Julia Collection Band 179

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Unverhofft kommt bekanntlich oft. Die drei Freundinnen Jenny, Tess und Stevie finden die große Liebe, als sie es am wenigsten erwarten …

MINISERIE VON GINA WILKINS

DEIN KUSS HEILT MEINE WUNDEN
Seine Hände auf ihrer Haut – und die letzten zehn Jahre ohne ihn sind wie ausradiert! Jenny kann nur noch an die Leidenschaft denken, mit der Gavin sie geküsst hat. Erst als der Rausch der Erregung verfliegt, fällt ihr ein, wie sehr der attraktive Polizist sie damals verletzt hat …

HEIRATS-DEAL MIT DEM BOSS
Allein am Fest der Liebe? Keine schöne Aussicht für Tess. Aber deshalb den Heiratsantrag ihres attraktiven Chefs Scott annehmen? Zwar fühlt sie sich heimlich zu ihm hingezogen, und es knistert heiß, als er sie küsst. Aber er stellt auch klar: Die Ehe ist für ihn ein Business-Deal!

NACHBAR, DADDY, BRÄUTIGAM
„Heirate mich!“ Meint ihr Nachbar Cole McKellar das etwa ernst? Sie sind ja noch nicht mal verliebt! Oder? Jedenfalls fühlt Stevie, eine Zweckehe mit dem smarten IT-Spezialisten wäre für ihr Baby perfekt. Spontan willigt sie ein … Ein Fehler oder der Anfang puren Familienglücks?


  • Erscheinungstag 09.12.2022
  • Bandnummer 179
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511896
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Gina Wilkins

JULIA COLLECTION BAND 179

1. KAPITEL

Die Scheibenwischer konnten die Regenflut kaum bewältigen, die auf die Windschutzscheibe prasselte, und die Scheinwerfer durchdrangen die Dunkelheit nur unzureichend. Dazu stürmte es so sehr, dass es schwierig war, den Wagen auf der Straße zu halten. Jenny Baer umklammerte das Lenkrad und beugte sich leicht im Sitz vor, um die gewundene Straße besser zu erkennen. Die Schlechtwetterfront hatte sie früher als erwartet auf ihrer dreistündigen Fahrt erwischt.

Es war Freitag, und sie hatte vorgehabt, gleich nach der Mittagspause Feierabend zu machen. Dann wäre sie am frühen Nachmittag hier gewesen, lange vor dem Wetterumschwung. Aber in der Firma waren lauter Dinge dazwischengekommen, und sie hatte schließlich erst nach sechs aufbrechen und sich vorher nicht mal umziehen können. Kurz hatte sie überlegt, ob sie erst am nächsten Morgen fahren sollte, aber dann wäre sie möglicherweise nie weggekommen. Sie gönnte sich so selten Urlaub, dass sie sich diese drei freien Tage auf keinen Fall nehmen lassen wollte.

Nur gut, dass ihre Großmutter nicht hier war. Gran hatte die ganze Zeit gesagt, dass es verrückt war, allein für drei Tage in eine einsame Berghütte zu fahren. Aber Gran versuchte ihr sowieso ständig vorzuschreiben, wie sie ihr Leben zu führen hatte. Auch wenn sie es sicherlich nur gut meinte, Jenny musste sie oft daran erinnern, dass sie schließlich schon einunddreißig war, einen Masterabschluss hatte und dass ihr eine erfolgreiche Boutique gehörte.

Wenn Gran gewusst hätte, warum Jenny unbedingt in eine einsame Berghütte wollte, hätte sie gleich noch mehr zu sagen gehabt. Aber vorsichtshalber hatte sie ihrer Großmutter von Thads Heiratsantrag noch gar nichts erzählt. Thad Simonson war ein prominenter Anwalt, und Gran hätte bestimmt gleich den Hochzeitsplaner bestellt und die Verlobungsparty organisiert. Aber Jenny hatte sich bei Thad Bedenkzeit auserbeten – und der verstand das vollkommen und hielt es sogar für vernünftig. Schließlich waren Jennys praktische Veranlagung und ihr scharfer Verstand das, was er am meisten an ihr bewunderte, hatte er bei der Gelegenheit gesagt. Sie hatte es als Kompliment genommen – und so meinte er es auch –, aber in ihren Ohren klang das doch ein wenig unromantisch.

Im Moment war Thad auf einer seiner vielen Geschäftsreisen, und Jenny hatte die Gelegenheit genutzt, um sich ein paar Tage frei zu nehmen. Sie wollte darüber nachdenken, was es für sie bedeutete, wenn sie Thad heiratete – ohne ständig vom Telefon oder einem Meeting mit Angestellten, Kunden und Vertragspartnern unterbrochen zu werden.

Vor ihr zuckte ein Blitz durch die Wolken und erleuchtete die umliegenden Hügel. Das Zentrum dieses Junigewitters lag noch ein paar Meilen vor ihr, kam aber näher. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, bei einer solchen Wettervorhersage in die Berge zu fahren? Sonst war sie kein bisschen impulsiv – jedenfalls nicht in den letzten zehn Jahren – und doch fand sie sich jetzt hier im Nirgendwo wieder, auf dem Weg zu einer Hütte in den Ozarks, einer idyllischen bewaldeten Bergkette in Arkansas. In der Hütte gab es weder Zimmerservice noch den Luxus, den sie normalerweise im Urlaub bevorzugte – wenn sie sich denn mal Urlaub gönnte. Und sie hatte sich ganz spontan erst vor zwei Tagen entschieden, überhaupt wegzufahren, was für sie auch sehr untypisch war.

So gesehen war es ein Wunder, dass in der beliebten Urlaubsregion im Juni überhaupt eine Hütte frei gewesen war, aber die Frau bei der Ferienhausvermittlung hatte ihr versichert, das gehe in Ordnung. Vielleicht lag es am schlechten Wetter? Aber Jenny hatte sowieso vor, sich hauptsächlich drinnen aufzuhalten und sich darüber zu freuen, dass sie allein war. Ein verregnetes Wochenende konnte sie also nicht abschrecken. Eine so gewaltige Gewitterfront war dagegen schon was anderes.

Zum Glück war sie fast da. Sie bog von der Asphaltstraße auf eine steile Schotterpiste mit vielen Schlaglöchern ab, die rasch zu tiefen Pfützen wurden. Beim Abbiegen kam das Auto leicht ins Schleudern, weil ein Wasserfilm auf der Straße stand. Sie hielt den Atem an und umklammerte das Lenkrad noch fester, bis die Reifen wieder griffen und der Wagen sich langsam den Hügel hinaufkämpfte. Als schließlich die Hütte vor ihr auftauchte, stöhnte Jenny erleichtert auf, auch, wenn sie sie nur als dunkleren Schatten in der Dunkelheit wahrnahm. Eine Außenleuchte mit Bewegungsmelder gab es wohl nicht, und es war schwer zu sagen, ob sich etwas verändert hatte, seit sie vor elf Jahren das letzte Mal hier gewesen war.

Jenny parkte so nah wie möglich neben der vorderen Veranda, um auf dem Weg zur Haustür nicht völlig durchnässt zu werden. Alles, was sie im Moment brauchte – Handtasche, Laptoptasche und eine kleinen Reisetasche mit Sachen für die Nacht – lag auf dem Beifahrersitz. Die große Reisetasche aus dem Kofferraum konnte sie später holen.

Sie griff sich das Nötigste, sprang aus dem Auto und rannte zu der überdachten Veranda. Leise fluchend steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Schon von den wenigen Metern war sie völlig durchnässt. Ihr dunkles Haar hing ihr in nassen Strähnen ums Gesicht. Ihre vorher gebügelte weiße Designerbluse klebte ihr jetzt durchsichtig am Körper, und die graue Leinenhose fühlte sich an wie ein nasser Lappen. Ihre teuren Sandalen waren mit Matsch verschmiert, und auf den glatten Holzstufen war sie prompt umgeknickt. Das hatte man nun davon, wenn man in einer Hütte Urlaub machte, wo einen kein freundlicher Portier mit dem Schirm am Auto abholte.

„Hab ich dir doch gleich gesagt“, hörte sie die Stimme ihrer Großmutter in ihrem Ohr.

Stirnrunzelnd stieß Jenny die Haustür auf. Drinnen war es dunkel und stickig. Ab und zu zuckte ein Blitz über den Himmel und erhellte den Innenraum, der aus einem großen Zimmer bestand, an dessen hinterem Ende die Küchenzeile und ein Essbereich lagen. An der rechten Wand gab es einen großen gemauerten offenen Kamin. Genauso hatte sie es in Erinnerung.

Mit dem Gefühlssturm, den das hervorrief, hatte sie jedoch nicht gerechnet. Sie spürte einen dumpfen Schmerz in ihrem Herzen und hatte Mühe zu atmen. Die ganze Zeit hatte sie sich eingeredet, dass die Hütte der perfekte Ort war, um sich ernsthafte Gedanken über ihren nächsten Schritt im Leben zu machen. Außerdem lag sie sehr idyllisch – das lange Wochenende, das sie hier mit der Familie ihres damaligen Freundes verbracht hatte, war einer der schönsten Urlaube überhaupt gewesen. Deshalb war es ihr wie eine glückliche Fügung vorgekommen, als sie mit Hilfe des Internets und der Ferienhausvermittlung herausgefunden hatte, dass die Hütte nicht nur immer noch vermietet wurde, sondern zur fraglichen Zeit sogar frei war.

Sie hatte gedacht, sie könne die idyllische Umgebung genießen, ohne daran zu denken, wie tränenreich jenes Jahr nach der Trennung von ihrem damaligen Freund für sie geendet hatte. Sie hatte geglaubt, über diesen jugendlichen Herzschmerz hinweg zu sein. Dass sie an die guten Zeiten denken und die schlechten vergessen konnte, wie es Erwachsene mit den Kapriolen ihrer Jugend eben tun. Vielleicht hatte sie sogar gehofft, dies wäre ein angemessener, endgültiger Abschluss für die einzige ernsthafte Beziehung, die sie vor Thad gehabt hatte, damit sie sich frei von allen Altlasten nun an einen Mann binden konnte.

Vielleicht hätte sie nicht ganz so mutig sein sollen. Manche alten Erinnerungen ließ man besser in Ruhe, anstatt sie so greifbar zu machen.

Ein wenig fassungslos über ihre eigene Gedankenlosigkeit stellte sie die Taschen ab und tastete nach einem Lichtschalter. Hoffentlich würde das Licht die alten Erinnerungsbilder dahin jagen, wohin sie gehörten. Doch als sie den Schalter drückte, passierte gar nichts.

Na wunderbar. Ein Stromausfall wegen des Gewitters. Sollte sie jetzt zurück zum Auto rennen und wieder in die Zivilisation fahren, wo es als Bonus auch keine schmerzlichen Erinnerungen gab? Wie als Antwort peitschte eine Windböe gegen die Fenster, dass die Scheiben klirrten, und kurz darauf erklang ein Donnerschlag, der direkt über der Hütte zu explodieren schien. Okay, also würde sie vielleicht doch erst mal eine Weile drinnen bleiben.

Sie zog ihr Handy aus der Tasche und nutzte das Display als Taschenlampe. Hier hatte sie auch nur minimalen Empfang, aber immerhin zeigte das Handy die Zeit an. Es war schon fast zehn Uhr.

Da konnte sie auch die klatschnassen Sachen ausziehen und versuchen, ein wenig zu schlafen. Plötzlich fühlte sie sich sehr erschöpft, und sie streifte die schlammverkrusteten Schuhe ab, knöpfte mit der freien Hand ihre Bluse auf und trug dann ihre Reisetasche zu dem Flur auf der linken Seite des Raums. Morgen früh, wenn das Gewitter vorbei war, konnte sie sich immer noch überlegen, was zu tun war, wenn es weiterhin keinen Strom gab. Sie hatte gehofft, dass sie am Ende dieser drei Tage einen Haufen Papierkram erledigt und wichtige Entscheidungen getroffen haben würde. War sie zu naiv gewesen?

Als sie im Flur ankam, konnte sie es kaum noch abwarten, die nassen Sachen auszuziehen und in ihr bequemes Satinnachthemd zu schlüpfen. Hoffentlich war die Matratze nicht zu hart – aber das war fast auch schon egal, im Moment hätte sie auf einem Haufen Steine schlafen können.

Das Schlafzimmer war winzig und wurde fast völlig vom Bett ausgefüllt. Gerade, als ihr das klar wurde, stolperte sie über etwas Hartes auf dem Boden. Die Tasche fiel ihr aus der Hand und landete direkt auf ihrem nackten Fuß. Ein scharfer Schmerz schoss ihr Bein hinauf, und sie schrie auf und hüpfte auf einem Bein herum. Dabei ließ sie das Handy fallen, das auf dem Display landete, woraufhin der Raum in Dunkelheit getaucht war. Orientierungslos fiel Jenny auf das Bett.

„Verdammt, was ist hier los?!“ Die verschlafene, erschrockene männliche Stimme ertönte aus der Dunkelheit, gleichzeitig schlossen sich Hände um Jennys Arme. Instinktiv wehrte sie sich, und ihre Hände landeten auf einer nackten, warmen, behaarten Brust. Sie schrie ein zweites Mal auf und riss ihren Oberkörper heftig zurück. Wenn der Mann sie nicht festgehalten hätte, wäre sie vom Bett gefallen.

„Lassen Sie mich los!“, befahl sie scharf. Panik schnürte ihr den Hals zu. „Was machen Sie hier? Ich rufe die Polizei!“

„Ich bin die Polizei. Und Sie sind hier eingebrochen.“

Jenny kämpfte sich auf die Füße. Der Mann hielt sie noch immer mit einer Hand fest und tastete mit der anderen nach dem Nachttisch. Das kalte, fluoreszierende Licht einer Notlaterne flammte auf, und sie zwinkerte, um sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnten. Dass sie den Mann, der sie noch immer festhielt, jetzt sehen konnte, beruhigte sie allerdings nicht gerade.

Sein dunkelblondes Haar mit ein paar helleren Strähnen war schulterlang, und sein kantiges Kinn bedeckt von einem dunklen Dreitagebart. Seine Augenfarbe konnte sie nicht erkennen, aber seine Lippen waren fest zusammengepresst, und er hatte Falten neben den Mundwinkeln, die sich, wenn er lachte, möglicherweise zu langen Grübchen vertieften. Falls er je lachte. Seine nackten Schultern waren breit wie bei einem Footballspieler und gebräunt. Am auffälligsten war allerdings der große weiße Verband, der seine rechte Schulter bedeckte, auch wenn der ihn nicht unbedingt verletzlicher aussehen ließ. Im Gegenteil, der erste Eindruck vermittelte ihr angespannte Kraft, schwelendes Temperament und fast überwältigende Männlichkeit.

Es dauerte einen weiteren Moment, bis ihr klar wurde, dass sie den Mann kannte. Oder ihn früher gekannt hatte. Sehr gut sogar. Wenn er nicht noch immer ihren Arm festgehalten hätte, hätte sie gedacht, ihr müder, von Erinnerungen überfluteter Verstand spiele ihr einen Streich.

„Gavin?“

Hatte das Schicksal wirklich einen so schrägen Humor?

Er blinzelte zu ihr auf, und sie fragte sich, ob er sie in diesen Lichtverhältnissen überhaupt erkennen konnten. Doch dann entspannte sich sein Griff.

„Jen?“

Von all den unwahrscheinlichen Vorkommnissen, die sie sich für diese spontane Reise hätte vorstellen können, hätte „Ich lande im Bett mit Gavin Locke“ es nicht mal auf die Liste geschafft. Stumm starrte sie ihn an, unfähig etwas zu denken, geschweige denn zu sagen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie hatte Mühe zu atmen. Schon wieder kamen ihr Erinnerungen – diesmal so greifbar, dass sie seine Hände fast auf ihrer Haut, seine Lippen auf ihrem Mund spüren konnte.

Obwohl ihr Körper sofort auf diese erregenden Bilder reagierte, versuchte sie, sie wegzuschieben. Sie war nur überrascht, das war alles, sagte sie sich. Natürlich reagierte sie darauf, Gavin so unerwartet halbnackt in ihrem Bett vorzufinden – wie früher so oft. Sie hatte diese jugendliche Liebesbeziehung lange hinter sich gelassen. Dass sie sich so lebhaft erinnerte, bedeutete nicht, dass sie noch nicht darüber hinweg war.

„Was machst du hier?“, fragte er. „Wie bist du reingekommen?“

„Durch die Eingangstür“, antwortete sie und wünschte sich, ihre Stimme klänge ein wenig fester. „Und du? Bist du eingebrochen?“

„Eingebrochen? Nein, natürlich nicht! Ich habe einen Schlüssel.“

Er deutete auf den Nachttisch, und sie sah einige Tablettenröhrchen, sein Pistolenhalfter und einen Schlüsselring mit mehreren Schlüsseln.

„Hör mal, Jenny, ich hatte zu wenig Schlaf und ich bin ziemlich sauer, dass jemand es bis in mein Bett geschafft hat, ohne dass ich ihn gehört hätte. Kannst du mir bitte erklären, warum du hier bist?“

Seine Stimme war tiefer geworden, aber seine Gereiztheit kannte sie von früher. Während der letzten Wochen ihrer Collegeromanze hatte sie diesen Tonfall nur allzu oft gehört.

Trotzig hob sie das Kinn, entschlossen, sich von seiner Stimmung nicht einschüchtern zu lassen. „Ich habe die Hütte von Lizzie von der Ferienhausvermittlung gemietet. Ich habe das Wochenende im Voraus bezahlt, und der Vertrag dazu steckt in meiner Laptoptasche im Wohnraum.“

Offenbar überrascht lockerte er seinen Griff noch mehr, und sie nutzte die Gelegenheit, um sich zu befreien und sich ein Stück vom Bett zu entfernen.

„Lizzie hat dir die Hütte vermietet?“, wiederholte er schließlich. Offenbar dämpften die Medikamente seinen sonst so scharfen Verstand ein wenig.

Jenny nickte. „Sie sagte, jemand hätte abgesagt und die Hütte wäre frei.“

„Lizzie ist eine …“

Ein Donnerschlag übertönte seine Worte, was wahrscheinlich besser so war. Als es wieder stiller wurde, schüttelte Gavin den Kopf, schlug das Laken zurück und stand auf. Er hatte nur Boxershorts an. Sie hatte ihn zwar schon in weniger gesehen, aber das war lange her, und dass er jetzt so vor ihr stand, machte die Sache nicht gerade weniger peinlich.

In dem Moment wurde ihr auch klar, dass ihre nasse Bluse aufgeknöpft war und er ihren spitzenbesetzten BH sehen konnte. Hastig zog sie den Stoff über der Brust zusammen und tastete nach den Knöpfen. Ihr Fuß, auf den die Tasche gefallen war, pochte, sie wusste nicht, wo ihr Handy gelandet war, und von ihrem nassen Haar fielen ihr ständig kalte Tropfen auf die Schultern. Nicht im Traum hätte sie sich einfallen lassen, dass ihr Urlaub so anfing.

Gavin schien sich aus seinem Aufzug nichts zu machen, denn er blieb im Lichtkegel der Notlaterne stehen. Blitze erhellten ab und zu das Zimmer, dann sah sie sein hartes Gesicht und seinen gestählten Körper besser – und reagierte dummerweise auch nach all dieser Zeit und trotz der seltsamen Umstände mit einem eindeutigen verlangenden Ziehen in ihrer Mitte darauf. Er sah heute noch besser aus als früher.

Sie räusperte sich. „Wenn du den Vertrag sehen willst …“

„Komm schon, Jenny, ich glaube dir natürlich. Außerdem hatte ich in letzter Zeit oft genug mit Lizzie zu tun und kann mir denken, wie es gelaufen ist.“

Draußen heulte der Wind ums Haus, und Jenny musste die Stimme heben. „Willst du damit sagen, dass sie dir die Hütte ebenfalls vermietet hat?“

„Ich musste sie nicht mieten, sie gehört mir jetzt.“

„Oh, verflixt.“ Wann hatte er sie gekauft? Und warum? Jenny erinnerte sich dunkel daran, dass die Hütte einem alten Freund seiner Familie gehört hatte.

„Das kannst du laut sagen.“ Missmutig schüttelte er den Kopf. „Ich hatte Lizzie extra gesagt, dass sie diese Woche nicht vermieten soll, weil ich die Hütte selbst brauche. Ich hätte wissen müssen, dass sie das durcheinanderbringt. Sie ist neu in der Vermittlungsfirma und leider völlig inkompetent.“

„Ich …“ Wieder traf ein heftiger Windstoß die Hütte, die darunter zu erzittern schien. Dann schlug etwas auf das Dach, und Jenny zuckte zusammen und blickte instinktiv nach oben. Immerhin waren sie von Bäumen umgeben. Wahrscheinlich war es diesmal nur ein Ast gewesen, aber sie hoffte sehr, dass dem nicht der ganze Baum folgte.

Gavin blickte ebenfalls zur Decke und schwankte dann, als mache ihn die Bewegung schwindelig. Er suchte am Nachttisch Halt und warf dabei fast die Notlaterne runter. Ohne nachzudenken, ging Jenny auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er zuckte zurück, als sie die bandagierte Schulter berührte; offenbar hatte sie ihm weg getan. Doch selbst bei dem kurzen Kontakt bemerkte sie, wie unnatürlich heiß sich seine Haut anfühlte.

Stirnrunzelnd streckte sie noch einmal die Hand aus und legte sie diesmal vorsichtig auf seine Wange. „Du hast Fieber.“

Er schob ihre Hand weg. „Ich habe geschlafen. Wahrscheinlich ist mir deshalb so warm.“

„Nein, es ist definitiv leichtes Fieber. Ist die Wunde infiziert?“

„Ich nehme Antibiotika“, murmelte er.

„Seit wann?“

„Seit heute Morgen. Ich war in Little Rock beim Arzt, bevor ich hergefahren bin. Er meinte, es wäre nicht allzu schlimm und die Medikamente würden es schnell in den Griff bekommen.“

„Hast du was gegen das Fieber genommen?“

„Mir geht’s gut.“

„Ich habe Aspirin in meiner Tasche. Vielleicht solltest du dich wieder hinlegen, während ich es hole. Kann ich mir die Lampe ausleihen?“

„Du bist hier eingebrochen, um bei mir Fieber zu messen und mir Aspirin zu geben? Hat meine Mutter dich geschickt?“, fragte er.

Seltsamerweise entspannte sie sich ein wenig, als er seine Mutter erwähnte. Die hatte sie immer sehr gemocht.

„Ich bin nicht eingebrochen. Und ich gehe sofort wieder. Tut mir leid, dass es ein Missverständnis gab. Möchtest du jetzt das Aspirin, bevor ich gehe, oder nicht?“

Mittlerweile stand er ein wenig sicherer, und er griff nach einer Jeans, die auf dem Boden lag, und zog sie über. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie über seine Stiefel gestolpert war.

Er deutete zum Fenster, dessen Scheibe vom Sturm vibrierte, und durch das ständig Blitze zu sehen waren.

„Bei dem Wetter kannst du hier nicht weg. So wie das regnet, würde es mich nicht wundern, wenn die Straße unten überschwemmt ist. Und noch ist die Gewitterfront nicht mal direkt über uns. Es wird noch schlimmer, bevor es vorbei ist.“

Sie dachte daran, wie der Wagen auf der nassen Straße ausgebrochen war, als sie abbiegen wollte, und schluckte.

„Ich komme schon klar.“ Es klang nicht ganz so überzeugt, wie sie gehofft hatte.

Sie bückte sich, um ihr Handy aufzuheben. Gleichzeitig machte Gavin einen Schritt auf sie zu. „Sei doch nicht dumm. Das Gewitter ist zu …“

Durch den Zusammenprall fiel sie rücklings aufs Bett, und Gavin wäre fast auf ihr gelandet. Irgendwie schaffte er es noch, das Gleichgewicht zu bewahren, musste dafür aber mit den Armen rudern, weshalb er vor Schmerzen aufstöhnte.

Kopfschüttelnd setzte sie sich auf. Konnte dieser lächerliche Abend noch schlimmer werden? Oder forderte sie das Schicksal heraus, wenn sie sich das fragte?

2. KAPITEL

Gavin fragte sich, was wohl in den Tabletten gewesen war, die er genommen hatte, bevor er ins Bett ging. Hatte er Halluzinationen? Oder war wirklich eine umwerfende, nasse Frau mit verführerischen Kurven, die man dank der offenen Bluse gut sehen konnte, direkt in seinem Bett gelandet? Eine Frau aus den Erinnerungen, die er so gut wie möglich verbannt hatte, auch wenn sie ihn in seinen heißeren Träumen manchmal verfolgten? Träumte er jetzt auch?

Nein. So grimmig, wie sie ihn anstarrte, war sie bestimmt keine Fantasie. Seine Traum-Jenny war sehr viel umgänglicher gewesen.

Er murmelte eine Entschuldigung und reichte ihr den gesunden Arm, um ihr aufzuhelfen. Als sie sicher stand, ließ er sie sofort los.

„War ja nicht deine Schuld“, gab sein ungebetener Gast zu. „Ich wollte nur mein Handy aufheben. Ich habe es fallen lassen, als ich über deine Schuhe gestolpert bin.“

Weshalb es auf gewisse Weise also doch seine Schuld war, aber er wollte keinen Streit anfangen.

„Erwartest du eigentlich heute Abend noch jemanden?“, fragte er.

Hoffentlich störte er nicht bei einem romantischen Wochenende. Dass ihm die Möglichkeit missfiel, lag nur daran, dass er keine Lust auf weitere Besucher hatte. Woran sollte es nach all der Zeit auch sonst liegen?

„Nein. Ich wollte mich hier ein paar Tage verkriechen, um endlich mal ohne Unterbrechungen arbeiten zu können.“

So ganz klar war er noch nicht wieder im Kopf. Wieso sollte Jenny ausgerechnet hierher kommen? Und was sollte er jetzt mit ihr anfangen?

Das war zwar eine rhetorische Frage, aber die Antwort präsentierte sich ihm prompt mit einer Flut von ungebetenen Erinnerungen an das letzte Mal, als sie hier zusammen gewesen waren. Er konnte geradezu vor sich sehen, wie er und Jenny nackt und eng umschlungen auf ihren ausgebreiteten Kleidern im Schatten von Bäumen lagen. Lachend und erregt hatten sie diese gestohlene Stunde ausgiebig genutzt.

Er verdrängte die Erinnerung entschlossen und wandte sich halb von Jenny ab. Bei diesem Wetter konnte er sie unmöglich auf die Straße schicken. Er seufzte schwer. „Hinter der Küche gibt es noch ein Schlafzimmer, erinnerst du dich? Du kannst da heute Nacht schlafen, und dann sehen wir morgen weiter.“

„Ich soll die Nacht hier verbringen? Mit dir?“

Seine Schulter schmerzte, und sein Kopf schickte sich an, es ihr gleichzutun. Seit Tagen hatte er zu wenig Schlaf bekommen. Geduld war nicht mal seine Stärke, wenn es ihm gut ging, aber heute Nacht war ihm einfach alles zu viel.

„Du sollst ja nicht in einem Bett mit mir schlafen“, fauchte er. „Du kannst ja abschließen, wenn du solche Angst vor mir hast. Oder nimm meine Waffe mit und leg sie unters Kopfkissen, wenn du dich dann besser fühlst.“

Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Ich habe keine Angst vor dir, Gavin.“

„Fein, ich vor dir auch nicht.“

Sie lachte leise, was sie selbst zu überraschen schien. „Du hast Schmerzen“, sagte sie dann. „Ich hole die Tabletten.“

„Ich habe schon was gegen die Schmerzen genommen, bevor ich ins Bett gegangen bin. Wahrscheinlich sollte ich das nicht mit Aspirin mischen.“

„Oh, da hast du recht. Wie lange ist das her?“

„Zwei Stunden vielleicht. Ich kann alle vier Stunden eine nehmen, aber normalerweise brauche ich sie nicht so oft.“

„Was ist denn überhaupt mit deiner Schulter passiert?“

„Das ist eine lange Geschichte.“ Und die wollte er jetzt auf keinen Fall erzählen. „In der Küche gibt es noch eine Notleuchte. Ich helfe dir, sie zu finden, ich muss sowieso was trinken.“

„Danke.“

Als erneut etwas aufs Dach krachte, blickte sie nervös nach oben. Ob sie Angst vor dem Sturm hatte? Gewitter hatten ihr nie behagt. Und doch hatte sie vorgehabt, jetzt wieder loszufahren? Er schüttelte den Kopf.

Vorsichtig zog er ein weites Hemd über, nahm die Leuchte und ging an ihr vorbei in den Flur. Er hörte, wie sie ihre Tasche nahm und ihm eilig folgte, um im Lichtkegel zu bleiben. Als er die zweite Notleuchte aus der Küchenschublade nahm, sie einschaltete und Jenny reichte, nahm sie sie ungeduldig entgegen.

Im Licht der zwei Lampen konnte er sie besser sehen. Auch als Teenager war sie schon sehr hübsch gewesen, aber die letzten zehn Jahre hatten sie nur noch schöner gemacht.

Früher hatte sie ihr dunkles Haar lang und glatt getragen, jetzt umspielte es in Stufen ihr ovales Gesicht. Er dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, die Finger darin zu vergraben.

Unter ihren langen dunklen Wimpern hindurch blickte sie ihn aus ihren schokoladenbraunen Augen misstrauisch an. Damals hatte immer Bewunderung in ihrem Blick gelegen.

Sie war noch immer schlank, aber ein wenig kurviger als früher. Früher war er mit jeder Stelle ihres Körpers vertraut gewesen, und die kleinen Unterschiede zu damals fielen ihm jetzt auf. Er versuchte, objektiv zu bleiben, aber er war schließlich nur ein Mann. Sie sah verdammt gut aus.

Ihre offensichtlich teure Kleidung hatte durch den Regen ein wenig gelitten. Mit Marken kannte er sich nicht aus, aber er erkannte das Logo auf ihrer Reisetasche. Offenbar hatte sie das erreicht, was sie sich immer vorgenommen hatte.

Er hatte absichtlich nie versucht herauszufinden, was aus ihr geworden war, aber seine Mutter hatte vor ein paar Monaten erwähnt, dass sie Jennys Foto auf den Gesellschaftsseiten der örtlichen Zeitung gesehen hatte. Es ging um irgendein Galadinner für die jungen Berufstätigen aus Little Rock, die ihrer Stadt in irgendeiner Form etwas zurückgaben. Sie hatte auch erwähnt, dass Jenny laut des Artikels mit einem Mitglied einer der prominentesten und angesehensten Familien Arkansas ausging, und sie hatte sein Gesicht genau beobachtete, als sie ihm das erzählte.

Er hatte nur kurz angebunden geantwortet, dass er sich für den Sportteil interessierte und nicht für den Klatsch und dass es ihn nichts anging, mit wem seine ehemalige Collegefreundin jetzt zusammen war. Aber vermutlich hatte er seine Mutter nicht restlos davon überzeugt, dass er schon ewig nicht mehr an Jenny gedacht hatte.

Weshalb wollte diese High-Society-Prinzessin also wirklich ausgerechnet in einer rustikalen Anglerhütte Urlaub machen? Sicherlich war sie genauso verärgert darüber, ihn hier anzutreffen, wie umgekehrt. Ihr schockierter Gesichtsausdruck hatte jedenfalls Bände gesprochen.

Er öffnete den Küchenschrank und holte ein Glas heraus. „Hast du Durst? Es ist wahrscheinlich nichts Kaltes im Kühlschrank, aber ich kann dir Leitungswasser anbieten. Vielleicht haben wir auch ein paar Teebeutel. Es ist ein Gasherd, also kann ich dir Wasser kochen, wenn du willst.“

Zwar waren die Umstände nicht gerade günstig, aber er gab sich Mühe, ein guter Gastgeber zu sein. Es war ja auch nicht Jennys Schuld, dass die Vermittlungsagentur die Termine durcheinandergebracht hatte. Mit denen würde er später noch ein ernstes Wörtchen reden.

Jenny fröstelte, und er bemerkte, dass ihre Sachen noch immer leicht nass waren. Verflixt, sie würde bestimmt ihn und die Vermittlungsagentur verklagen, wenn sie krank wurde.

„Zieh dir erst mal was Trockenes an. Ich mache schon mal Wasser heiß. Das Bad ist dort drüben.“

Jenny zögerte nur kurz, dann umfasste sie die Notleuchte fester und ging in Richtung Bad. Vor sich hin fluchend, füllte Gavin den Wasserkessel und griff nach der Dose mit den Kräutertees.

Jenny war nicht lange weg. Als sie zurückkam, trug sie eine eng anliegende dunkle Jerseyhose und ein korallenrotes Top. Das Outfit wirkte wenigstens etwas bequemer als das, was sie vorher angehabt hatte. Sie hatte sich die Haare trockengerubbelt und war noch immer barfuß, aber abgesehen davon hätte sie so auch zu einer informellen Sommerparty gehen können. War das wirklich das, was sie anzog, wenn sie sich für ein Wochenende allein in einer einsamen Hütte verkriechen wollte? Sie sah toll aus, aber irgendwie fehl am Platz hier in der Wildnis – was ihn nicht überraschte.

Er stellte eine Tasse mit dampfendem Tee auf den rustikalen Eichentisch. An einer Wand gab es eine Sitzbank für zwei, an den anderen Seiten des Tisches standen vier Stühle. Manchmal lud er Freunde hierher ein, und seine Familie versuchte, sich mindestens einmal im Jahr hier zu treffen, aber am liebsten kam er allein her, wenn er Ruhe brauchte, um seine Batterien wieder aufzuladen.

Jenny stellte die Notleuchte auf den Tisch, zog sich einen Stuhl heran und griff nach der Tasse. „Dieses Missverständnis bei der Agentur tut mir wirklich leid. Und dass ich dich so aufgeschreckt habe, wo du so dringend Schlaf brauchst.“

„Ist ja nicht deine Schuld“, wiederholte er. „Wie lang wolltest du denn bleiben?“

Sie blickte in ihre Tasse. „Ich habe für drei Nächte bezahlt, also hätte ich bis Montagnachmittag bleiben können, wenn ich gewollt hätte.“

„Allein.“ Das kam ihm immer noch seltsam vor. War sie noch immer mit diesem Mr. Prominent zusammen? Oder war sie wieder Single? Er musste daran denken, wie es ihm in den Wochen nach seiner Trennung von Jenny gegangen war. Er hatte das College abgebrochen und sich zwei Wochen lang hier in der Hütte vergraben, bis seine Eltern aufgetaucht waren und ihn praktisch an den Haaren zurück in die Zivilisation geschleift hatten. Danach war er so schnell es ging in die Polizeiakademie eingetreten und hatte den Schmerz und die Frau, die ihn verursacht hatte, so gut es ging vergessen. Das hatte er zumindest all die Jahre geglaubt.

Für Jennys Hiersein gab es aber vielleicht ja ganz andere Gründe.

Ihr Gesichtsausdruck wirkte neutral, als sie – noch immer ohne ihn anzublicken – sagte: „Ich muss dringend einigen geschäftlichen und persönlichen Papierkram aufarbeiten, und ich dachte, es wäre schön, das ungestört in einer friedlichen Umgebung zu tun. Ich wollte mich mal wirklich konzentrieren können, ohne ständig unterbrochen zu werden, und zu Hause ist das fast nicht möglich.“

Gavin lehnte an der Arbeitsplatte, hob sein Wasserglas und murmelte: „Das Gefühl kenne ich.“

Jetzt blickte sie ihn endlich an. „Du wolltest auch deine Ruhe haben?“

„Gewissermaßen. Ich wurde letzte Woche an der Schulter operiert, und ich wollte mich lieber hier verkriechen, als mich von meiner Mom pflegen zu lassen.“

Sie lächelte leicht. „So, wie ich dich kenne, überrascht mich das nicht.“

Über Erinnerungen – gute oder schlechte – wollte er jetzt lieber nicht reden.

„Du kommst also direkt aus Little Rock?“, fragte er.

„Ja. Als ich losgefahren bin, war das Wetter noch gut, und ich hatte gehofft, die Wetterfront würde erst später hier auftreffen oder ganz vorbeiziehen.“

Als es wieder heftig donnerte, blickte sie zur Decke. „Thor ist heute wirklich sauer“, sagte sie ein wenig nervös.

Er lachte. „Der Gott oder der Comicheld?“

„Der Gott natürlich.“ Sie lachte ebenfalls, ein kehliger kleiner Laut, der die Erinnerungen, die er zu vermeiden suchte, mit voller Kraft zurückbrachte. „Und der Superheld. Ich habe alle Filme gesehen, obwohl mein Freund sie kitschig findet. Versteh mich nicht falsch, ich mag sonst auch eher anspruchsvolle Filme, aber ich …“ Sie unterbrach sich mit einer Grimasse. „Tut mir leid, ich rede zu viel. Diese ganze Situation ist einfach nur so …“

„Unglaublich?“, half er ihr aus, als sie das richtige Wort nicht zu finden schien.

„Ja.“

Er stellte sein Glas ab. Was war das für ein „Freund“, den sie da erwähnt hatte? So, wie sie das gesagt hatte, klang das nicht nach einem rein platonischen Kontakt.

„Ich gehe wieder ins Bett“, sagte er unvermittelt. „Fühl dich wie zu Hause. Morgen früh klären wir alles andere. Deine Anzahlung bekommst du natürlich in voller Höhe zurück.“

Ein Blitz zuckte so nah bei der Hütte, dass man das Ozon fast riechen konnte. Sofort darauf folgte der lauteste Donnerschlag bisher. Das Gewitter war jetzt direkt über ihnen. Gavin sah, wie Jenny zusammenzuckte und sich ihre Hände um die Tasse verkrampften. Jetzt fing es auch noch an zu hageln, und die großen Körner prasselten gegen die Fenster.

„Weißt du, ob es eine Tornadowarnung gab?“, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Mein Handy hat eine Alarmfunktion für solche Fälle. Es gab nur eine allgemeine Wetterwarnung wegen Starkregens und Gewitter.“

„Und du sagst mir Bescheid, wenn es doch schlimmer wird?“

„Natürlich.“

Er war auf dem Weg zum Flur, als der Hagel stärker wurde und ohrenbetäubend auf das Dach und die Fenster prasselte. Jenny gab einen unterdrückten Laut von sich. Als er sich zu ihr umsah, saß sie noch immer am Tisch, die Tasse umklammernd, und sie wirkte sehr blass.

„Alles okay bei dir?“, fragte er.

Sie schaute zu ihm hinüber. „Ich hoffe, der Hagel beschädigt mein Auto nicht.“

Sein Truck stand im Carport, aber er hatte nicht vor, ihr anzubieten, die Plätze zu tauschen. Sie war bestimmt versichert. „Vielleicht ist es nur ein kurzer Schauer.“

„Hoffentlich.“ Ihre Stimme ging im Donner fast unter, und der Lärm verstärkte seine Kopfschmerzen.

Er rieb sich die linke Schläfe und sagte: „Lass mich wissen, wenn du was brauchst.“

„Danke, im Moment hab ich alles.“

Statt einer Antwort nickte er nur kurz und ging in Richtung Schlafzimmer. Er musste sich dringend hinlegen, sonst würde er doch noch umfallen. Sein Arzt hatte ihm gesagt, die Wunde wäre nur leicht infiziert und fünf Tage Antibiotika würden das in den Griff bekommen, aber heute fühlte er sich wirklich schlecht. Kein Wunder, dass es ihn in diesem Zustand so fertig machte, dass Jenny wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Seit sie hier war, konnte er einfach keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Jenny blickte Gavin nach. Das dünne Hemd betonte seine breiten, muskulösen Schultern und Oberarme. Auch seine verwaschenen Jeans saßen verflixt gut. Er hatte etwas Gewicht zugelegt, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, aber das war alles Muskelmasse. Von hinten sah man nichts von seiner Schulterverletzung, was das Bild von purer männlicher Kraft noch vervollkommnete.

Sie wartete, bis sich die Schlafzimmertür hinter ihm geschlossen hatte, dann sank sie in sich zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Sie hatte sich immer gefragt, was sie fühlen würde, wenn sie Gavin wiedersah. Und sie hatte gehofft, dass sie genügend Zeit haben würde, sich darauf vorzubereiten. Jetzt war es ganz anders gekommen, und sie hatte all ihre Selbstbeherrschung gebraucht, um zu verbergen, wie schockiert und betroffen sie war.

Gavin hatte auch nicht gerade gefühlsbetont reagiert, wenn man von seiner ersten Verwirrung absah. Seitdem hatte nichts darauf hingedeutet, dass er mehr in ihr sah als eine lästige Störung. Kein Wunder, wenn sie daran dachte, wie wütend er über ihre Trennung gewesen war.

Auf einmal fühlte sie sich sehr allein. Ein heftiger Windstoß und erneuter Donner ließen sie zusammenzucken, und sie verschüttete fast den Rest ihres Tees. Sie schluckte, richtete sich auf und trug ihre Tasse zur Spüle.

Dann nahm sie ihre Tasche und die Lampe und ging in Richtung des zweiten Schlafraums, der noch kleiner war als der, in dem Gavin schlief. Ein Stockbett stand an der Wand und nahm den meisten Raum ein. Das hatte sie ganz vergessen – damals, bei dem Urlaub mit Gavins Familie, hatte sie hier mit Gavins Schwester übernachtet. Seine sehr konservativen Eltern hatten den großen Schlafraum gehabt, und Gavin hatte die Couch bekommen.

Was sie und Gavin nicht davon abgehalten hatte, sich ein paar Mal davonzuschleichen, um miteinander allein zu sein. Sie hatten eine sehr einladende Waldlichtung mit weichem Moos gefunden, an der ein plätschernder Bach vorbeifloss.

Die Erinnerung war so stark, dass sie fast meinte, das Plätschern jetzt zu hören. Sie trat in den Schlafraum und zuckte zusammen, als sie mit dem nackten Fuß in kaltes Wasser trat. Als sie die Lampe anhob, sah sie, dass sich durch die Decke ein stetiger Strom auf das obere Stockbett ergoss. Ein kleineres Leck gab es offenbar direkt über ihr, deshalb die Pfütze auf dem Boden. Der Wind hatte ein paar Dachziegel abgedeckt.

Sie eilte zurück in die Küche, stellte ihre Tasche auf den Tisch und durchsuchte die Küchenschränke nach Behältern, mit denen sie das Wasser auffangen konnte. Wenn sie schnell genug war, würde der Holzboden vielleicht keinen allzu großen Schaden nehmen. Sie versuchte, leise zu sein, aber die Töpfe klapperten trotzdem. Sie zog die beiden größten, die sie finden konnte, aus dem Schrank, dann versuchte sie, sie zusammen mit ein paar Geschirrtüchern und der Lampe in den Schlafraum zu bringen.

Dieser Stromausfall war wirklich lästig.

Die Tür des anderen Schlafraums flog auf. „Was machst du denn da?“

Gavin klang verschlafen, aber auch genervt.

„Tut mir leid, dass ich dich schon wieder störe“, sagte sie über die Schulter. „Aber im anderen Schlafraum ist das Dach an zwei Stellen undicht. Ich versuche, das Wasser aufzufangen, bevor der Schaden noch größer wird.“

„Ach, Mist.“

Kurz darauf folgte er ihr mit einem größeren Handtuch und half ihr, den Rest des Wassers aufzuwischen. Das Hemd hatte er wieder ausgezogen, und als sie gleichzeitig in dieselbe Richtung wischten, berührte er mit der nackten Schulter ihren Arm. Die Berührung versetzte ihr einen kleinen elektrischen Schlag. Wahrscheinlich die statische Aufladung vom Wischen, sagte sie sich, und rückte ein Stück von ihm ab. Sie stellte einen Topf unter das Leck, woraufhin sich das rhythmische Geräusch der Tropfen im Raum ausbreitete.

„Sollen wir das Bett woandershin schieben?“, fragte sie.

„Dafür ist kein Platz.“

Er nahm den anderen Topf und stellte ihn auf die Matratze. Jetzt hörten sie das Tropfengeräusch in Stereo.

„Die Matratzen haben einen wasserdichten Überzug“, sagte er. „Ich ziehe morgen die Betten ab und versuche, alles zu trocknen.“

Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, als er sich zu ihr umdrehte und fortfuhr: „Bei dem Lärm kannst du hier nicht schlafen.“

„Stimmt.“

Er seufzte und deutete auf die Tür. „Dann wirst du die Nacht wohl in meinem Bett verbringen.“

3. KAPITEL

Eine zuschlagende Tür riss Jenny am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Verwirrt blickte sie sich um, dann fiel ihr wieder ein, wo sie sich befand. Sie hatte die letzte Nacht auf der Schlafcouch in dem großen Wohnraum der Hütte verbracht. Gavin hatte ihr sein Bett angeboten, aber das hatte sie abgelehnt. Sie würde einem verletzten Mann, der dringend Ruhe brauchte, wohl kaum seinen Schlafplatz wegnehmen. Auch, wenn die Vorstellung, unter die von seinem Körper noch warme Decke zu schlüpfen, sehr verführerisch gewesen war.

Obwohl das Schlafsofa hinreichend bequem war, hatte sie schlecht geschlafen, und das lag nur teilweise am Sturm. Der Gedanke, dass sie nur ein paar Schritte entfernt von ihrem früheren Freund schlief, hatte sie viel mehr wachgehalten. Immer neue Erinnerungen waren vor ihrem inneren Auge aufgetaucht, manche bittersüß, manche herzzerreißend.

Als sie den Kopf zur Haustür wandte, stand Gavin vor ihr. Er trug ein graues T-Shirt, Jeans und Stiefel, alles feucht und schlammverspritzt. Mit einer Hand strich er sich das nasse Haar aus dem Gesicht, das ihm bis zum Kragen reichte. Er war wohl länger nicht beim Friseur gewesen. Rasiert hatte er sich auch noch immer nicht, was ihn verwegen und ein wenig wild aussehen ließ. Sein Anblick verursachte ihr Herzklopfen. Sie fand Gavin immer noch unglaublich attraktiv, das ließ sich wohl nicht abstreiten.

„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe“, sagte er.

Verlegen stellte sie die Füße auf den Boden und versuchte, ihr zerzaustes Haar zu richten. Dass er an ihr vorbeigelaufen war, als sie geschlafen hatte, gab ihr das Gefühl, sehr verletzlich zu sein, und das konnte sie heute Morgen überhaupt nicht gebrauchen.

Noch immer hörte sie den Regen aufs Dach trommeln, aber das Schlimmste war wohl vorbei. Allerdings brannte nirgends Licht in der Hütte, also gab es noch keinen Strom.

„Wie spät ist es?“

„Kurz nach acht.“

So lange schlief sie normalerweise nicht, aber sie fühlte sich trotzdem nicht ausgeruht. „Und wie sieht’s draußen aus?“

„Ziemlich chaotisch. Viele Äste auf dem Boden. Ein paar Schritte von hier liegt ein Baum quer über der Straße und blockiert die Einfahrt, und dahinter steht alles unter Wasser. Du hattest Glück, dass du gestern so zeitig angekommen bist, und es sieht so aus, als ob du für eine Weile hier festsitzt. Mit deinem Auto kommst du auf keinen Fall den Hügel runter.“

Na wunderbar. „Ist mein Auto sehr demoliert?“

„Nur ein paar kleine Beulen vom Hagel. Du hattest Glück. Ein ziemlich dicker Ast ist nur ein paar Meter neben deiner Motorhaube aufgeschlagen.“

Sie war zwar froh, dass ihrem Wagen nicht mehr passiert war, aber der Rest der Situation wirkte auf sie nicht gerade glücklich.

„Was meinst du, wie lange es dauert, bis sie den Baum fortgeschafft haben?“

„Sie?“

„Die Gemeinde? Die Straßenmeisterei? Wer immer sich um so was kümmert.“

„Die sind für Schotterwege nicht zuständig. Außerdem liegt der Baum auf Privatgrund, hat also keine Priorität. Offenbar hat es überall in der Gegend schwere Schäden gegeben, die Behörden haben also schon damit alle Hände voll zu tun.“

„Oh.“ Sie schluckte. Hier mit Gavin auf unbestimmte Zeit festzusitzen, machte sie ein bisschen panisch. Nicht, dass sie Angst vor ihm hatte – nur um ihren Seelenfrieden. „Was machen wir jetzt?“

„Ich habe eine Kettensäge im Kofferraum. Ich wollte dieses Wochenende die Bäume um die Hütte sowieso zurückschneiden, soweit ich das mit der Schulter kann. Wenn der Regen aufhört, nehme ich mir den Baum vor, aber es wird eine Weile dauern. Was die überschwemmte Straße angeht – da musst du wohl warten, bis das Wasser zurückgeht. Die Stelle ist zu tief und hat Strömung. Du würdest in den Fluss gezogen werden, wenn du versuchen würdest durchzufahren.“

„Und wie lange kann das dauern?“

„Wir haben immer noch eine Sturzflutwarnung im ganzen Gebiet. Wenn der Regen erst mal aufhört, dauert es normalerweise noch ein paar Stunden, bis das Wasser abgelaufen ist.“

„Hast du was von zu Hause gehört? Gab’s in Little Rock auch Schäden?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, diese Gegend hier hat es am schlimmsten erwischt.“

Sie war froh, dass ihre Familie und ihre Firma in Sicherheit waren. Aber der Gedanke, hier mehrere Stunden mit Gavin und ihren gemeinsamen Erinnerungen zu verbringen, behagte ihr gar nicht.

„Es muss doch einen Weg hier raus geben. Vielleicht einen Forstweg?“

„Mir gefällt die Situation auch nicht, aber so sieht es nun mal aus. Du würdest dein Leben aufs Spiel setzen, wenn du versuchst, jetzt den Hügel runterzukommen.“

Seufzend strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Wenigsten tat er nicht so, als ob er sich über ihre Anwesenheit übermäßig freute. Er war schon immer sehr direkt und manchmal schmerzhaft ehrlich gewesen.

„Du hattest sowieso vor, drei Nächte hierzubleiben“, erinnerte er sie.

„Stimmt. Aber ich wollte hier allein sein.“

„Ich versuche, dir aus dem Weg zu gehen.“

„Das meinte ich nicht. Schließlich bin ich der Eindringling.“

Er winkte ab, aber sie wussten beide, dass ihre Anwesenheit ihn tatsächlich störte.

„Dann lass mich wenigstens das Frühstück machen“, sagte sie, entschlossen, genauso gelassen zu wirken wie er. „Ich habe vorher eingekauft, die Sachen sind im Auto. Zwischendurch wollte ich mal in den nächsten Ort fahren, um frische Lebensmittel einzukaufen, aber …“

„Der Kühlschrank ist voll“, unterbrach er sie. „Nimm dir, was du brauchst. Ich habe keinen Hunger, aber ich trinke gern einen Kaffee, falls du einen kochen willst, während ich mich sauber mache. Im Schrank über dem Herd ist ein Kaffeebereiter.“

„Hast du noch Fieber?“ Sie widerstand dem Impuls, wieder sein Gesicht zu berühren. Das schien ihm letzte Nacht nicht gefallen zu haben. Es war bestimmt besser, die Berührungen einzuschränken, während sie hier zusammen festsaßen.

„Mir geht’s gut.“

Das bezweifelte sie, aber es brachte auch nichts, mit ihm zu streiten. Oder auch nur anzumerken, dass ein Mann mit einer Schulterwunde vielleicht nicht draußen im Regen Sturmschäden beheben sollte.

Er verschwand im Schlafraum. Nachdem sie das Schlafsofa wieder eingeklappt und Decke und Kissen ordentlich gefaltet hatte, kochte Jenny Kaffee und füllte zwei Schüsseln mit Haferbrei. Auf dem Tisch lagen zwei Bananen, die sie in Stücke schnitt und darübergab, dann trug sie alles zum Tisch. Sie hatte sich gerade gesetzt, als auch Gavin wiederkam. Er hatte sich nicht umgezogen, aber versucht, die Schlammspritzer aus seinen Kleidern zu bürsten, was schmutzige Streifen hinterlassen hatte.

„Ich hab doch gesagt, dass ich keinen Hunger habe“, bemerkte er, als er sich hinsetzte, und klang dabei genauso missmutig, wie sie sich fühlte. Ob er mit den gleichen ungebetenen Gefühlen und Erinnerungen zu kämpfen hatte wie sie?

Äußerlich gleichgültig zuckte sie die Achseln. „Dann lass es halt stehen, und ich esse es später. Aber ich dachte, du könntest ein wenig Energie gebrauchen, wenn du draußen arbeiten willst.“

Er seufzte schwer und griff nach seinem Löffel. „Na schön.“

Auch sie begann zu essen und versuchte, die greifbare Anspannung mit Smalltalk zu überbrücken.

„Wann hast du die Hütte gekauft?“

„Mein Vater hat sie vor sieben Jahren seinem Freund abgekauft. Als er fünf Jahre später starb, habe ich sie geerbt.“

„Das tut mir leid“, sagte sie betroffen. „Das wusste ich nicht. Und wie geht es deiner Mutter?“

„Gut, danke. Und deiner?“

„Sie arbeitet noch immer als Krankenschwester in Little Rock.“ Ihre Mutter hatte Gavin sehr gemocht und war über die Trennung sehr enttäuscht gewesen.

„Und deine Großmutter lebt auch noch?“, fragte er.

Im Gegensatz zu ihrer Mutter war ihre Großmutter von Gavin nicht begeistert gewesen, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Auch bei Gavins Frage klang das jetzt durch.

„Immer noch so kratzbürstig wie früher“, gab Jenny zu.

Darauf reagierte er nur mit einem unbestimmten Laut. Vielleicht war das noch immer ein empfindliches Thema, weshalb sie schnell fragte: „Wie geht es deiner Schwester?“

„Holly hat einen Air-Force-Piloten geheiratet, und sie haben zwei Jungs. Im Moment leben sie in Illinois, wo er stationiert ist.“

„Und wie gefällt es dir, Neffen zu haben?“

Wenigstens bei dem Thema lächelte er mal. „Die Jungs sehen mich als Süßigkeiten-Automat. Zupf an meiner Hose, und es fällt was Süßes aus der Tasche. Holly sagt, es ist gut, dass ich sie nicht so oft sehe, sonst wären sie schon kugelrund. Aber ich bringe sie auch immer zum Schwitzen, um die Kalorien wieder zu verbrennen.“

Das Bild, wie er mit zwei kleinen Jungs rumtobte, lenkte sie einen Moment lang ab. So reizbar er manchmal mit Erwachsenen sein konnte, so umgänglich war er mit Kindern, und Kinder liebten ihn. Sie konnte sich vorstellen, dass er auf dem Boden rumrollte und die Kleinen selbst mit klebrigen Fingern auf ihm rumklettern ließ.

Thad dagegen würde seinen Neffen – wenn er welche hätte – bestimmt eher Schach beibringen. Was auf seine Art auch süß wäre, versicherte sie sich schnell, als ein leichtes, völlig unangebrachtes Schuldgefühl in ihr aufstieg. Als wäre sie untreu gewesen.

Gavin wechselte das Thema. „Und was machst du so?“

„Mir gehört eine Boutique für Mode und Accessoires in Little Rock.“

„Und wie heißt sie?“

„Komplemente.“

Er nickte. „Den Namen hab ich schon gehört. Jemand, mit dem ich eine Zeitlang ausgegangen bin, hat oft dort eingekauft.“

„Das ist schön. Dass sie meinen Laden mochte, meine ich.“

Er lachte trocken. „Sie hat sich über die hohen Preise beschwert, aber sie war trotzdem oft genug dort, um ihr Kreditlimit zu erreichen.“

„Wir führen Top-Marken“, erwiderte Jenny selbstbewusst. „Designerstücke, die man nicht im Kaufhaus um die Ecke findet.“

„Na ja, ich habe sie schon mindestens ein Jahr nicht mehr gesehen, aber ich bin sicher, sie ist immer noch eine treue Kundin.“

Wenn die Frau wirklich so oft kam, war es gut möglich, dass Jenny sie kannte, aber sie würde ihn bestimmt nicht nach dem Namen fragen. Es ging sie nichts an, mit wem Gavin ausging. Oder ob er inzwischen eine ernste Beziehung hatte. Genauso wenig, wie sie ihm von Thad erzählen würde.

Er schob seine leere Schüssel weg und griff nach der Tasse. „Also hast du dein Lebensziel erreicht. Dir gehört ein erfolgreiches Unternehmen. Dann hast du wohl auch deinen MBA gemacht, oder? Das war doch der Plan?“

„Ja. Und in ein paar Monaten will ich einen zweiten Laden eröffnen. Ich liebe meine Arbeit.“

Was absolut stimmte und auch ein Grund dafür war, warum sie über Thads Antrag nachdenken musste. Heiraten. Das würde ihr Leben grundlegend verändern. Obwohl er ihren Erfolg immer respektiert und bewundert hatte, hatte er ihr auch ganz klar gesagt, was er von seiner Ehefrau erwartete. Ihn in der politischen Karriere, die er anstrebte, zu unterstützen, stand ganz oben auf der Liste. Um diese Anforderung zu erfüllen, würde sie ihre Boutique entweder verkaufen müssen oder den größten Teil der Arbeit den Angestellten überlassen. Nachdem sie so lange und hart gearbeitet hatte, um bekannt zu werden und sich einen guten Kundenkreis aufzubauen, gefiel ihr diese Vorstellung nicht.

Aber das würde sie gewiss nicht mit Gavin besprechen. Sie trank ihren Kaffee aus und stellte die Tasse ab. „Und du bist auch deinem Traum gefolgt und Polizist geworden“, sagte sie.

Er nickte. „Ja, und danach habe ich dann doch noch in einem Abendstudium meinen Collegeabschluss nachgeholt. In Kriminalistik. Das hat meinen Vater sehr gefreut.“

Gavins Eltern waren beide Lehrer, und sie waren nicht sehr begeistert darüber gewesen, dass er unbedingt Polizist werden wollte. Nicht wegen des sozialen Status oder der bescheidenen Bezahlung – was immer die Argumente von Jennys Großmutter gewesen waren –, sondern weil sie einfach Angst hatten, dass ihr Sohn sich dann ständig in Gefahr begeben musste.

Jenny hatte Gavin im zweiten Collegejahr in einem Soziologiekurs kennengelernt, und sie hatten sich vom ersten Moment an unwiderstehlich zueinander hingezogen gefühlt. Nachdem sie ein Paar geworden waren, hatte auch Jenny versucht, Gavin von seinen Plänen abzubringen.

Anfangs hatte er sich darauf eingelassen und angefangen, sich auf die Aufnahmeprüfung für das Jurastudium vorzubereiten. Als Staatsanwalt konnte er schließlich auch bösen Jungs das Handwerk legen. Jenny hatte zwar gleich gemerkt, dass er nicht mit ganzem Herzen dabei war, aber sie war davon ausgegangen, dass sich das noch ändern würde.

Wenn sie jetzt, älter und reifer geworden, über ihre fast achtzehn Monate lange Beziehung nachdachte (was sie nicht oft tat), musste sie zugeben, dass Gavin sich wohl sehr unter Druck gesetzt gefühlt hatte und deshalb missmutig und unleidlich geworden war. Wahrscheinlich hatte er das Gefühl gehabt, dass seine eigenen Wünsche für niemanden zählten. Er war immer öfter mit seinen Eltern in Streit geraten, dann auch mit ihr. Dabei hatte er ihr vorgeworfen, dass sie vom Ehrgeiz besessen sei und, um ihrer Großmutter zu gefallen, sogar bereit, ihre Beziehung zu opfern, um ihre Ziele zu erreichen.

Vielleicht passte es nicht in ihre Vorstellung von „erfolgreich“, mit einem ganz normalen Polizisten verheiratet zu sein, hatte er ihr wütend vorgeworfen. Vielleicht hatte sie ihn zum Jurastudium gedrängt, um selbst besser dazustehen.

Später hatte sie sich oft gefragt, ob in seinen Vorwürfen nicht ein Körnchen Wahrheit gesteckt hatte. Aber nein, sagte sie sich dann, sie hatte sich – wie seine Eltern – tatsächlich nur Sorgen gemacht, weil die Polizeiarbeit so gefährlich war. Schließlich hatte sie selbst ihren Vater viel zu früh verloren, weil der als wagemutiger Feuerwehrmann auch in der Freizeit das Risiko liebte und bei einem Straßenrennen gestorben war. Allein der Gedanke, dass sie wie ihre Mutter viel zu früh Witwe werden könnte, versetzte sie in Panik. Immer noch.

Gavin hatte sie damit jedoch nicht überzeugen können. Nach einem letzten, heftigen Streit, bei dem sie beide verletzende Dinge gesagt hatten, hatten sie sich wütend getrennt. Als Gavin eine Woche später das College verließ, war sie schockiert gewesen und hatte angenommen, er wäre auf die Polizeischule gewechselt. Von ihm gehört hatte sie nie wieder, aber offenbar hatte sie recht gehabt – er war Polizist geworden.

Offenbar hatte das Thema auch Gavin an ihre schmerzhafte Trennung erinnert, denn er stand unvermittelt auf. „Ich mache mich mal über den Baum her. Danke fürs Frühstück.“

„Pass auf deine Schulter auf.“

Er verdrehte nur die Augen und ging hinaus. Jenny schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte er sich äußerlich verändert, aber er war noch immer so stur wie früher.

Mittlerweile nieselte es nur noch, und Gavin hob mit seinem gesunden Arm die Kettensäge von der Ladefläche seines Trucks. Den Seilzugstarter zu ziehen würde eine Herausforderung werden, aber egal. Je eher er den Baum aus dem Weg schaffte, desto eher konnten er oder Jenny oder sie beide von hier verschwinden. Dann hatten auch diese peinlichen Gespräche ein Ende.

Wieso hatte er ihr erzählt, dass er den Abschluss in Kriminalistik gemacht hatte? Wollte er Jenny damit beeindrucken? So ein Quatsch. Selbst wenn sie ein Dutzend Uniabschlüsse hätte und eine Riesenfirma führen würde, könnte er immer noch stolz sein auf seine Arbeit bei der Polizei.

Er legte die Kettensäge neben dem Baum ab und betrachtete das Projekt. Der Baum war riesig. Der Wurzelballen reichte Gavin fast bis zur Schulter, und die Zweige bildeten auf der Einfahrt eine undurchdringliche grüne Mauer. Selbst mit zwei gesunden Schultern war das eine Arbeit von mehreren Stunden.

„Gavin, hast du noch ein paar Arbeitshandschuhe für mich?“, rief Jenny hinter ihm. „Dann kann ich dir helfen.“

Er drehte sich zu ihr um und sah durch seine Plastikschutzbrille ein überraschendes Bild. Jenny trug jetzt Jeans und ein T-Shirt, die Haare waren zum Pferdeschwanz gebunden. Die Füße steckten in angesagten neon-grünen Sneakers, die hier draußen allerdings völlig nutzlos waren.

„Ich komme schon klar.“

„Aber zu zweit geht’s schneller.“

Da war er sich nicht so sicher. Womöglich war sie mehr Ablenkung als Hilfe. Allerdings fiel ihm keine Möglichkeit ein, ihr Angebot abzulehnen, ohne wie ein Idiot dazustehen. Wenn er ihr zu offensichtlich aus dem Weg ging, dachte sie am Ende noch, er wäre nie über sie hinweggekommen.

Er deutete zum Carport. „Arbeitshandschuhe und eine zweite Schutzbrille stecken in der Tasche hinter dem Fahrersitz. Das Auto ist nicht abgeschlossen.“

Während Jenny zum Auto ging, nutzte er die Gelegenheit, unter Flüchen und unterdrückten Schmerzenslauten den Zugstarter der Kettensäge zu ziehen. Als Jenny mit den zu großen Handschuhen und der Schutzbrille zurückkam, lief die Säge schon.

Glücklicherweise war der Motor auch sehr laut, sodass sich ihre Konversation auf kurze Rufe und Handzeichen beschränkte. Er bedeutete ihr, Sicherheitsabstand zu halten, während er Äste abtrennte, die Jenny dann zur Seite zog und in den Graben warf.

Er hätte sich natürlich denken können, dass sie mit Ehrgeiz an die Sache heranging. Es war schwere und schmutzige Arbeit, aber sie hielt sich tapfer. Nach einer Weile klebte ihr der Pferdeschwanz am feuchten Nacken, ihre Jeans waren schlammverkrustet, und ihr T-Shirt hatte einen kleinen Riss am Saum. Und ihm fiel es immer schwerer, sich durch ihren Anblick nicht ablenken zu lassen. Selbst verschwitzt und schmutzig – oder vielleicht gerade deswegen – rief Jenny in ihm Erinnerungen wach, die ihn unbeschreiblich heiß machten.

Das hat nichts zu bedeuten, beruhigte er sich selbst. Er war jung und relativ gesund und hatte seit längerem keinen Sex mehr gehabt. Kein Wunder, dass er auf eine attraktive Frau so reagierte.

Nach zwei Stunden wirkte Jenny eindeutig erschöpft, und seine Schulter brannte, als hätte ihn ein Pferd getreten. Er stellte die Säge ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein paar der größeren Äste hatten sie Stück für Stück abgetrennt, aber noch war der Baum zu sperrig, um ihn von der Straße zu ziehen.

„Du brauchst eine Pause“, sagte er zu Jenny.

Sie hob eine Augenbraue. „Ich brauche eine Pause?“

„Na gut, wir.“

„Ist gut.“ Sie nickte zufrieden. „Ich will nur noch diesen letzten Ast aus dem Weg schaffen.“

Sie umfasste den dicken Ast und zog, doch der rührte sich nicht. Gavin stellte sich schrägt hinter sie und benutzte die Linke, um mitzuhelfen. Ihre Handschuhe berührten sich fast. Wenn er das Gewicht ein wenig verlagerte, würde sein Körper sich an ihren schmiegen.

Sie sah sich über die Schulter zu ihm um, und ihre Blicke trafen sich. Ihre Pupillen weiteten sich ein wenig – genau wie seine vermutlich. Rein biologische Reaktion, sagte er sich. Und umfasste dann den Ast ein wenig weiter unten. „Auf drei.“

Auf drei zog Jenny mit so viel Kraft, dass Gavin fast nach hinten umfiel, als der Ast sich plötzlich bewegte. Er trat einen Schritt zurück, um das Gleichgewicht zu halten, und streckte automatisch die Rechte vor, um nach Halt zu greifen. Unwillkürlich gab er einen Schmerzenslaut von sich. Jenny sagte zwar nichts, aber er sah ihren mitfühlenden Gesichtsausdruck und wandte sich ab. Mitleid wollte er von keinem, am allerwenigsten von Jenny Baer.

Gavin bestand darauf, dass sie zuerst ins Bad ging, während er Teewasser aufsetzte. Offenbar war er noch immer entschlossen, den guten Gastgeber zu spielen. Lächelnd schloss sie sich im Bad ein – bis sie sich im Spiegel sah und sich hastig daran machte, die schlimmsten Schäden zu beheben.

Als sie wieder in die Küche kam, lag eine Packung Schmerztabletten neben der Spüle, die vorher nicht da gewesen war. Seine Schulter musste höllisch wehtun, aber er hatte sich nicht beklagt, und er wollte wahrscheinlich auch nicht, dass sie ihn darauf ansprach.

„Danke“, sagte sie, als er ihr die dampfende Tasse reichte.

„Ich hab mit dem Handy den Wetterbericht aufgerufen. Es soll wieder regnen, aber offenbar ist es diesmal nur ein längerer Schauer.“

„Na hoffentlich.“

Gavin nahm seine Tasse mit ins Bad. „Mach es dir bequem“, sagte er, bevor er die Tür hinter sich schloss.

Sie seufzte leise, als er weg war. Was für ein verrücktes Wochenende. Sie war hergekommen, um über ihre Zukunft nachzudenken, und wurde stattdessen von ihrer Vergangenheit eingeholt.

Um sich abzulenken, griff sie nach ihrem Handy. Sie hatte nur schwachen Empfang, aber sie wollte auch niemanden anrufen. Ihrer Mutter und Thad hatte sie schon getextet, dass sie gut angekommen war. Mehr brauchten beide nicht zu wissen, das wäre viel zu kompliziert geworden.

Wenn Thad auf Reisen war, rief er sie jeden Abend um punkt sechs Uhr an. Das hatten sie beide angesichts ihrer vollen Terminkalender so vereinbart, um sich nicht ständig zu verpassen. Thad nannte es scherzhaft „ihr Ding“.

Auch gestern hatten sie noch telefoniert, bevor sie losgefahren war. Thad hatte ihr eine schöne Zeit gewünscht. Das mochte sie an ihm; er redete ihr niemals rein, wenn sie etwas vorhatte. Andererseits fragte sie sich manchmal, ob das nicht hauptsächlich daran lag, dass er selbst so viel um die Ohren hatte und über sie und ihre Pläne gar nicht nachdenken konnte.

Immerhin fand er immer Zeit für den Sechs-Uhr-Anruf, also war er bereit, für sie auch Kompromisse zu machen. Das war ihr wichtig. Schließlich hatten Gavin und sie sich hauptsächlich deshalb getrennt, weil eben keiner seine Ziele und Träume an die des anderen hatte anpassen wollen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass eine Beziehung auf der Basis von Logik und Respekt viel verlässlicher war als eine, die auf Leidenschaft und Gefühl gründete.

Sie checkte ihre E-Mails, die ihr nur bestätigten, dass Amber, ihre Assistentin, sie würdig vertrat.

„Wenn du telefonieren willst, solltest du rausgehen, da ist der Empfang besser“, sagte Gavin, der gerade wieder hereinkam. „Ich setzte mich meist auf die Veranda.“

„Danke, aber ich hab nur meine Mails gecheckt. Wollen wir noch was essen, bevor wir draußen weitermachen?“

Gavin schüttelte den Kopf. „Es wird bald wieder anfangen zu regnen. Ich will vorher noch so viel wie möglich von dem Baum wegschaffen.“

„Ich hab im Schrank Erdnussbutterkekse gesehen“, sagte Jenny und stand auf. „Iss wenigstens davon ein paar, dann sind die Schmerztabletten besser verträglich.“ Sie öffnete eine Schranktür und deutete auf das oberste Fach. „Die waren doch früher dein Lieblingssnack.“

Gavin trat hinter sie und griff nach der Schachtel, wodurch sie sich sehr nahe kamen. Wenn er jetzt den Arm wieder runternahm, konnte er ihn ihr um die Schultern legen. Sie wäre ja aus dem Weg gegangen, aber sie war zwischen ihm und der Arbeitsplatte eingeklemmt. Wenn sie sich jetzt bewegte, würde sie ihm nur noch näher kommen. Also stand sie ganz still und hielt den Atem an, bis er mit der Schachtel in der Hand zum Tisch ging.

„Ach, daran erinnerst du dich also?“, fragte er.

Sie atmete erleichtert aus und lachte leise. „Wie könnte ich das vergessen? Du hattest überall welche davon gebunkert. Im Auto, in deinem Zimmer, in meinem Zimmer … Erstaunlich, dass du sie immer noch nicht satt hast.“

Lächelnd zuckte er die Achseln. „Ich esse nicht mehr so viele wie früher, aber im Notfall sind sie immer noch ein guter Snack.“

Während sie ihm zusah, wie er die Schachtel aufriss, fiel ihr noch etwas ein. „Weißt du noch, wie der kleine weiße Pudel von deiner Schwester mal eine ganze Packung davon gefressen hat? Sie war so in Panik, dass er davon sterben könnte, aber zum Glück war ihm nur furchtbar schlecht.“

Gavin lachte. „Ja, und geschadet hat es ihm auch nicht, er ist über fünfzehn Jahre alt geworden. Nur für uns war’s blöd, weil über der ganzen Aufregung das Eis geschmolzen war, das wir gerade für alle aus der Eisdiele geholt hatten.“

„Stimmt …“

Einen Moment lang fühlte sie sich zurückversetzt in die erste Zeit ihrer Beziehung, wo sie so viel gelacht hatten. Als sie in die Gegenwart zurückkehrte, bemerkte sie, dass Gavin sie versonnen betrachtete. Die Härchen an ihren Armen stellten sich auf, als wäre die Luft plötzlich elektrisch aufgeladen. Sie musste das wirklich dringend abstellen, bevor es noch völlig außer Kontrolle geriet.

Auch Gavin schien ins Hier und Jetzt zurückzukehren, denn sein Lächeln verschwand, und sein Gesicht wirkte wieder verschlossen und ernst. Er griff nach der Keksschachtel und sagte: „Ich geh wieder raus. Ruh dich aus, ich komme alleine klar.“

Erleichtert atmete sie aus, als sich die Haustür hinter ihm schloss. Wow, das war ein schneller Wechsel gewesen. Das erinnerte sie nur zu lebhaft daran, wie schnell sich das Lachen in ihrer jungen Beziehung in bittere Tränen verwandelt hatte. Und wieso tat das immer noch weh? Sie war doch lange darüber – und über ihn – hinweg …

Einen Moment lang war sie versucht, tatsächlich im Haus zu bleiben, doch das kam ihr feige vor. Also hob sie das Kinn, griff nach ihren Arbeitshandschuhen und ging hinaus.

Je eher die Straße wieder frei war, desto eher konnte sie von hier verschwinden.

4. KAPITEL

Eine Stunde später hatten sie die meisten Zweige vom Stamm entfernt und in den Graben geschleppt. Morgen würde sie bestimmt Muskelkater haben. Auch Gavins Gesicht wirkte immer angespannter, und er versuchte merklich, seinen rechten Arm zu schonen. Mittlerweile hatte es wieder angefangen zu nieseln, und der Boden war rutschig.

„Und was jetzt?“, fragte sie und deutete auf den nun fast nackten Stamm, der immer noch quer über der Straße lag.

„Ich hoffe, dass er jetzt leicht genug ist, ihn mit meinem Truck aus dem Weg zu ziehen, ohne dass die Stoßstange abreißt. Jedenfalls so weit, dass man mit dem Auto vorbeikommt. Dann fahre ich runter und schaue nach, ob die Straße noch überflutet ist. Wenn der Regen noch ein bisschen auf sich warten lässt, können wir vielleicht …“

Wie aufs Stichwort öffnete der Himmel seine Schleusen. Gavin griff nach der Kettensäge und folgte Jenny, die sich unter das Verandadach flüchtete. Trotzdem waren sie beide klatschnass geworden.

Kopfschüttelnd drückte Jenny ihre Haare aus. „Was ist das nur für ein verrücktes Wetter?“

„Frühling in Arkansas“, gab Gavin gelassen zurück. „Wie schon seit zwei Wochen im Wetterbericht vorhergesagt.“

„Ich weiß.“ Seufzend setzte sich Jenny in den Schaukelstuhl. „Ich hatte einfach gehofft, dass es nicht ganz so schlimm wird.“

„Viel Bürokram hast du bisher jedenfalls nicht geschafft“, bemerkte Gavin. „Und deshalb bist du doch hier, oder?“

Jenny zuckte die Achseln. Das war die zweite Gelegenheit, Gavin reinen Wein einzuschenken, aber auch die ließ sie verstreichen. Es ging ihn ja auch gar nichts an. „Ich habe ja noch den Rest des Wochenendes Zeit, wenn ich erst wieder im Tal bin.“

„Fährst du regelmäßig weg, um in Ruhe zu arbeiten?“

Sie lachte ein wenig freudlos. „Das ist das erste Wochenende seit Ewigkeiten, das ich nicht im Büro verbringe. Das hier war die absolute Ausnahme, und wie man sieht, ist es nicht besonders gut gelaufen.“

„Tut mir leid, dass du enttäuscht wurdest.“

Ihr wurde klar, dass sie möglicherweise ein bisschen undankbar geklungen hatte. „Du kannst ja nichts für das Wetter. Und für den Fehler bei der Vermittlung auch nicht. Es war einfach Pech.“

Da das auch nicht viel besser klang, fügte sie hastig hinzu: „Ich meine, es war nett, dich wiederzusehen, es ist nur …“

„Jenny.“ Es klang amüsiert. „Ist schon okay. Du hast meine empfindliche Psyche nicht verletzt. Und ich finde es auch nett, dich wiederzusehen. Irgendwie.“

Weil sie genau verstand, was er damit meinte, lächelte sie ihm zu. „Ja, genau. Irgendwie.“

Er lächelte nicht. „Ich hab mir immer gedacht, dass wir uns eines Tages über den Weg laufen; schließlich wohnen wir beide noch in der Gegend. Ich bin eher überrascht, dass es so lange gedauert hat, aber offenbar bewegen wir uns inzwischen in verschiedenen Kreisen.“

„Ja, lustig, dass es ausgerechnet hier passiert ist, drei Stunden von der Stadt entfernt, in der wir beide wohnen.“ Sie zögerte kurz, dann fügte sie hinzu: „Aber ich finde es schön, dass wir trotzdem …“ Freunde sein können schien es nicht wirklich zu treffen. „… wie zivilisierte Menschen damit umgehen.“

„Wieso auch nicht? Wir hatten eine Teenager-Beziehung, und es hat nicht funktioniert. Das ist zehn Jahre her. Das Leben geht schließlich weiter.“

Genauer gesagt war es zehn Jahre und zwei Monate her. Ob er sich auch an das genaue Datum erinnerte? Seitdem war eine Menge passiert. Sie hatte eine neue Beziehung, er wahrscheinlich auch. Kein Grund also, nicht freundlich miteinander umzugehen. Freunde würden sie wahrscheinlich nicht werden. Nicht, weil sie sich nicht gut verstanden, sondern weil es da immer diese Untertöne zwischen ihnen gab, die jede Begegnung zu einem Tanz auf einem Pulverfass machten.

Als hätte er dasselbe gespürt, stieß sich Gavin von der Wand ab. „Bin gleich zurück.“

Jenny blieb draußen und hörte dem Trommeln des Regens auf dem Verandadach zu. Als Gavin nicht zurückkam, blickte sie sich über die Schulter um und sah, dass er die Haustür hatte offen stehen lassen. Doch drinnen war es still, sie hörte keine Schritte.

Stirnrunzelnd streifte sie die schlammigen Schuhe ab und ging hinein. Aus seinem Schlafzimmer hörte sie einen dumpfen Schlag und dann lautes Fluchen.

„Gavin, alles okay?“

Die Schlafzimmertür stand offen, und sie sah ihn mit bloßem Oberkörper vor dem Spiegel stehen, wie er versuchte, seinen Verband zu erneuern. Auf dem Boden lag eine zum Glück noch verschlossene Flasche mit Desinfektionsmittel.

„Soll ich dir helfen?“, fragte sie beiläufig. „Mit links ist es wahrscheinlich nicht so einfach.“ 

„Ich krieg das schon hin. Ich hab nur mit dem Ellenbogen die Flasche vom Schrank gestoßen.“

„Ich hab nicht gesagt, dass du es nicht allein kannst. Ich habe gesagt, ich helfe dir gern, wenn du möchtest. Wenn nicht, auch gut.“

Nach kurzem Zögern nickte er. „Es geht wohl schneller, wenn du hilfst.“

Da sie wusste, wie ungern er sich von irgendjemandem helfen ließ, nickte sie nur und machte sich an die Arbeit.

„Kannst du dich aufs Bett setzen? Dann komme ich besser ran“, sagte sie, und er gehorchte.

Autor

Gina Wilkins
Die vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin Gina Wilkins (auch Gina Ferris Wilkins) hat über 50 Romances geschrieben, die in 20 Sprachen übersetzt und in 100 Ländern verkauft werden! Gina stammt aus Arkansas, wo sie Zeit ihres Leben gewohnt hat. Sie verkaufte 1987 ihr erstes Manuskript an den Verlag Harlequin und schreibt seitdem...
Mehr erfahren