Julia Collection Band 166

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In der Cornwall-Klinik im malerischen Penhally Bay werden nicht nur Menschenleben gerettet, sondern auch Herzen geheilt.

AM STRAND DER TRÄUME von JENNIFER TAYLOR
Heimlich träumt Alison von einem Glück mit Dr. Jack Roberts, der gerade aus London nach Penhally Bay gezogen ist! Doch selbst nach seinem ersten zärtlichen Kuss weiß sie nicht: Gilt Jacks charmantes Lächeln nur ihr – oder nimmt er es mit der Treue nicht so genau?

DIE PRINZESSIN AUS CORNWALL von KATE HARDY
Tausendmal hat Melinda sich vorgenommen, ihrem Geliebten Dr. Dragan Lovak die Wahrheit zu sagen. Und tausendmal hat sie der Mut verlassen. Denn was wird er dazu sagen, dass sie nicht das Mädchen aus Cornwall ist, für das er sie hält – sondern eine Prinzessin?

CORNWALL – IM HAFEN DER LIEBE von GILL SANDERSON
Ein rätselhaftes Virus auf dem Traumschiff! Besorgt lässt die Schiffsschwester Maddy einen Arzt anfunken, und der Notruf wird gehört: Vor der Küste Cornwalls, nahe Penhally Bay, kommt Dr. Ed Roberts an Bord. So attraktiv, dass Maddy alarmiert spürt: SOS – Herz in Gefahr …


  • Erscheinungstag 10.12.2021
  • Bandnummer 166
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502788
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jennifer Taylor, Kate Hardy, Gill Sanderson

JULIA COLLECTION BAND 166

1. KAPITEL

Und wenn es ein Riesenfehler war, wieder herzukommen?

Jack Roberts parkte seinen Wagen und schaltete den Motor ab. Nachdenklich blickte er auf die Bucht. In Penhally Bay hatte er Kindheit und Jugend verbracht, und er kannte das Fischerstädtchen an Cornwalls zerklüfteter Küste wie seine Westentasche. Aber als er zum Medizinstudium nach London gegangen war, hatte er sich geschworen, nie mehr zurückzukehren.

Trotzdem war er hier. Ausgerechnet an dem Ort, dem er hatte entfliehen wollen, würde er sich ein neues Leben aufbauen.

Vor zwei Jahren war er das letzte Mal in Penhally Bay gewesen und hatte es seitdem keine Sekunde lang vermisst. Warum auch? Nach dem Tod seiner Mutter zog ihn nichts hierher, und die Beziehung zu seinem Vater war schon immer schwierig gewesen. Was Jack auch tat, für Nick Roberts schien es nie gut genug zu sein.

Seinen Geschwistern erging es ähnlich. Auch seine Zwillingsschwester Lucy und sein Bruder Ed hatten Probleme mit den hohen Erwartungen ihres Vaters. Doch Jack war das schwarze Schaf. Er rebellierte, wenn sein Vater versuchte, Einfluss auf seine Kinder zu nehmen, und das nahm Nick ihm übel.

Penhally Bay den Rücken zu kehren war die beste Entscheidung gewesen, die er jemals getroffen hatte. Wohnen und arbeiten in London, das war einfach perfekt. Der Arztberuf machte ihm Spaß, und seine vielfältigen gesellschaftlichen Kontakte sorgten für genau die Entspannung und die Anreize, die er brauchte, um sein Leben in vollen Zügen zu genießen. Seinetwegen hätte es ewig so weitergehen können.

Leider befahl ihm das Schicksal, eine Vollbremsung zu machen.

Jack wandte den Blick von dem malerischen Panorama ab und spürte die inzwischen vertraute Panik in sich aufsteigen, als er in den Rückspiegel sah. Wenigstens schlief der Kleine jetzt. Wie befürchtet, war die lange Fahrt nach Cornwall der reinste Horror gewesen. Stundenlang hatte Freddie wie am Spieß gebrüllt und war erst kurz vor Exeter erschöpft eingeschlafen.

Die Hilflosigkeit, die er beim Anblick des schreienden Kindes empfand, war kaum zu beschreiben. Jack war aus allen Wolken gefallen, als er von Freddies Existenz hörte. Er hatte einen Sohn! Der Schock wurde zum Albtraum, als er herausfand, dass der Junge außer ihm niemanden mehr hatte. Wie zum Teufel sollte er ein Kind allein großziehen?

Ehe er an seiner Beklommenheit ersticken konnte, holte er tief Luft und stieß die Fahrertür auf. Er fischte den Schlüssel aus der Hosentasche und schloss das Cottage auf. Als Erstes musste er Freddie ins Haus bringen und ihm etwas zu essen machen. Lucy hatte versprochen, den Kühlschrank zu füllen, und eine kurze Inspektion der Küche zeigte ihm, dass seine Schwester Wort gehalten hatte. Auf dem Herd stand sogar ein Eintopf, den er nur aufzuwärmen brauchte.

Ausgezeichnet. Seine eigenen Kochkünste waren nämlich mehr als bescheiden.

Rasch holte er das Gepäck aus dem Kofferraum und stellte es in den Flur. Das Cottage hatte in den letzten Jahren als Ferienwohnung gedient, und die Ausstattung war ziemlich schlicht. Aber für den Anfang sollte ihm das genügen. Später konnte er sich immer noch ein paar Möbel dazukaufen – vorausgesetzt, er blieb.

Jack unterdrückte ein Stöhnen. Er musste endlich aufhören, an Hintertürchen zu denken. Die einzige Chance, als alleinerziehender Vater klarzukommen, bestand darin, dass er sich so viel Unterstützung wie möglich sicherte. Und das konnte er nur hier in Penhally Bay. Ihm fiel niemand ein, der besser helfen könnte als seine Schwester. Lucy würde wissen, was zu tun war, wenn Freddie nachts schreiend aufwachte. Sie würde ihn beruhigen, wenn er anfing, wie ein Wahnsinniger vor und zurück zu schaukeln, eingeschlossen in seine eigene kleine, wer weiß wie schreckliche Welt.

Der Psychiater, den er um Rat gebeten hatte, hatte ihm erklärt, dass es eine Weile dauern würde, bis der Junge das erlittene Trauma verarbeitet hätte. Jack war bereit, Freddie Zeit und all die Liebe zu geben, die er brauchte. Falls Freddie es zuließ …

Behutsam befreite er ihn aus dem Kindersitz und trug ihn ins Haus. Vielleicht war er ein bisschen zu optimistisch, aber Jack hoffte, dass sich zwischen Freddie und ihm bald eine Beziehung entwickelte. Zurzeit konnte davon keine Rede sein. Der Kleine duldete ihn, das war alles. Er lächelte oder lachte nie, und die einzigen Laute, die er von sich gab, waren Weinen oder Schreien. Als wäre in ihm ein Licht erloschen in dem Moment, in dem er miterleben musste, wie seine Mutter starb. Und Jack hatte keine Ahnung, wie man es wieder zum Strahlen bringen konnte.

Nachdem er Freddie auf das Sofa gelegt hatte, marschierte Jack in die Küche. Auf der Arbeitsplatte lag ein Zettel von Lucy. Lächelnd folgte er ihren Anweisungen, die ihm haarklein erklärten, wie er den Herd einstellen sollte. Seine Schwester wusste genau, dass er in der Küche keine große Leuchte war!

Er füllte den Wasserkocher und fand im Schrank ein Paket Kaffee. Entschlossen riss er die Packung auf. Anscheinend zu heftig. Jack verzog das Gesicht, als Kaffeekörnchen auf die Arbeitsplatte rieselten. Na toll! Noch während er sich nach einem Lappen umsah, klopfte es an der Haustür. Seine Laune besserte sich schlagartig. Das musste Lucy sein. Sie hatte versprochen, vorbeizukommen, und er konnte es kaum erwarten, sie und seine kleine Nichte zu sehen.

Schwungvoll zog er die Tür auf. „Hey, du kommst genau richtig!“

Vor ihm stand eine hübsche Blondine und lächelte ihn höflich an. Jack blieb abrupt stehen. Er hatte keinen Schimmer, wer die Frau war.

„Entschuldigung“, sagte er rasch, da ihr Lächeln inzwischen etwas gezwungen wirkte. „Ich habe Sie für jemand anders gehalten.“

„Lucy bat mich, Ihnen dies hier zu bringen.“ Sie drückte ihm einen Karton Milch in die Hand. „Sie hat noch Sprechstunde, und ich soll Ihnen ausrichten, dass sie Sie erst heute Abend besuchen kann.“

„Ach so, ja, dann … danke, dass Sie Bescheid sagen. Und vielen Dank auch hierfür.“ Er hob den Karton.

„Bitte.“ Sie wandte sich ab und eilte davon.

Verwundert blickte Jack ihr nach. Hatte er etwas Falsches gesagt? Sie hatte es ziemlich eilig gehabt, wieder zu verschwinden.

In Gedanken noch bei der seltsamen Begegnung, ging er wieder in die Küche. Freddie war wach geworden, und Jack füllte schnell den Kinderbecher des Kleinen mit Milch. Dann ging er ins Wohnzimmer und hockte sich vor das Sofa. „Hallo, Tiger, wie geht’s dir? Hast du Durst?“

Er gab ihm den Becher und registrierte seufzend, dass Freddie sich damit ängstlich in die äußerste Sofaecke zurückzog. Aber wenigstens fing er nicht wieder an zu schreien.

Jack holte Besteck aus dem Schrank, deckte den Tisch und füllte zwei Teller. Als er Freddie auf den Stuhl setzte, überkam ihn wieder diese Hilflosigkeit. Wenn er nun nicht das Zeug zum Vater hatte? Wenn er Fehler beging, wenn er für seinen Sohn alles schlimmer statt besser machte?

Flüchtig dachte er an die junge Frau, die ihm die Milch vorbeigebracht hatte. Sie schien von ihm auch nicht gerade begeistert gewesen zu sein.

Du bist ja so blöd!

Ihre Wangen brannten wie Feuer, während sie die Straße hinunterlief. Alison Myers konnte es nicht fassen, wie sie sich benommen hatte, als Jack Roberts ihr die Tür öffnete. Dabei hatte sie sich vorher alles sorgfältig zurechtgelegt. Sie wollte sich vorstellen, ihm die Milch geben und ihm von Lucy ausrichten, was diese ihr gesagt hatte. Stattdessen führte sie sich auf wie … wie ein linkischer Teenager!

Was um Himmels willen war nur in sie gefahren? Musste es ihr gleich die Sprache verschlagen, wenn sie Jack Roberts in Fleisch und Blut vor sich sah? Was war so schwierig daran, einen freundlichen Small Talk zu führen? Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen!

Noch immer ärgerlich auf sich selbst schloss sie die Haustür des kleinen Cottages auf, das sie mit ihrem dreijährigen Sohn Sam bewohnte. Es war zehn vor fünf, also blieben ihr noch ein paar Minuten, ehe sie Sam von der Babysitterin abholen musste.

Sie eilte in die Küche, setzte Wasser auf und warf einen Teebeutel in ihre Lieblingstasse. Ein Tee sollte ihre angespannten Nerven beruhigen. Im hintersten Winkel ihres Herzens befürchtete sie allerdings, dass mehr dazugehörte, um sie über ihren peinlichen Auftritt hinwegzutrösten. Was musste Jack Roberts jetzt von ihr denken?

Nachdenklich nippte sie an ihrem Tee. Wahrscheinlich machte sie aus einer Mücke einen Elefanten, aber schließlich war Jack Roberts nicht irgendein Mann. Alison wusste auch nicht, wie es passiert war, doch irgendwann hatte er angefangen, in ihrem Leben eine besondere Rolle zu spielen.

In den düsteren Tagen und Wochen nach ihrer Scheidung blätterte sie oft in Illustrierten. Am liebsten las sie die Gesellschaftsseiten. Wenn sie die Hochglanzfotos der Stars und anderer Berühmtheiten betrachtete und von all den Tragödien, den Partygeschichten und pikanten Details aus deren Leben las, lenkte sie sich erfolgreich von ihrer eigenen Misere ab. Der bekannte Schönheitschirurg Dr. Jack Roberts begegnete ihr dabei immer wieder. Bilder von ihm und seiner Freundin India Whitethorn, der eleganten Erbin des milliardenschweren Whitethorn-Holidays-Imperiums, zierten fast jede Ausgabe.

Alison hätte nicht genau sagen können, warum er sie so stark faszinierte. Abgesehen von dem Offensichtlichen, natürlich. Groß, dunkelhaarig, verboten gut aussehend und unglaublich sexy zog er die Aufmerksamkeit aller Frauen auf sich. Doch da war noch mehr, etwas, das sie zutiefst berührte. Obwohl er auf jedem Foto charmant in die Kamera lächelte, glaubte sie, in seinen Augen eine besondere Verletzlichkeit zu entdecken. Alison wurde das Gefühl nicht los, dass das glamouröse Leben ihn nicht so glücklich machte, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Das ging so weit, dass sie jedes Mal, wenn sie ihn betrachtete, glaubte, eine Verbindung zu spüren.

Ihr stieg das Blut ins Gesicht. Was für ein Unsinn! Sie und Jack trennten nun wirklich Welten. Er war bestimmt nicht nach Penhally Bay zurückgekommen, weil er das Londoner Nachtleben satthatte. Nach allem, was Lucy erzählte, war es eher eine Vernunftentscheidung gewesen. Da er sich um seinen Sohn kümmern musste, brauchte er seine Familie um sich. Ohne den kleinen Freddie hätte Jack bestimmt keinen Fuß mehr nach Cornwall gesetzt.

Der Gedanke beunruhigte sie, doch als sie zur Uhr schaute, vergaß sie ihn schnell wieder. Alison trank den letzten Schluck Tee und machte sich auf den Weg, um Sam abzuholen. Es gab nichts Besseres als einen lebhaften Dreijährigen, um sich wieder auf die wesentlichen Dinge des Lebens zu konzentrieren.

Jack hatte Freddie gerade ins Bett gebracht, als Lucy kam. Sie begrüßte ihn mit einem übermütigen Lächeln.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erlebe, an dem du dich häuslich niederlässt, Bruderherz“, neckte sie und bedachte das bunt geringelte Hemdchen auf seiner Schulter mit einem vielsagenden Blick.

„Was bleibt mir anderes übrig, Kleines?“ Jack umarmte sie herzlich.

Lucy erwiderte die Umarmung und sah ihn dann prüfend an. „Passt du auch gut auf dich auf? Ich weiß ja, wie anstrengend diese Winzlinge sein können, und die Vaterrolle stand bisher nicht gerade an erster Stelle deiner Prioritätenliste. Du musst auch auf dich achten.“

„Ja, ja, ja.“ Jack grinste. „Du hast noch nicht mal den Mantel ausgezogen und hältst schon Vorträge.“

Lucy versetzte ihm einen leichten Klaps auf den muskulösen Oberarm. „Sei froh, dass sich jemand um dich kümmert, du undankbarer Kerl!“

„Bin ich doch. Wirklich.“ Jack räusperte sich, als sie ihn aufmerksam musterte. Seine Schwester Lucy war der einzige Mensch, der ihn dazu bringen konnte, sich zu öffnen. Aber er war nicht sicher, ob er das wollte. Abgesehen davon, dass Lucy mit ihrer eigenen Familie genug um die Ohren hatte, musste er sein Leben selbst regeln.

In London hatte er eine sorglose Zeit verbracht. Eine Party jagte die nächste, dazwischen Theaterpremieren und Dinnerabende. Damit war jetzt Schluss. Er wollte Verantwortung für seinen Sohn übernehmen und vor allem eins vermeiden – dass Freddie und er so distanziert miteinander umgingen wie Jack und sein Vater.

Jack zwang sich zu einem Lächeln. „Wie kommt es, dass du allein hier aufkreuzt? Ich hatte gehofft, endlich meine kleine Nichte kennenzulernen.“

„Ich hatte vor, sie mitzubringen, aber dann musste ich in der Praxis einspringen.“ Lucy schlüpfte aus dem Mantel und warf ihn auf die Sofalehne. „Dad wurde bei einem Hausbesuch aufgehalten und Dragan zu einem Notfall gerufen. Deshalb habe ich angeboten, einen Teil der Nachmittagssprechstunde zu übernehmen.“

„Du willst wohl nicht aus der Übung kommen, wie?“ Jack hob die Weinflasche, die er vorhin geöffnet hatte. „Möchtest du ein Glas?“

„Eigentlich gern, aber ich glaube, Annabel hätte etwas dagegen. Das ist einer der Nachteile des Stillens. Sie muss alles essen, was ich zu mir nehme.“

Ihr fröhliches Lächeln brachte ihr Gesicht zum Strahlen, und Jack konnte sich einer gewissen Wehmut nicht erwehren. Es war nicht zu übersehen, dass sich seine Schwester in der Mutterrolle wohlfühlte wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser. Unwillkürlich verglich er sie mit India. Nach allem, was er gehört hatte, hatte sie sich nur dann für Freddie verantwortlich gefühlt, wenn es ihr in den Kram passte. Sobald es zu anstrengend oder zu langweilig wurde, sich um ein Kleinkind zu kümmern, standen gut bezahlte Bedienstete bereit, die ihr den Jungen abnahmen.

Jack schob die Gedanken beiseite. Wozu sich jetzt noch darüber aufregen? Obwohl er sich oft wünschte, er hätte früher von Freddies Existenz gewusst, so konnte er doch nichts mehr daran ändern. Tatsache war, dass India ihn benutzt hatte, um schwanger zu werden. Ein Platz im Leben seines Sohnes war für ihn von Anfang an nicht vorgesehen gewesen. Nur eins rechnete er ihr hoch an – sie hatte ihren Anwalt damit beauftragt, Jack im Falle ihres Todes die Wahrheit mitzuteilen.

Als hätte sie es geahnt … Schaudernd spülte er den Gedanken mit einem Schluck Wein hinunter.

„Ich weiß nicht, ob ich nicht aus der Übung kommen will.“ Lucy holte ihn in die Gegenwart zurück. „Ben ist der Meinung, dass ich mir ruhig noch Zeit lassen soll, aber mir hat die Arbeit in der Praxis Spaß gemacht.“

„Und wenn du es langsam angehen lässt und nur stundenweise arbeitest?“, schlug er vor. „Zwei Nachmittage im Monat vielleicht.“

„Das hat Alison auch gesagt. Oh, da fällt mir ein … hat sie an die Milch gedacht? Ich wollte dir heute Morgen welche in den Kühlschrank stellen, hatte es aber leider vergessen. Alison hat versprochen, sie dir auf dem Nachhauseweg zu bringen.“

„Ach, das war Alison.“

Jack schwenkte sein Rotweinglas. Der Name passt zu ihr, dachte er. Sie sah genau so aus, wie man sich eine Alison vorstellte … blondes Haar, bezaubernd weiblich. Leider schien er auf sie keinen besonders guten Eindruck gemacht zu haben.

Seltsamerweise versetzte dieser Gedanke ihm einen Stich. „Dann arbeitet sie in der Praxis?“

„Ja. Hat sie das nicht erzählt?“ Lucy reagierte erstaunt, als er den Kopf schüttelte. „Merkwürdig, sonst ist sie nicht so zugeknöpft. Sie ist unsere Praxisschwester, und die Patienten lieben sie.“

„Das ist ja schön“, entgegnete er leichthin. Insgeheim fragte er sich, was er getan haben mochte, dass sie kaum drei Sätze mit ihm gewechselt hatte. War er ihr auf den ersten Blick so unsympathisch gewesen?

„Wir können wirklich froh sein, sie zu haben. Sie hat einen Sohn, ungefähr in Freddies Alter, ist aber alleinerziehend. Wir versuchen, ihre Arbeitszeit so zu organisieren, dass sie sich auch um ihr Kind kümmern kann.“

„Wie heißt sie mit Nachnamen?“ Lucys fragenden Blick kommentierte er mit einem lässigen Schulterzucken. „Ich dachte, vielleicht kenne ich sie von irgendwoher. Wohnt sie in Penhally Bay?“

„Ja, aber sie ist in Rock aufgewachsen. Ihre Eltern leben nicht mehr.“ Lucy seufzte. „Sie heißt Myers. Sie und ihr Mann haben sich kurz nach Sams Geburt scheiden lassen. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste mein Kind allein großziehen … sie ist nicht zu beneiden.“

„Bestimmt nicht“, sagte er matt.

Lucy verzog das Gesicht. „Entschuldige, das ist mir so rausgerutscht. Aber dich und Alison kann man nicht vergleichen. Du hast immerhin deine Familie im Rücken.“

„Ich habe dich“, betonte er. „Ich glaube kaum, dass Dad mir seine Hilfe anbieten wird.“

„Lass dich überraschen. Er ist richtig vernarrt in Annabel. Allmählich entwickelt er sich zu einem Bilderbuch-Großvater.“

„Das freut mich sehr, Lucy. Ich weiß noch, wie er dir und Ben das Leben schwer gemacht hat. Schön, dass ihr euch gut versteht.“

„Aber du glaubst nicht, dass sich Dad bei Freddie genauso verhalten wird?“

„Abwarten und Tee trinken“, antwortete er schulterzuckend.

„Mach dir keine Sorgen, das klappt schon. Es ist gut, dass du nach Penhally Bay zurückgekommen bist. Wann fängst du im Krankenhaus an?“

„Montagmorgen.“ Jack lächelte bemüht. Es bestand kein Grund, kalte Füße zu kriegen. Bevor er nach Penhally Bay gezogen war, hatte er die Vor- und Nachteile sorgfältig gegeneinander aufgerechnet. Erstere überwogen eindeutig. „Ich freue mich schon darauf“, fügte er hinzu. „Meine Chefin besitzt einen ausgezeichneten Ruf, und ich hoffe, ich kann viel von ihr lernen.“

„Großartig! Dann wird wenigstens einer von uns ein Klassechirurg.“ Lucy warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stöhnte auf. „Ich muss los. Fütterungszeit. Mein Vögelchen mag die Flasche nicht, und Ben wird sich die Haare raufen, wenn ich nicht rechtzeitig zum Stillen da bin.“

„Es war nett, dich zu sehen, Schwesterchen.“ Jack half ihr in den Mantel.

„Gleichfalls.“ Sie umarmte ihn. „Bis bald, großer Bruder.“

„Gut, dass du meine Position anerkennst“, neckte er. Jack hatte zehn Minuten vor ihr das Licht der Welt erblickt, eine Tatsache, die er während ihrer Kindheit nicht oft genug betonen konnte.

Lucy lachte hell auf. „Mein großer Bruder, der bekannte Chirurg. Wer könnte dich übersehen, Jack?“

„Raus mit dir, bevor du etwas sagst, das du später bereust.“ Er scheuchte sie zur Tür.

An der Schwelle blieb sie stehen und drehte sich um. „Wahrscheinlich sehen wir uns Sonntag. Ben und ich kommen mit Annabel vorbei. Falls du mich vorher brauchst, ruf mich an. Hast du meine Nummer?“

„Selbstredend.“

„Im Notfall kannst du dich auch an Alison wenden. Sie wohnt sozusagen um die Ecke.“ Lucy deutete die Straße hinunter. „Polkerris Road 2. Klopf einfach an ihre Tür, wenn du Hilfe brauchst. Sie wird tun, was sie kann.“

„Super.“ Es müsste schon um Leben und Tod gehen, bevor er an Alisons Tür klopfte. Jack hatte keine Lust, sich noch einen Kratzer am Ego zu holen.

Lucy gab ihm einen Kuss auf die Wange und rannte zu ihrem Wagen. Gleich darauf fuhr sie davon, die Hand winkend aus dem offenen Fenster gestreckt. Jack stand auf dem Bürgersteig, hörte das Klatschen der Wellen, die gegen die Hafenmauer brandeten, und spürte die kühle Märzluft im Gesicht. Sie roch nach Salz und Meer.

Unwillkürlich blickte er zur Straßenecke, wo die Polkerris Road abzweigte. Ob Alison auch draußen stand und auf das Meer blickte, oder saß sie in einem gemütlichen Sessel am Kaminfeuer? Ihm war schleierhaft, warum es ihn interessierte, was sie gerade tat. Und doch ließen sich die Gedanken nicht so einfach vertreiben. Seltsamerweise fand er es tröstlich, Alison in der Nähe zu wissen.

2. KAPITEL

Alison war gerade auf dem Weg ins Bett, als es an der Haustür klopfte. Sie flitzte hin, damit Sam nicht aufwachte. Eine ihrer Nachbarinnen hatte ihr eine DVD versprochen, und wahrscheinlich wollte sie sie noch vorbeibringen.

Sie riss die Tür auf – und wich spontan einen Schritt zurück. Vor ihr stand Jack Roberts, in den Armen ein Deckenbündel, aus dem ein schmales Gesichtchen hervorschaute. Warum schleppte er spätabends das Kind durch die Gegend?

„Entschuldigen Sie die Störung“, begann er. „Haben Sie vielleicht ein fiebersenkendes Schmerzmittel im Haus, das ich einem Dreijährigen geben kann? Ich wollte mich noch damit eindecken, bevor wir aus London wegfuhren, aber dann kam eins zum anderen, und ich habe es einfach vergessen. Das Einzige, was ich im Haus habe, ist Aspirin.“

„Das dürfen Sie ihm auf keinen Fall geben! Für Kinder in dem Alter ist Aspirin gefährlich.“

„Ich weiß.“

Alison errötete, obwohl Jack sie dankbar anlächelte. Du meine Güte, er ist Arzt, schalt sie sich. Du musst ihn nicht mit der Nase darauf stoßen, wie fatal es sein kann, Kleinkindern die falschen Medikamente zu geben. Sie zog die Tür weiter auf. „Kommen Sie herein. Ich hole Ihnen etwas.“

„Oh, ich wollte Ihnen keine Umstände …“

„Sie können nicht draußen stehen bleiben, wenn Ihr Sohn krank ist.“ Kaum waren die Worte heraus, ärgerte sie sich über ihren befehlenden Unterton.

„Danke.“

Jacks flüchtiges Lächeln schwand endgültig, als er den Flur betrat. Höflich wartete er, dass sie voranging, und Alison entschied sich für das Wohnzimmer. Mit Jack Roberts in ihrer engen Küche zu sitzen hätte sie jetzt überfordert.

„Setzen Sie sich doch.“ Sie griff zum Feuerhaken und stocherte in den glühenden Holzresten, ehe sie ein neues Scheit in den Kamin legte. Nachdem sie den Ofenschirm wieder davorgestellt hatte, ging sie zur Tür. „Ich hole die Flasche.“

„Vielen Dank.“

Mit einem unterdrückten Seufzer ließ Jack sich aufs Sofa sinken. Alison betrachtete ihn. Er sah erschöpft aus. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Es geht so.“ Angespannt schaute er auf seinen Sohn. „Ich würde mich besser fühlen, wenn der kleine Kerl wieder auf dem Damm wäre.“

Seine Besorgnis rührte sie. Sie wusste genau, wie hilflos man sich fühlte, wenn das eigene Kind krank war. Alison schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. „Freddie wird bald wieder gesund, da bin ich sicher.“

Jack nickte nur. Nachdenklich machte sie sich auf den Weg in die Küche. Dass ihn Freddies Zustand derart mitnehmen würde, hätte sie nicht gedacht. Von dem Jack Roberts, der ihr im Smoking und mit blitzendem Lachen weltmännisch von den Titelseiten entgegenblickte, hatte sie eher erwartet, dass er so etwas auf die leichte Schulter nahm.

Alison holte den Saft aus dem Schrank, griff nach einem Messlöffel und ging wieder ins Wohnzimmer. Der kleine Junge wimmerte leise, und Jack machte ein verzweifeltes Gesicht.

„Hier ist es“, sagte sie mitfühlend. „Soll ich es ihm geben, damit Sie ihn halten können?“ Sie setzte sich neben ihn.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Jack richtete Freddie auf und beugte sich über ihn. „Alison wird dir eine leckere Medizin geben, und dann geht es dir bald besser, Tiger. Sei ein braver Junge, und schluck alles runter, ja?“

Sorgsam maß sie die Dosis ab. „Das schmeckt lecker, Freddie. Nach Erdbeeren.“ Sie lächelte ihn an, aber er drehte sich weg. „Komm, nur ein Schlückchen.“

Als sie ihm den Löffel an die Lippen hielt, warf er plötzlich den Kopf nach hinten und erwischte seinen Vater am Kinn.

„Aua!“ Jack bewegte den Unterkiefer hin und her, schüttelte sich und grinste seinen Sohn an. „Guter Schlag, Tiger. Fast k. o., und das in der ersten Runde!“

Alison stand auf, um zu verbergen, wie sehr sie seine Reaktion überrascht hatte. Kein ärgerlicher Unterton, nicht die geringste Spur von Strenge in seiner Stimme. Auf einmal hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie voreingenommen gewesen war.

„Ich hole ihm etwas zu trinken, vielleicht geht das besser. Sam ist auch kein Freund von Medizin, deshalb mische ich sie immer mit seinem Saft.“

„Jetzt machen wir Ihnen doch Umstände.“

„Kein Problem“, versicherte sie rasch. Erst in der Küche fiel ihr ein, dass sie nicht wusste, was Freddie lieber mochte – Orangen- oder Johannisbeersaft? Alison scheute sich, noch einmal nachzufragen, und entschied sich für Orangensaft. Sie kippte das Medikament hinein und wollte schon wieder los, als ihr Blick auf den Wasserkessel fiel. Sollte sie schnell noch einen Tee kochen? Eigentlich wäre es unhöflich, Jack nichts anzubieten.

Beladen mit einem Tablett, auf dem eine dampfende Kanne, Tassen, Zucker, Milch und Freddies Saft standen, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.

Jack sah auf und entdeckte die Teekanne. „Können Sie Gedanken lesen? Ich lechze förmlich nach einer Tasse Tee!“

Alison konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie das Tablett abstellte und nach dem Kinderbecher griff. „Orangensaft … ich hoffe, das ist richtig.“

„Hervorragend. Den mag er am liebsten.“ Jack reichte Freddie den Becher und beobachtete sichtlich zufrieden, wie der Junge gierig trank. „Ihr Trick scheint zu funktionieren. Das muss ich mir für die Zukunft merken.“

„Damit lässt sich eine Menge Stress vermeiden.“ Alison kniete sich an den Couchtisch und schenkte Tee ein.

„Heißt das, ich bin nicht der Einzige, der halb durchdreht, wenn sein Kind krank ist?“

„In dem Punkt sind alle Eltern gleich. Sie machen sich verrückt vor Sorge.“

„Gut zu wissen.“ Jack nahm seine Tasse. „Hm, wunderbar!“ Er trank noch einen Schluck, stellte die Tasse ab und legte Freddie prüfend die Hand auf die Stirn. „Ich glaube, er fühlt sich schon nicht mehr ganz so fiebrig an.“

„Wann hat es angefangen?“

„Als ich ihn ins Bett brachte, ging es ihm gut, oder sagen wir mal, er war wie immer.“ Seufzend rückte er den Kleinen auf seinem Schoß so zurecht, dass er bequemer lag. Freddie schlief inzwischen tief und fest. „Noch hat er sich nicht an sein neues Leben gewöhnt. Er vermisst seine Mutter, alles ist neu und fremd … vor allem ich.“

„Lucy sagte, Sie hätten erst vor Kurzem von ihm erfahren.“

„Stimmt. Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, bis Indias Anwalt mich anrief und mich bat, ich möge mich um den Jungen kümmern.“ Jack legte den Kopf auf die Rückenlehne. „Seit unserer Trennung hatte ich India nicht mehr gesehen. Sicher, ich habe gehört, dass sie ein Baby hat, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es von mir sein könnte.“

Das musste Alison erst einmal verarbeiten. „Warum hat sie es Ihnen verheimlicht?“

„Wenn ich das wüsste. Ich kann nur annehmen, dass sie zwar ein Baby wollte, aber alles andere nicht.“

„Alles andere?“

„Hochzeit, einen Ehemann, Treueschwüre.“ Jack zuckte mit den Schultern. „Viele ihrer Freundinnen bekamen damals Kinder, und ich schätze, India wollte auch eins. Zufällig konnte ich ihr diesen Wunsch erfüllen.“

„Aber da muss doch noch mehr gewesen sein!“

„Das wage ich zu bezweifeln. India nahm sich, was sie wollte. Ohne Rücksicht auf andere.“

Sie bekam eine Gänsehaut, als sie den bitteren Unterton hörte. Nahm Jack es India übel, dass sie ihre Entscheidung getroffen hatte, ohne ihn zu fragen? Oder ärgerte er sich darüber, dass er plötzlich ein Kind am Hals hatte? Nach allem, was sie über ihn gelesen hatte, passte ein Kleinkind überhaupt nicht zu dem glamourösen Lebensstil, den er in London geführt hatte. Armer Freddie, dachte sie bekümmert, niemand will dich haben.

„Freddie kann nichts dafür“, betonte sie. „Es ist nicht seine Schuld, dass seine Mutter sich so verhalten hat.“

„Natürlich nicht.“ Überrascht blickte Jack sie an. „Freddie ist das unschuldige Opfer in dieser Geschichte. Wenn ich daran denke, was er durchgemacht haben muss …“

Abrupt unterbrach er sich, und ein Schatten legte sich auf seine blauen Augen. Jack strich dem schlafenden Jungen liebevoll über die dunklen Locken, und Alison spürte, wie ein warmes, zärtliches Gefühl in ihr aufwallte. Für Jack Roberts mochte es ein Schock gewesen sein zu erfahren, dass er Vater war. Dennoch lag ihm Freddies Wohl am Herzen, und das rechnete Alison ihm hoch an. Wie sie aus eigener leidvoller Erfahrung wusste, reagierten nicht alle Männer so.

Rasch verdrängte sie die Gedanken an Sams Vater. Für Bitterkeit war in ihrem Leben kein Platz. Das hatte sie sich fest vorgenommen. „Die Mutter zu verlieren war für ihn sicher ein traumatisches Erlebnis.“

„Ja.“ Jack blickte auf. „Ich weiß nicht, wie viel Lucy Ihnen erzählt hat. Allerdings war das Ganze kein Geheimnis. Die Medien haben die Story ordentlich breitgetreten.“

„Lucy hat sich ziemlich bedeckt gehalten, aber ich habe die Berichte gelesen. India starb an einer Überdosis Drogen, oder?“

„Sie nahm schon seit Jahren Partydrogen. Und ehe Sie fragen – nein, ich habe nie mitgemacht. So dumm bin ich nicht. Und da sie die Finger davonließ, wenn wir ausgingen, war es bei uns nie ein Thema.“

Gegen ihren Willen wurde sie rot. „Ich wollte damit nicht andeuten, dass Sie auch so etwas nehmen.“

„Okay. Entschuldigung. Die meisten Leute scheinen zu glauben, dass ich für jeden Blödsinn in der Szene zu haben bin, und das regt mich auf.“

„Hier denkt das niemand.“

„Gut.“ Kurz blitzte ein Lächeln auf, dann fuhr er ernst fort: „Dem Gerichtsmediziner zufolge starb India an akutem Herzversagen nach Genuss von Kokain. Vielleicht hätte sie überlebt, wenn jemand bei ihr gewesen wäre. Aber an jenem Wochenende hatte sie ihrer Haushälterin freigegeben. Deshalb wurde sie erst Montag gefunden.“

„Wo war Freddie, als es passierte?“

„Bei ihr“, erwiderte er grimmig. „Die Polizei meinte, India sei am Samstagnachmittag gestorben, und das bedeutet, dass Freddie die ganze Zeit allein war, bis die Haushälterin kam.“ Er stockte, seine Stimme klang belegt. „Neben India lagen zerbrochene Kekse und Obststückchen. Man nimmt an, dass Freddie versucht hat, sie zu füttern.“

„Wie furchtbar!“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „Das arme Kerlchen muss entsetzliche Angst gehabt haben.“

„Seitdem hat er kein Wort mehr gesprochen. Als wäre er wie unter einer dicken Glasglocke eingeschlossen, durch die kein Laut nach außen dringt.“ Er gab ihm einen liebevollen Kuss aufs Haar. „Ich habe schon alles versucht, aber ich komme nicht an ihn heran. India mag ihre Schwächen gehabt haben, doch sie hat ihn aufrichtig geliebt. Wie soll der Junge begreifen, dass sie auf einmal nicht mehr da ist?“

„Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen … Ihnen und Freddie“, fügte sie hastig hinzu, damit er nicht auf falsche Gedanken kam. In erster Linie sorgte sie sich um den Jungen. Jack konnte sicher allein auf sich aufpassen. Oder machte sie sich etwas vor? Lag ihr an dem Mann genauso viel wie an dem Kind? Alison räusperte sich. „Hat er noch Fieber?“

„Er fühlt sich schon nicht mehr so heiß an. Trotzdem werde ich ihn morgen in der Praxis gründlich untersuchen lassen.“

„Wirklich?“ Erstaunt sah sie ihn an. „Vertrauen Sie Ihrem eigenen Urteil nicht?“

„Nein. Nicht, wenn es um Freddie geht.“ Jack lächelte charmant und trieb damit ihren Blutdruck in schwindelerregende Höhen. „Ich habe bei ihm zwar keinen Ausschlag oder Ähnliches gefunden, aber ich bin kein Kinderarzt. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich etwas Wichtiges übersehen hätte.“

Seine Aufrichtigkeit verblüffte sie. „Die wenigsten Ärzte würden so etwas zugeben.“

„Tatsächlich?“ Sein lässiges Achselzucken lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die breiten Schultern unter der abgetragenen Lederjacke. „Ich kenne meine Stärken und Schwächen sehr genau. Stellen Sie mich an einen OP-Tisch, und ich werde ein Wunder vollbringen, aber rechnen Sie nicht mit mir, wenn es um Masern oder Mumps geht!“

Alison lachte auf. „So kann man es auch sehen.“

„So sehe ich es.“ Während er in ihr Lachen einstimmte, suchte er ihren Blick. Sein Lachen wurde zu einem tiefgründigen Lächeln.

Ihr Herz flatterte. Alison sah beiseite. Bilde dir nichts ein, ermahnte sie sich, das hat nichts zu bedeuten. Da, wo er herkommt, gehört ein verführerisches Lächeln zum guten Ton!

„Ich sollte gehen.“ Er hüllte Freddie in die Decke und stand auf. „Ich habe Sie lange genug aufgehalten. Vielen Dank, Alison, Sie haben mir sehr geholfen.“

„Keine Ursache.“ Sie brachte ihn zur Tür. „Ich weiß, wie es ist, wenn man sich um ein krankes Kind sorgt.“

„Lucy erwähnte, dass Sie einen kleinen Jungen haben.“

„Ja, das stimmt. Sam ist drei – so alt wie Freddie.“

Jack blieb an der Haustür stehen. „Wie schaffen Sie das mit der Arbeit? Geht der Kleine in den Kindergarten?“

„Nur vormittags. Am Nachmittag passt die Babysitterin auf ihn auf.“

„Wäre es nicht besser, er bliebe den ganzen Tag im Kindergarten?“

„Vielleicht, aber die Tagesbetreuung kann ich mir nicht leisten. Der Babysitter ist billiger.“

„Ach so. Natürlich.“

Er wirkte verlegen, und Alison beeilte sich, die unbehagliche Stimmung zu entschärfen. Wobei ihr nicht klar war, warum es sie überhaupt interessierte, wie er sich fühlte. Jack und sie würden wohl kaum enge Freunde werden. Sie bewegten sich in völlig unterschiedlichen Kreisen, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sie näher kennenlernen wollte.

„Ich bin mit dieser Lösung zufrieden. Sam liebt seine Babysitterin heiß und innig. Carol betreut außer ihm noch zwei andere Kinder aus dem Kindergarten, sodass er viel Spaß hat, wenn er nachmittags bei ihr ist.“

„Hört sich gut an. Vielleicht übernehme ich Ihr Modell, sobald wir uns hier etwas eingelebt haben.“ Jack verzog das Gesicht. „Vorerst habe ich es mir einfach gemacht und Freddie ganztags im Kindergarten angemeldet. Allerdings bin ich nicht davon überzeugt, dass es für ihn im Moment das Beste ist.“

„Sie müssen arbeiten. Sie können nicht ständig bei ihm sein.“

„Leider.“ Er seufzte. „Die alte Geschichte … das eine, was man will, das andere, was man muss. Eltern haben es eben nicht leicht.“

„Dafür wird man mehr als belohnt. Kinder machen das Leben sonniger.“

„Ich weiß, was Sie meinen. Obwohl Freddie mich bisher nur duldet, kann ich mir ein Leben ohne ihn schon nicht mehr vorstellen.“

Er lächelte sie flüchtig an und öffnete die Tür. Alison folgte ihm und fuhr fröstelnd zusammen, als ein kalter Windstoß aus der Bucht heranfegte.

Jack wandte sich zu ihr um. „Noch einmal herzlichen Dank, Alison. Sie waren großartig.“ Er beugte sich vor und küsste sie leicht auf die Wange. Dann drehte er sich um und ging mit langen Schritten die Straße hinunter.

Alison kehrte ins Haus zurück und drückte die Tür ins Schloss. Ihre Hände zitterten. Sie eilte ins Wohnzimmer, stellte Tassen und Kinderbecher aufs Tablett und brachte es in die Küche. Die ganze Zeit hüpfte ihr Herz wie ein Jo-Jo.

Hitze durchflutete sie, als sie daran dachte, wie sich seine Lippen auf ihrer Haut angefühlt hatten. Der zarte Kuss hatte nicht länger als eine Sekunde gedauert, aber in ihrem Gedächtnis war er eingebrannt. Nicht etwa, weil es lange her war, dass ein Mann sie geküsst hatte, damit kam sie zurecht. Aber dass Jack sie geküsst, dass sein Mund sie berührt hatte, das ließ sie noch im Nachhinein erschauern.

Langsam hob sie die Hand und legte die Fingerspitzen auf die Stelle. Wieder durchrieselte es sie heiß.

Diese Liebkosung würde sie nicht so schnell vergessen.

3. KAPITEL

Ein heller, klarer Tag begrüßte ihn, als Jack am Samstagmorgen die Haustür öffnete. Die Luft roch nach Frühling. Freddie auf dem Arm, ging er zum Wagen, setzte den Jungen in den Kindersitz und schnallte ihn an.

Nachdenklich schwang sich Jack hinters Steuer. Er wunderte sich immer noch darüber, wie offen er gestern Abend mit Alison geredet hatte. Normalerweise behielt er private Dinge für sich, und doch hatte er bereitwillig von India und Freddie erzählt. Warum hatte er so schnell Vertrauen zu ihr gefasst? Weil sie die seltene Gabe besaß, mitfühlend und sachlich zugleich zu sein?

Jack startete den Motor. Schön, zu Anfang war sie ein bisschen schnippisch gewesen, aber er hatte es darauf zurückgeführt, dass sie sich noch nicht kannten. Seine Befürchtung, sie könne ihn nicht ausstehen, hatte sich zum Glück nicht bestätigt. Ein tröstlicher Gedanke. Jack wusste zwar nicht genau, wieso, aber er hätte Alison Myers nicht gern gegen sich gehabt.

Auf dem Parkplatz der Praxis parkte ein einziger Wagen. Die Samstagssprechstunde am Vormittag war dringenden Fällen vorbehalten, und die Bewohner von Penhally Bay respektierten das. Die meisten Hausarztpraxen blieben am Samstag geschlossen, aber Jack wusste, dass sein Vater dagegen war. Zudem bestand Nick darauf, dass sämtliche Ärzte der Penhally Bay Surgery im Wechsel die nächtliche Rufbereitschaft übernahmen. Doch obwohl Jack den Arbeitswillen seines Vaters bewunderte, sah er auch die Kehrseite der Medaille. Hätte er sich nicht so sehr für seinen Beruf aufgeopfert, hätte er mehr Zeit für seine Familie gehabt.

Jack holte Freddie aus dem Kindersitz und betrat die Praxis.

Hazel Furse, die gerade erst von der leitenden Sprechstundenhilfe zur Praxismanagerin aufgestiegen war, lächelte ihm strahlend entgegen. „Jack! Wie schön, dich zu sehen!“

„Hallo, Hazel, wie geht es dir?“ Er trat an den Empfangstisch. „Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung.“

„Danke.“ Sie schenkte Freddie ein fröhliches Lächeln. „Und das ist dein kleiner Junge?“

„Ja, das ist Freddie. Er hat ein bisschen Fieber. Wer hat heute Morgen Dienst?“

„Dein Vater“, verkündete sie munter und zog eine Schublade auf.

Da sie damit beschäftigt war, ein Patientenformular herauszuziehen, entging ihr Jacks Grimasse. Er hatte gehofft, seinem Vater noch ein paar Tage aus dem Weg gehen zu können. Anscheinend sollte es nicht sein.

„Füll das in Ruhe aus, und gib es mir bei Gelegenheit wieder.“ Hazel reichte ihm das Blatt. „Du hast Glück, dass im Moment nichts los ist. Du kannst also gleich zu ihm.“

„Danke, Hazel.“

Jack klopfte an die Sprechzimmertür und versuchte, ein bisschen Begeisterung aufzubringen. Als Nick ihn hereinrief, zwang er sich zu einem Lächeln. „Guten Morgen, Dad. Freddie hatte letzte Nacht Fieber, und ich dachte, du könntest ihn dir mal ansehen. Mir ist nichts Besonderes aufgefallen, aber ich wollte mich vergewissern, dass er nichts Ernstes ausbrütet.“

„Bring ihn her.“ Nick stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Jack hätte nicht sagen können, ob sein Vater sich freute, ihn zu sehen, oder ob es ihm egal war. Er legte seinen Sohn auf die Untersuchungsliege.

„Schon gut, Freddie, dir passiert nichts“, sagte er sanft, als dieser anfing zu weinen.

„Hallo, Freddie.“ Lächelnd beugte sich Nick über den Kleinen. „Ich taste nur deinen Bauch ab und sehe mir deine Ohren, Augen und Nase an. Magst du mir einen großen Gefallen tun und das hier solange für mich halten?“

Zu Jacks Erstaunen griff Freddie nach dem Stethoskop und umklammerte es mit seinen pummeligen Fäustchen. „Sonst hat er furchtbare Angst vor Fremden. Ich habe noch nicht erlebt, dass er von anderen etwas genommen hätte.“

„Nun, ich bin nicht gerade ein Fremder“, sagte Nick knapp und leuchtete Freddie in die Ohren.

Jack unterdrückte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Für eine ihrer Auseinandersetzungen war jetzt nicht der richtige Moment. Also beobachtete er stumm, wie sein Vater zu Werke ging. Eins musste er ihm lassen: Er war gründlich, aber gleichzeitig so behutsam, dass Freddie die Untersuchung ohne Widerstand über sich ergehen ließ.

„War er in letzter Zeit erkältet?“ Nick sah auf.

„Nein, gar nicht. Physisch ging es ihm gut.“

Ein eindringlicher Blick traf ihn. „Und mental? Lucy sagte, er habe aufgehört zu sprechen. Stimmt das?“

„Ja. Deshalb wusste ich gestern Abend nicht, was er hat. Er redet einfach nicht. Ich habe schon alles versucht, um ihn zum Sprechen zu ermuntern, aber er schweigt beharrlich.“

„Lass ihm Zeit, das Trauma zu verarbeiten, so etwas geht nicht über Nacht. Du musst Geduld haben.“

Das weiß ich selbst, dachte Jack ungehalten. Doch ehe er etwas sagen konnte, wandte sich sein Vater ab und lächelte Freddie an. „Gibst du mir das Stethoskop wieder, Freddie? Danke.“

Entschlossen, ruhig zu bleiben, sah Jack zu, wie Nick Freddie abhorchte. „Und, was meinst du?“, fragte er bemüht freundlich, als sein Vater fertig war.

„Ich vermute, es sind die Zähne. Im rechten Unterkiefer ist vor Kurzem der zweite Backenzahn durchgebrochen, und ich gehe jede Wette ein, dass Freddie deswegen fiebert. Die meisten Kinder haben beim Zahnen Probleme.“

„Ein neuer Zahn! Daran habe ich überhaupt nicht gedacht!“ Er kam sich ziemlich dumm vor, dass es ihm nicht aufgefallen war.

„Verständlich“, sagte sein Vater achselzuckend. „Freddie ist drei Jahre alt. Wahrscheinlich hast du angenommen, dass er das Zahnen hinter sich hat.“

„Stimmt.“

Jack hob seinen Sohn von der Liege. Natürlich war er erleichtert, dass Freddie nicht ernsthaft krank war, aber er fragte sich unwillkürlich, ob Nick ihn jetzt erst recht für unfähig hielt.

Verärgert schob er den Gedanken beiseite. Er hatte schon zu viel Zeit seines Lebens damit vergeudet, seinem Vater alles recht machen zu wollen. Irgendwann hatte er beschlossen, nicht mehr mit dem Kopf gegen dieselbe sprichwörtliche Wand zu rennen, und er würde jetzt nicht wieder damit anfangen. Sollte Nick denken, was er wollte! Jack wusste, dass er ein verdammt guter Chirurg war, und er brauchte niemanden, der ihm das ausdrücklich bestätigte.

„Also dann, danke“, sagte er steif und nahm Freddies Hand.

„Dafür bin ich da.“ Nick setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Gib ihm Kinder-Paracetamol, solange die Symptome anhalten. In spätestens zwei Tagen sollte er wieder fit sein.“

„Okay. Vielen Dank.“ Jack wandte sich zur Tür.

Die Stimme seines Vaters hielt ihn zurück. „Hast du Lucy schon gesehen?“

„Ja, sie kam gestern Nachmittag nach der Sprechstunde vorbei.“

„Gut. Auf Lucy kannst du dich verlassen.“

Der Schmerz war messerscharf. Wollte Nick andeuten, dass Jack auf seine Hilfe nicht zählen könnte? Mit grimmiger Miene streckte er die Hand nach der Klinke aus. „Ja. Wenigstens einer aus der Familie, der mir helfen will.“

„Das meinte ich nicht“, begann Nick, doch Jack hatte keine Lust, sich den Rest anzuhören.

Kopfschüttelnd verließ er das Zimmer. Es hatte keinen Zweck, sich etwas zu wünschen, das unerreichbar war. Nick Roberts interessierte es eben nicht, wie es seinem Sohn oder seinem Enkel ging. Jack wusste, was sein Vater über ihn dachte. Schließlich hatte er ihm mehr als einmal deutlich gesagt, wie sehr ihm das Leben missfiel, das Jack in London führte.

Okay, vielleicht war er in den letzten Jahren etwas über die Stränge geschlagen und hatte zu viele Partys besucht, aber seine Arbeit hatte nie darunter gelitten. Und nach dem Tod seiner Mutter war er ruhiger geworden und hatte sich auf seine Karriere konzentriert.

Der Playboy, für den Nick ihn hielt, war er längst nicht mehr. Jack hatte jedoch nicht vor, sich wieder abzumühen, um seinen Vater vom Gegenteil zu überzeugen. Freddie und er würden hervorragend allein zurechtkommen. Außerdem hatte er immer noch Lucy, wenn es brenzlig wurde.

Überraschend tauchte Alison Myers’ reizendes Gesicht vor seinem inneren Auge auf, doch er verscheuchte es rasch wieder. Sie mochte sich gestern Abend mitfühlend und hilfsbereit verhalten haben, aber sie hatte genug eigene Probleme. Da musste er ihr seine nicht auch noch aufhalsen.

Die Tür fiel ins Schloss, und Nick erhob sich aus seinem Sessel. Kurze Zeit später beobachtete er vom Fenster aus, wie Jack den kleinen Freddie ins Auto setzte. Schon bereute er, dass er ihm nicht nachgegangen war, um das Missverständnis zu klären. Jetzt glaubte Jack, er interessiere sich nicht für seinen Enkel. Das Gegenteil war der Fall.

Natürlich lag ihm viel an dem kleinen Jungen, genau wie an Jack auch. Leider endete jede Begegnung mit seinem Sohn in einer hitzigen Auseinandersetzung oder, wie gerade eben, mit dem nagenden Gefühl, dass etwas gründlich schiefgelaufen war. Ihr seid euch sehr ähnlich und deshalb geratet ihr ständig aneinander, hatte Annabel immer gesagt. Ihr habt beide einen starken Willen, und wenn euch etwas am Herzen liegt, setzt ihr euch mit leidenschaftlichem Eifer dafür ein.

Vielleicht hatte sie recht gehabt, aber das half ihm im Moment auch nicht weiter. Zurzeit brauchte Jack ihn mehr als je zuvor, und Nick wollte wirklich für ihn und Freddie da sein. Seinen Sohn davon zu überzeugen würde allerdings nicht einfach sein.

Alison war auf dem Rückweg nach Penhally Bay, als der Unfall passierte.

Sam war auf einem Kindergeburtstag, und sie hatte die freie Zeit genutzt, um in einem Hofladen frisches Obst und Gemüse einzukaufen. Während sie die schmale, gewundene Straße außerhalb des Ortes entlangfuhr, wurde sie von einem Fahrzeug überholt, das mit hoher Geschwindigkeit in die nächste Kurve raste. Abrupt leuchteten die Bremslichter auf, doch zu spät. Der Fahrer verlor die Kontrolle über seinen Wagen und schleuderte auf die Gegenfahrbahn.

Entsetzt musste Alison mit ansehen, wie hinter der Biegung ein Traktor auftauchte und die beiden Fahrzeuge mit einem hässlichen metallischen Geräusch ineinanderkrachten.

Alison trat auf die Bremse und zog ihr Handy aus der Tasche, um einen Krankenwagen zu rufen. Noch während sie mit der Notrufzentrale sprach, sprang sie aus dem Auto und lief zur Unfallstelle. Der Wagen hatte sich überschlagen und lag auf dem Dach, die Fensterscheiben waren geborsten, und die Karosserie war durch den Aufprall zusammengedrückt worden. Der Traktor stand noch, aber der Fahrer wirkte stark benommen, als er unbeholfen aus dem Führerhäuschen kletterte.

„Ich konnte nichts machen“, brachte er mühsam hervor, als Alison zu ihm eilte. „Ich habe versucht anzuhalten, aber es ging alles so schnell …“

Er schwankte bedrohlich, und sie griff nach seinem Arm, um den Mann zu dem Grasstreifen neben der Straße zu führen. „Setzen Sie sich lieber.“ Sobald er saß, kniete sie sich vor ihn hin. „Haben Sie sich verletzt?“

„Ich glaube, ich habe mir den Kopf gestoßen“, murmelte er und berührte die Stelle vorsichtig mit zwei Fingern.

Alison untersuchte sie behutsam. Ihr stockte der Atem, als sie direkt über seinem rechten Ohr eine deutliche Delle im Schädel entdeckte. „Muss ein ordentlicher Schlag gewesen sein“, kommentierte sie locker, um sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen.

„So fühlt es sich auch an“, erwiderte er mürrisch. Plötzlich fing er an zu zittern, und sie zog schnell ihren Mantel aus und hüllte den Mann darin ein.

„Ich muss mir die Leute in dem Wagen ansehen“, sagte sie. „Bleiben Sie hier sitzen, bis ich wiederkomme, ja?“

Er nickte nur, und sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Wirkte er schon teilnahmsloser als noch vor ein paar Minuten? Alison lehnte ihn gegen die Felswand und wünschte verzweifelt, sie könnte mehr für ihn tun. Erste-Hilfe-Maßnahmen würden nicht ausreichen, er musste so schnell wie möglich ins Krankenhaus.

Sie rannte zum Pkw und spähte durchs Rückfenster ins Innere. Der Fahrer hing kopfüber in seinem Gurt. Seinem unflätigen Fluchen nach zu urteilen, war er nicht besonders schwer verletzt. Seine Beifahrerin hatte weniger Glück gehabt. Das junge Mädchen war offensichtlich nicht angeschnallt gewesen und durch die Windschutzscheibe geschleudert worden, als der Wagen sich überschlug. Alison fand sie auf der Straße, auf dem Rücken liegend, das Gesicht blutüberströmt und von klaffenden Schnittwunden übersät.

Nur mühsam verbarg sie ihr Entsetzen. Wenigstens war der Teenager ansprechbar und nannte sofort seinen Namen, als Alison danach fragte.

„Becca.“ Sie streckte eine zitternde Hand nach ihrem Gesicht aus.

„Nicht anfassen, Liebes“, warnte Alison sanft. „Wir wollen doch nicht, dass Schmutz in die Wunden kommt.“

„Es tut so weh“, jammerte sie.

„Ich weiß, aber der Krankenwagen wird bald hier sein, und im Krankenhaus werden die Ärzte sich sofort darum kümmern.“ Wohlweislich verschwieg sie ihr, dass aufwendige Operationen nötig sein würden, um das Gesicht zu retten. Falls es überhaupt gelang.

Sie stand auf und lächelte sie ermutigend an. „Ich hole Verbandszeug aus meinem Wagen. Wir müssen die Schnittwunden vor Keimen schützen.“

„Sind Sie Ärztin?“, flüsterte Becca.

„Nein, Krankenschwester.“ Sie tätschelte ihr den Arm. „Bin gleich wieder da. Bleib einfach ruhig liegen, und mach dir keine Sorgen.“

Auf dem Weg sah sie noch einmal nach dem Fahrer. Dem war es inzwischen gelungen, den Sicherheitsgurt loszuwerden und durch das Heckfenster ins Freie zu kriechen. Jetzt saß er am Boden und hielt sich den Kopf.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte sie und hockte sich neben ihn.

„Na, wie wohl?“ Stöhnend rieb er sich mit beiden Händen das Gesicht. „Morgen habe ich einen Riesenbrummschädel.“

Alison stutzte. Täuschte sie sich, oder roch sein Atem nach Alkohol? „Haben Sie getrunken?“

„Wieso? Was haben Sie damit zu tun?“ Wütend stierte er sie an.

Sie erhob sich. Für solche Spielchen hatte sie weder die Zeit noch die Geduld. „Nichts, aber ich bin sicher, dass sich die Polizei dafür interessieren wird.“

Er fluchte laut, doch sie ignorierte ihn einfach und eilte zum Traktorfahrer, der inzwischen zusammengesackt war. Sie legte den Bewusstlosen in die stabile Seitenlage. Sein röchelndes Atmen gefiel ihr gar nicht, und sie griff nach seinem Handgelenk. Der Puls schlug heftig und unregelmäßig, aber viel zu langsam. Die Symptome deuteten auf einen erhöhten Hirndruck hin.

Alison holte ihr Handy aus der Hosentasche und rief wieder in der Rettungsleitstelle an, damit das Krankenhaus informiert wurde. Wenn sich im Schädelinnern Blut sammelte und auf das Gehirn drückte, musste es schnellstens abgesaugt werden. Besser, sie waren in der Notaufnahme darauf vorbereitet.

Ungern ließ sie den Verletzten allein, doch sie musste sich um Becca kümmern. Sie holte ihren Verbandskasten und eilte zurück zu dem Mädchen. Geschickt schnitt sie Löcher für Augen, Mund und Nase in die sterilen Tücher und legte die Verbände vorsichtig auf das Gesicht. Becca zitterte immer noch, eine Folge des Schocks, den sie erlitten hatte.

„Es dauert nicht mehr lange, Kleines, der Krankenwagen ist unterwegs.“

„Wie geht es Toby?“ Gedämpft klang ihre Stimme durch den Verbandmull.

„Wenn Toby der Fahrer ist – ihm geht es gut.“

Becca zögerte, doch dann strömten die Worte nur so hervor. „Wenn ich gewusst hätte, dass er sich letzte Nacht betrunken hat, hätte ich mich nie zu ihm in den Wagen gesetzt. Ich habe es erst gemerkt, als er auf der Autobahn wie ein Verrückter gefahren ist. Hat waghalsig überholt und die anderen geschnitten. Später auf der Landstraße wurde es noch schlimmer. Er trat das Gaspedal bis zum Boden durch, und ich hatte furchtbare Angst. An der nächsten Kreuzung habe ich mich abgeschnallt und ihn angefleht, er möge anhalten und mich rauslassen. Doch er hat nur gelacht.“

Alison seufzte. „Das war verantwortungslos und äußerst dumm von ihm. Alkohol hält sich länger im Körper, als man denkt. Er hätte sich gar nicht ans Steuer setzen dürfen.“

„Ich weiß“, antwortete Becca kläglich. „Aber Toby hört nie auf andere.“

„Ihr seid nicht von hier, oder?“

„Nein, aus London. Toby und ich gehen auf dasselbe Internat. Seine Eltern besitzen ein Ferienhaus in Rock, und er hatte für heute Abend einen Haufen Leute zu einer Party eingeladen. Ich wollte zusammen mit anderen Freunden mit dem Bus fahren, aber Toby bot mir an, mich mitzunehmen.“ Tränen schimmerten in ihren Augen. „Mum und Dad sind verreist. Sie wissen gar nicht, dass ich am Wochenende nicht im Internat bin. Das gibt Mega-Ärger, wenn sie hören, was passiert ist.“

„Mach dir darüber jetzt keine Gedanken.“

In der Ferne ertönte die schrille Sirene des Rettungswagens, und kurz darauf hielt er am Unfallort, dicht gefolgt von der Polizei. Alison übergab Becca den Sanitätern und zeigte ihnen den Traktorfahrer. Nach einem präzisen Bericht über seinen Zustand musste sie auch den Polizisten ein paar Fragen beantworten, die zu Protokoll genommen wurden. Hinterher hätte sie eigentlich nach Hause fahren können, aber Alison zögerte. Es würde noch eine Weile dauern, bis Beccas Eltern hier wären, und bis dahin war das Mädchen ganz allein.

Entschlossen stieg sie in ihren Wagen und folgte Becca zum St.-Piran-Krankenhaus. Zum Glück fand sie auf Anhieb einen Parkplatz und eilte in die Notaufnahme. Drinnen war der Teufel los, und sie wartete eine geschlagene halbe Stunde, bis sie der Empfangsschwester ihr Anliegen vortragen konnte.

Als sie endlich den Behandlungsbereich betrat, war Becca bereits vom diensthabenden Arzt untersucht worden. Er erklärte Alison, dass die Verletzungen des Mädchens eine spezielle Behandlung bräuchten. Man erwarte jeden Moment einen der Chirurgen, der sie sich einmal ansehen wollte. Alison setzte sich zu Becca und tat ihr Bestes, um sie zu beruhigen und ihr die Wartezeit erträglicher zu machen.

Endlich wurde der Vorhang beiseitegeschoben. Alison traute ihren Augen nicht, als Jack plötzlich vor ihr stand.

„Was machen Sie denn hier?“, platzte sie heraus.

„Hinter Boscastle gab es eine Massenkarambolage. Sie brauchten Verstärkung und haben mich hergeholt.“ Er lächelte sie an, und ihr Herz flatterte wie ein gefangener Vogel. „Und was führt Sie hierher?“

„Zufällig war ich dabei, als dieser Unfall passierte“, erklärte sie kühl und deutete auf Becca. Er sollte nicht denken, dass sie einen Vorwand gesucht hatte, um ihn zu sehen. „Ich habe angehalten und Erste Hilfe geleistet.“

„Da können wir nur froh sein. Sie wissen wenigstens, was Sie tun“, sagte er mit warmem Unterton und trat ans Bett. „Andere meinen es gut, aber sie erschweren mir nur meine Arbeit.“

Bei seinem Lob breitete sich ein sanftes Glühen in ihr aus, und Alison ertappte sich dabei, wie sie dem tiefen Klang seiner Stimme nachlauschte.

„Hi. Rebecca, nicht wahr?“ Jack begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln und setzte sich auf die Bettkante.

„Alle nennen mich Becca“, erwiderte das Mädchen schüchtern.

„Hübscher Name, er passt zu dir. Ich bin Jack Roberts, einer der Chirurgen hier.“

Er streifte ein Paar neuer Handschuhe über und untersuchte jede einzelne Verletzung sorgfältig. Schließlich zog er die Handschuhe aus, formte sie zu einem Ball und warf ihn treffsicher in den Abfalleimer.

„Also, Becca“, begann er. „Ich will dir nichts vormachen. Einige dieser Wunden sind ziemlich übel. Außerdem stecken Glassplitter, Steinchen und andere Schmutzpartikel darin, die wir erst entfernen müssen, bevor ich mit der eigentlichen Arbeit anfangen kann. Sonst hättest du später ein unschönes Tattoo in der Haut, und das wollen wir ja nicht.“

„Und nach der Operation?“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Sehe ich dann wie ein Monster aus?“

„Natürlich nicht!“ Jack grinste und spreizte die Hände. „Siehst du das hier?“ Er bewegte die schlanken Finger. „Diese Hände vollbringen wahre Wunder. Du hast mein Wort, dass du hinterher so gut wie neu bist. Aber das braucht Zeit, Kleines. Zeit und Geduld. Und davon haben wir beide mehr als genug, okay?“

„Ja.“ Becca klang schon zuversichtlicher.

Alison freute sich darüber. Jack hatte genau den richtigen Ton getroffen – nicht zu förmlich, nicht erschreckend, aber trotzdem wahrheitsgemäß. Sie war beeindruckt.

„Am stärksten ist deine linke Wange betroffen, doch ich denke, dass wir das mit einer Hauttransplantation und kunstvoller Näharbeit wieder hinkriegen.“

„Nehmen Sie dafür woanders Haut weg?“, fragte sie unsicher.

„Ja, aber keine Angst. Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Ich suche mir eine Stelle, die zu deinem Teint passt – in der Regel eignet sich die hinter dem Ohr am besten. Dann entnehme ich gerade so viel, wie ich brauche, transplantiere es auf deine Wange und … schwupps, Problem gelöst.“ Er tätschelte Beccas Hand. „Noch ist nicht sicher, dass es überhaupt nötig sein wird. Also machen wir uns erst Gedanken darüber, wenn es so weit ist, einverstanden?“

Als Becca nickte, stand er auf. „Ausgezeichnet. Wir beide gehen gleich in den OP, und ich fange erst einmal mit der Reinigung an. Ich habe gehört, dass deine Eltern verreist sind. Deine Tante und dein Onkel versuchen sicher schon, sie zu erreichen?“

„Ja. Mum wird einen Aufstand machen, wenn sie mich so sieht …“

Jack beugte sich vor und drückte ihre Hand. „Nein, bestimmt nicht. Sie wird überglücklich sein, dass dir nicht noch mehr passiert ist.“

„Ehrlich?“ Zweifelnd sah sie ihn an. „Würde Ihre Mum auch so reagieren?“

Ein schmerzlicher Ausdruck flog über sein Gesicht, und Jack wandte sich ab. „Ja. Genau das würde sie tun. Also vertrau mir, Becca, du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen.“

Der flüchtige Ausdruck tiefer Trauer in seinen Augen ging Alison zu Herzen. Jeder in Penhally Bay war fassungslos gewesen, als Jacks Mutter Annabel Roberts unerwartet gestorben war. Wie schrecklich musste es erst für Jack gewesen sein? Sie folgte ihm nach draußen.

„Alles in Ordnung?“

„Ja, natürlich.“ Er lächelte wehmütig. „Aber manchmal erwischt es mich einfach. Blödsinnig, eigentlich. Seit Mums Tod sind zwei Jahre vergangen, und ich hätte mich längst damit abfinden müssen.“

„Nein, bestimmt nicht. Es ist ganz normal, dass Sie Annabel vermissen. Sie war Ihre Mutter, und Sie haben sie geliebt.“

„Am schlimmsten finde ich es, dass Freddie sie nie kennenlernen wird. Mum hätte jetzt schon zwei Enkelkinder, und sie wäre begeistert.“

„Wenigstens hat er noch seinen Großvater.“

„Fragt sich, ob der etwas mit ihm zu tun haben will.“

Erstaunt blickte sie ihm in die Augen. „Aber Nick war völlig aus dem Häuschen, als er von Freddie erfuhr. Er hat es jedem erzählt, ob der es wissen wollte oder nicht.“

„Tatsächlich?“

Seine skeptische Miene brachte sie zum Lachen. „O ja. Ich bezweifle, dass es in Penhally Bay jemanden gibt, der nicht von Dr. Nicks kleinem Enkel weiß.“

Jack schüttelte verwundert den Kopf. „Ich dachte, Dad würde es lieber für sich behalten. Wer hängt es schon gern an die große Glocke, wenn sein Sohn plötzlich herausfindet, dass er ein Kind hat?“

„Vielleicht sehen Sie das so, aber Nick bestimmt nicht“, bekräftigte sie. Als sie jemanden den Flur entlangkommen hörte, warf sie einen Blick über die Schulter. „Ich will Sie nicht länger aufhalten. Viel Glück bei der Operation, ich hoffe, es geht alles gut.“

„Danke.“ Jack ging los, drehte sich jedoch noch einmal um. „Und vielen Dank auch für das, was Sie mir über meinen Vater gesagt haben. Es bedeutet mir viel, Alison. Wirklich.“

Ein rasches Lächeln, dann brach der Blickkontakt ab, und Jack marschierte davon. Alison wurde ganz warm ums Herz, während sie ihm nachsah. Ein wundervolles Gefühl breitete sich in ihr aus – sie hatte Jack glücklich gemacht.

Seufzend gab sie sich einen Ruck und ging wieder zu Becca. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie noch süchtig werden nach diesem Gefühl. Und wie jede Sucht, könnte das ziemlich gefährlich werden.

4. KAPITEL

„Angie, Dave, Mel, Parkash … Oh, und dort drüben in der Ecke, das ist Lilian.“

„Hallo allerseits.“ Jack nickte seinen neuen Kollegen zu, während er an den OP-Tisch trat. Becca lag in Vollnarkose da. Er hätte den Eingriff auch unter Lokalanästhesie vornehmen können, aber es war sicher weniger belastend für das Mädchen, wenn es nichts mitbekam.

„Tut mir leid, Jack. Ich weiß, es ist eine Zumutung, dass wir Sie heute hergezerrt haben …“

„Aber Sie hatten keine andere Wahl.“

Jack lächelte seiner neuen Chefin zu. Obwohl er Alexandra Ross während des Vorstellungsgesprächs nur kurz kennengelernt hatte, war sie ihm auf den ersten Blick sympathisch gewesen. Mit Ende dreißig hatte sie längst einen exzellenten Ruf als Chirurgin erworben, und Jack empfand es als besondere Ehre, mit ihr zusammenzuarbeiten.

Vor einem Jahr hatte sie noch die Chirurgie eines großen Londoner Lehrkrankenhauses geleitet, war dann jedoch nach Cornwall gezogen. Warum, wusste Jack nicht, aber er war froh darüber. Selbst er konnte von ihr noch etwas lernen.

„Ich helfe gern aus, Alex“, fügte er hinzu. „Mein Vertrag gilt seit Freitag, sodass es auch rechtlich keine Probleme geben dürfte.“

„Das meinte ich nicht.“ Die Chefärztin erwiderte sein Lächeln charmant. „Ich hoffe, Sie haben so kurzfristig eine Kinderbetreuung organisieren können.“

„Kein Problem.“ Jack versuchte nicht daran zu denken, dass Freddie bitterlich geweint hatte, als er ihn bei Lucy zurückließ.

Nachdem er die Maske über Mund und Nase gezogen hatte, beugte er sich über den Tisch. Die Wunden von jeder noch so winzigen Verunreinigung zu befreien würde Zeit brauchen, doch Jack war entschlossen, sie sich zu nehmen. Beccas Glück lag in seinen Händen, und er war sich dessen wohl bewusst.

In seine Arbeit vertieft nickte er nur, als Alex verkündete, sie würde ihn nun sich selbst überlassen. Sicher war es als Kompliment zu betrachten, dass sie es nicht für nötig hielt, jede seiner Handlungen zu überwachen, aber im Grunde hatte er nichts anderes erwartet. Er war gut, und die, die mit ihm zusammenarbeiteten, würden nicht lange brauchen, um das festzustellen.

„Kann ich hier bitte noch etwas mehr Kochsalzlösung haben?“ Er warf einen Seitenblick auf die OP-Schwester, die für den Nachschub sorgen sollte. Sofort spülte sie die winzigen Partikel ab, die er aus der Schnittwunde an Beccas Stirn entfernt hatte. „Danke.“

„Gern geschehen.“

Um ihre Augen über dem Mundschutz bildeten sich feine Lachfältchen, und er lächelte zurück. Ihm lag viel an einer guten Stimmung im Team. „Ich hoffe, das sagen Sie in zwei Stunden auch noch“, neckte er und erntete von allen Seiten Gelächter.

„Keine Bange, Mel wird es Ihnen schon zeigen, wenn Sie auf ihrer schwarzen Liste stehen“, meldete sich Parkash Patel, der Narkosearzt, zu Wort. „Glauben Sie mir, sie verfügt über äußerst effektive Methoden, ihren Unmut deutlich zu machen.“

„Dann sollte ich höllisch aufpassen, dass ich es mir mit ihr nicht verscherze.“ Jack lachte leise, als Mel missmutig schnaubte. „Hoppla, sieht ganz so aus, als hätte ich mir den ersten Minuspunkt eingehandelt.“

Er beugte sich wieder über seine Patientin und arbeitete entspannt weiter. Er hatte schon immer Chirurg werden wollen. Als er jedoch entdeckte, dass er mit plastischer Chirurgie das Leben anderer Menschen entscheidend verändern konnte, hatte er seine wahre Berufung gefunden.

Plastische Chirurgie verbesserte sowohl Funktion als auch Aussehen eines Körpers. Manche Kollegen rümpften die Nase, wenn es um Schönheitschirurgie ging, aber Jack hielt sie für genauso wichtig wie andere Fachrichtungen. Sie gab den Patienten, die sich nach Krankheit oder einem schweren Unfall nicht wieder unter Menschen trauten, ihre Würde zurück. Für Jack war es Ansporn genug, sich mit Feuereifer in jede Operation zu stürzen.

Als er auch das letzte Schmutzteilchen entfernt hatte, machte er sich daran, die Wunden zu nähen, und es dauerte weitere zwei Stunden, bis er endlich zufrieden war. Um den tiefen Riss auf Beccas linker Wange musste er sich später kümmern. Leider war zu viel Gewebe zerstört worden, als dass er die Wundränder sauber hätte zusammenfügen können. Der Schaden ließ sich nur mit einer Hauttransplantation beheben. Aber nicht jetzt.

Jack richtete sich auf. „Mehr können wir im Moment nicht tun. Danke für Ihre Hilfe, Sie waren ein großartiges Team.“ Er wandte sich ab, stutzte jedoch, als er plötzlich Applaus hörte. Jack blickte sich um. „Wofür ist das denn?“

„Wir wollen Ihnen keinen Honig um den Bart schmieren“, sagte Mel knapp, „aber wir sind uns einig, dass Sie Erstaunliches geleistet haben. Stimmt’s, Leute?“

Das beifällige Gemurmel entlockte ihm ein Lächeln. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Wie wäre es mit ‚Ich gebe einen aus‘?“, meldete sich Pfleger Dave zu Wort, und die anderen lachten.

Jack verzog bedauernd das Gesicht. „Nichts lieber als das, aber nicht heute. Meine Schwester passt auf meinen kleinen Jungen auf, und ich muss nach Hause, um sie abzulösen. Können wir den Umtrunk auf nächste Woche verschieben? Ich verspreche, dass ich bis dahin alles besser organisiert habe.“

Auf dem Weg zu den Umkleideräumen fragte er sich, ob er sein Versprechen würde halten können. Er ließ Freddie ungern allein, wenn es nicht unbedingt nötig war. Wahrscheinlich würde es schwierig werden, zusätzlich zur Arbeitszeit ein, zwei Stunden abzuzweigen, um die neuen Kollegen näher kennenzulernen.

Seufzend trat er unter die Dusche. An das Leben eines alleinerziehenden Vaters musste er sich erst gewöhnen, aber er war entschlossen, es zu schaffen. Was machte es schon, auf Geselligkeit und rauschende Partys zu verzichten? Davon hatte er mehr als genug gehabt. Fürs Erste brauchte er Freddie und seine Arbeit, nichts weiter.

Jack drückte großzügig Flüssigseife aus dem Spender in die Handfläche und begann, sich die Brust einzuseifen. Ein Gedanke ließ ihn innehalten. Das Thema Frauen war für ihn nie ein Problem gewesen. Eine ernsthafte Beziehung hatte er zwar bisher nie gehabt, aber über den Mangel an weiblicher Zuwendung hatte er sich auch nicht beklagen können. Selbst India war für ihn nicht mehr als eine lockere Affäre gewesen.

Und wenn er jetzt jemandem begegnete und sich verliebte? Da er nicht einmal auf einen Drink mit Kollegen weggehen mochte, um Freddie nicht zu vernachlässigen, wie sollte er für eine Frau Zeit finden? Oder andersherum gefragt, wie würde sie darauf reagieren, dass er bereits eine Familie hatte?

Nachdenklich spülte er sich den Schaum ab. Auf diese Fragen hatte er keine Antwort. Er wunderte sich, warum er sich überhaupt Gedanken machte. Bisher war er zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, um ernsthaft ans Heiraten zu denken.

Doch es ließ ihm keine Ruhe. Wie würde sie sein, die Frau, die er sich an seiner Seite wünschte? Die Richtige, die Liebe seines Lebens? In der Vergangenheit hatten ihn rassige, brünette Frauen gereizt, doch nun fand er es schwierig, sich seine Traumfrau vorzustellen. Vielleicht sollte er es zuerst mit den inneren Werten versuchen? Er wünschte sich jemanden, der klug und freundlich war, jemanden, der seine Interessen teilte, aber auch eigene hatte. Bestimmt sollte sie nicht bei jedem Wort an seinen Lippen hängen – das wäre ihm zu langweilig!

Er schnappte sich ein Handtuch, wickelte es sich um die Hüften und verließ die Duschkabine. Also wollte er eine Frau, die ihre eigene Meinung hatte, doch in wesentlichen Dingen mit ihm auf einer Linie lag. Verständnisvoll müsste sie auch sein, da sein Beruf viel Zeit beanspruchte. Es wäre nicht auszuhalten, wenn es deswegen ständig Spannungen gäbe. Als Chirurg konnte er nicht von neun bis fünf arbeiten und bei Feierabend alles stehen und liegen lassen. Und kinderlieb sollte sie sein, bereit, Freddie wie ein eigenes Kind anzunehmen.

Jack warf das Handtuch in den Wäschekorb und zog sich an. Unterwäsche, Jeans, T-Shirt … er hielt inne. Vor seinem inneren Auge formte sich ein Bild: feines hellblondes Haar, haselnussbraune Augen, eine weibliche Figur. Er schnappte nach Luft, als ihm klar wurde, dass er Alison Myers vor sich sah. Warum ausgerechnet sie? Weil sie hübsch und sympathisch war und auch die anderen Punkte auf seiner Liste erfüllte?

Hastig zerrte er sich das T-Shirt über den Kopf und griff nach seiner Jacke. Es musste schlimm um ihn stehen, dass er sich solchen Hirngespinsten hingab. Alison und er würden nie ein Paar werden. Keine Chance.

Der Montagmorgen verlief in gewohnter Hektik. Alison musste sich beeilen, wenn sie pünktlich zur Arbeit kommen und Sam vorher noch im Kindergarten abliefern wollte. Sobald Sam zu Ende gefrühstückt hatte, zog sie ihm Jacke und Mütze an und fuhr los.

Vor dem Gebäude herrschte Hochbetrieb. Die meisten Eltern brachten ihre Sprösslinge ebenfalls mit dem Wagen, und Alison hielt Sam fest an der Hand, während sie abschloss. Kaum hatte sie den Bürgersteig betreten, hielt ein Auto neben ihr.

Jack stieg aus. „Hi. Was für ein Gewimmel! Ist das immer so?“, fragte er und öffnete die hintere Tür.

„Eigentlich jeden Morgen.“ Alison räusperte sich, als sie merkte, wie heiser sie geklungen hatte. Sie war ein wenig außer Atem, und das konnte nur an Jack liegen. Mit seiner nachtblauen Skijacke und dem leicht zerzausten dunklen Haar sah er umwerfend aus. „Mussten Sie am Samstag noch lange im Krankenhaus bleiben?“, fügte sie, um einen normalen Tonfall bemüht, hinzu.

„Ich war erst nach sieben zu Hause.“ Er hob Freddie aus dem Kindersitz und schenkte Alison ein Lächeln. „Und Sie?“

„Oh, schon um vier.“ Unschlüssig, ob sie auf ihn warten sollte oder nicht, ging sie zögernd Richtung Eingang.

Jack löste das Problem. Mit seinen langen Beinen hatte er sie rasch eingeholt. „Das geht ja noch.“ Er sah sich um. „Wie läuft das hier? Bringt man sein Kind direkt in den entsprechenden Gruppenraum?“

„Zuerst müssen Sie es in eine Anwesenheitsliste eintragen.“ Alison ging durch den Haupteingang voran. „War Freddie früher auch im Kindergarten?“

Jack nickte. „Ich hoffe, dass ein gewohnter Tagesablauf ihm hilft, sich sicherer zu fühlen.“

„Wundern Sie sich nicht, wenn er Sie nicht gehen lassen will“, warnte sie. „Sam war am Anfang unglaublich anhänglich.“ Als Jack ein besorgtes Gesicht machte, fügte sie rasch hinzu: „Aber das hat sich inzwischen gegeben.“

„Anhänglich ist Freddie nicht, sondern eher ängstlich.“ Er strich seinem Sohn liebevoll über die dunklen Locken.

„Haben Sie das Problem angesprochen?“

„Ja. Ich habe mich lange mit der Leiterin unterhalten. Mrs. Galloway versprach, ihre Erzieherinnen zu informieren, und ich hoffe, dass sie daran gedacht hat.“

„Bestimmt. Christine liebt Kinder über alles, und ihr Kindergarten besitzt einen ausgezeichneten Ruf. Die Plätze hier sind heiß begehrt. Es gibt sogar eine Warteliste.“

„Tatsächlich?“ Jack zog die dunklen Brauen in die Höhe. „Das wusste ich nicht. Ich hatte keine Schwierigkeiten, Freddie hier unterzubringen.“

„Wahrscheinlich hat Ihr Vater ein gutes Wort eingelegt.“

Als er ein ernstes Gesicht machte, überlegte sie, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. Doch da war die Schlange vor ihnen geschmolzen, und Alison konnte Sam in die Liste eintragen. Dann brachte sie ihn in seinen Gruppenraum.

„Bis heute Mittag, mein Schatz.“ Sie umarmte ihn.

„Bye, Mummy!“, rief er ihr noch pflichtschuldig zu, während er bereits zu seinen Freunden rannte. Alison lächelte zufrieden. Sam klammerte schon lange nicht mehr!

Jack war in ein Gespräch mit Trish Atkins vertieft, der Gruppenleiterin für die Dreijährigen. Alison hatte es eilig, winkte ihm nur zu und verließ das Gebäude.

Fünf Minuten vor ihrem ersten Termin rauschte sie in die Praxis.

Sue, die heute Morgen am Empfang Dienst hatte, blickte grinsend auf. „Bist du auf der Flucht?“

„Fühlt sich fast so an“, keuchte Alison und warf einen Blick ins Wartezimmer. Ihre Patientin war schon da. „Gib mir eine Minute, meinen Mantel auszuziehen, dann kannst du Mrs. Baxter raufschicken. Ach ja, sag ihr, sie möchte bitte den Fahrstuhl nehmen. Sie soll keine Treppen steigen.“

Sie lief die Stufen hinauf und dann nach rechts, den Flur hinunter. Ihr Zimmer lag am Ende, direkt neben dem Lift. Alison ließ die Tür offen, hängte ihren Mantel auf und schaltete ihren Computer ein, um Audrey Baxters Daten aufzurufen.

Bei Mrs. Baxter war Angina pectoris festgestellt worden, und Dr. Donnelly hatte sie zu einem Cholesterin-Test einbestellt. Draußen auf dem Flur ertönte ein leises Ping, dann öffneten sich die Fahrstuhltüren.

Alison stand auf und steckte den Kopf aus dem Zimmer. „Guten Morgen, Mrs. Baxter. Kommen Sie gleich rein.“

„Danke, Liebes“, antwortete Audrey Baxter fröhlich. Sie war Anfang sechzig, hatte bis zum letzten Jahr im Postamt gearbeitet und machte sich nach ihrer Pensionierung ehrenamtlich in der Kirche nützlich. Ihre gute Laune war ansteckend, und was auch in Penhally Bay passierte, sie schien immer als Erste davon zu wissen.

Jetzt sank sie lächelnd auf den Besucherstuhl. „Bin ich froh, dass Sie einen Aufzug haben. Heute Morgen bekomme ich schlecht Luft.“

„Haben Sie Brustschmerzen?“ Alison musterte sie besorgt.

„Schmerzen eigentlich nicht, mehr so ein Engegefühl, als ob etwas auf die Brust drückt.“

„Ich werde Dr. Donnelly bitten, dass er Sie sich mal ansieht.“ Sie wählte seinen Anschluss, bekam aber keine Antwort und drückte den Knopf für die Zentrale. „Ist Adam schon da, Sue?“

„Nein. Er rief gerade an, dass er später kommt, weil er schon früh zu einem Hausbesuch gerufen wurde. Aber Nick ist da.“

Autor

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Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills & Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...
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