eigentlich?“

„Olivia Butler. Hat Jeremy mich denn nie erwähnt?“

Schweigend schüttelte er den Kopf und kniff die Augen zusammen.

Das ist ein Rückschlag, aber damit kann ich umgehen, überlegte sie. Dann atmete sie tief ein und zauberte ein Lächeln auf die Lippen. „Ach, es ist auch nicht so wichtig. Ich hätte den Termin mit Jeremy abstimmen müssen.“

„Was genau wollen Sie hier, Miss Butler?“, fragte er sanft.

„Zuerst möchte ich reinkommen“, erwiderte sie. „Nach der langen Bahnfahrt würde ich mich gern frisch machen.“

„Natürlich. Aber wieso ausgerechnet hier? Hätten Sie das nicht am Bahnhof tun können?“

„Doch. Das ist nicht der Punkt.“

„Was denn?“ Er versperrte ihr immer noch die Tür.

„Jeremy und ich haben vor, hier in seiner Wohnung zusammenzuleben.“ Sie war es leid, um die Sache herumzureden.

Plötzlich spürte sie, wie gespannt, beinah schon bedrohlich die Atmosphäre war. Der Mann stand einfach nur da, ohne eine Miene zu verziehen. Am liebsten wäre sie zurückgewichen, beherrschte sich jedoch.

„Na, das nenne ich mutig“, erklärte nach einer längeren Pause. „Wissen Sie, dass Jeremy verheiratet ist?“

„Ich weiß sogar, dass er und seine Frau sich getrennt haben. Aber es geht Sie nichts an.“

„Da irren Sie sich.“ Wieder machte er eine Pause. „Am besten hinterlassen Sie Ihre Adresse. Dann kann Jeremy Sie nach seiner Rückkehr anrufen, wenn er will.“

„Meine Adresse?“ Olivia blickte ihn bestürzt an. „Ich warte natürlich hier auf ihn!“

„Nein, auf keinen Fall!“

„Ich verstehe nicht …“

„Ist doch ganz einfach. Sie wollen hier einziehen, und ich sage Nein.“

„Wollen Sie mich etwa wegschicken?“, fragte sie hilflos.

„Endlich haben Sie es begriffen.“ Seine Stimme klang ironisch. „Ich nehme keine mittellosen Mädchen auf, die vor meiner Haustür auftauchen und behaupten, mit meinem Untermieter bekannt zu sein.“

„Ich bin nicht mittellos und mehr als eine Bekannte“, protestierte sie hitzig.

„Das behaupten Sie.“ Er zuckte die Schultern, wobei der Morgenmantel verrutschte. „Es tut mir leid, meine Liebe. Versuchen Sie es woanders.“

„Aber ich weiß doch nicht, an wen ich mich wenden soll“, hörte Olivia sich zu ihrem eigenen Entsetzen ängstlich sagen. „Ich … kenne sonst niemanden in London.“

„Dann gebe ich Ihnen einen guten Rat.“ Seine Stimme klang plötzlich streng. „Gehen Sie dahin zurück, woher Sie gekommen sind, und tun Sie so, als hätte Ihr kleiner Ausflug gar nicht stattgefunden.“

Olivias Angst verflog. „Ihren Rat brauche ich nicht“, erwiderte sie ärgerlich. „Und ich fahre auch nicht zurück, sondern werde Jeremy erzählen, wie grob Sie mich behandelt haben. Darauf können Sie sich verlassen.“

„Sie hätten nicht einfach ins Blaue hinein nach London fahren dürfen. Und jetzt verschwinden Sie.“ Er war jetzt auch ärgerlich.

„Sie verdammter Kerl“, fuhr sie ihn zornig an. „Für wen halten Sie sich eigentlich? Welches Recht haben Sie, so mit mir zu reden?“

„Zufällig bin ich der Hausbesitzer“, antwortete er kühl.

„Aber Jeremy …“

„Jeremy ist mein Gast oder Untermieter, sonst nichts, egal, was Sie glauben oder was er Ihnen gesagt hat“, fügte er verächtlich hinzu.

Am liebsten hätte Olivia aufgeschrien und ihn einen Lügner genannt. Doch irgendwie klangen seine Worte überzeugend. Sie wäre am liebsten im Erdboden versunken. Und sie wollte sich an diesem Mann rächen, ihn verletzen und demütigen. Aber das war Zukunftsmusik.

Erst musste sie eine Lösung für ihr Problem finden. Natürlich war sie nicht arm. Sie hatte genug Geld auf dem Konto und konnte jederzeit mit ihrer Kreditkarte bezahlen. Bis sie einen Job gefunden hätte, würde sie auf jeden Fall gut zurechtkommen.

Von Jeremy würde sie sich selbstverständlich nicht aushalten lassen. Es sollte eine echte Partnerschaft werden, einen Sponsor brauchte sie nicht.

Ihr war jedoch klar, dass sie mit ihren Ersparnissen vorsichtig umgehen musste und nicht in Luxushotels übernachten durfte. Aber wie sollte sie eine geeignete Unterkunft finden?

Sie schluckte und blickte den Mann betont gleichgültig an. „Wahrscheinlich sind Sie nicht damit einverstanden, dass ich meinen Koffer bei Ihnen lasse, während ich mir ein Zimmer suche.“

„Richtig. Am liebsten würde ich Sie mit Ihrem Gepäck durch die Stadt ziehen lassen, um Ihnen eine Lektion zu erteilen. Doch das kann ich nicht verantworten, denn Sie würden kaum etwas finden und am Ende noch in Schwierigkeiten geraten.“

„Ihre Platituden können Sie sich sparen“, fuhr sie ihn zornig an. „Was wollen Sie mir anbieten? Einen Schuppen hinter dem Haus?“

„O nein.“ Er zog ihren Koffer ins Haus. „Kommen Sie rein, ich kenne da jemanden.“

„Ich darf wirklich Ihr Heiligtum betreten?“ Sie folgte ihm in die riesige Eingangshalle. Links führte eine breite Treppe in die oberen Stockwerke. Auf der rechten Seite befand sich ein Raum, der wie ein Büro ausgestattet war, wie man durch die offene Tür erkennen konnte, und aus dem die Musik drang.

„Nur kurz“, antwortete er über die Schulter und ging weiter.

Schließlich blieb er vor einer anderen offenen Tür stehen. „Sie können da in dem Zimmer warten. Aber machen Sie es sich nicht zu bequem. Ich will nur rasch telefonieren.“

„Vielleicht ziehen Sie sich erst einmal richtig an“, schlug sie vor und musterte ihn kühl.

„Das ist mein Samstagmorgen, und ich laufe herum, wie es mir passt“, erklärte er sanft. „Vergessen Sie nicht, meine Liebe, Sie sind hier eingedrungen.“

Sie biss sich auf die Lippe und ging an ihm vorbei in das große Zimmer, dessen eine Wand nur aus Glas bestand. In der Mitte stand ein langer Esstisch mit Stühlen aus massiver Eiche. Auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene Zeitung neben einem benutzten Teller. In der Luft hing noch der Duft nach frischem Kaffee und warmen Croissants.

Ich hätte nichts dagegen, wenn er mir etwas anbieten würde, überlegte Olivia. Es war schon lange her, dass sie in Bristol am Bahnhof ein Heidelbeermuffin gegessen und einen Plastikbecher heiße Schokolade getrunken hatte.

Um sich abzulenken, stellte sie sich ans Fenster und betrachtete die Grünanlagen. Es gab weder Mauern noch Zäune, sondern nur Sträucher, Bäume und viele blühende Blumen. Dahinter erstreckte sich eine große Rasenfläche, und weiter hinten glitzerte Wasser im Sonnenschein.

Olivia atmete tief ein. Mit so einem herrlichen Park, der von Kieswegen durchzogen war, hätte sie hier mitten in der Großstadt nicht gerechnet. So ähnlich sieht es bei uns zu Hause auch aus, überlegte sie und empfand sekundenlang so heftiges Heimweh, dass ihr Tränen in die Augen traten.

„Ist etwas?“, fragte plötzlich der Besitzer des Hauses hinter ihr und wählte eine Nummer auf dem schnurlosen Telefon.

„Ich … habe mir nur den Park angesehen. Er ist wunderschön. Wem gehört er?“

„Allen, die darum herum wohnen“, antwortete er lakonisch. „Die Anlage gehört der Stadt.“ Dann sprach er ins Telefon: „Sasha, entschuldige, dass ich dich am Wochenende störe. Hast du ein Apartment frei?“ Er verzog belustigt die Lippen, als er merkte, dass Olivia sich versteifte. „Ja, eine Obdachlose. Sie ist mir von der Straße ins Haus geschneit.“

Er lachte. „Nein, kein Kätzchen. Aber sie hat Krallen.“ Lächelnd hörte er zu. „Keine Chance, meine Liebe. Sie ist nicht mein Typ. Außerdem ist sie in festen Händen, sagt sie jedenfalls. Du kannst sie bei dir unterbringen? Du bist ein Engel. Ich schicke sie zu dir.“

„Okay, jetzt haben Sie eine Unterkunft“, erklärte er, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

Olivia blickte ihn vorwurfsvoll an. „Wahrscheinlich kommen Sie gar nicht auf die Idee, dass ich mir lieber selbst etwas gesucht hätte, oder?“

„Ehrlich gesagt, nein. Was hatten Sie denn vor? Hilflos vor meiner Haustür zu kampieren, bis Jeremy wieder da ist?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, bei Sasha sind Sie gut aufgehoben“, fuhr er fort und ignorierte ihren zornigen Blick. „Ihre Mieter kommen und gehen. Meist hat sie etwas frei.“

„Sasha“, sagte Olivia nachdenklich. „Ist sie Russin?“

„Nein.“ Seine Miene wurde weich, was ihn viel attraktiver und beinah menschlich aussehen ließ. „Nur exzentrisch.“ Er warf Olivia einen strengen Blick zu. „Und sie ist eine sehr warmherzige Frau. Nutzen Sie sie ja nicht aus, das würde ich Ihnen sehr verübeln. Vergessen Sie nicht zu bezahlen.“

„Natürlich bezahle ich.“ Er kam ihr immer bekannter vor, doch ihr fiel nicht ein, an wen er sie erinnerte. „Ich bleibe sowieso nicht lange bei ihr.“

„Das kann ich mir vorstellen. Sie rechnen damit, dass Jeremy Ihnen ein kuschliges Liebesnest baut. Vielleicht tut er es sogar. Aber bestimmt nicht hier unter meinem Dach.“

„Was hat das überhaupt mit Ihnen zu tun?“, fuhr sie ihn gereizt an.

Unbeeindruckt zuckte er die Schultern. „Er ist verheiratet, wie ich schon erwähnte. Vielleicht habe ich mehr Skrupel als Sie.“

„Declan! Declan, wo bist du, Darling?“, rief plötzlich jemand.

Eine rothaarige Frau, nur in ein pfirsichfarbenes Frottiertuch gehüllt, stand an der Tür.

„Darling“, wiederholte sie und machte einen Schmollmund. „Du warst einfach weg, als ich aufwachte. Es war schrecklich.“ Sie musterte Olivia von oben bis unten. „Ach, du … hast Besuch? Wenn das deine neueste Eroberung ist, hast du deinen Geschmack geändert.“

Vor lauter Empörung über so viel Unverschämtheit errötete Olivia. Doch ehe sie sich einmischen konnte, griff Declan ein.

„Falsch, meine liebe Melinda. Miss Butler ist nur eine flüchtige Bekannte, die hoffentlich bald verschwindet. Geh nach oben, wir sehen uns später.“

Die junge Frau schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Versprochen?“

„Ja, verlass dich darauf.“

Sekundenlang spürte Olivia, wie erotisch die Atmosphäre zwischen den beiden war, und bekam zu ihrem Entsetzen eine Gänsehaut.

Auch wenn der Besitzer des Hauses ein unhöflicher Kerl war, war er ausgesprochen sexy. Die Frau, deren Rundungen von dem pfirsichfarbenen Frottiertuch nur spärlich bedeckt wurden, drehte sich um und ging gehorsam die Treppe hinauf.

Olivia kam sich plötzlich einsam und allein vor. Kein Wunder, denn sie hatte fest damit gerechnet, von Jeremy freudig begrüßt und leidenschaftlich umarmt zu werden. Stattdessen musste sie mit ansehen, wie zwei ihr fremde Menschen miteinander flirteten und turtelten.

Um das unbehagliche Schweigen zu brechen, räusperte sie sich und stellte fest: „Wenn es um Sie selbst geht, haben Sie wohl keine moralischen Bedenken.“

„Stimmt genau.“ Sein Lächeln wirkte geradezu unverschämt. „Aber ich bin nicht verheiratet. Und ich zerstöre keine Ehen“, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.

„Ich möchte gehen. Geben Sie mir bitte die Adresse dieser Sasha“, forderte Olivia ihn kühl auf.

Er schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn ihr. „Es ist nicht weit, am gegenüberliegenden Ende des Parks. Unten an der Straßenecke ist ein Taxistand, falls Sie mit dem Koffer nicht so weit laufen wollen.“

„Erwarten Sie bitte nicht, dass ich mich überschwänglich bedanke.“ Olivia nahm den Zettel entgegen und durchquerte die Eingangshalle.

„Ich glaube schon längst nicht mehr an Wunder“, antwortete er und hielt ihr die Tür auf.

„Auf Wiedersehen“, verabschiedete sie sich betont freundlich und griff nach ihrem Koffer.

„Nein, nur das nicht! Ich werde Jeremy sagen, wo er Sie finden kann, obwohl ich es nur ungern tue.“ Dann schlug er die Tür hinter ihr zu.

„Zum Teufel mit ihm“, flüsterte sie vor sich hin, während sie mit dem Koffer die Stufen hinunterging. Jeremy würde bald zurückkommen, und ihr gemeinsames Leben könnte beginnen.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, machte sie sich auf den Weg. Sie gestand sich jedoch ein, dass sie zu gern gewusst hätte, ob der Mann am Fenster stand und sie beobachtete.

2. KAPITEL

Declan stand nachdenklich am Fenster seines Arbeitszimmers und blickte hinter Olivia her. Er bereute seinen spontanen Entschluss, ihr bei Sasha eine Unterkunft beschafft zu haben.

Ich hätte sie zum Bahnhof Paddington fahren und sie in den nächsten Zug Richtung Westen setzen sollen, überlegte er gereizt.

Er betrachtete ihre schlanke Gestalt. Irgendwie wirkte die junge Frau mutig und seltsam verletzlich. Declan fluchte insgeheim. Ihm war klar, wenn er ordentlich angezogen gewesen wäre, hätte er ihr angeboten, den Koffer zu tragen und sie zu begleiten.

Dabei brauchte er sich zu nichts verpflichtet zu fühlen. Wahrscheinlich hatte er sogar alles noch schlimmer gemacht, indem er sich eingemischt hatte.

Mit Jeremy Attwood würde er ein Wörtchen zu reden haben. Danach muss er selbst sehen, wie er das Problem löst, sagte Declan sich und drehte sich um. Dann eilte er die Treppe hinauf in seine Suite im ersten Stock. Im Ankleideraum griff er sich die Jeans und ein Baumwollhemd und wollte ins Badezimmer gehen. Um die Situation besser meistern zu können, musste er ordentlich angezogen sein.

Auf dem Gang bemerkte er plötzlich, dass seine Schlafzimmertür angelehnt war, obwohl er sie geschlossen hatte. Und dann stolperte er auch noch über das pfirsichfarbene Frottiertuch. Während er leise vor sich hin fluchte, stieß er die Tür auf.

„Hallo, Liebling.“ Melinda lag in verführerischer Pose auf seinem Bett. Ihr Lächeln wirkte wie eine einzige Aufforderung. „Du hast lange gebraucht!“

Declan lehnte sich an den Türrahmen. „Was soll das, Melinda?“

„Ich habe auf dich gewartet, Liebling. Was sonst? Du hast mich doch dazu aufgefordert.“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe nur gesagt, wir sehen uns später. Das ist etwas ganz anderes.“

„Sei nicht so pedantisch.“ Sie bewegte sich verführerisch hin und her. „Weckt das keine angenehmen Erinnerungen?“

„Sicher.“ Declan blickte ihr unverwandt in die Augen. „Aber ich habe nicht vergessen, dass du mit Bill Fenner verlobt bist.“

„Bill ist in Warwickshire bei seiner Familie“, erwiderte sie leicht ungeduldig. „Deshalb ist er gestern Abend nicht mit mir auf die Party gegangen. Manchmal ist er richtig langweilig.“

„Willst du dich etwa dafür rächen, dass er dich langweilt?“ Declan seufzte. „Nein, Melinda, so funktioniert es nicht. Steh auf und zieh dich an, ich rufe dir ein Taxi.“

„Vielleicht möchte Bill gern wissen, warum ich die Nacht in deinem Bett verbracht habe. Er könnte denken, du hättest die Situation ausgenutzt.“

„Nicht in meinem Bett, sondern im Gästezimmer“, korrigierte Declan sie ruhig. „Ich musste dich mitnehmen, weil du betrunken warst und dich auf der Party blamiert hast. Ich wollte dich nach Hause fahren lassen, aber der Taxifahrer hat sich geweigert, dich noch weiter mitzunehmen. Er befürchtete, du würdest dich übergeben. Und genau deshalb habe ich dich ausgezogen und nackt ins Bett befördert.“ Er musterte sie gleichgültig. „Bill wäre entsetzt, wenn er erfahren würde, wie du dich benommen hast.“

„Du liebe Zeit, wie tugendhaft du plötzlich bist!“ Melinda lächelte nicht mehr. „Hat diese Miss Sittsam von vorhin vielleicht etwas damit zu tun?“

„Nein.“ Declan wirkte müde. „Zwischen dir und mir läuft nichts mehr, das weißt du. Und so soll es auch bleiben.“

Melinda sprang auf und bewegte sich verführerisch auf ihn zu. „Ich könnte dich dazu bringen, deine Meinung zu ändern.“

Früher vielleicht, aber jetzt nicht mehr, überlegte er. Vor längerer Zeit hätte er sich auf alles Mögliche mit ihr eingelassen, doch er begehrte sie nicht mehr. Er schämte sich, dass er sie in den beiden letzten gemeinsamen Woche nur noch benutzt hatte.

„Wahrscheinlich könntest du sogar eine Statue zum Leben erwecken, Melinda“, sagte er sanft. „Du bist eine schöne Frau, aber du gehörst nicht zu mir. Nur darauf kommt es an.“

„Ich bestelle mir das Taxi selbst“, erklärte sie verächtlich und ging an ihm vorbei.

Als Declan später unter der Dusche stand, gestand er sich ein, dass er in letzter Zeit sehr zurückgezogen gelebt hatte.

Er hätte es mit der vielen Arbeit begründen können, denn er schrieb die politischen Kommentare für den Sunday Clarion und erhielt immer mehr Aufträge von Fernsehsendern. Er schrieb gerade das Manuskript für eine neue Serie, und man hatte ihn gebeten, eine Serie über alle Premierminister des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts vorzubereiten.

Seine wenige Freizeit verbrachte er in Irland auf dem Gestüt seiner Eltern. Er war lieber mit den Pferden zusammen, als sich die Zeit auf Partys zu vertreiben.

Am Abend zuvor hatte er eine Ausnahme machen müssen. Er hatte sogar eine junge Frau kennen gelernt, die sich sehr für ihn interessierte. Als jedoch Melinda angefangen hatte, ausfallend zu werden, hatte man ihn gebeten, sie diskret wegzuschaffen.

Claudia, die junge Frau mit dem blonden Haar und der guten Figur, war Innenarchitektin und sehr attraktiv. Sie hatte ihm sogar ihre Visitenkarte gegeben. „Falls Sie einmal Ihr Haus neu einrichten möchten“, hatte sie lächelnd gesagt.

Ja, ich rufe sie an, nahm er sich vor, während er sich abtrocknete. Er würde sich für den überstürzten Aufbruch entschuldigen und sie zum Dinner einladen. Ihr Name gefällt mir sowieso viel besser als Olivia, schoss es ihm durch den Kopf.

Plötzlich runzelte er irritiert die Stirn. Er hatte doch nicht mehr an diese Olivia denken wollen. Aber immer wieder sah er sie vor sich, wie verloren sie gewirkt hatte, als sie mit dem Koffer die Straße entlanggegangen war.

Noch ein Grund mehr, warum ich Claudia anrufen sollte, sagte er sich ironisch. Jeremy sollte sich selbst um seine Hinterlassenschaften kümmern.

Sasha war eine schlanke, beinah schon magere und zierliche Frau. Sie trug einen Morgenmantel, der mit exotischen Blüten bestickt war. Das volle magentarote Haar hatte sie zu Spirallocken frisiert, und sie hatte auffallend schöne dunkelblaue Augen. In der einen Hand hielt sie einen Stumpen, mit der anderen versuchte sie, einen kleinen braunen Terrier zu bändigen, der wild bellte.

„So, Sie sind also Declans kleiner Findling“, stellte Sasha mit ihrer tiefen, rauen Stimme fest und musterte Olivia von oben bis unten. „Das Apartment ist hier unten, Liebes.“ Sie ging voraus ins Souterrain. „Es hat ein Zimmer, Küche und Bad.“

Sie öffnete die Tür zu dem Wohnzimmer und forderte Olivia mit einer Handbewegung auf einzutreten. „Das Sofa ist eine Schlafcouch. Ich kann Ihnen Bettwäsche zur Verfügung stellen, bis Sie Ihre eigene haben. Gefällt Ihnen die Wohnung?“

„Sie ist wunderbar“, gab Olivia zu. „Aber ich habe nicht vor, lange zu bleiben.“

„Das kommt mir bekannt vor.“ Sasha zuckte die Schultern. „Es ist mir egal, dass die Leute bei mir nur Zwischenstation machen. Wie ist es mit der Miete, meine Liebe? Können Sie fünfundsiebzig Pfund pro Woche bezahlen? Sie arbeiten momentan nicht, oder?“

„Noch nicht“, antwortete Olivia ruhig. „Aber Montag fange ich an, mir einen Job zu suchen.“

„Was denn für einen? Als Schauspielerin oder Model?“

„Du liebe Zeit, nein.“ Olivia lachte leise auf. „In Bristol habe ich Schulungskurse in moderner Bürokommunikation und Computertechnologie geleitet. Hier werde ich wahrscheinlich erst einmal bei einer Zeitarbeitsagentur als Sekretärin arbeiten.“

„Oh.“ Sasha blickte sie überrascht an. „Sie wollen richtig arbeiten. Normalerweise helfen meine Mieter und Mieterinnen in Supermärkten oder Restaurants aus, während sie darauf warten, entdeckt zu werden. Wenn Sie ausgepackt haben, kommen Sie doch einfach rauf und trinken einen Kaffee mit mir. Dann können wir uns besser kennen lernen, und ich erkläre Ihnen die Hausordnung und wo Sie einkaufen können. Ich bin in der Küche.“

„Danke.“ Olivia zauberte ein Lächeln auf die Lippen. „Sie sind sehr freundlich.“

„Ach wissen Sie, meine Liebe, für Declan tue ich alles.“

Als Olivia sich in dem relativ großen Zimmer, das gemütlich eingerichtet war, umsah, hatte sie das Gefühl, Glück gehabt zu haben. Auch die Miete war nicht zu hoch.

Nachdem sie alles ausgepackt hatte, ging Olivia zu Sasha in die Küche, wo sie von dem kleinen Hund wieder angebellt wurde.

„Sei still, Humph“, fuhr Sasha ihn an. Dann schenkte sie Kaffee ein und stellte die Becher, Milch und Zucker auf den Tisch. „Setzen Sie sich, meine Liebe. Aber nicht in den Sessel mit dem bestickten Kissen, das ist Humphs Stammplatz. Nehmen Sie sich ein Stück Kuchen. Wie lange kennen Sie meinen Freund Declan schon?“

„Na ja, noch nicht lange.“ Warum sage ich nicht einfach die Wahrheit? schoss es Olivia durch den Kopf. Sie räusperte sich. „Ehrlich gesagt, ich habe ihn vor einer Stunde zum ersten Mal gesehen. Ich wollte … jemand anders besuchen.“ Sie nahm sich ein Stück Kuchen.

„Was für ein glücklicher Zufall!“ Sasha nickte, offenbar war sie nicht überrascht.

„So würde ich es nicht nennen“, erwiderte Olivia angespannt. „Und er bestimmt auch nicht.“

„Nein, sicher nicht. Es gibt zu viele Frauen, die sich für ihn interessieren. Und seit er im Fernsehen auftritt, kann er sich vor Angeboten nicht mehr retten.“

„Im Fernsehen?“ Olivia blickte die Frau verständnislos an. Plötzlich begriff sie. „Du liebe Zeit, jetzt fällt es mir ein! Er ist Declan Malone und interviewt die Politiker. Ich wusste doch, dass ich ihn schon irgendwo gesehen hatte.“

Sasha lachte in sich hinein. „Ich glaube, ich mag Sie.“ Sie runzelte die Stirn. „Manchmal ist er unausstehlich, weil seine Arbeit es erfordert. Er hat jedoch ein weiches Herz, sonst wären Sie jetzt nicht hier. Sogar einen Verwandten hat er bei sich aufgenommen.“

„Einen Verwandten?“ Olivia verschluckte sich beinah an dem Kuchen.

„Den Mann seiner Cousine Maria. Declan und Maria sind zusammen aufgewachsen, wie Geschwister. Deshalb tut er alles für sie.“

„Ich verstehe.“ Olivia wurde der Mund ganz trocken. Du liebe Zeit, er ist Marias Cousin, und ich tauche bei ihm auf und beanspruche seinen Schwager für mich, überlegte sie. Warum hatte Jeremy sie nicht gewarnt?

Weil er gar nicht wusste, dass ich kommen würde, beantwortete sie sich die Frage selbst. Es war ihre eigene Entscheidung, und sie musste die Konsequenzen tragen.

„Geht es Ihnen nicht gut, meine Liebe? Sie sind auf einmal so blass, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.“

Olivia lächelte angespannt. „Ich befürchte, ich habe mir zu viel zugemutet.“

„Ah ja.“ Sasha malte etwas auf einen Zettel. „Hier sind wir, meine Liebe, und da ist das Einkaufszentrum. Heute ist Wochenmarkt, da finden Sie alles, was Sie brauchen. Halten Sie Ihre Tasche gut fest. Und versuchen Sie, nicht wie eine Touristin zu wirken.“

Wie eine Touristin fühlte sie sich auch nicht, sondern eher wie ein Marsmensch, als sie sich eine Stunde später den Weg durchs Gedränge in der Portobello Street bahnte. Shasha hatte sie nach Strich und Faden ausgefragt, und sie hatte ihr alles erzählt. Nur die Frage, warum sie nach London und ausgerechnet in diesen Stadtteil gekommen war, hatte Olivia ausweichend beantwortet. Sasha würde es bestimmt missbilligen, dass sie hinter Jeremy hergekommen war.

Nachdem Olivia an mehreren Antiquitätenläden vorbeigegangen war, überquerte sie die Straße und fand sich plötzlich in einer ganz anderen Wirklichkeit wieder. Straßenmusikanten machten ohrenbetäubenden Lärm, und die Verkäufer an den Marktständen priesen ihre Ware lautstark an.

Olivia hielt ihre Umhängetasche gut fest. Menschenmengen gab es auch in Bristol. Doch was sich hier abspielte, übertraf alles, was sie bisher erlebt hatte. Der Markt war riesig groß. An zahllosen Ständen wurde alles angeboten, was man sich vorstellen konnte. Olivia wäre gern stundenlang umhergelaufen, um sich alles anzusehen. Doch sie musste einkaufen und sich mit dem Nötigsten versorgen.

Auf dem Rückweg blieb sie vor einer Reihe hübscher Häuser stehen und betrachtete sie bewundernd. Vor einem stand ein Schild mit der Aufschrift „Zu verkaufen“. Als ein junges Paar glücklich lächelnd Hand in Hand aus dem Haus gegenüber kam, wünschte sie sich, Jeremy wäre bei ihr. Sie stellte sich vor, wie sie ihm morgens frische Croissants holte, während er im Bett die Zeitung las. Später würden sie zusammen durch die Geschäfte bummeln und hübsche Kleinigkeiten fürs Haus kaufen.

Hör auf damit, mahnte sie sich plötzlich. Momentan konnte sie noch nicht einmal sicher sein, Jeremy überhaupt wieder zu sehen. Declan Malone würde ihm bestimmt heftige Vorwürfe machen. Der Mann hatte sie beleidigt und gedemütigt, woran sie in gewisser Weise sogar selbst schuld war. Denn statt sich vorsichtig nach Jeremy zu erkundigen, war sie mit der Tür ins Haus gefallen.

Wenn Jeremy ehrlich gewesen wäre und erwähnt hätte, dass er bei seinem Schwager wohnte, wäre das alles nicht passiert. Er hatte jedoch den Eindruck erweckt, ein eigenes Apartment zu haben. Daraus hatte Olivia geschlossen, dass sie endlich zusammenleben könnten.

Vielleicht habe ich nur gehört, was ich hören wollte, gestand sie sich ein und seufzte.

Nichts war so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ich kann nach Bristol zurückfahren und versuchen, wieder in meinem alten Job zu arbeiten, sagte sie sich. Vielleicht hatte man noch keine Nachfolgerin gefunden.

Nein, so etwas darf ich gar nicht denken, überlegte sie entsetzt. Ein Wechsel war sowieso fällig gewesen. Sie musste ihr Leben selbst in die Hand nehmen und durfte sich nicht auf Jeremy verlassen. Immerhin hatte sie einen guten Beruf, war qualifiziert und konnte sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie war nach London gekommen, um partnerschaftlich mit Jeremy zusammenzuleben, und nicht, um von ihm abhängig zu sein.

Entschlossen hob sie das Kinn und ging die letzten hundert Meter bis zu ihrer Unterkunft in der Lancey Terrace. Was auch immer geschah, sie würde überleben.

Nachdem Olivia ihre Einkäufe verstaut hatte, setzte sie sich an den Tisch und blickte sich in dem Apartment um. Es sah schon viel wohnlicher aus. Sie hatte ihren eigenen Radiorecorder aufgestellt, und es gab auch einen TV-Anschluss. Im Einkaufszentrum am Notting Hill Gate könnte sie einen Fernseher mieten, hatte Sasha erwähnt.

Ja, das mache heute Nachmittag, statt herumzusitzen und zu grübeln, nahm sie sich vor. Entschlossen holte sie den Stadtplan von London hervor und suchte den kürzesten Weg zum Notting Hill Gate.

Es stimmt, was Sasha gesagt hat, hier gibt es wirklich alles, dachte Olivia, als sie am Nachmittag im bunten, lärmenden Gewühl an den vielen Geschäften entlangschlenderte. Sie nahm sich Zeit, die Auslagen der Boutiquen zu betrachten und die Speisekarten der Bistros zu studieren. Dabei bemühte sie sich, so selbstbewusst und zielstrebig auszusehen wie die Menschen um sie her.

Ich will dazugehören, sagte sie sich plötzlich und ging in eine Weinhandlung, um sich einen Chardonnay zum Dinner zu kaufen. Für die Wiedersehensfeier mit Jeremy nahm sie auch noch eine Flasche Bollinger mit.

Dann erstand sie in einem TV-Geschäft ein tragbares Fernsehgerät, das sie sogleich mitnahm. Es war sogar billiger, als ein Gerät zu mieten. Schließlich fuhr sie mit dem Taxi nach Hause.

In dem kleinen Apartment fühlte sie sich wohl. Doch der Gedanke, den ersten Abend in London ganz allein zu verbringen, gefiel ihr nicht. Sie hatte immer jemanden um sich gehabt, erst die Familie, später Freundinnen und Mitbewohnerinnen, mit denen sie sich unterhalten konnte.

Sie musste aus der Situation das Beste machen und würde sich nicht in der Wohnung verstecken. Stattdessen würde sie ausgehen, sich vielleicht einen Film ansehen und danach irgendwo essen. Ja, sie wollte ihren ersten Abend in London ganz allein feiern.

Rasch zog sie sich um, schlüpfte in die enge schwarze Hose, ein cremefarbenes Shirt und zog den schwarzen Leinenblazer über. Dann machte sie sich auf den Weg. Aus dem großen Angebot an Filmen suchte sie sich einen Thriller aus, um sich von ihren Problemen abzulenken.

Danach verließ sie entspannt das Kino. Jetzt musste sie nur noch in einem der vielen Restaurants einen Platz finden, was vielleicht nicht ganz einfach war an einem Samstagabend.

Statt in eins der vielen Bistros zu gehen, die sie am Nachmittag entdeckt hatte, schlenderte sie die Kensington Park Road entlang. Vor einem Restaurant, das bis auf den letzten Platz besetzt war und teuer und elegant wirkte, blieb sie nachdenklich stehen.

Plötzlich sah sie Declan Malone an einem der Tische. Er war natürlich nicht allein, aber er wurde nicht von der Rothaarigen begleitet, die noch am Morgen in seinem Haus gewesen war, sondern von einer attraktiven Blondine.

Wusste die arme Frau, was für ein Frauenheld er war? Offenbar nicht, denn sie verschlang Declan mit Blicken, während er sie liebevoll anlächelte.

Als drei junge Frauen an Olivia vorbei ins Restaurant stürmten und mit lautem Hallo und Küsschen hier, Küsschen da begrüßt wurden, schreckte sie auf. Was dachte sie sich dabei, hier herumzuhängen und sich die Nase an der Scheibe platt zu drücken? Sollte er etwa auf sie aufmerksam werden? Rasch zog sie sich zurück und eilte davon.

Der Appetit war ihr vergangen. Am schlimmsten war jedoch, dass sie sich noch nie in ihrem Leben so einsam und verlassen gefühlt hatte.

Claudia Lang spürte, dass Declan zerstreut war, und legte ihm die Hand mit den knallrot lackierten Fingernägeln auf den Arm.

„Was hast du?“

Überrascht wandte er sich vom Fenster ab. „Nichts … es tut mir leid. Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne.“

Misstrauisch blickte Claudia hinaus in die Dunkelheit. „Dann hast du Röntgenaugen“, erwiderte sie betont gleichgültig. „Willst du rausgehen und dich vergewissern?“

„Natürlich nicht.“ Er lächelte reumütig. „Wahrscheinlich habe ich mich getäuscht. Es ist sowieso nicht wichtig. Überhaupt nicht“, bekräftigte er.

Und dann überlegte er, warum er es so sehr betont hatte.

3. KAPITEL

Obwohl die Bettcouch recht bequem war, konnte Olivia nicht einschlafen. Sie hatte das Gefühl, in der stickigen Luft nicht atmen zu können. Kein Luftzug bewegte die Vorhänge vor dem halb geöffneten Fenster.

Um drei Uhr schlief sie immer noch nicht. Wahrscheinlich lag es daran, dass alles noch fremd für sie war, das Bett, die Wohnung und die Stadt mit dem lebhaften Verkehr, der nicht abzunehmen schien. Und sie vermisste natürlich Jeremy.

Sie stand auf und machte sich in der Küche eine heiße Schokolade. Während sie in die Dunkelheit hinausblickte, dachte sie darüber nach, wie der Schaden, den sie angerichtet hatte, zu begrenzen wäre. Doch ihr fiel dazu nichts ein. Es war ihr inzwischen klar, dass Declan Malone sehr an Maria hing und offenbar nicht ahnte, dass ihre Ehe sowieso nicht mehr funktionierte.

Wenn Declan jetzt Jeremy hinauswirft, handelt er vielleicht und sucht uns eine Wohnung, überlegte Olivia. Sie hoffte, Jeremy würde einsehen, dass sie ihm nicht hatte schaden wollen.

Als sie sich wieder hinlegte, hatte sie Glück und schlief endlich ein. Sie träumte von Jeremy, sah ihn durch eine riesige Glasscheibe hindurch, an die sie mit den Fäusten klopfte, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Dann verschwand er plötzlich in einem Dunstschleier. Sie suchte ihn im Nebel und rief seinen Namen. Plötzlich packte sie jemand an den Handgelenken. Als sie aufsah, begegnete sie Declan Malones kühlem Blick und wurde wach.

„O nein!“ Olivia richtete sich auf. Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen, und sie war sekundenlang orientierungslos. Dann bemerkte sie die Sonnenstrahlen, die durch den Spalt zwischen den grünen Vorhängen ins Zimmer fielen. Es war nur ein Traum, dachte sie erleichtert.

Obwohl es in ihrem Kopf hämmerte und dröhnte, stand sie auf und schaltete die Kaffeemaschine an.

Nachdem sie geduscht, sich angezogen und gefrühstückt hatte, räumte sie die Wohnung auf. Danach überlegte sie, wie sie den Tag verbringen sollte. Viel konnte sie nicht unternehmen, denn sie wollte unbedingt zu Hause sein, falls Jeremy auftauchte. Aber die Sonntagszeitung würde sie sich holen.

Sie hatte damit gerechnet, an einem Sonntag nur wenigen Menschen am Notting Hill Gate zu begegnen. Es herrschte jedoch im Gegenteil viel Betrieb, aber die Atmosphäre war entspannter als am Tag zuvor.

In einem Straßencafé fand Olivia einen freien Tisch und bestellte sich einen Cappuccino. Normalerweise machte es ihr Spaß, einfach dazusitzen und die Menschen zu beobachten. Aber die vielen Paare, die Hand in Hand im Sonnenschein spazieren gingen und sich liebevoll anlächelten, verstärkten das Gefühl von Einsamkeit und Leere.

Ohne den Kaffee auszutrinken, stand sie auf und schlenderte zurück. Bald bummeln Jeremy und ich auch Hand in Hand durch die Straßen, dann geht es mir besser, versuchte sie, sich zu trösten.

Es gelang ihr jedoch nicht, sich Jeremy an ihrer Seite vorzustellen. Stattdessen sah sie immer wieder Declan Malone vor sich, wie er am Abend zuvor mit seiner Begleiterin im Restaurant gesessen hatte.

Sekundenlang war Olivia entsetzt. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und sie hätte schreien können. Doch dann ballte sie die Hände zu Fäusten und nahm sich zusammen.

Zum Lunch aß sie ein Omelette. Danach stellte sie das Radio an und streckte sich auf dem Sofa aus mit einem Kreuzworträtsel in der Hand. Plötzlich klopfte jemand an die Tür.

„Olivia, darf ich reinkommen?“, rief Sasha und war auch schon mit Humph auf dem Arm im Zimmer. „Sehr hübsch“, sagte sie und blickte sich um. Dann setzte sie sich an den Tisch. Jetzt war Humph nicht mehr zu halten. Er lief seinem Frauchen weg und legte sich zufrieden neben Olivia aufs Sofa.

„Aha, er hat Sie akzeptiert. Ich wollte Ihnen nur den Schlüssel bringen. Als meine Mieterin dürfen Sie den Park benutzen.“ Sasha legte den großen Schlüssel auf den Tisch.

„Das … ist ja wunderbar.“ Olivia freute sich.

„Und das hier ist die Hausordnung.“ Sasha legte ein Blatt Papier neben den Schlüssel. „Lesen Sie sie einfach durch, wenn Sie mal Zeit haben. Ich lasse Sie wieder allein. Vor meiner Bridgepartie muss ich unbedingt noch mit Humph Gassi gehen und bin sowieso schon zu spät.“

„Kann ich nicht nachher mit ihm spazieren gehen? Er liegt so friedlich hier. Weshalb wollen Sie ihn stören?“

„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das zumuten kann“, antwortete Sasha.

„Es würde mir Spaß machen.“ Olivia zögerte kurz. „Ich habe ja sonst nichts zu tun“, gab sie zu.

Sasha blickte sie sekundenlang nachdenklich an. Dann nickte sie. „Gut, meine Liebe. Hier sind die Leine und mein Wohnungsschlüssel. Werfen Sie ihn einfach in den Briefkasten.“

„Ist es Ihnen überhaupt recht? Sie kennen mich ja kaum.“ Olivia nahm den Schlüssel entgegen und hob die Augenbrauen.

„Nennen Sie es Instinkt. Humph vertraut Ihnen jedenfalls. Viel Spaß.“ Dann rauschte Sie davon.

Als Humph endlich bereit war, Gassi zu gehen, hatte Olivia das Kreuzworträtsel gelöst. Er eilte vor ihr her die Treppe hinauf auf die Straße und auf ein schmiedeeisernes Tor zu.

Sie schloss es auf und folgte dem Hund in den Park, wo sie sogleich eine herrliche Ruhe umgab. Sogar der nicht enden wollende Verkehrslärm war nur noch wie aus weiter Ferne zu hören.

Viele der Anwohner nutzten den herrlichen Tag für ein Picknick im Freien, wie Olivia feststellte, während sie über die kiesbedeckten Wege wanderte. Andere spazierten einfach nur umher. Niemand schien sie zu beachten, obwohl einige den Hund erkannten und ihr zaghaft zulächelten.

Auf einmal zog Humph sie über einen schmalen Pfad durchs Gebüsch. Olivia ließ ihn gewähren. Er kannte sich hier wahrscheinlich besser aus als sie.

Sie kam sich vor wie in einem Labyrinth und hoffte, nachher den Rückweg zu finden. Plötzlich entdeckte sie den Teich mitten auf dem Rasen.

Humph zog sie jedoch in die andere Richtung, weiter durchs Gebüsch auf eine Lichtung mit einer Sonnenuhr und einer Holzbank. Sehr geschützt und sehr friedlich, dachte Olivia beeindruckt und las die Inschrift Liebe lässt die Zeit vergehen, mit der Zeit vergeht die Liebe. Was für ein zynischer Standpunkt! sagte sie sich.

Weil der Hund sich friedlich hinlegte, machte sie ihn von der Leine los. „Lauf mir ja nicht weg“, forderte sie ihn auf. Im selben Moment bemerkte sie die Katze im Gebüsch und wollte Humph am Halsband festhalten. Aber er war schneller und sprang laut bellend hinter der Katze her.

Olivia rannte hinter den beiden her und sah Humph gerade noch eine Treppe hinaufjagen und durch eine offene Terrassentür verschwinden.

„O nein“, stöhnte sie auf und eilte weiter.

„Miss Butler“, ertönte plötzlich eine Stimme vor ihr. Olivia blickte hoch und sah Declan Malone. Er stand mit Humph auf dem Arm an der Terrassentür. „Wenn Sie Jeremy suchen, er ist noch nicht da.“

„Nein, so ist es doch gar nicht“, wehrte sie sich steif. Zu gern hätte sie gewusst, ob seine Begleiterin vom Abend zuvor noch bei ihm war. Aber das ging sie nichts an, wie sie sich sogleich zurechtwies.

Sie ging die letzten Stufen hinauf und nahm ihm den kleinen Hund ab. „Ich wollte Sie nicht belästigen. Humph hat eine Katze gejagt, und ich bin ihm durchs Gebüsch gefolgt.“

„Das sieht man.“ Er zog ihr kleine Zweige und Blätter aus dem Haar. Olivia war verblüfft über die kleine Geste, die seltsam intim war, und erbebte.

„Im Park darf man Hunde nicht ohne Leine laufen lassen. Hat Sasha Ihnen das nicht gesagt?“

Olivia biss sich auf die Lippe. Ihr fiel die Hausordnung ein, die sie noch nicht durchgelesen hatte. „Doch … ich glaube es wenigstens.“

„Aber Sie halten sich nicht gern an Vorschriften und Regeln, stimmt’s, Miss Butler?“, fragte er betont freundlich.

„Natürlich werde ich sie in Zukunft beachten“, erklärte sie kühl.

„Tun Sie das“, erwiderte er irgendwie grimmig.

„Ich möchte noch etwas klarstellen. Sie haben behauptet, ich würde Jeremys Ehe zerstören. Das ist falsch. Seine Ehe war längst zerstört, als wir uns nach vielen Jahren zufällig wieder über den Weg liefen.“

„Kennen Sie ihn schon länger?“

„Ja, seit meiner Kindheit. Sasha hat mir erzählt, dass Sie und Ihre Cousine sich sehr nahe stehen. Dann wissen Sie sicher, was mit Marias Ehe los ist.“

„Ich mache mir keine Illusionen“, antwortete er kurz angebunden. „Aber ich würde nie versuchen, die beiden auseinander zu bringen.“

„Ich auch nicht.“ Olivia hob das Kinn. „So etwas passiert von selbst.“

„Stimmt.“ Er blickte sie gelassen an. „Wollen Sie sonst noch etwas sagen?“

„Nein. Ich hätte Ihnen überhaupt nichts zu erklären brauchen, aber ich war es mir selbst schuldig.“ Sie zögerte kurz. „Fällt Ihnen zu dem Thema sonst nichts mehr ein?“

„Jedenfalls nichts, was Sie gern hören möchten. Ich kann Sie nur noch einmal auffordern, zurückzufahren nach …“ Er zog fragend die Augenbrauen hoch. „Woher kommen Sie noch?“

„Aus Bristol. Und damit Sie es wissen, ich bleibe hier.“ Sie befestigte die Leine am Halsband des Hundes. „Ich bringe ihn jetzt nach Hause. Es tut mir leid, dass er hinter der Katze hergelaufen ist. Ist sie okay?“

„Es ist ein Kater. Er heißt Maximilian und gehört den Fosters. Wenn er Humph erwischt, dann geht es ihm schlecht. Passen Sie auf, Miss Butler.“

„Auf Humph?“ Ihre Stimme klang betont freundlich.

„Auf ihn und sich und alles andere. Aber das tun Sie ja doch nicht.“

Olivia ging die Treppe hinunter und spürte förmlich seinen durchdringenden Blick im Rücken. Unten angekommen, drehte sie sich um.

„Würden Sie Jeremy bitten, mich anzurufen, sobald er zurück ist? Die Nummer von meinem Handy hat er.“

Declan verzog die Lippen. „Ich verkneife mir am besten die Antwort, die ich gern geben möchte. Ja, ich sage ihm, er soll sich mit Ihnen in Verbindung setzen – wenn es Ihnen so wichtig ist.“

„Ja, ist es.“

Er warf ihr noch einen kühlen Blick zu, ehe er ins Haus ging und die Terrassentür hinter sich zumachte.

Wenigstens habe ich das letzte Worte gehabt, dachte sie, als sie mit Humph durch den Park nach Hause wanderte. Sie würde sorgsam darauf achten, Declan Malone nie wieder über den Weg zu laufen. In so einer großen Stadt wie London war das sicher nicht schwierig.

Es war ein Fehler, die junge Frau zu Sasha zu schicken, überlegte Declan gereizt und setzte sich wieder an den Computer. Weshalb hatte er es überhaupt getan? Statt sie wegzuschicken, hatte er sie ganz in seiner Nähe untergebracht.

Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Was er über William Pitt, den Jüngeren, geschrieben hatte, klang steif und uninteressant. Vielleicht konnte er nicht mehr klar denken, weil ihn diese verdammte Olivia viel zu sehr ablenkte.

Unsinn, mahnte er sich sogleich. Diese Frau war für ihn kein Problem, höchstens ein Ärgernis. Er würde Jeremy nach seiner Rückkehr auffordern, sie wegzuschicken oder selbst auszuziehen. Und damit wäre die Sache erledigt.

Declan speicherte den Text ab und dachte über den vergangenen Abend mit Claudia nach. Sie war eine lebhafte, intelligente und sehr attraktive Frau. Er war sich sicher, dass sie bereit gewesen war, mit ihm zu schlafen. Aber er hatte sich vorgenommen, nichts zu überstürzen. Er wollte zwei Tage warten und sie dann zu einer Ibsen-Aufführung einladen, die gute Kritiken bekommen hatte.

Da Claudia erzählt hatte, sie würde gern kochen, konnte er damit rechnen, dass sie ihn zum Dinner zu sich nach Hause einlud. Und dann würde man sehen, wohin das alles führte.

Plötzlich runzelte er die Stirn. Das klang schrecklich sachlich und irgendwie berechnend. Ach was soll’s, auf romantische Gefühle kann ich verzichten, sagte er sich dann.

So wie Jeremy und Maria und viele andere um ihn her wollte er natürlich auch nicht leben, sondern wünschte sich eine harmonische Ehe. Und schon wieder musste er an diese Olivia denken, wie er ärgerlich feststellte.

Kurz entschlossen griff er nach dem Telefon und wählte. „Maria?“ Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. „Wie geht’s dir? Was gibt es Neues?“

Gegen Abend lief Olivia angespannt im Zimmer hin und her und wartete ungeduldig.

Als endlich das Handy läutete, meldete sie sich erleichtert: „Jeremy?“

„Nein, ich bin’s, Beth. Ich wollte mich nur mal erkundigen, wie du zurechtkommst.“ Beth machte eine Pause. „Dein Freund ist nicht da, oder?“

„Nein, im Moment nicht.“ Olivia gelang es, sowohl leicht belustigt als auch wehmütig zu klingen. „Ausgerechnet heute muss er arbeiten. Er wird bald hier sein“, fügte sie hastig hinzu.

„Dann will ich dich nicht aufhalten. Ich wollte mich nur vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Stimmt die Adresse, die du mir genannt hast?“

„Nein“, gestand Olivia widerstrebend ein. „Sie lautet 21B Lancey Terrace. Ich habe mir eine Unterkunft gesucht, weil Jeremy nicht zu Hause war. Es ist ein wunderschönes gemütliches Apartment und gar nicht so teuer.“

„Das freut mich. Lass mal von dir hören.“

„Mache ich. Danke für deinen Anruf.“ Olivia legte das Handy neben sich aufs Sofa. Plötzlich hatte sie so schreckliches Heimweh, dass sie am liebsten geweint hätte.

Ihren Eltern gegenüber hatte sie so getan, als wäre mit ihrem Umzug nach London ein beruflicher Aufstieg verbunden. Sie hatte ihnen verheimlicht, dass sie mit Jeremy zusammen sein wollte. Sie wusste, sie würden es nicht billigen, weil er noch verheiratet war.

Sie wünschte sich, sie könnte sich Beth anvertrauen. Zu gern hätte sie mit ihr darüber geredet, dass nichts so war, wie sie es sich vorgestellt hatte, und dass sie sich einsamer fühlte als jemals zuvor in ihrem Leben.

Schließlich stellte sie den Fernseher an und versuchte, sich für die Detektivserie zu interessieren, die sie normalerweise ganz gern sah. Doch ihre Gedanken kreisten nur um Jeremy. Gegen Mitternacht gestand sie sich endlich ein, dass sie nicht mehr auf seinen Anruf zu warten brauchte. Sie legte sich ins Bett und weinte sich in den Schlaf.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich wie gerädert, keine günstige Voraussetzung für die Jobsuche. Sie machte sich besonders sorgfältig zurecht und zog ihr anthrazitgraues Nadelstreifenkostüm an, dazu ein weißes Seidenshirt und elegante schwarze Schuhe.

Erst einmal wollte sie sich bei Zeitarbeitsagenturen bewerben, um möglichst rasch Geld zu verdienen. Außerdem wollte sie ihre Bewerbungsunterlagen bei zwei oder drei Personalvermittlungsbüros abgeben, um längerfristig eine gute Stelle als Computerfachfrau zu finden.

Bei der ersten Firma erlebte sie eine herbe Enttäuschung. Man habe genug Personal, erklärte man ihr. Und bei der zweiten bot man ihr eine Stelle an, die so schlecht bezahlt wurde, dass ihr Gehalt noch nicht einmal für die Miete gereicht hätte.

Während sie die Treppe zur dritten Agentur hinaufging, läutet plötzlich ihr Handy.

„Livvy?“, ertönte Jeremys Stimme. „Liebling, was, um alles in der Welt, hast du dir dabei gedacht?“

„Freust du dich denn gar nicht?“, fragte Olivia schmerzlich berührt.

„Doch“, antwortete er rasch. „Aber ich war sehr verblüfft. Das hatten wir nicht vereinbart.“

„Vielleicht hatte ich das Gefühl, es sei Zeit, zu handeln. Geredet hatten wir genug. Wann sehen wir uns?“

„Na ja … heute Abend vermutlich.“ Er zögerte kurz. „Wir können uns nach der Arbeit auf einen Drink treffen.“

„Wie bitte?“ Sie war entsetzt. „Jeremy, wir müssen uns unterhalten und Pläne machen.“

„Natürlich, das werden wir auch“, antwortete er, eine Spur zu lebhaft. „Dazu habe ich momentan aber keine Zeit. Pass mal auf, wir treffen uns um halb sechs in Dirty Dick’s Bar an der Liverpool Street Station. Bis dann, Kleines.“

Olivia steckte das Handy wieder in die Umhängetasche. Mit so einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Wenigstens regte Jeremy sich nicht über ihren Auftritt bei Declan auf.

Entschlossen ging sie weiter. Offenbar hatte sie nach Jeremys Anruf mehr Glück. Die Frau, die sie zum Interview in ihr Büro bat, war freundlich und stellte ihr einen Job in Aussicht.

„Vielleicht setzen wir Sie in einem anderen Stadtteil ein“, erklärte sie. „Wir haben Kunden in der ganzen Stadt. Haben Sie einen Führerschein?“

„Ja, aber kein Auto. Es macht mir nichts aus, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren“, erwiderte Olivia.

Die Frau reichte ihr den Bewerbungsbogen. „Füllen Sie ihn bitte aus. Dann brauche ich noch Ihre Telefonnummer, unter der Sie tagsüber zu erreichen sind. Spätestens bis zum Wochenende habe ich etwas für Sie.“ Sie reichte Olivia noch ein Blatt. „Das sind unsere Arbeitsbedingungen. Wenn Sie damit einverstanden sind, unterschreiben Sie bitte unten rechts.“ Dann lächelte sie und fügte hinzu: „Ich bin Sandra Wilton. Willkommen bei der Service Group.“

Olivia belohnte sich mit einem bescheidenen Lunch. Anschließend versuchte sie, hinter das Geheimnis des komplizierten Londoner Untergrundbahnsystems zu kommen. Am späten Nachmittag fühlte sie sich endlich sicher genug, ins Zentrum zu fahren.

Mühelos fand sie Dirty Dick’s Bar. Sekundenlang blieb sie an der Tür stehen, um sich an die gedämpfte Beleuchtung zu gewöhnen. Der große Raum war ziemlich voll, und sie entdeckte Jeremy weit hinten am anderen Ende. Er winkte ihr zu.

Olivia bekam Herzklopfen und wünschte sich, er würde ihr entgegenkommen, während sie sich den Weg durch die vielen Menschen bahnte.

„Mein Liebling.“ Er breitete die Arme aus und drückte Olivia an sich. „Schön, dass du da bist! Ich habe dich schrecklich vermisst.“

„Ich dich auch.“ Sie fühlte sich seltsam scheu. „Deshalb bin ich hier.“

„Mein Liebes.“ Er betrachtete sie zärtlich. „Ich wünschte, wir könnten jetzt allein sein. Ich habe dir Weißwein bestellt. Hoffentlich ist es dir recht.“ Er reichte ihr das Glas und hob dann seins. „Auf uns.“

„Ja, auf uns“, wiederholte sie und sah ihm in die Augen.

„So“, sagte er schließlich. „Wo übernachtest du? Und wie lange bleibst du in London?“

„Wie bitte?“ Olivia war fassungslos.

„Ja, Liebes, wie viele Wochen bleibst du hier?“

Plötzlich schmeckte der Wein ganz bitter. „Jeremy, ich fahre nicht mehr zurück. Ich dachte, das sei dir klar. Ich habe ein Apartment gefunden und suche einen Job. Hat Declan Malone es dir nicht erzählt?“

„Nein, er hat nur gesagt, du hättest nach mir gefragt“, antwortete Jeremy langsam. „Livvy, damit wir uns richtig verstehen. Hast du in Bristol alles aufgegeben, ohne es mit mir zu besprechen?“

„Ich dachte, du würdest dich freuen“, erwiderte sie. „Das haben wir uns doch immer gewünscht.“

„Ja, ja“, antwortete er ungeduldig. „Aber doch nicht ausgerechnet jetzt. Es könnte … Probleme geben.“

„Mit Declan?“ Olivia versteifte sich.

„Mit ihm auch.“ Er verzog das Gesicht. „Glücklicherweise hast du nichts verraten.“

„Wie meinst du das?“ Sie fühlte sich unbehaglich.

„Na ja, du hast doch so getan, als wären wir nur alte Bekannte. Er glaubt, du seist zufällig in London und wolltest mich nur besuchen.“

Aber das stimmt doch alles gar nicht, dachte sie bestürzt. Was wurde hier gespielt?

„Wäre es denn so schlimm, wenn er die Wahrheit erfahren würde?“

„Es könnte verheerende Folgen haben. Hör zu, Liebling. Ich will eine saubere Trennung und eine einvernehmliche Scheidung. Wenn Maria etwas herausfindet … oder Declan ihr etwas erzählt …“ Er runzelte die Stirn. „Sie ist eine gewiefte Rechtsanwältin. Sie könnte die ganze Sache endlos hinausziehen und mir alle möglichen Steine in den Weg legen. Solange ich noch bei Declan wohne, muss ich vorsichtig sein. Verstehst du das?“

„Ja.“ Olivia stellte das Glas auf die Theke. Spätestens jetzt müsste ich zugeben, dass Declan Bescheid weiß, aber das kann ich nicht, ich will ihn nicht verlieren, überlegte sie unglücklich.

„Wäre es nicht besser, du würdest dir eine eigene Wohnung suchen?“, fragte sie.

„Ich bin ja schon dabei. Aber es ist nicht so leicht, etwas Passendes zu finden, noch dazu in der richtigen Gegend.“ Er machte eine Pause. „Wo wohnst du eigentlich?“

„Ganz in deiner Nähe, bei Sasha.“

„Wie bist du denn zu der alten Hexe gekommen?“

Sie biss sich auf die Lippe. „Über Declan. Ich habe erwähnt, ich würde vorübergehend ein Zimmer brauchen.“

„Na ja, dann können wir uns wohl kaum treffen. Wenn ich dich besuche, erzählt Sasha es Declan.“ Seine Stimme klang gereizt. „Hättest du es mit mir besprochen, hätte ich dir ein Apartment weit genug weg in einem anderen Stadtteil besorgt.“

„In der richtigen Gegend?“, fragte Olivia spöttisch.

Jeremy errötete leicht. „Als Notbehelf hätte es gereicht.“

„Mir gefällt der Notbehelf, den ich jetzt habe.“ Olivia zögerte kurz. „Es tut mir leid, dass es für dich ein Problem ist. Ich habe wirklich geglaubt, du würdest dich freuen.“

„Das tue ich doch, mein Liebling“, erklärte er reumütig. „Es ist jedoch ziemlich frustrierend, dass wir nie zusammen sein können, obwohl du jetzt hier bist.“

„So habe ich es mir auch nicht vorgestellt“, gab Olivia zu. „Du könntest dich ja etwas ernsthafter um eine Wohnung kümmern.“

„Ja, könnte ich.“ Er seufzte. Dann hob ihre Hand an die Lippen und drückte einen Kuss darauf. „Es tut mir leid, Kleines. Das Wiedersehen hast du dir sicher anders vorgestellt. Aber ich bin immer noch ziemlich überrascht.“

Und ich bin erschüttert, weil ich plötzlich gegen meinen Willen Declan Malones Verbündete bin, gestand Olivia sich ein und fühlte sich sehr unbehaglich.

4. KAPITEL

Beth hat recht gehabt, ich hätte mit ihm über meine Pläne reden müssen, dann wäre ich jetzt noch in Bristol, überlegte Olivia enttäuscht, als Jeremy sich noch ein Glas Wein und ihr einen Orangensaft holte.

Aber sie war hier und würde auch hier bleiben.

„Ich wünschte, ich könnte dir helfen, einen Job zu finden“, begann Jeremy unvermittelt und stellte die Gläser hin. „Aber wir haben genug Personal. Das verstehst du doch, oder?“

„Damit habe ich kein Problem.“ Olivia lächelte zuversichtlicher, als sie sich fühlte. „Ich komme allein zurecht und brauche keinen Sponsor.“

„Du hast viel aufs Spiel gesetzt.“ Er trank einen Schluck. „In Bristol hattest du eine gute Stelle, und du hast viel verdient. Ich kann es kaum glauben, dass du das alles einfach aufgegeben hast.“

Olivia zog die Augenbrauen hoch. „So siehst du das also. Für mich ist wichtiger, mit dem Mann zusammen zu sein, den ich liebe.“

„Ja, du hast natürlich recht.“ Er errötete leicht. „Denk bitte nicht, ich fühlte mich nicht geschmeichelt.“

„Da bin ich aber erleichtert.“ Sie legte ihm die Hand aufs Knie und fügte sanft hinzu: „Jeremy, ich bin nicht gekommen, um Unruhe zu stiften, darauf kannst du dich verlassen. Für mich war die Zeit reif, mich beruflich und auch privat zu verändern. London hat immer noch eine ungeheure Anziehungskraft. Ich bin vor allem auch meinetwegen hier, um mir zu beweisen, dass ich in der Großstadt zurechtkomme.“

„Es ist nicht leicht. Hoffentlich bist du nicht eines Tages enttäuscht.“

Sie warf ihm einen besorgten Blick zu. „Bei dir ist doch alles in Ordnung, oder?“

„Ja, es könnte nicht besser sein.“ Er sah auf die Uhr. „Ich muss weiter, ich bin zu einem Geschäftsessen verabredet.“

„Ach ja?“ Sie bemühte sich nicht mehr, ihren Ärger zu verbergen. „Ich hatte gehofft, wir würden den Abend gemeinsam verbringen.“

„Heute nicht, Liebes.“ Er streichelte ihr flüchtig die Wange. „Du musst verstehen, dass ich anderweitige Verpflichtungen habe. Wenn ich es vorher gewusst hätte, hätte ich vielleicht meine Termine anders planen können.“ Er lächelte sie an. „Wir haben ja noch alles vor uns und können uns viel Zeit nehmen.“

„Wann sehen wir uns wieder?“

„Ich rufe dich an.“ Er zog sie an sich und küsste sie auf die Lippen. „Du liebe Zeit, wie gern würde ich den Termin absagen! Doch es geht leider nicht.“

Traurig sah sie hinter ihm her, als er durch die Menge hindurch nach draußen eilte.

Auf dem Weg nach Hause fühlte Olivia sich seltsam leer. Sie war grenzenlos enttäuscht. Während sie in der Londoner Rushhour, eingeklemmt zwischen zwei Fremden, in der U-Bahn stand und sich an einem Griff festhielt, überlegte sie unglücklich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Vielleicht wäre es am besten, sie würde heimlich, still und leise nach Bristol zurückfahren und Jeremy vergessen. Das wollten ihr sowieso alle einreden, sogar Declan Malone.

Dieser Mann war ihr Gegner, auch wenn er es nicht offen zeigte. Niemals würde sie ihm die Genugtuung verschaffen, einfach aufzugeben und zu verschwinden. Sie konnte sich sein kühles, zufriedenes Lächeln gut vorstellen. Nein, diesen Gefallen würde sie ihm nicht tun.

Zugegeben, sie hatte einen Rückschlag erlitten. Doch davon würde sie sich nicht entmutigen lassen. Stattdessen wollte sie sich den neuen Herausforderungen stellen und die Schwierigkeiten bewältigen. Und Jeremy würde sie beweisen, dass sie für ihn keine Belastung war, sondern eine gleichwertige Partnerin, die für sich selbst sorgen konnte.

Entschlossen bahnte sie sich den Weg zwischen den vielen Fahrgästen hindurch zum Ausgang.

Nach dem Abendessen nahm Olivia sich vor, nicht zu grübeln. Deshalb stellte sie ihren Laptop an und schrieb ihren Lebenslauf, den sie bei verschiedenen Personalvermittlungsbüros abgeben würde. Es konnte nicht schaden, sich eine Zeit lang intensiver auf die Karriere zu konzentrieren statt auf das Privatleben. Vielleicht musste Jeremy sich erst einmal von dem Schock erholen, dass sie so plötzlich aufgetaucht war. Er würde auf jeden Fall mehr Achtung und Respekt vor ihr haben, wenn sie bewies, dass sie unabhängig war.

Das wird sicher auch Declan Malone beeindrucken, schoss es ihr durch den Kopf. Plötzlich hielt sie mitten im Tippen inne und fragte sich, weshalb sie jetzt ausgerechnet an ihn dachte.

Dieser Mann konnte ihr doch völlig egal sein. Seltsam war jedoch, dass Declan Malone sie in gewisser Weise geschont hatte.

Sie lehnte sich zurück und runzelte die Stirn. Er hätte ihr wirklich schaden und Jeremy verraten können, was sie alles gesagt hatte. Es war ihr ein Rätsel, warum er es nicht getan hatte.

Aus Menschenfreundlichkeit hat er bestimmt nicht geschwiegen, überlegte Olivia. Sie erinnerte sich, wie rücksichtslos er in seinen Sendungen manchmal mit den Leuten umging.

Wahrscheinlich war sie ihm viel zu unbedeutend, um sich überhaupt ihretwegen Gedanken zu machen. Aber darauf wollte sie sich lieber nicht verlassen, denn sie erinnerte sich an den harten Zug um seinen Mund und an den kühlen Blick.

Dann fiel ihr ein, wie liebevoll und charmant er die Frau angelächelt hatte, mit der er im Restaurant gesessen hatte. Olivia schloss die Augen und versuchte vergebens, das Bild zu verdrängen. Stattdessen malte sie sich aus, wie es sein würde, von ihm geküsst zu werden, und wie sein Körper sich an ihrem anfühlte.

Sie erbebte und verspürte ein heftiges Verlangen. Während sie die Hände hinter dem Kopf verschränkte, dehnte sich das weiche Material ihres Shirts über ihren Brüsten und schien die empfindlichen Spitzen zu streicheln. Sie stellte sich vor, wie Declan sie zärtlich mit den Händen berührte und mit der Zunge und den Lippen liebkoste.

Plötzlich richtete sie sich auf. Du liebe Zeit, was ist mit mir los? fragte sie sich entsetzt. Vor wenigen Stunden hatte sie noch mit Jeremy, dem Mann, den sie liebte und mit dem sie ihr Leben verbringen wollte, zusammengesessen. Und jetzt gab sie sich erotischen Träumen von einem Mann hin, den sie gar nicht mochte.

Natürlich konnte sie nicht leugnen, dass Declan Malone sehr attraktiv war und Charisma besaß. Dennoch kam sie sich vor wie ein alberner Teenager und verstand sich selbst nicht mehr. Dass sie überhaupt daran dachte, von Declan Malone geliebt zu werden, war so etwas wie ein emotionaler Treubruch Jeremy gegenüber.

Wenn der Abend wie geplant verlaufen wäre, würde sie jetzt in Jeremys Armen liegen. Aber es war eben alles ganz anders gekommen. Sie brauchte sich nichts vorzumachen, das Wiedersehen war ein glatter Reinfall und eine einzige Enttäuschung gewesen.

Andererseits war ihr klar, dass sie von Jeremy nicht verlangen konnte, seine Termine abzusagen, nur um mit ihr zusammen zu sein. Das hätte sie auch gar nicht zugelassen. Es störte sie jedoch, dass er offenbar nicht beabsichtigte, in irgendeiner Weise auf sie Rücksicht zu nehmen. Stattdessen hatte er sie mit vagen Versprechungen abgespeist.

Olivia atmete tief ein. Du liebe Zeit, sie musste ihm eine Chance geben. Schließlich war sie völlig überraschend hier aufgetaucht und für die Folgen selbst verantwortlich.

Vermutlich war der arme Jeremy genauso frustriert wie sie.

Das ist es, ich bin sexuell frustriert, und weil ich den Mann nicht haben kann, nach dem ich mich sehne, habe ich meine Gefühle einfach auf einen anderen übertragen, dachte sie und freute sich über die einleuchtende Erklärung.

Natürlich interessiere ich mich nicht für Declan Malone, versicherte sie sich und schrieb den Lebenslauf zu Ende. Als sie fertig war, hatte sie Kopfschmerzen.

Ich brauche frische Luft, sonst ersticke ich noch in der kleinen Wohnung, sagte sie sich plötzlich. Rasch steckte sie den Schlüssel zum Park ein und eilte hinaus.

Da es schon ziemlich spät war, wanderte sie über die kiesbedeckten Wege. In den Häusern ringsumher waren die Fenster hell erleuchtet, kaum jemand hatte die Vorhänge zugezogen.

Olivia hatte nicht vor, weit zu laufen, sondern nur so lange, bis sie die Kopfschmerzen los war. Als eine leichte Brise aufkam, atmete Olivia den Jasminduft, der in der Luft lag, tief ein. Sie fühlte sich zurückversetzt in das Dorf auf dem Land, wo sie aufgewachsen war und wo sie sich sicher gefühlt hatte.

Was soll das denn auf einmal? überlegte sie verblüfft und zog die Augenbrauen zusammen. Sie hatte alles, was sie brauchte, war zufrieden, und eines Tages würde sie auch glücklich sein. Ungeduldig beschleunigte sie die Schritte und wäre beinah über die Katze gestolpert, die vor ihr aus dem Gebüsch sprang.

„O hallo.“ Olivia hielt sich an einem Ast fest, während die Katze um ihre Beine strich und leise miaute. „Kennen wir uns nicht?“ Es war bestimmt Maximilian, der Kater, den Humph gejagt hatte.

Sie bückte sich. „Nennt dich jemand Max?“

Offenbar ja, denn das Tier schmiegte sich sogleich an sie und krümmte vor Wohlbehagen den Rücken.

„Na, du bist mir ja ein Schmusekater.“ Olivia streichelte ihn und blickte sich um. Wenn Maximilian hier herumlief, hatte sie gefährliches, um nicht zu sagen feindliches Terrain betreten.

„Stehlen Sie jetzt auch Katzen und nicht nur Ehemänner, Miss Butler?“, ertönte dann auch prompt eine spöttische Stimme.

Rasch richtete Olivia sich auf und entdeckte Declan Malone, der wie ein Schatten zwischen den Sträuchern vor ihr auf dem Weg stand.

Du liebe Zeit, auch das noch, schoss es ihr durch den Kopf. Laut sagte jedoch kühl: „Ich versuche nur, Freundschaft zu schließen, Mr. Malone.“

„Ich dachte schon, Sie schleichen sehnsüchtig um das Haus herum, in dem Jeremy wohnt. Sie haben Pech, er ist momentan nicht da“, erklärte er. „Er ist ausgegangen.“

„Ich weiß“, stieß Olivia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Ah ja. Dann haben Sie ihn wohl getroffen.“

„Natürlich.“ Sie versteifte sich, als ihr plötzlich bewusst wurde, wie gut er sie sehen konnte in dem Lichtschein, der aus einem der Fenster fiel. Er schien ihr gegenüber immer im Vorteil zu sein.

„Ich verstehe. Sie wollen sich sicher bei mir bedanken.“

„Wieso das denn?“, fuhr Olivia ihn an.

„Weil ich für mich behalten habe, was Sie mir dummerweise anvertraut haben“, antwortete er spöttisch.

„Oh.“ Sie schluckte. „Ja, warum haben Sie es Jeremy nicht erzählt?“

„Ich weiß es selbst nicht genau“, erwiderte er langsam. „Es hat nichts mit Gutmütigkeit zu tun.“

„Das hätte mich auch sehr überrascht.“ Olivias Stimme klang sarkastisch.

„Kann ich mir vorstellen. Jeremy war auch überrascht. Nein, das ist untertrieben. Er befindet sich in einem Schockzustand. Aber vielleicht ist das ein Zeichen von wahrer Liebe.“

„Ich glaube kaum, dass Sie wissen, was wahre Liebe ist.“

„Da haben Sie wahrscheinlich recht.“ Er klang sehr belustigt. „Vermutlich bin ich zu leidenschaftlichen Gefühlen nicht fähig.“

„Haben Sie überhaupt Gefühle?“, fragte sie.

„Ganz bestimmt. Ich liebe meine Familie und meine Arbeit.“

Olivia biss sich auf die Lippe. „Trotzdem haben Sie … Jeremy nichts verraten?“ Irgendwie kam sie sich vor, als wäre sie im Rampenlicht seinem gnadenlosen Blick hilflos ausgeliefert.

„Ich habe mich entschlossen, den Lauf der Dinge nicht aufzuhalten“, erklärte er rätselhaft.

Mit dieser Antwort konnte Olivia nichts anfangen, sie spürte jedoch, dass er mehr nicht sagen würde.

„Es wird spät, ich muss wieder nach Hause. Gute Nacht“, verabschiedete sie sich deshalb steif.

Autor

Mary Lyons
Mary Lyons war das Pseudonym von Mary-Jo Wormell, die 1947 geboren wurde. Sie war eine berühmte britische Autorin von 45 Liebesromanen für Mills & Boon von 1983 – 2001. Sie und zwei weitere Mills & Boon Autoren führten die Veröffentlichung der „Heartline“ – Romane am 14. Februar 2001 ein. „Heartline“...
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Sara Craven war bis zu ihrem Tod im November 2017 als Autorin für Harlequin / Mills & Boon tätig. In über 40 Jahren hat sie knapp hundert Romane verfasst. Mit mehr als 30 Millionen verkauften Büchern rund um den Globus hinterlässt sie ein fantastisches Vermächtnis. In ihren Romanen entführt sie...
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