Julia Collection Band 8

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EIN MANN ZUM HEIRATEN? von PENNY JORDAN
Poppy ist nur unwillig auf die Hochzeit ihres großen Schwarms gegangen. Die attraktive Dolmetscherin schwört, nun alleine aus Trotz niemals zu heiraten. Schon gar nicht den zynischen James, der ihr auf einer gemeinsamen Reise ein nur zu verführerisches Angebot macht.

EINE FRAU ZUM HEIRATEN? von PENNY JORDAN
Claire Marshall ist verwitwet und vollauf damit zufrieden, sich um ihre Schüler und Familie zu kümmern. An die große Liebe hat sie noch nie geglaubt und sie kann sich nicht vorstellen, noch einmal zu heiraten. Doch sie hat ihren Plan ohne den charmanten Brad Stevenson gemacht.

HEIRAT NICHT AUSGESCHLOSSEN? von PENNY JORDAN
Drei Maxime haben die feurige Star Flower bisher durchs Leben gebracht: Sex - gerne. Liebe - auf keinen Fall. Heirat - völlig ausgeschlossen. Nur ihr neuer Chef Kyle will sich nicht so recht an diese Regeln halten.


  • Erscheinungstag 29.04.2009
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783862956500
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PENNY JORDAN

Eine Hochzeit und drei Liebesfälle

Eine Frau zum Heiraten?

Die hübsche Dolmetscherin Claire hat sich geschworen, keinen Mann mehr an sich heran zu lassen. Sie ist verwitwet und mit sich im Reinen, bis eines Tages Alex Stevenson auftaucht, dieser attraktive Unternehmer aus Amerika. Er bemüht sich intensiv um sie – und ist dann plötzlich ohne ein Wort der Erklärung einfach verschwunden …

Ein Mann zum Heiraten?

Es ist nur noch ein Doppelzimmer frei! Die hübsche Dolmetscherin Poppy hatte sich ihre Dienstreise nach Italien mit dem Geschäftsmann James Carlton so nun wahrlich nicht vorgestellt. Sie will keinen Mann in ihrem Bett! Schon gar keinen, der sich als so leidenschaftlicher Liebhaber erweist, dass er all ihre Vorsätze ins Wanken bringt.

Heirat nicht ausgeschlossen?

Star ist die letzte der drei Freundinnen, die noch keinen Mann hat. Deshalb nutzt sie gleich mal die Hochzeitsfeier der einen, um heiß mit dem Unternehmer Kyle Henson zu flirten. Doch der gibt sich bei aller erotischen Spannung zwischen ihnen sehr standhaft. Star ist ratlos! Männer wollen doch immer nur ihren Spaß haben. Oder geht es Kyle etwa um mehr?

PROLOG

Es gibt auf Hochzeiten eine langjährige Tradition, die besagt, dass die Frau, die den Brautstrauß fängt, als nächste heiraten wird.

Als die Braut aus dem Hotelzimmer kam, schüttelte sie ein letztes Mal ihre Röcke auf und warf einen prüfenden Blick auf ihre lange Satinschleppe, bevor sie sich ihrem frischgebackenen Ehemann zuwandte und ihn liebevoll anlächelte.

Ihre beiden Brautjungfern – ihre beste Freundin und die Cousine ihres Mannes – hatte sie weggeschickt.

„Komm, lass uns nach unten gehen“, drängte er. „Sonst fragen sich unsere Gäste noch, was wir hier so lange machen.“

Lachend gingen sie zur Treppe und blieben oben noch einmal stehen, um die fröhliche Gesellschaft zu betrachten. Der Empfang war in vollem Gang.

„Heute ist der glücklichste Tag meines Lebens“, flüsterte Sally ihrem Mann zu.

„Meiner auch“, erwiderte Chris, während er ihr die Hand drückte und den Kopf neigte, um sie zu küssen.

Arm in Arm begannen sie, die Treppe hinunterzugehen. Dabei rutschte Sally plötzlich aus und schrie auf. Die Leute, die unten an der Treppe standen, eilten besorgt nach vorn. James, der Trauzeuge des Bräutigams, Chris’ älterer Bruder und zwei Hotelmitarbeiter kamen Sally zu Hilfe, während die beiden Brautjungfern und Sallys Stiefmutter automatisch die Hand ausstreckten, um die Blumen zu retten, die Sally beim Sturz hatte fallen lassen.

Sally, die sich mittlerweile wieder aufgerappelt hatte, lächelte schalkhaft. „Das wär’s. Jetzt wird es noch drei Hochzeiten geben.“

„Nein!“

„Niemals!“

„Ausgeschlossen!“

Alle drei Frauen protestierten einstimmig, und ihre Blicke verrieten, dass sie die Behauptung der Braut kategorisch zurückwiesen.

Sie würden niemals heiraten!

Die drei schauten sich an, bevor sie sich wieder zu Sally umdrehten.

Das Ganze war nur ein dummer alter Aberglaube. Es hatte nichts zu bedeuten. Und jede von ihnen wusste, dass sie auf keinen Fall heiraten würde, egal, was die beiden anderen taten.

Sally lachte immer noch, als sie an Chris’ Arm die letzten Stufen herunterkam.

Ihre beiden Brautjungfern hatten ihr bereits vorher unabhängig voneinander erklärt, dass sie nicht beabsichtigten, an irgendwelchen albernen Ritualen teilzunehmen, indem sie um den Brautstrauß wetteiferten. Und was ihre Stiefmutter betraf …

Sally krauste die Stirn. Wann würde Claire endlich akzeptieren, dass sie als vierunddreißigjährige Witwe nicht, wie sie immer behauptete, zu alt war, um noch einmal mit einem neuen Partner zusammenzuleben?

Sobald die Festreden vorüber waren, machten Sally und Chris die Runde unter den Gästen. Unterdessen packten die beiden Brautjungfern und Claire die Geschenke zusammen. Plötzlich entdeckte Poppy, Chris’ Cousine, Sallys Brautstrauß auf einem Tisch. Sie konnte nicht anders und ging hin, um ihn in die Hand zu nehmen. Dabei traten ihr die Tränen in die Augen.

„Vergiss es.“ Star, die andere Brautjungfer, nahm ihr den Strauß entschlossen aus der Hand. „Es ist nur ein alberner Aberglaube. Es hat nichts zu bedeuten, und ich werde es beweisen, indem ich hier unmissverständlich klarstelle, dass ich niemals heiraten werde.“

Als ihr Blick auf eine ungeöffnete Flasche Champagner fiel, öffnete sie sie geschickt und schenkte drei Gläser voll. Nachdem sie Poppy und Claire ein Glas gereicht hatte, verkündete sie herausfordernd: „Ich bin bereit zu schwören, dass ich niemals heiraten werde. Was ist mit euch beiden?“

„Ich habe bestimmt nicht vor, wieder zu heiraten“, stimmte Claire, Sallys Stiefmutter, etwas sanfter zu.

Poppy nickte unter Tränen. „Ich werde nicht heiraten. Nicht jetzt, da Chris …“ Wieder traten ihr die Tränen in die Augen, als sie sich mit den anderen solidarisch erklärte.

Alle drei prosteten sich zu, ohne sich bewusst zu sein, dass jemand ihr Gespräch mit angehört hatte …

1. KAPITEL

Claire Marshall ließ bedauernd den Blick durch die Empfangshalle des Hotels schweifen, die mittlerweile leer war. Überall lag Konfetti auf dem Boden.

War es wirklich erst wenige Stunden her, dass ihre Stieftochter und deren frischgebackener Ehemann unter einem wahren Blumenregen lachend diese Treppe heruntergekommen waren?

Es war eine perfekte Hochzeit gewesen. Nur die Tatsache, dass ihr Mann, Sallys Vater, nicht bei ihnen gewesen war, hatte ihnen die Freude ein wenig getrübt.

Obwohl er bereits seit über zwei Jahren tot war, vermisste Claire ihn immer noch. Er war ein guter Ehemann gewesen – nett, liebevoll und sehr fürsorglich. Als sie sich bückte, um den Brautstrauß zu berühren, den Sally ihnen dreien so raffiniert zugespielt hatte, wurde Claire bewusst, dass die Eigenschaften, die sie ihrem verstorbenen Mann zuschrieb, mehr zu einem Vater passten.

„Du solltest wieder heiraten“, hatte Sally ihr in letzter Zeit immer wieder geraten. Ein trauriger Ausdruck trat in Claires Augen. Sie hatte das Glück gehabt, einen liebevollen, verständnisvollen Ehemann zu finden. Daher bezweifelte sie, dass es ihr noch einmal gelingen würde. Außerdem wollte sie im Grunde gar nicht wieder heiraten.

Im nächsten Moment wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, denn die beiden Brautjungfern gesellten sich zu ihr. Poppy betrachtete wütend den Brautstrauß und gab dabei Stars bittere Worte wieder.

„Heutzutage nimmt doch sowieso niemand mehr diesen Aberglauben ernst …“, sagte sie.

Claire lächelte verständnisvoll. Sally hatte ihr anvertraut, es sei ein offenes Geheimnis in der Familie ihres Mannes, dass seine Cousine schon seit Jahren unglücklich in Chris verliebt sei.

Armes Mädchen, dachte Claire mitfühlend. Es war kein Wunder, dass Poppy so blass war und so mitgenommen wirkte. Die ganze Hochzeit musste ein einziges Martyrium für sie gewesen sein, und James, Chris’ Bruder, hatte es ihr nicht gerade leichter gemacht. Claire hatte zufällig mitbekommen, wie die beiden sich stritten, und vermutete, dass Poppy geweint hatte.

„Ich möchte nie heiraten – niemals!“, verkündete Poppy jetzt wild entschlossen.

„Ich kann dir nur beipflichten“, sagte Star leise.

Claire drehte sich um und lächelte sie an. Star war die beste und älteste Freundin ihrer Stieftochter. Claire erinnerte sich noch genau daran, wie Star als Teenager immer behauptet hatte, sie werde niemals heiraten und stattdessen lieber Karriere machen.

„Es ist wirklich schade, dass keine von uns Sallys Geste zu schätzen weiß“, bemerkte Claire bedauernd, als sie den Brautstrauß aufhob, um ihn zu betrachten.

„Pass auf“, warnte Star sie trocken. „Wer weiß, was es für Folgen hat, wenn du ihn in der Hand hältst.“

Claire lachte, legte den Strauß jedoch wieder weg. „Es ist doch nur eine Tradition“, erinnerte sie die beiden.

„Ja … Aber wir sollten besser etwas unternehmen, um sicherzustellen, dass wir uns an unseren Schwur halten und nicht heiraten“, meinte Star.

„Und das wäre?“,fragte Poppy und fügte bitter hinzu: „Nicht, dass ich meine Meinung je ändern würde … wenn ich es könnte …“ Sie blinzelte wütend, um die Tränen zu unterdrücken.

„Wir könnten uns zum Beispiel alle drei Monate treffen, um uns gegenseitig daran zu erinnern, dass wir ohne Ehemann bleiben wollen. Falls eine von uns schwach wird, sind immer noch die anderen da, um sie zu unterstützen“, schlug Star vor.

Ich werde keine Unterstützung brauchen“, verkündete Poppy.

Claire dagegen, die bereits ahnte, dass sich nach Sallys Heirat sowohl ihrer aller Verhältnis zu ihr als auch untereinander ändern würde, erklärte entschlossen: „Ich halte das für eine sehr gute Idee. Lasst uns gleich ein Datum festsetzen. Wir können uns hier treffen und zusammen zu Mittag essen. Ich lade euch ein.“

„Toll, ich schreibe es gleich in meinen Terminkalender“, erwiderte Star.

Claire blickte zu Poppy. Obwohl sie sie nicht so gut kannte wie Star, merkte sie, wie unglücklich Poppy war. Es musste sehr schwer für sie gewesen sein, mit anzusehen, wie der Mann, den sie liebte, eine andere heiratete.

Sally hatte Claire gestanden, dass sie Poppy gegenüber zuerst misstrauisch gewesen war. Als sie sie jedoch kennengelernt und gemerkt hatte, wie sehr sie Chris liebte, hatte Poppy ihr unendlich leidgetan.

„Es muss schrecklich sein, wenn man jemanden liebt, der diese Liebe nicht erwidert“, hatte Sally gesagt. „Natürlich mag Chris sie, aber …“

„Aber er liebt dich“, hatte Claire ergänzt.

Daraufhin hatte Sally sie in den Arm genommen. Claire und sie hatten sich von Anfang an prima verstanden. Sally war auf die Gesamtschule gegangen, an der Claire ihr Referendariat gemacht hatte.

Claire hatte sich oft gefragt, ob Sally sie deshalb so schnell akzeptiert und ins Herz geschlossen hatte, weil sie ihre Mutter nie kennengelernt hatte. Ihre Mutter, Johns erste Frau, war nämlich kurz nach Sallys Geburt gestorben.

„Paula wird immer ein Teil meines … unseres Lebens sein. Ich werde sie immer lieben“, hatte John zu Claire gesagt, als er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte.

Die Erkenntnis, dass er seine erste Frau so geliebt hatte und sie, Claire, trotzdem liebte, hatte ihr ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.

Sally hatte sie einmal gefragt, wann sie denn einen Bruder oder eine Schwester bekommen würde. Um die Situation zu entschärfen, hatte Claire es John überlassen zu antworten.

Sie seufzte leise. Unter anderen Umständen hätte sie natürlich gern Kinder bekommen, zumal sie es sich als junges Mädchen immer gewünscht hatte, einmal welche zu haben.

„Ich glaube, wir sollten jetzt gehen“, sagte sie zu den beiden Brautjungfern. „Ich hoffe, dass wir nichts vergessen haben. Siehst du noch irgendetwas, Poppy?“

„Nein, es ist nichts mehr da“, bestätigte Poppy ausdruckslos. „Jetzt nicht mehr.“

Claire warf ihr einen flüchtigen Blick zu, schwieg aber taktvoll.

„Und wie stellst du dir dein weiteres Leben vor, nun, da die Hochzeit vorbei ist?“

„Oh, ich habe nicht vor, viel zu ändern“, sagte Claire zu ihrer Schwägerin. „Ich werde wohl ein paar Stunden mehr in der Schule arbeiten, aber sonst …“

Claire war stundenweise als ehrenamtliche Mitarbeiterin an einer Schule für geistig und körperlich behinderte Kinder in ihrem Wohnort tätig. John hatte ihr zwar genug Geld hinterlassen, doch sie hatte sich in der Gemeinde engagieren wollen. Da sie Lehrerin war, hatte sie an der Schule angefangen.

„Du bist nicht zufällig daran interessiert, einen Untermieter bei dir aufzunehmen, oder?“, erkundigte sich Irene.

„Einen Untermieter?“ Claire blickte ihre Schwägerin fassungslos an.

„Einen Kollegen von Tim, der eine private Unterkunft sucht. Ein Apartment mit vollem Service kommt für ihn nicht infrage, weil es ihm zu unpersönlich ist. Er ist Amerikaner und möchte nicht allein leben, weil er aus einer Großfamilie kommt.“

Nachdem sie Claire einiges über seine Herkunft erzählt hatte, sagte Irene: „Er ist Ende dreißig, und deshalb wäre es nicht besonders passend, eine Studentenbude für ihn zu mieten. Er bekleidet eine ziemlich hohe Position in der Firma. Das heißt, die Firma gehört seiner Familie.“

„Um was für eine Position handelt es sich denn?“, fragte Claire alarmiert.

„Er ist Tims Chef“, erklärte Irene ein wenig steif.

„Ah, verstehe.“ Claire lächelte. „Er ist Tims Chef, und nun muss Tim eine geeignete Unterkunft für ihn finden, stimmt’s? Warum nehmt ihr ihn nicht auf?“, fügte sie spöttisch hinzu. „Da Peter studiert und Louise in Japan arbeitet, habt ihr doch ein Zimmer übrig.“

„Ich halte das für keine gute Idee. Im Moment läuft es für Tim nicht so gut. Der Absatz geht zurück, und es gibt Probleme mit der Lieferung und der Installation. Ich sage Tim ständig, dass er härter sein und entschlossener auftreten muss …“ Irene verstummte und schüttelte den Kopf.

„Würdest du es tun, Claire?“, fragte sie schließlich ungewöhnlich bescheiden. „Tim dreht nämlich langsam durch. Offenbar ist dieser Amerikaner ein … Individualist …“

„Ein Individualist?“, wiederholte Claire misstrauisch.

Wie sie aus Erfahrung wusste, neigte ihre Schwägerin, so nett sie war, manchmal dazu, andere zu überrumpeln. Auch jetzt passte es ihr anscheinend nicht, hinterfragt zu werden.

„Er ist sicher kein schwieriger Mensch“, erwiderte sie. „Oh, Claire, ich würde dich nicht darum bitten, aber Tim ist momentan so empfindlich, was seine Arbeit betrifft. Seiner Meinung nach wird dieser Amerikaner frischen Wind in die Firma bringen, und Tim würde sich wesentlich besser fühlen, wenn er vor seiner Ankunft etwas Konstruktives tun könnte.“

„Bist du sicher, dass dieser Mann überhaupt bei mir wohnen will? Mir scheint, dass er an ein Leben im Luxus gewöhnt ist. Du weißt, wie zurückgezogen ich lebe, Irene.“

„Das weiß ich, aber du bist sehr beliebt, Claire. Du bekommst oft Besuch, und ständig klingelt das Telefon.“

Da Irene recht hatte, verkniff sich Claire eine Bemerkung.

John hatte ihr oft Vorhaltungen gemacht, weil sich alle Leute bei ihr ausweinten. In ihrem großen Haus, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut worden war, war es nur in den Wochen vor seinem Tod richtig ruhig gewesen – und das auch nur, weil sie ihre Bekannten gebeten hatte, nicht anzurufen.

Beim Gedanken daran, wie sehr sie John vermisste, schauderte sie.

„Irene, ich glaube, es ist keine so gute Idee …“

„Bitte, Claire.“

Als sie sah, wie besorgt Irene wirkte, seufzte Claire leise.

„Also gut“, stimmte sie schließlich zu. „Aber ich bezweifle, dass Tims neuer Chef begeistert sein wird, wenn er …“

„Unsinn. Dein Haus wird genau seinen Erwartungen entsprechen“, erklärte Irene und begann, sämtliche Vorzüge aufzuzählen. „Es liegt in der besten Wohngegend der Stadt, und du hast genug Platz für Gäste. Er kann Sallys altes Zimmer und ihr Bad benutzen und sich in einem der anderen Schlafzimmer ein Büro einrichten. Er kann seinen Wagen im Garten abstellen, und außerdem hat er Familienanschluss.“

„Familienanschluss? Ich bin doch ganz allein“, protestierte Claire.

„Eben nicht. Sally und Chris und wir sind auch noch da. Davon abgesehen hast du einen großen Freundeskreis und bist Mitglied im Fitnesscenter. Dorthin kannst du ihn mitnehmen und …“

Wohin soll ich ihn mitnehmen? Warte mal einen Moment, Irene …“

Irene hörte ihr jedoch überhaupt nicht zu, sondern stand auf, um sie zu umarmen. „Ich wusste, dass du es tun würdest. Schließlich ist es die ideale Lösung. Tim wird ein Stein vom Herzen fallen. Der Arme hatte Angst davor, du könntest nein sagen, zumal …“

„Zumal was?“, erkundigte sich Claire.

„Ach, nichts Wichtiges. Es ist nur so, dass dieser Mann morgen hier eintrifft und natürlich erwartet, dass Tim inzwischen alles geregelt hat. Für die ersten Tage haben wir ihm ein Hotelzimmer reservieren lassen …“

„Er kommt morgen?“, wiederholte Claire. „Irene, seit wann weißt du …?“

„Ich muss jetzt los“, fiel Irene ihr ins Wort. „Ich bin mit Mary verabredet und schon spät dran. Wir holen Alex morgen vom Flughafen ab und laden ihn morgen Abend zu uns nach Hause zum Essen ein. Du musst natürlich auch kommen, damit ihr euch kennenlernt und abmachen könnt, wann du ihm das Haus zeigst …“

„Irene …“, wandte Claire ein, aber es war zu spät. Ihre Schwägerin hatte bereits den Rückzug angetreten.

„Was machst du da?“

Claire kniete im Bad, das an das Gästezimmer grenzte, und blickte auf. Ihre Wangen waren gerötet. Sie hatte ihre Freundin und Nachbarin Hannah gar nicht hereinkommen hören.

Nun legte sie den nassen Lappen weg.

„Ich räume alles für meinen Untermieter leer“, erwiderte sie etwas außer Atem und erzählte Hannah dann, was passiert war.

„Typisch Irene. Diesmal hat sie dich reingelegt, stimmt’s?“, bemerkte Hannah trocken. „Ein Untermieter, und wie ich vermute, ist er Junggeselle, sonst hätte er bestimmt ein Haus gemietet. Das wird sicher einige Aufregung geben … Wie er wohl aussieht?“

„Keine Ahnung, und es ist mir auch egal.“ Claire stand auf und betrachtete geistesabwesend die Fliesen, die sie gerade geputzt hatte. Dabei hob sie ihr Haar im Nacken an.

Ihr dichtes dunkles Haar, das von Natur aus lockig war, nervte sie manchmal richtig. Sally ärgerte sie oft damit, dass sie mit dem kastanienbraunen Haar, dem herzförmigen Gesicht und der zierlichen Statur aussah, als wäre sie genauso alt wie sie. Dabei war Claire fast zehn Jahre älter als ihre Stieftochter.

Daher hatte sie auch den Kopf geschüttelt, als Sally zum Spaß vorgeschlagen hatte, sie solle Brautjungfer für sie sein, und erklärt, sie sei eine reife Frau.

„Eine reife Frau?“, hatte Sally gespottet. „Du siehst eher wie ein junges Mädchen aus. Es ist komisch“, hatte sie etwas ernster hinzugefügt, „aber obwohl du über zehn Jahre mit Dad verheiratet warst, hast du so etwas … Jungfräuliches an dir. Ich weiß, es klingt verrückt, aber es stimmt. Chris ist es auch aufgefallen …“

„Du bist unmöglich“, schalt Hannah sie jetzt. „Du bist eine Frau im besten Alter, dazu alleinstehend, und willst mir weismachen …“

Als sie Claires Blick sah, lenkte sie schnell ein. „Schon gut. Ich weiß ja, wie sehr du John vermisst. Es ist nur so ein Jammer, das ist alles. Aber eines verstehe ich nicht. Wenn dieser Knabe Tims Chef ist, warum will er dann zur Untermiete wohnen?“

„Er möchte bei einer Familie wohnen“, erklärte Claire geduldig. „Offenbar kommt er aus einer Großfamilie. Irene hat mir erzählt, dass seine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen sind, als er achtzehn war. Daraufhin hat er für seine Geschwister die Vaterrolle übernommen und sich und sie durchs College gebracht. Dann hat er eine Stelle in dem familieneigenen Unternehmen angenommen, um die Familie zusammenzuhalten.“

„Verstehe. Und ich nehme an, dass er so damit beschäftigt war, für seine Geschwister zu sorgen, dass er keine Zeit hatte, um zu heiraten und selbst eine Familie zu gründen. Wie er wohl ist? Anscheinend …“

„Sehr ehrenwert und furchtbar langweilig“, ergänzte Claire trocken.

Beide begannen zu kichern.

„Das wollte ich nicht sagen“, protestierte Hannah. „Ach übrigens, was hat es damit auf sich, dass du mit den beiden Brautjungfern einen Pakt geschlossen hast, nicht zu heiraten?“

„Was?“ Claire sah sie verwirrt an, doch dann begriff sie. „Ach, das … Es war eigentlich kein Pakt, sondern vielmehr ein Akt weiblicher Solidarität. Die arme Poppy hat mir so leidgetan, Hannah. Alle wissen, was sie für Chris empfindet. Sally hat hin und her überlegt, ob sie sie bitten soll, Brautjungfer zu sein, aus Angst, es könnte eine zu große Belastung für Poppy sein. Doch die beiden waren sich darin einig, dass es Poppy in eine noch unangenehmere Lage gebracht hätte, wenn Sally es nicht getan hätte.

Und was Star betrifft … Na ja, du weißt ja über sie Bescheid. Ihre Mutter ist bereits mehrfach geschieden und hat gerade eine Affäre mit einem Mann, der jünger ist als Star. Ihr Vater hat mittlerweile neun Kinder von verschiedenen Frauen und kann sich um keines davon richtig kümmern. Kein Wunder, dass Star so gegen das Heiraten ist …“

„Dann stimmt es also nicht, dass ihr drei euch geschworen habt, euch gegenseitig zu unterstützen und ledig zu bleiben?“

Claire blickte ihre Freundin starr an. „Wer hat dir das erzählt?“

„Ah, es stimmt also tatsächlich. Jemand ist zufällig an der Tür vorbeigegangen und hat euch gehört. Allerdings kann ich dir nicht sagen, wer es war. Angeblich hat man schon Wetten darüber abgeschlossen, ob ihr drei immer noch solo seid, wenn Sally und Chris ihren ersten Hochzeitstag feiern.“

„Ach wirklich?“, entgegnete Claire heftig. „Nur damit du es weißt: Ich werde nie wieder heiraten, Hannah.“ Leise fügte sie hinzu: „John war ein wundervoller Ehemann, und ich habe ihn sehr geliebt.“

Hannah war ebenfalls ernst geworden. „Du bist doch erst seit zwei Jahren verwitwet, Claire. Eines Tages wirst du einem Mann begegnen, der dir bewusst macht, dass du immer noch eine Frau bist. Wer weiß? Vielleicht ist es sogar dieser Amerikaner!“

„Niemals“, erwiderte Claire überzeugt.

Für sie würde es weder eine zweite Ehe geben noch eine intime Beziehung zu einem Mann. Dafür gab es gewichtige Gründe, von denen allerdings nur John gewusst hatte. Unter anderem vermisste sie ihn deshalb so schmerzlich.

John hatte sie so gut gekannt wie kein anderer, und niemand würde sie je so gut kennenlernen wie er – vor allem kein anderer Mann.

Als Alex Stevenson an Bord des Flugzeugs ging, das in Heathrow landen würde, runzelte er die Stirn. Er hatte den Posten in England nicht haben wollen und alles darangesetzt, um darum herumzukommen. Erst der Aufsichtsratsvorsitzende und der ehemalige Vorstandsvorsitzende, der inzwischen im Ruhestand war – seine beiden Onkel –, hatten ihn gemeinsam dazu gebracht, seine Meinung zu ändern.

Als er ihnen im Sitzungssaal gegenübergesessen hatte, hatte Alex beteuert, er sei sehr zufrieden mit seiner derzeitigen Position und wolle auf keinen Fall nach England geschickt werden, um die Probleme in der englischen Vertretung zu lösen. Gegen seinen Rat hatten die beiden darauf bestanden, sich in die Firma einzukaufen.

„Okay“, hatte er gesagt, „in Großbritannien herrscht also eine Hitzewelle, und alle Leute wollen eine Klimaanlage. Im nächsten Sommer könnte es aber schon ganz anders aussehen, und dann sitzt ihr mit einem großen Bestand da.“

Er hatte seine ganze Überredungskunst aufbieten müssen, um die Klimaanlagen in diversen Unternehmen in Großbritannien abzusetzen. Nur dadurch war es ihm gelungen, die dortige Vertriebsfirma vor dem Konkurs zu retten. Aber genug war genug. Der Gedanke daran, dass er viel Zeit investieren musste, um die marode Vertretung zu sanieren, frustrierte ihn.

Wie, zur Hölle, hatten die beiden alten Knaben bloß erraten, dass er vorgehabt hatte, sich langsam aus dem Unternehmen zurückzuziehen, damit er nicht irgendwann in ihre Fußstapfen treten musste?

Er war jetzt achtunddreißig, und es gab noch viele Dinge, die er tun wollte, ja musste. Da war zum Beispiel das Boot, das erst halb fertig war. Seit seiner Highschool-Zeit träumte er davon, auf Kolumbus’ Spuren zu segeln.

Nun, da auch sein jüngster Bruder von zu Hause ausgezogen war, wollte Alex endlich sein eigenes Leben leben.

„Pass auf, du bist der Nächste“, hatte Sheri, die Zweitjüngste, ihn geneckt. „Jetzt, da du uns nicht mehr bemuttern musst, wirst du dir eine Frau suchen, eine Familie gründen … und wieder von vorn anfangen.“

„Niemals“, erwiderte er entschlossen. „Meinen Bedarf an Kindererziehung habe ich bei euch fünfen schon gedeckt.“

Daraufhin sah sie ihn ernst an. „War es denn wirklich so schlimm?“ Die Antwort darauf gab sie ihm gleich selbst. „Na ja, ich glaube, manchmal schon. Du hast es mit uns nicht leicht gehabt, aber du hast uns immer unterstützt und geliebt. Es hat dich doch hoffentlich nicht davon abgeschreckt, selbst zu heiraten und eine Familie zu gründen, oder?

Ich meine, wir sind alle verheiratet und haben Kinder – abgesehen von Doug, der gerade erst geheiratet hat. Aber ich wette, dass er und Lucille nicht mehr lange warten werden. Du bist so gut zu uns gewesen. Ich mag gar nicht daran denken …“

„Dann tu es auch nicht“, riet er, und Sheri merkte sofort, dass es besser war, nichts mehr zu sagen. Es gab Momente, in denen man Alex nicht zu sehr unter Druck setzen durfte.

Sie hatte gar nicht daran denken wollen, was passiert wäre, wenn Alex nach dem Tod ihrer Eltern nicht die Vaterrolle für sie und ihre Geschwister übernommen hätte. Amy, die Zweitälteste, war damals zwölf gewesen, aber der Altersunterschied zwischen den übrigen Geschwistern betrug jeweils nur höchstens anderthalb Jahre, und Doug war zu dem Zeitpunkt fünf.

Der Unfall lag mittlerweile zwanzig Jahre zurück.

Um nicht nach England gehen und dort als Vermittler für seinen Onkel fungieren zu müssen, hatte Alex einige Bedingungen hinsichtlich seiner Unterkunft gestellt, die unmöglich zu erfüllen waren. Zumindest hatte er das angenommen. Er hatte natürlich nicht ahnen können, dass der Leiter ihrer Vertretung in England eine verwitwete Schwägerin hatte, die ihm die gewünschte Unterkunft zur Verfügung stellen konnte.

Alex verzog das Gesicht, als er seinen Platz im Flugzeug einnahm. Dennoch lächelte die Stewardess ihm zu. Er trug ausgeblichene Jeans und ein weißes T-Shirt, das den Blick auf seine muskulösen, sonnengebräunten Arme freigab – für einen Passagier der ersten Klasse ein ziemlich ungewöhnliches Outfit.

Normalerweise machte die Stewardess sich nichts aus diesen dunkelhaarigen Machotypen, doch bei diesem Prachtkerl würde sie eine Ausnahme machen!

Seine grauen Augen konnten unter gewissen Umständen sicher sehr streng, sogar eisig blicken, aber seine dichten dunklen Wimpern und sein markantes Profil hatten etwas sehr Anziehendes.

„Miss, Miss … Wir sitzen in Reihe F. Wo ist das bitte?“ Widerstrebend wandte die Stewardess ihre Aufmerksamkeit einem Paar mittleren Alters zu, das auf sie zukam. Pech gehabt, dachte sie. Da das Flugzeug ausgebucht war, würde sie sicher keine Zeit haben, um mit diesem alleinreisenden attraktiven Mann zu flirten.

Alex bemerkte das unverhohlene Interesse der Stewardess, ignorierte es aber. Im Moment stand ihm nicht der Sinn nach einer Beziehung – egal, welcher Art. Vorerst war es für ihn das Wichtigste, seinen Auftrag in England zu erledigen und anschließend auf dem schnellsten Weg in die Staaten zurückzukehren und seinen Onkeln höflich, aber bestimmt zu erklären, dass er nicht vorhatte, in ihre Fußstapfen zu treten.

Er wollte sein zukünftiges Leben nicht damit verbringen, sich zwanzig Jahre oder noch länger Sorgen um das Schicksal des familieneigenen Unternehmens und dessen Mitarbeiter zu machen, sondern sein eigenes Leben führen und seine Träume verwirklichen.

Er wollte sich aus dem Berufsleben zurückziehen, sein Boot zu Ende bauen und dann …Vielleicht würde er eines Tages ja tatsächlich um die Welt segeln. Kurzum, er wollte all die Dinge tun, zu denen er bisher nie die Gelegenheit gehabt hatte, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, sich um seine Geschwister zu kümmern.

Einen Augenblick lang fragte sich Alex, wie diese Witwe wohl sein mochte. Er hoffte, dass sie keine penible Hausfrau war. Schon jetzt bedauerte er es, zu diesem Trick gegriffen zu haben, und fragte sich, wie bald er seiner Vermieterin erklären konnte, dass er es sich anders überlegt hatte und sich lieber eine Wohnung mieten wollte. Niemals hätte er damit gerechnet, dass Tim Burbridge so schnell jemanden auftreiben würde, der seinen Anforderungen in dem Maße gerecht wurde.

Als das Flugzeug startete, sagte sich Alex, dass es eigentlich wichtigere Dinge für ihn gab, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, dass er womöglich die Gefühle seiner Vermieterin verletzen könnte.

Irgendwo über dem Atlantik schlief er schließlich ein. Die Stewardess blieb stehen, um ihn zu beobachten. Ein wenig eifersüchtig überlegte sie, ob es bereits eine Frau in seinem Leben gab und wie es wohl sein mochte, jeden Morgen neben ihm aufzuwachen. Sie seufzte leise, bevor sie weiterging.

2. KAPITEL

Claire hatte einen schlechten Tag. Eigentlich hatte sie schon schlechte Laune gehabt, als sie aufgewacht und ihr eingefallen war, dass sie an diesem Abend zum ersten Mal ihren zukünftigen Untermieter kennenlernen würde. Irene hatte sie bereits angerufen und betont, wie wichtig es sei, Tims neuem Chef einen herzlichen Empfang zu bereiten, damit er sich gleich wohl fühle.

„Ich werde mein Bestes tun“, hatte Claire ihr versprochen. Allerdings hatte Irene ihrer Meinung nach etwas übertrieben, denn sie hatte ihr erzählt, dass sie von einer Freundin ein Kochbuch für die traditionelle amerikanische Küche geliehen habe.

„Darin ist ein Rezept für Schmorbraten, den die Amerikaner offenbar sehr gern essen, eins für Kuchen aus Pekannüssen und eins für …“

Claire hatte das Telefonat schnell beendet. Obwohl sie es bereits bedauerte, dass sie sich von Irene hatte breitschlagen lassen, hatte sie bisher nicht den Mut aufgebracht, ihr Angebot zurückzunehmen.

Sie mochte Tim. Er war ein liebenswürdiger Mensch und brillant in seinem Beruf, allerdings nicht sehr redegewandt und eher zurückhaltend im Umgang mit anderen. Natürlich mochte sie Irene auch, aber …

Claire wurde aus ihren Gedanken gerissen, weil jemand sie am Ärmel zupfte. Es war Paul, der älteste ihrer Schüler, und sie lächelte ihn liebevoll an, während sie darauf wartete, dass er etwas sagte. Er war ein sehr intelligentes Kind, litt jedoch an einer zerebralen Lähmung.

Jedes der Kinder war auf seine Weise etwas Besonderes, aber Paul war ihr besonders ans Herz gewachsen.

Es war ein herrlicher, warmer Frühlingstag, und Claire war mit Paul und Janey, einem Mädchen mit Down-Syndrom, in den kleinen Park des Ortes gegangen, weil die Kinder dort so gern spazieren gingen. Janey hatte dabei geholfen, Pauls Rollstuhl zu schieben.

Alles war gutgegangen, bis sie den Eiswagen gesehen hatte, der an einem der Ausgänge stand. Einige andere Kinder und Erwachsene hatten sich bereits um den Wagen versammelt, und Claire hatte keine Ahnung gehabt, was sie erwartete. Danach hatte sie sich allerdings Vorwürfe gemacht, weil sie aus Erfahrung wusste, wie grausam manche Menschen mit Behinderten umgingen.

Eine junge Mutter machte den Anfang. Als Janey die Hand ausstreckte, um die blonden Locken ihrer Tochter zu berühren, zog die Frau ihre Tochter schnell beiseite.

„Geh weg. Wag es ja nicht, sie anzufassen!“, schrie die Frau, woraufhin ihre Tochter aus Angst auch sofort zu schreien begann. Janey fing an zu weinen, doch was Claire am meisten verletzte, war der wissende, resignierte Ausdruck in Pauls Augen – und die Erkenntnis, dass sie ihn nicht davor schützen konnte.

Als die junge Frau ihre schreiende Tochter wegbrachte, drehte sie sich um und rief Claire zu: „Sie sollten sich schämen! Kinder wie die da sollten unter sich bleiben und nicht mit normalen Kindern zusammen sein.“

Auf dem Rückweg fragte Paul Claire: „Was hat die Frau damit gemeint, dass wir unter uns bleiben sollen?“

In dem Moment hätte Claire am liebsten geweint. Allerdings hatte sie es nicht in Gegenwart der beiden tun wollen, denn damit hätte sie alles, worum die beiden so hart kämpften und was sie darstellten, herabgewürdigt.

Als Paul nun auf dem Weg zum Ausgang fragte, ob sie einen Moment anhalten könnten, um einigen Kindern beim Fußballspielen zuzusehen, zögerte Claire. Da Janey jedoch allmählich müde wurde und sie noch etwas Zeit hatten, bevor Pauls Mutter von der Arbeit nach Hause kam, ging Claire schließlich mit den beiden auf die nächste Bank zu.

Darauf saß ein Mann in einem weißen T-Shirt, der die spielenden Kinder beobachtete. Claire fragte sich, ob er der Vater eines der Kinder war. Während sie ihn betrachtete, verspürte sie ein seltsames Gefühl, das ihr unbekannt war und das sie daher umso mehr beunruhigte. Es war wohl kaum der Anblick seiner muskulösen, sonnengebräunten Arme, der solch eine Wirkung auf sie ausübte, oder?

Schnell sagte sie sich, dass sie im Gegensatz zu anderen Frauen nicht für derartige Reize empfänglich war – im Gegenteil. Sie fand eine derart starke sexuelle Ausstrahlung bei Männern abstoßend, ja manchmal sogar beängstigend.

Normalerweise weckte der Anblick eines Mannes bei ihr jedenfalls nicht den Wunsch, ihn länger zu betrachten, zu erforschen …

Plötzlich wurde ihr ganz heiß. Was ist bloß mit mir los?, fragte sie sich. Kein Wunder, dass der Mann die Stirn runzelte, als er von den Kindern zu ihr schaute und dann wieder zurück zu den Kindern. Schließlich stand er auf und ging.

Paul stieß einen gequälten Laut aus, was Claire dazu veranlasste, sich mit seinen Gefühlen zu beschäftigen statt mit ihren. Als sie den Grund für seinen Schmerz erkannte, stieg eine unbändige Wut in ihr auf.

Ohne nachzudenken, wies sie Janey leise an, bei Paul zu bleiben, und lief hinter dem Mann her. Als sie ihn am Arm fasste, blieb er stehen und drehte sich zu ihr um.

„Wie können Sie es wagen, so etwas zu tun?“, fuhr sie ihn an. „Wie können Sie es wagen, einfach wegzugehen und die Kinder so zu verletzen? Es sind Menschen wie wir. Nein, sie sind sogar besser als wir, weil sie uns akzeptieren und lieben. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie sehr es sie verletzt, wenn die Leute sich so verhalten, wie Sie es gerade getan haben? Haben Sie denn kein Mitgefühl, kein Verständnis …“

Entsetzt stellte sie fest, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen und ihr Ärger wieder verflog. Erneut fragte sie sich, was bloß mit ihr los war. Noch nie zuvor war sie so aggressiv gewesen wie gegenüber diesem Mann. Es war einfach nicht ihre Art – zumindest hatte Claire das bisher angenommen.

Beschämt über ihr Verhalten, wandte sie sich ab und wollte zurückgehen, doch der Fremde packte sie bei den Schultern und hielt sie mit eisernem Griff fest. Seltsamerweise hatte sie dabei keine Angst. Sie war schockiert und wütend, ja, aber Angst hatte sie nicht.

„Lassen Sie mich los!“ Claire versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.

Er dachte jedoch nicht daran, sondern schüttelte sie sanft und erwiderte mit amerikanischem Akzent: „Würden Sie vielleicht einen Moment aufhören, mich anzuschreien, und mir zuhören?“

„Nein, das werde ich nicht“, entgegnete sie wütend. „Lassen Sie mich los.“

„Erst, wenn Sie mich zu Wort haben kommen lassen. Jetzt bin ich nämlich an der Reihe …“

„Lassen Sie mich los.“ Sie sah ihn finster an.

Er hatte faszinierende graue Augen, die von dichten dunklen Wimpern gesäumt waren. Wie gebannt schaute sie ihn an, und als er leise fluchte und den Kopf neigte, um sie zu küssen, stand sie einfach nur da, die Lippen einladend geöffnet …

Kurz bevor er ihre Lippen berührte, glaubte sie, ihn leise sagen zu hören: „Anscheinend gibt es nur einen Weg, eine so lebhafte Lady wie Sie zum Schweigen zu bringen.“ Da sie sich jedoch mehr auf das konzentrierte, was er tat, als auf das, was er sagte, war sie nicht ganz sicher.

Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass sie schon lange nicht mehr von einem Mann so geküsst worden war – sehr lange sogar. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie noch niemals so geküsst worden war.

Ihr Herz begann, schneller zu klopfen, als der Fremde sie immer leidenschaftlicher küsste, fast, als schien er es zu wissen. Unwillkürlich erwiderte Claire das erotische Spiel seiner Zunge.

Schließlich schrie sie leise auf und befreite sich aus seinem Griff. Ihre Wangen brannten, aber nicht nur, weil sie empört und schockiert war, sondern auch aus einem anderen Grund, der sie zutiefst beunruhigte.

„Es tut mir leid … Ich hatte nicht die Absicht …“, begann der Fremde.

„Dazu hatten Sie kein Recht“, entgegnete sie aufgebracht, doch er ließ sie nicht weiterreden, sondern schüttelte den Kopf.

„Nein, das hatte ich nicht, und es tut mir leid. Es hätte nie passieren dürfen. Aber Sie haben mich so auf die Palme gebracht … Ich bin nicht wegen der Kinder weggegangen“, fuhr er leise fort. „Zumindest nicht aus dem Grund, den Sie angenommen haben. Die Bank da drüben ist ziemlich klein, und da wir nicht alle darauf hätten sitzen können, bin ich aufgestanden, um Ihnen Platz zu machen. Da, wo ich herkomme, ist so etwas üblich“, fügte er spitz hinzu.

Claire spürte, wie sie noch tiefer errötete. Noch nie zuvor war sie so verlegen gewesen, und das lag nicht nur daran, dass sie sein Verhalten falsch interpretiert hatte.

Sie wandte sich ab und ging zu den Kindern zurück, die immer noch geduldig und ein wenig ängstlich bei der Bank warteten. Dabei stellte sie fest, dass der Fremde sie begleitete. Als sie vor Pauls Rollstuhl standen, ging der Mann neben Paul in die Hocke und lächelte ihm herzlich zu. „Vor einiger Zeit habe ich mal ein paar Monate in so einem Ding verbracht.“

Claire beobachtete, wie Paul übers ganze Gesicht strahlte, während er dem Fremden vorführte, was sein Rollstuhl alles konnte. Und auch Janey ging auf den Mann zu und schäkerte mit ihm.

Später, nachdem Claire die beiden nach Hause gebracht hatte, ließ sie den Vorfall noch einmal im Geiste Revue passieren. Dabei kam ihr ein entsetzlicher Gedanke.

Dieser Amerikaner war doch nicht etwa Tims neuer Chef und ihr zukünftiger Untermieter gewesen, oder? Nein, das ist unmöglich, redete sie sich ein. Tims Chef würde nicht in einem T-Shirt und verwaschenen Jeans allein in einem Park sitzen und spielende Kinder beobachten, oder doch?

Und falls er es tatsächlich gewesen war, hatte sie das Problem vermutlich gelöst. Sie brauchte ihr Angebot, ihn als Untermieter bei sich aufzunehmen, nicht mehr zurückzuziehen. Irene wird mich wahrscheinlich umbringen, überlegte Claire. Nein, nicht wahrscheinlich, sie wird mich umbringen.

„Du siehst so … offiziell aus. Wohin gehst du?“,fragte Hannah neugierig, während sie den Blick über Claires Outfit schweifen ließ – ein strenges schwarzes Kostüm, das aus einem langen Rock und einem klassisch geschnittenen Blazer bestand.

„Zum Essen zu Irene und Tim, um meinen zukünftigen Untermieter kennenzulernen“, erklärte Claire.

„Hilfe! Der arme Kerl!“, rief Hannah und unterdrückte ein Lachen. „Wenn er dich darin sieht, denkt er glatt, dass er bei einer alten Matrone einzieht. Wo, in aller Welt, hast du bloß dieses Kostüm her?“

„Ich habe es für Johns Beerdigung gekauft“, erwiderte Claire leise. Als sie den schuldbewussten Ausdruck in Hannahs Augen sah, fügte sie schnell hinzu: „Ist schon gut … Mir ging es damals so schlecht, dass ich das erstbeste schwarze Kostüm gekauft habe.“

„Für eine Beerdigung ist es auch angemessen, aber warum trägst du es heute? Erst einmal wirst du darin umkommen, weil es viel zu warm ist.“

„Irene möchte, dass ich einen guten Eindruck auf Tims neuen Chef mache“, erklärte Claire.

„Darin wirst du ihn wohl eher zu Tode erschrecken“, gab Hannah zu bedenken. „Du kannst es unmöglich tragen. Was ist denn mit dem schönen Strick-Dreiteiler? Der steht dir ausgezeichnet.“

Das hellbeigefarbene Strickensemble stand ihr tatsächlich ausgezeichnet, wie Claire insgeheim zugeben musste. Sally war dabei gewesen, als sie es gekauft hatte, und hatte sie praktisch dazu überredet. Claire hatte es zuerst nämlich viel zu sexy gefunden.

„Ich glaube nicht, dass Irene es für angemessen halten würde“, wandte sie schnell ein.

„Irene vielleicht nicht, aber dein neuer Untermieter bestimmt, darauf wette ich“, konterte Hannah. „Ich kann auf keinen Fall zulassen, dass du in diesem Kostüm aus dem Haus gehst, Claire. Auf keinen Fall …“

Claire seufzte leise und lächelte zerknirscht.

„Also gut“, willigte sie schließlich ein. „Ich gehe und ziehe mich um …“

„Und du ziehst den Dreiteiler an.“

„Irgendetwas“, wich Claire aus.

„Den Dreiteiler“, beharrte Hannah. „Und ich komme mit und passe auf.“

Da sie keine Lust hatte, sich mit ihr zu streiten, beschloss Claire nachzugeben. Außerdem wollte sie nicht zu spät kommen, denn damit würde sie Irene ganz sicher verärgern.

„Also gut, den Dreiteiler“, willigte sie ein.

Als Claire ihren Wagen in der Auffahrt hinter Tims Volvo und dem Ford parkte, der vermutlich dem Amerikaner gehörte, sagte sie sich, dass kein Grund zu der Befürchtung bestand, dass der Amerikaner aus dem Park Tims Chef war. Schließlich hatte er nicht wie ein erfolgreicher Unternehmer ausgesehen, oder? Er hatte ausgesehen wie … wie …

Schnell verdrängte sie das Bild, das vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht war, und versuchte stattdessen, sich vorzustellen, wie Tims neuer Chef wohl aussehen mochte. Sehr wahrscheinlich würde es sich bei ihm sozusagen um eine amerikanische Ausgabe von Tim handeln – einen Mann mittleren Alters mit Bauchansatz und beginnender Glatze in einem dunklen Anzug.

Irene hatte offenbar auf sie gewartet, denn sie öffnete die Haustür, noch bevor Claire geklingelt hatte, und bat sie hinein. Dann sagte sie leise, dass Tim und Alex im Garten seien.

„Offenbar ist Alex ein leidenschaftlicher Hobbygärtner.

Also habt ihr zumindest eins gemeinsam“, erklärte sie, während sie Claire voran nach hinten ins Wohnzimmer ging. Von dort aus konnte man durch die Verandatüren die etwas tiefer liegende Terrasse betreten, von der wiederum einige Stufen zum Rasen hochführten.

Zwei Männer kamen gerade die Stufen herab, doch bis jetzt waren nur ihre Beine zu sehen. Beide trugen Anzughosen, wie Claire erleichtert feststellte. Da die Erinnerung an den Anblick der verwaschenen engen Jeans, die der Mann im Park getragen hatte, sie allmählich richtig verfolgte, hätte Claire beinah laut aufgelacht.

Als die beiden Männer jedoch die Terrasse betraten, spürte sie förmlich, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Irene ihr einen scharfen, fragenden Blick zuwarf, wagte es aber nicht, sich zu ihr umzudrehen.

Nun brannten ihr die Wangen vor Verlegenheit und Bestürzung, und Claire war klar, dass er sie auch sofort erkannt hatte. Allerdings ließ er es sich zum Glück nicht anmerken, als er ihr gleich darauf die Hand entgegenstreckte und sagte. „Mrs. …?“

„Du meine Güte, nicht so förmlich!“, rief Irene, bevor sie sie einander vorstellte: „Claire – Alex.“ An Tim gewandt, fuhr sie fort: „Bitte hol den beiden einen Drink. Ich sehe inzwischen nach dem Essen.“

„Ich … ich komme mit und helfe dir“, erbot sich Claire, da sie auf keinen Fall mit Alex allein sein wollte.

Irene schüttelte jedoch den Kopf. „Nein, du bleibst hier und unterhältst dich mit Alex. Morgen bringen wir Sie zu ihr, damit Sie sich das Haus ansehen können“, erklärte sie an Alex gewandt. „Falls Sie Claire vorher einige Fragen stellen möchten …“

Als Alex sie ansah, begann ihr Herz, schneller zu klopfen. Da Claire das Gefühl hatte, ihre Wangen würden glühen, wunderte sie sich, dass Irene noch keine Bemerkung darüber gemacht hatte.

„Sie sind also verwitwet …“, begann Alex, während Tim hin und her ging, um ihnen die Drinks zu machen.

„Ja … ja. John, mein Mann, ist vor einiger Zeit gestorben …“

„Und seitdem leben Sie allein?“

Misstrauisch erwiderte sie seinen Blick. Was will er damit andeuten?, überlegte sie. Glaubt er etwa, dass ich … nur weil er mich heute Nachmittag so überrumpelt hat, indem er mich einfach geküsst hat … und nur weil ich sekundenlang, ohne es eigentlich zu wollen, darauf reagiert habe … dass ich eine … dass ich seit dem Tod meines Mannes ständig irgendwelche Affären hätte?

Vor Wut, aber auch etwas schuldbewusst errötete sie wieder. Sie wollte seine Anspielung gerade weit von sich weisen, als sie sich zu ihrem Entsetzen fast kokett sagen hörte: „Nein, bis vor kurzem hat jemand bei mir gelebt …“

Zum Glück gesellte sich im nächsten Moment Tim zu ihnen. Er hatte ihre letzten Worte offenbar gehört und ergänzte zu Claires Erleichterung: „Claire lebt erst seit einigen Tagen allein. Sally, die Tochter ihres verstorbenen Mannes, hat bis zu ihrer Hochzeit bei ihr gewohnt …“

„Ihre Stieftochter also“, erklärte Alex. Lächelnd drehte er sich zu Tim um, um seinen Drink entgegenzunehmen. Sein Lächeln war sehr viel herzlicher als das, mit dem er sie bedacht hatte, aber lange nicht so herzlich wie das, das er am Nachmittag Paul und Janey geschenkt hatte. Irritiert fragte sie sich, warum sie sich aufgrund dessen ausgeschlossen fühlte. Es war wirklich lächerlich!

Zumindest eines war jedenfalls sicher. Nun, da er sie wiedererkannt hatte, würde Alex Stevenson kaum bei ihr wohnen wollen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war sie darüber nicht erleichtert, sondern empfand so etwas wie Bedauern.

„Ja … ja. Sally, meine Stieftochter“, bestätigte Claire und errötete noch tiefer unter seinem Blick.

„Claire gehört zu den Menschen, die alle in ihren Bann ziehen“, bemerkte Irene, die gerade das Wohnzimmer betreten hatte, um Bescheid zu sagen, dass das Essen fertig war. „Ihr Haus scheint immer voll zu sein. Wenn John nicht so viel älter als sie gewesen wäre, hätte sie bestimmt viele Kinder bekommen.“

„Ihr Mann war viel älter als Sie?“, erkundigte sich Alex und schaute Claire dabei noch abschätziger an.

Was, in aller Welt, war bloß mit diesem Mann los? Sein missbilligender, zynischer Tonfall war ihr nicht entgangen, und er schien sie geradewegs zu verurteilen. Offenbar sah er in ihr eine berechnende Frau, die sich bewusst einen wesentlich älteren, wohlhabenden Mann geangelt hatte. Mit Berechnung hatte ihre Beziehung zu John allerdings überhaupt nichts zu tun gehabt.

„Ja, er war älter als ich“, bestätigte Claire leise. Plötzlich war sie müde und fühlte sich völlig ausgelaugt. Ich müsste eigentlich ihm Fragen stellen und nicht umgekehrt, sagte sie sich empört. Wie konnte sie nach dem, was Alex getan hatte, überhaupt noch zulassen, dass er bei ihr einzog? Als sie ins Esszimmer gingen, musste Claire sich jedoch eingestehen, dass sie in seinen Armen alles andere als gleichgültig geblieben war und sehr stark auf ihn reagiert hatte.

Alex hatte mit seinem Kuss vielleicht gegen alle Regeln verstoßen, doch sosehr sein Verhalten sie auch überrascht hatte, hatte ihre unerwartete Reaktion darauf sie viel mehr schockiert.

Nachdem sie jahrelang in der Annahme gelebt hatte, dass sie keine besonders sinnliche Frau wäre, war es keine sehr angenehme Erfahrung gewesen, so stark auf einen Fremden zu reagieren. Bisher hatte sie geglaubt, so etwas wäre nur in Büchern oder Filmen möglich und hätte nichts mit der Wirklichkeit zu tun.

Claire war immer noch nicht ganz sicher, was ihr dabei am wenigsten gefiel – die Tatsache, dass Alex sie so erregt hatte, oder die Tatsache, dass sie sich plötzlich selbst infrage stellte.

Beides veranlasste Claire dazu, über sich und über die Vergangenheit nachzudenken. Das fiel ihr natürlich schwer, und es war vermutlich auch der Grund dafür, dass es ihr nicht nur peinlich war, Alex wiederbegegnet zu sein, sondern dass sie ihm gegenüber auch so feindselig gesinnt war.

Sobald sie am Tisch saßen und aßen, begann Irene, Claires häusliche Tugenden aufzuzählen, was Claire ärgerlich und verlegen zugleich machte.

„Claire ist eine hervorragende Köchin“, erklärte Irene, nachdem Alex sich anerkennend über ihre Kochkünste geäußert hatte. „Mein Bruder John war sehr eigen, was das Essen anging, und er war eigentlich nie damit einverstanden, dass Claire unbedingt ihr eigenes Gemüse anbauen wollte.“

„Oh.“ Alex warf Claire einen neugierigen Blick zu. „Die meisten gesundheitsbewussten Leute sind doch der Meinung, dass selbstangebaute Produkte am besten sind.“

„Das hat John auch gar nicht kritisiert“, erklärte Irene. „Er war der Ansicht, dass diese Art von Gartenarbeit nichts für eine Frau sei. Er …“

„Meinem Mann wäre es lieber gewesen, wenn ich jemanden eingestellt hätte, der sich um unseren Gemüsegarten kümmert“, mischte Claire sich ein. „Er war der Meinung, dass diese Art von Gartenarbeit … Er war der Meinung, ich sollte mich lieber …“

„John hatte sehr altmodische Ansichten“, bemerkte Tim und lächelte ihr dabei aufmunternd zu. „Er glaubte, dass Gartenarbeit für eine Frau aufs Blumenpflücken beschränkt sein sollte.“

„John wollte einfach nicht, dass Claire sich übernimmt“, verteidigte Irene ihren verstorbenen Bruder. „Außerdem hatte unsere Mutter immer jemanden für die groben Arbeiten. Und du weißt ja, Tim, dass John stets dir die Schuld daran gegeben hat. Du hast Claire dazu ermutigt, sich um den Gemüsegarten zu kümmern, und ihr fast jedes Wochenende bei der Arbeit geholfen.“

Während Claire und Tim verschwörerisch und ein wenig schuldbewusst Blicke tauschten, seufzte Irene und murmelte etwas davon, wie viel Zeit Tim in seinem geliebten Garten verbrachte.

„Ich werde es noch einmal mit dem Spargel versuchen und ein neues Beet anlegen“, sagte Tim schließlich begeistert zu Claire. „Außerdem habe ich mir überlegt … Wir könnten doch versuchen, an deiner Südmauer einen Weinstock zu pflanzen.“

„Sie ziehen es also vor, sich in Haus und Garten zu betätigen?“, wandte Alex sich unerwartet scharf an Claire und sah sie dabei herausfordernd an. „Sie hatten nie den Wunsch zu arbeiten?“, fügte er spitz hinzu – oder zumindest schien es ihr so.

„Ich habe es als meine Aufgabe betrachtet, John eine gute Frau und Sally eine gute Stiefmutter zu sein“, erklärte sie gestelzt.

„Und diese Aufgabe ist jetzt beendet“, bemerkte er. „Waren Sie denn nie versucht, sich in der Berufswelt zu behaupten? Schließlich gibt es so etwas wie den Job fürs Leben heutzutage nicht mehr. Wir müssen alle flexibel sein und akzeptieren, dass wir zu unserem eigenen Wohl manchmal einen neuen beruflichen Weg einschlagen müssen.“

Claire merkte, wie Tim bei Alex’ Worten immer nervöser wurde. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Alex sie damit kritisieren wollte oder ob es eine indirekte Warnung an Tim war. Über eines wollte sie ihn allerdings aufklären.

„Ich bin Lehrerin“, informierte sie ihn kühl. „Durch meinen Beruf habe ich John kennengelernt und …“

„John wollte, dass Claire nach der Heirat zu Hause bleibt und sich um Sally kümmert“, schaltete Irene sich ein. „Sie hat jetzt eine Teilzeitbeschäftigung als ehrenamtliche Mitarbeiterin in einer Schule für behinderte Kinder …“

„Verstehe … Eine solche Tätigkeit ist sicher sehr belastend. Ich dachte, Ihnen wäre die … Beschaulichkeit Ihrer Gartenarbeit lieber.“

„Pflanzen können genauso schwierig sein wie Kinder“, entgegnete Claire scharf, während sie beobachtete, wie er von Tim zu ihr schaute. „Und davon abgesehen belastet mich weniger die Arbeit mit den Kindern als die Art, wie andere Leute sie behandeln …“

„Egal, wie gut die Leute es meinen oder wie gut sie erzogen sind – ihre Vorurteile lassen sich durch Gesetze nicht ausräumen“, erklärte Alex leise.

„Nein“, bestätigte sie, „das geht nicht.“

„Es ist Ihnen wahrscheinlich kein großer Trost, aber es gibt eine Lehrmeinung, die besagt, dass wir selbst bestimmen können, was wir sein wollen, wenn wir wiedergeboren werden, und es auch tun, und dass diese Kinder ganz besondere Geschenke mitbringen – nämlich Mut und Verständnis.“

Claire sah ihn überrascht an. In Anbetracht der Tatsache, was zwischen ihnen vorgefallen war, hatte sie nicht erwartet, dass Alex sie trösten würde.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fuhr er überraschend offen fort: „Nach dem Tod meiner Eltern ging es mir sehr schlecht. Ich war furchtbar wütend und verbittert. Wir waren zwar keine religiöse Familie, aber ein Pfarrer in unserer Stadt tat sein Bestes, um mir zu helfen. Er sagte mir, dass manche Menschen solche Schicksalsschläge als Anzeichen dafür sehen, dass sie stärker sind als andere, es sogar sein müssen, um damit fertig zu werden. Vielleicht war er auch einfach der Meinung, dass ich auf diese Weise besser damit umgehen könnte.“

Seine Nähe weckte die seltsamsten Gefühle in ihr, und zwar sowohl physisch als auch psychisch. Doch statt diese Gefühle zu verdrängen, indem sie in Schweigen verfiel, ging Claire auf seine Worte ein. „Soweit ich weiß, möchten Sie unter anderem deshalb privat untergebracht werden, weil Sie aus einer großen Familie kommen …“

„Stimmt“, bestätigte er. „Ich habe sechs Geschwister und bin der älteste. Mittlerweile sind alle meine Brüder und Schwestern von zu Hause ausgezogen und haben selbst eine Familie gegründet – bis auf meinen jüngsten Bruder, der erst kürzlich geheiratet hat. Aber unsere Familie ist so groß, dass man ständig irgendeinem Verwandten begegnet, wenn man durch die Stadt geht. Ich lebe nämlich in einer Kleinstadt.

Anfang der fünfziger Jahre haben mein Vater und seine beiden Brüder dort eine Firma zur Herstellung von Klimaanlagen gegründet. Bis vor kurzem haben meine beiden Onkel noch in der Firma gearbeitet. Der eine hat sich im letzten Herbst auf Anraten seines Arztes aus dem Geschäftsleben zurückgezogen, und der andere …“

Er verstummte, und in seine Augen trat ein gequälter und wütender Ausdruck. Unwillkürlich fragte sich Claire, woran Alex gerade dachte.

Als Claire kurz nach elf aufbrach, stand Alex höflich auf und kam auf sie zu, um sich von ihr zu verabschieden. In dem Moment wurde ihr klar, dass sie sich danach sehnte, von ihm geküsst zu werden – nicht auf die Wange, sondern auf den Mund so wie am Nachmittag.

Mit glühenden Wangen wich sie schnell einen Schritt zurück und wäre dabei fast mit Irene zusammengestoßen, die sie nachdenklich beobachtete.

„Denk daran, dass wir morgen Vormittag mit Alex vorbeikommen, damit er sich dein Haus ansehen kann“, erinnerte Irene sie ein wenig herrisch. „Passt es dir um elf?“

„Um elf … Ja, das passt mir“, erwiderte Claire stockend.

Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, dass Alex nicht längst gesagt hatte, er hätte seine Meinung geändert. An diesem Abend hatten sie zwar höfliche Konversation gemacht, aber ihm musste doch genauso klar sein wie ihr, dass sie unmöglich unter einem Dach leben konnten.

Alex war viel zu maskulin für ihren Geschmack, und obwohl Claire sich nichts anmerken ließ, brodelte es förmlich in ihr. Sie konnte sich nicht erklären, warum er eine so starke Wirkung auf sie ausübte. Allein ihm am Tisch gegenüberzusitzen war bereits zu viel für sie gewesen.

Mach dir nichts vor, sagte sie sich, während sie nach Hause fuhr. Ich habe nie gewollt, dass er bei mir einzieht. Irene hat mich überrumpelt, und nun, da ich ihn kennengelernt habe …

Nun was? Schuldbewusst stellte sie fest, dass die Ampel inzwischen auf Grün geschaltet hatte und der Fahrer im Wagen hinter ihr bereits ungeduldig hupte.

Es schickte sich einfach nicht für eine Witwe in ihrem Alter, Gefühle zu verspüren, die eher zu einem Teenager passten. Allerdings hatte sie ihre Sexualität erst sehr spät entdeckt und daher vermutet, sie würde nie etwas empfinden. Und das lag daran, dass …

Schnell verdrängte Claire diesen Gedanken.

Es passte ihr überhaupt nicht, dass Alex in ihr Leben getreten war und Empfindungen in ihr weckte, die sie längst begraben geglaubt hatte.

Sie war erleichtert, als sie endlich zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung war und in ihre gemütliche Küche kam.

John hatte dieses Haus gekauft, als er zum ersten Mal geheiratet hatte. Er hatte es nicht verkaufen wollen, da Sally darin aufgewachsen war und da es außerdem sehr schön war und in einer guten Wohngegend lag.

Claire war derselben Meinung gewesen, denn sie hatte sich auf Anhieb darin geborgen gefühlt – von dem Abend an, an dem John sie zum ersten Mal mit hierher genommen hatte.

Natürlich war ihr klar gewesen, dass er auch aus anderen Gründen nicht woanders hatte hinziehen wollen. Er hatte seine erste Frau über alles geliebt, und das Haus war ein Teil von ihr gewesen. Noch immer hingen Fotos von ihr im Wohnzimmer, außerdem hing an der Wand über dem Treppenabsatz ein Ölgemälde, auf dem man erkennen konnte, wie ähnlich Sally ihr war.

Einige der Räume waren immer noch mit den Antiquitäten möbliert, die Johns erste Frau von ihrer Familie geerbt hatte. Claire hatte diese Stücke stets gepflegt, und als Sally geheiratet hatte, hatte sie sie ihr sofort angeboten.

„Nein, danke“, hatte Sally erwidert und die Nase gekraust. „Allein der Gedanke daran, wie hoch ich sie versichern müsste, macht mich ganz krank.“

„Aber sie gehören dir“, beharrte Claire. „Dein Vater hat sie dir hinterlassen. Sie haben deiner Mutter gehört …“

„Das Wertvollste, was mein Vater mir je geschenkt und hinterlassen hat, bist du.“ Sally umarmte sie fest, und daraufhin kamen ihnen beiden die Tränen. „Bis du in dieses Haus gekommen bist, war mein Leben trostlos. Du hast wieder Freude in mein Leben gebracht. Wenn ich höre, wie die Leute von bösen Stiefmüttern reden, möchte ich ihnen am liebsten ins Gesicht schreien, dass es auch Stiefmütter gibt, die geliebt und geschätzt werden.

Du darfst nicht einmal daran denken, aus meinem Leben zu verschwinden“, fügte sie heftig hinzu. „Wenn ich selbst Kinder habe, möchte ich, dass du für sie da bist, so wie du immer für mich da gewesen bist. Du wirst ihre Großmutter sein, denn wir werden dich alle brauchen.

Ich wünschte, du und Dad hättet auch Kinder bekommen. Ich weiß, dass Dad immer geglaubt hat, es wäre mir gegenüber nicht fair, aber er hat sich geirrt. Es war dir gegenüber nicht fair. Ich hätte gern noch einen Bruder oder eine Schwester gehabt, am liebsten beides …“

„Manchmal soll es eben nicht sein“, hatte Claire heiser erwidert.

Vom ersten Moment an hatte sie ihre Stieftochter geliebt, als wäre sie ihr eigenes Kind. Sally war damals ein sehr vernünftiges, viel zu ernstes Mädchen gewesen, das in ihrer viel zu großen Schuluniform und mit den etwas altmodischen Zöpfen ganz anders ausgesehen hatte als die Mädchen in ihrem Alter.

Claire hatte John taktvoll erklärt, dass Sally deswegen Minderwertigkeitskomplexe habe und eine solche Frisur andere Kinder zu dummen Bemerkungen veranlassen könne.

Die ersten Jahre ihrer Ehe waren sehr glücklich gewesen, sodass es Claire gelungen war, die Vergangenheit zu vergessen.

Nun fragte sie sich, warum die Vergangenheit sie wieder eingeholt hatte – trotz des Schutzwalls, den sie um sich errichtet hatte – und, was noch wichtiger war, warum Alex derjenige war, der sie so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

3. KAPITEL

„Nun komm, erzähl schon. Wie war er?“

„Du wirst dir bald selbst ein Bild machen können“, sagte Claire ruhig zu ihrer Nachbarin. „Irene kommt gegen elf mit ihm vorbei, weil er sich das Haus ansehen will.“

Hannah war angeblich vorbeigekommen, um ihr ein Foto von dem Hotel in der Türkei zu zeigen, in dem sie ihren nächsten Urlaub verbringen würde, aber Claire wusste natürlich, dass sie nur ihre Neugier befriedigen wollte, und das amüsierte sie.

„Wenn du willst, gehe ich wieder“, erbot sich Hannah, machte jedoch keine Anstalten, vom Küchentisch aufzustehen.

Da sie furchtbar nervös gewesen war, hatte Claire ein neues Keksrezept ausprobiert, um sich ein wenig abzureagieren. Die Kekse wollte sie für die Kinder mit in die Schule nehmen, aber sie hatte sie nicht nur gebacken, um ihre Kochkünste zu erproben.

Die Schule, die sich hauptsächlich aus privaten Mitteln finanzierte, wurde überwiegend von Kindern besucht, bei denen die familiären Verhältnisse aus verschiedenen Gründen nicht immer ideal waren.

In den meisten Fällen lag es daran, dass die Mütter berufstätig waren und sich daher nicht rund um die Uhr um ihr Kind kümmern konnten. Claire hatte es sich daher zur Aufgabe gemacht, die Schüler mit einfachen häuslichen Tätigkeiten vertraut zu machen, die sie sonst ganz nebenbei erlernt hätten.

Das Keksrezept, das sie an diesem Morgen ausprobiert hatte, war ganz einfach und eignete sich ihrer Meinung nach daher besonders für ihre Schüler.

„Mh, sind die lecker“, meinte Hannah, nachdem Claire das erste Blech aus dem Backofen genommen hatte.

„Ich dachte, du machst gerade eine Diät“, erinnerte sie sie.

„Morgen“, murmelte Hannah, während sie den zweiten Keks aß. Dann schaute sie zur Küchentür, denn in diesem Moment fuhr draußen ein Wagen vor.

„Oh, Hannah … Wolltest du nicht gerade gehen?“, erkundigte Irene sich ein wenig herrisch, nachdem Claire ihr und Alex die Tür geöffnet hatte, die direkt von der Küche nach draußen führte.

Die beiden Frauen standen von jeher auf Kriegsfuß miteinander, vermutlich weil Irene wusste, dass sie Hannah nicht herumkommandieren konnte. Claire musste sich eingestehen, dass sie Hannah deswegen vielleicht nicht zum Gehen gedrängt hatte.

„Sie müssen Alex sein.“ Hannah ignorierte Irenes Anspielung und schüttelte Alex die Hand. „Ich bin Claires Nachbarin … und Ihre jetzt auch, soweit ich weiß. Es wird Ihnen bei Claire gefallen, denn sie wird Sie nach Strich und Faden verwöhnen. Sie ist eine hervorragende Köchin.“

„Das riecht man“, bestätigte Alex freundlich.

Er war etwas weniger formell gekleidet als am Vorabend, allerdings nicht so leger wie auf dem Spielplatz. Er trug eine schlichte Leinenhose, dazu ein weißes Leinenhemd und eine Weste. Bei einem anderen Mann hätte ein solches Outfit womöglich zu elegant ausgesehen, doch er bewegte sich darin ganz lässig.

Claire musste sich eingestehen, dass sie es faszinierend fand, wenn ein Mann Wert auf sein Äußeres legte, gleichzeitig jedoch den Eindruck vermittelte, als würde es ihm nichts ausmachen, wenn ein Kind ihn mit klebrigen Fingern anfasste.

Als sie merkte, dass Alex sie dabei ertappt hatte, wie sie ihn beobachtete, riss sie sich schnell zusammen.

„Ich … Was möchten Sie zuerst sehen? Ihr Zimmer?“, schlug sie hastig vor und errötete dabei aus irgendeinem Grund, was ihr entsetzlich peinlich war.

Was ist bloß in mich gefahren?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal. Ich benehme mich wie … wie … Ihr fiel kein passender Vergleich ein, doch das spielte auch keine Rolle, denn im nächsten Moment wandte sich Irene an sie. „Alex möchte natürlich das ganze Haus sehen.“

„Mein Bruder hat dieses Haus gekauft, kurz nachdem er zum ersten Mal geheiratet hatte“, berichtete Irene, während Claire pflichtbewusst zur Tür ging. „Es war damals sehr heruntergekommen, sodass Paula und er es komplett renovieren mussten. Paula hatte einen ausgezeichneten Geschmack, und John verfügte über die entsprechenden finanziellen Mittel, um ihre Vorstellungen in die Tat umsetzen zu können.

Es war ihre Idee, die vier Schlafzimmer zu unterteilen, sodass jedes Zimmer ein separates Bad bekam, stimmt’s, Claire?“ Ohne auf Claires Antwort zu warten, redete Irene weiter mit Alex.

Hannah war ihnen in den Korridor gefolgt, wie Claire ein wenig unmutig feststellte, als sie die Flügeltür zum Wohnzimmer öffnete. Irene beschrieb Alex gerade, welche Farbzusammenstellung Paula dafür gewählt hatte.

Claire erinnerte sich noch genau daran, wie ihr zumute gewesen war, als sie das Wohnzimmer zum ersten Mal betreten hatte. Einerseits war sie von der makellosen Schönheit der Ausstattung überwältigt gewesen, andererseits hatte sie sich wunderbar geborgen gefühlt.

Unwillkürlich runzelte sie die Stirn, als sie sah, dass jemand das Hochzeitsfoto von John und Paula in dem Silberrahmen auf dem antiken Beistelltisch ganz nach hinten und das sehr viel schlichtere Foto von ihrer Hochzeit nach vorn geschoben hatte.

Das war natürlich Sally gewesen, denn sie hatte einen richtigen Fimmel gehabt, was den Wunsch ihres Vaters betraf, überall Fotos von seiner ersten Frau aufzustellen. Claire dagegen hatte es nichts ausgemacht.

„Ist das die erste Frau Ihres verstorbenen Mannes?“

Claire blieb stehen, als Alex an ihr vorbeiging, um das Foto in die Hand zu nehmen. Sie hatte es gerade wieder nach vorn gerückt.

„Ja“, bestätigte sie. „Sally, meine Stieftochter, sieht ihrer Mutter sehr ähnlich. Sie ist genauso schön wie sie, auch wenn John das nie wahrhaben wollte. In seinen Augen reichte niemand an Paula heran …“

Den fragenden Blick, den er ihr zuwarf, bemerkte sie nicht.

Alex überlegte, ob es ihr denn nichts ausmachte, dass ihr verstorbener Mann seine erste Frau geliebt hatte, und warum nicht. Entweder war sie eine äußerst ungewöhnliche Frau, oder …

Als er sich in dem wunderschönen Raum umschaute, fiel sein Blick auf einen Gegenstand, der in dieser Umgebung fehl am Platz wirkte. Es handelte sich um ein sehr dilettantisch gefertigtes, gerahmtes Stickmustertuch, das einen Ehrenplatz an einer Wand einnahm.

Fasziniert ging Alex darauf zu, um es näher zu betrachten.

„Paulas Hobby war Gobelinstickerei“, erklärte Claire leise. „Als sie schwanger war, hat sie die Kissenbezüge in diesem Zimmer gestickt. Sie musste sich schonen, weil es Komplikationen gab.“

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. „Leider reichte es nicht, und nach Sallys Geburt … John hat seine Frau verloren, als Sally keine drei Tage alt war. Es war eine Tragödie …“

So tragisch, dachte Alex, dass ihr Mann nie darüber hinweggekommen ist, obwohl er irgendwann Claire kennengelernt und geheiratet hat und obwohl Claire eine Frau ist, die jeder Mann lieben würde …

Alex runzelte die Stirn. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass seine Gedanken immer in diese Richtung abschweiften, seit er Claire im Park begegnet war. Noch immer konnte er nicht begreifen, was in ihn gefahren war, als er sie an sich gezogen und geküsst hatte. Es war lange her, dass eine Frau so auf seinen Kuss reagiert hatte …

„Wir waren alle sehr froh, als er Claire geheiratet hat“, erzählte Irene. „Eine Zeitlang hatten wir uns nämlich schon Sorgen gemacht, John könnte Sally zu einem Ebenbild von Paula machen.“

„Er hat nur versucht, sein Bestes für sie zu tun“, wandte Claire ein. „Er hat Paula so geliebt und gedacht, sie wäre perfekt …“

Als sie den mitleidigen und zugleich neugierigen Ausdruck in Alex’ Augen sah, verstummte sie. Hocherhobenen Hauptes erwiderte sie seinen Blick. Sie wollte sein Mitleid nicht.

Wie Sally hatte auch sie keine leichte Kindheit gehabt. Nachdem sie als Kleinkind ihre Eltern verloren hatte, war sie bei einer unverheirateten älteren Tante ihres Vaters aufgewachsen – einer pensionierten Lehrerin, die sehr strenge Ansichten über Kindererziehung vertreten hatte. Unter ihrer Vormundschaft war sie zu einem sehr schüchternen und unsicheren Mädchen herangewachsen, das wenig mit ihren Altersgenossinnen gemeinsam hatte.

Ihre Großtante war unerwartet einem Herzinfarkt erlegen, kurz bevor Claire ihr Studium beendet hatte. Kurz danach hatte sie John kennengelernt …

Alex, der Claire immer noch beobachtete, fragte sich, warum sie plötzlich so gequält wirkte.

Obwohl die Atmosphäre zwischen ihnen immer noch sehr gespannt war, bedauerte er nicht, was bei ihrer ersten Begegnung passiert war. Die lebhafte, leidenschaftliche Frau, die er auf dem Spielplatz kennengelernt hatte, schien jedoch ein ganz anderer Mensch zu sein als die, die er nun vor sich sah – eine Frau, die sich damit zufriedengegeben hatte, für ihren Mann nur ein Ersatz für dessen große Liebe zu sein.

Da sie ganz offensichtlich eine sehr sinnliche, liebevolle Frau war, konnte Alex sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie je mit ihrem Mann hatte glücklich sein können. Nach dem, was er über ihn gehört hatte, hatte John weder ihre seelischen noch ihre körperlichen Bedürfnisse befriedigen können.

Wieder runzelte Alex die Stirn. Er war wütend auf sich selbst, weil er an derart persönliche Dinge dachte.

Doch er hatte selbst erlebt, wie nett und wie weiblich sie war, sowohl den behinderten Kindern als auch Tim gegenüber. Mit ihrem sanften Lächeln hätte sie Irenes Bemerkungen Tim gegenüber die Schärfe genommen.

Es war wohl nicht weiter verwunderlich, dass Tim einen großen Teil seiner Freizeit damit verbrachte, Claire bei der Gartenarbeit zu helfen.

Unwillkürlich fragte sich Alex, ob die Beziehung zwischen den beiden so harmlos war, wie es den Anschein hatte.

Irenes Verhalten ihrem Mann und ihrer Schwägerin gegenüber hatte er bisher jedenfalls nicht angemerkt, dass sie irgendeinen Verdacht hegte. Allerdings war Irene auffallend stark daran interessiert, dass er bei Claire einzog. Wollte sie damit einer etwaigen Affäre zwischen den beiden ein Ende bereiten?

Die Vorstellung, dass Claire mit einem anderen Mann zusammen war, rief bei ihm fast so etwas wie ein Gefühl des Verlusts hervor. Darüber wollte Alex allerdings nicht weiter nachdenken.

Als Claire sah, wie Alex die Stirn runzelte, überlegte sie, woran er wohl gerade denken mochte. Sagte ihm das Haus etwa nicht zu, oder fand er sie unsympathisch?

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen …“, sagte sie schließlich, bemüht, ganz sachlich zu klingen. Dann ging sie voran ins Obergeschoss. Vor einem der Schlafzimmer blieb sie stehen und wartete auf ihn. Irene war ebenfalls mitgekommen. Als sie sah, welche Tür Claire geöffnet hatte, runzelte sie die Stirn.

„Aber das ist ja dein Schlafzimmer – deins und Johns“, protestierte sie. „Ich dachte, du wolltest Alex Sallys altes Zimmer geben.“

„Das hier ist größer und … besser geeignet“, erwiderte Claire ruhig.

„Und wo willst du schlafen?“, fragte Irene.

„Ich …“

„Ich möchte Ihnen auf keinen Fall Ihr Schlafzimmer wegnehmen …“, begann Alex.

Claire schüttelte den Kopf. „Ich … ich hatte schon vorher beschlossen, in ein anderes Zimmer umzuziehen“, erklärte sie und errötete dabei leicht. „Das hier … Johns … Johns und mein Schlafzimmer“, verbesserte sie schnell, „ist zu … Es ist für einen Mann besser geeignet. Es hat ein eigenes Bad, und im Ankleidezimmer steht auch ein Schreibtisch. John hat auch manchmal hier gearbeitet. Ich …“

„Du bist aus deinem eigenen Schlafzimmer ausgezogen?“, beharrte Irene, die offenbar nicht merkte, dass Claire nicht weiter über das Thema sprechen wollte.

Alex fand, dass Claire wie ein Schulmädchen aussah, das man auf frischer Tat bei etwas Verbotenem ertappt hatte. Warum sollte sie nicht aus ihrem Schlafzimmer ausziehen, wenn sie es wollte? Schließlich war es ihr Zuhause … ihr Haus. Er erinnerte sich an den Ausdruck, der in ihre Augen getreten war, als sie erzählt hatte, wie sehr ihr verstorbener Mann seine erste Frau geliebt habe – die Frau, deren „Zuhause“ es eigentlich gewesen war.

„Ich hatte überlegt, es eventuell renovieren zu lassen. Es war nicht gerade mein Lieblingszimmer, und …“

„Aber es ist das größte Schlafzimmer im Haus“, wandte Irene ein.

„Stimmt“, erwiderte Claire mit einem ironischen Unterton, den Irene offenbar nicht bemerkte.

Als Alex das Zimmer betrat, stellte er fest, dass dieses sehr geräumig war und über einen großen Kleiderschrank aus dunklem Holz sowie ein stabiles breites Bett verfügte. Während er es betrachtete, seufzte er erleichtert auf. Wie er bereits festgestellt hatte, waren die Doppelbetten in England ziemlich unbequem für jemanden, der an die extra großen amerikanischen Betten gewöhnt war. Von den Betten, die er bisher in England gesehen hatte, entsprach dieses hier noch am ehesten seinem zu Hause, wenn es auch ein wenig hoch war.

Während er anerkennend den Blick über die blütenweiße Bettwäsche schweifen ließ, musste er sich eingestehen, dass er kaum ein bequemeres Bett finden würde. Hinter sich hörte er Irene fast vorwurfsvoll zu Claire sagen: „Du hast ja das Bettzeug gewechselt …“

Da Claire darauf sichtlich verlegen antwortete, nahm Alex an, dass sie die Bettwäsche extra für ihn gekauft hatte. Sie ist wirklich eine sehr einfühlsame Frau, dachte er, während sie ihm das Bad mit der großen Wanne und der separaten Dusche zeigte.

Das Ankleidezimmer war zwar relativ klein, aber trotzdem groß genug für den Schreibtisch, der darin stand. Als Claire im Korridor auf ihn wartete, musste Alex sich eingestehen, dass er kaum eine komfortablere Unterkunft als diese finden würde.

Vom Fenster aus konnte man den großen Garten überblicken, der geschickt angelegt und in viele kleinere, in sich abgeschlossene Bereiche unterteilt war. Als Alex den kleinsten Garten betrachtete, in dem eine Schaukel stand und der Rasen niedergetreten war, lächelte er bedauernd.

In seinem Garten gab es ebenfalls eine Stelle, an der der Rasen so zertrampelt war. Als Alex im vergangenen Herbst angekündigt hatte, er werde die Schaukel entfernen und neuen Rasen säen lassen, hatten seine Geschwister heftig protestiert. Natürlich war das Haus jetzt für ihn allein viel zu groß. Ich sollte es verkaufen, überlegte er.

Claire, die immer noch im Korridor wartete, errötete, als Irene wieder begann: „Claire, ich dachte, du würdest ihm Sallys altes Zimmer geben …“

„Ich … ich fand es nicht so passend. Die Ausstattung hat einen so femininen Touch.“ Claire wollte Sally nicht damit konfrontieren, dass jemand in ihrem alten Zimmer wohnte, wenn sie aus den Flitterwochen zurückkehrte. Claire wollte ihr das Gefühl vermitteln, dass dies immer ihr Zuhause sein würde und sie jederzeit in ihr früheres Zimmer zurückkehren konnte. Allerdings glaubte sie nicht, dass Sally es je tun würde, und sie wünschte es sich auch nicht. Sallys Platz war jetzt bei ihrem Mann.

„Aber dass du aus deinem Schlafzimmer ausgezogen bist …“, fuhr Irene fort.

„Es ist nicht mein Zimmer“, widersprach Claire. „Es war Johns Zimmer. Unser Zimmer“, verbesserte sie sich schnell, als sie Alex auf sich zukommen sah. Wie hätte sie Irene oder irgendjemand anders auch erklären sollen, wie leer ihr das Bett nach Johns Tod erschienen war und dass es ihr lieber war, in dem kleineren, aber wesentlich gemütlicheren Gästezimmer zu schlafen, das sie nun bewohnte?

In dem Gästezimmer zu schlafen war für sie gar nicht so ungewohnt gewesen. Während ihrer Ehe mit John war sie nämlich nachts manchmal aufgewacht und hatte nicht wieder einschlafen können. Um John nicht zu wecken, war sie dann aufgestanden und ins Gästezimmer gegangen.

„Also, was meinen Sie, Alex?“, erkundigte sich Irene, und es war offensichtlich, dass sie die Antwort bereits kannte.

„Ich bin sicher, dass ich mich hier sehr wohl fühlen werde“, verkündete Alex, bevor er sich an Claire wandte. „Wir hatten ja noch keine Gelegenheit, über das Finanzielle zu sprechen. Sind Sie damit einverstanden, wenn ich später noch einmal vorbeikomme, damit wir es nachholen können? Sagen wir, heute Abend?“

„Heute Abend? Das ist leider nicht möglich. Ich gehe weg.“

„Du gehst weg?“, fragte Irene überrascht. „Wohin? Mit wem?“

Autor

Penny Jordan
<p>Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...
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