Julia Collection Band 83

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VERLETZTES HERZ von KAY, PATRICIA
Ihre neue Heimat Morgan Creek lässt langsam die Schatten von Amys Vergangenheit verblassen. Und als sie sich in Bryce Hathaway verliebt, scheint sich endlich wirklich alles zum Guten zu wenden. Vorausgesetzt, der angesehene Millionär erfährt nie, wer sie wirklich ist …

GEHÖRST DU ZU EINEM ANDEREN? von KAY, PATRICIA
John traut seinen Augen nicht. Claudia Hathaway, die Frau, von der sein Cousin ihm seit Wochen vorschwärmt, ist die schöne Unbekannte, die er selbst seit Monaten nicht mehr vergessen kann. Doch jetzt muss er es, denn er will auf keinen Fall Philips Rivale um ihre Liebe sein.

DEINE LIEBE - DAS SCHÖNSTE GESCHENK von KAY, PATRICIA
Nie wird sie in diesem Kaff ihren Traummann finden! Enttäuscht beschwert sich Lorna bei ihrem geheimnisvollen Chatpartner, der in dieser Zeit ihr engster Vertrauter ist. Wie gerne hätte sie ihn auch im wahren Leben bei sich … Sie ahnt nicht, dass er näher ist, als sie denkt …


  • Erscheinungstag 24.07.2015
  • Bandnummer 83
  • ISBN / Artikelnummer 9783733703394
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Patricia Kay

JULIA COLLECTION BAND 83

Herzklopfen in Morgan Creek

MINISERIE VON PATRICIA KAY

Verletztes Herz

Noch einmal lieben? Nach einem Schicksalsschlag ist das für Bryce Hathaway unvorstellbar. Bis er die bezaubernde Lehrerin Amy zu sich in sein Haus in Morgan Creek holt. Großartig kümmert sie sich als Nanny um seine kleinen Töchter – und weckt verdrängte Sehnsüchte in ihm. Da enthüllt ein Zeitungsartikel, dass Amy nicht die Frau ist, für die Bryce sie hält …

Gehörst du zu einem anderen?

Wer ist der Richtige? In Claudia tobt ein Gefühlschaos: Soll sie dem Werben ihres Mitarbeiters Philip nachgeben – dem Mann, der ihr ein guter Freund ist und auf den sie sich verlassen kann? Denn echtes Herzklopfen bekommt sie eigentlich nur bei John – dem sexy Filmemacher und Frauenschwarm, der bloß leider irgendwie die Konkurrenz mit Philip zu scheuen scheint …

Deine Liebe – das schönste Geschenk

Lorna Hathaway ist „Sweet Stuff“, seine Internet-Freundin? Als Nick die Frau mit den Keksen der Hathaway Bakery sieht, die als Erkennungszeichen vereinbart waren, würde er sein Date gern vergessen. Der Manager findet die Millionärin unnahbar und viel zu kratzbürstig. Aber dann geht er doch zu ihr – allerdings ohne sich als ihr Chatpartner zu erkennen zu geben …

PROLOG

Amy Jordan erschrak, als sie auf die Uhr schaute. Von der Besuchszeit bei Calista blieben ihr nur noch gut zehn Minuten.

Ihre dreijährige Tochter wieder verlassen zu müssen war jedes Mal deprimierend. Amy warf einen Blick zu Mrs Witherspoon und fragte sich, was Coles Haushälterin wohl durch den Kopf ging, wenn sie so dasaß und in aller Ruhe strickte. Ahnte die Frau, wie schlimm diese viel zu kurzen Besuche für Amy waren? Und wie sehr ihr jeder Abschied zu schaffen machte?

Langsam bereitete sich Amy darauf vor, nach fast drei Stunden wieder zu gehen.

„Ist es schon so weit?“, fragte Mrs Witherspoon, als sie Amy aufstehen sah, und legte das Strickzeug zur Seite.

Amy spürte einen Kloß im Hals und konnte nur nicken.

„Gut, ich begleite Sie dann hinaus, aber erst geh ich noch mal kurz zur Toilette.“

„Okay“, antwortete Amy, die kaum ihren Ohren trauen wollte. Sie hatte sich immer eine solche Gelegenheit gewünscht, aber nie zu hoffen gewagt, dass sie sich tatsächlich ergeben würde.

Kaum war Mrs Witherspoon im Badezimmer verschwunden, holte Amy aus dem Esszimmer einen Stuhl und verkantete ihn so unter dem Türgriff, dass die Haushälterin in der Falle saß.

Dann lief sie zurück ins Wohnzimmer, nahm Calista in den Arm, griff nach ihrer Handtasche und verließ das Haus, so schnell sie konnte.

„Mommy?“, fragte ihre Tochter verwundert.

„Alles in Ordnung, Honey“, versicherte sie ihr, während sie mit zitternden Fingern den Wagen aufschloss.

Sie zog die Decke zur Seite, unter der ein Kindersitz zum Vorschein kam, den sie bei jedem Besuch getarnt in ihrem Auto mitnahm – ebenso wie Kinderkleidung, Spielzeug und Lebensmittelkonserven, Schlafsäcke und alles andere, was sie benötigte, um gemeinsam mit ihrer Tochter ein neues Leben beginnen zu können. Sogar gefälschte Papiere besaß sie, die sie einem Untergrundnetzwerk verdankte, das sich um misshandelte Frauen und Kinder kümmerte und ihnen half, gewalttätigen Ehemännern zu entkommen.

Seit ihrer Scheidung von Cole vor einem Jahr war dies für Amy die erste Gelegenheit, Calista zurückzubekommen, und die würde sie sich nicht nehmen lassen. Beim ersten Versuch sprang der Wagen nicht an, was ihr einen solchen Schreck versetzte, dass sie glaubte, ihr Herz würde stehen bleiben. Dann endlich reagierte der Motor, und Amy konnte losfahren.

Sie wollte auf den Highway, fort aus Mobile. Doch so gern sie Gas gegeben hätte, um den Ort möglichst schnell hinter sich zu lassen, konnte sie es nicht riskieren, die Höchstgeschwindigkeit zu übertreten und erwischt zu werden. Sie konnte sich keine Verzögerung leisten.

Während sie bedächtig weiterfuhr, wollte sie noch immer nicht so recht glauben, was gerade eben passiert war. Zum ersten Mal seit ihren regelmäßigen Besuchen bei Calista hatte Mrs Witherspoon sie unbeaufsichtigt gelassen. Amy war schon fast davon überzeugt gewesen, dass es nie dazu kommen würde.

„Mommy“, rief Calista vom Rücksitz. „Fahren wir einkaufen?“

„Nein, Sweetie, es geht in die Ferien.“

„Ferien?“

„Ja.“

„Kommt Daddy mit?“

„Nein, wir beide machen allein Urlaub.“

„Okay“, rief Calista begeistert.

Amy lächelte, obwohl ihr nicht danach war. Immer wieder sah sie in den Rückspiegel, entdeckte aber nichts Verdächtiges. Zehn Minuten waren inzwischen vergangen, seit sie Coles Haus verlassen hatte. Mit ein wenig Glück war es Mrs Witherspoon noch nicht gelungen, sich aus dem Badezimmer zu befreien. Mit noch mehr Glück würde Cole sogar erst in ein paar Stunden erfahren, was geschehen war.

Ganz ruhig, ermahnte sie sich. Konzentrier dich lieber auf die Straße.

Schließlich erreichte sie die Auffahrt zur Interstate 10 West, fädelte sich in den Verkehr auf dem Freeway ein und gab Gas. Lange würden sie auf der Interstate nicht bleiben können, da die Polizei dort zuerst nach ihnen suchen würde. Doch erst mal mussten sie Mobile hinter sich lassen, ehe sie auf Nebenstrecken ausweichen konnten.

Amy schätzte, dass Cole im günstigsten Fall nach einer halben Stunde von dem Vorfall erfahren und seine Meute auf sie ansetzen würde. Zu der Zeit musste sie bereits auf dem kleineren Highway sein, den sie für ihre Flucht ausgesucht hatte.

Eine halbe Stunde.

Amy trat das Gaspedal noch etwas weiter durch und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

1. KAPITEL

Als Amy der lang gestreckten Kurve folgte, die die Landstraße beschrieb, tauchte am rechten Fahrbahnrand ein Ortseingangsschild auf. Sie musste zweimal hinsehen, dann trat sie vor Überraschung auf die Bremse.

WILLKOMMEN IN MORGAN CREEK, TEXAS

Sitz der Hathaway Bakery

5.445 Einwohner

„Hathaway Bakery?“, las sie laut. War das hier die Heimatstadt von Lorna Hathaway?

Seit einer Ewigkeit hatte Amy nicht mehr an Lorna gedacht, mit der sie sich damals auf dem College ein Zimmer geteilt hatte. Lorna war so nett und bodenständig gewesen. Hätte sie nicht beiläufig erwähnt, dass ihren Eltern eine Großbäckerei gehörte, wäre Amy nie auf die Idee gekommen, ihre Freundin könnte aus vermögenden Verhältnissen stammen.

Nach dem ersten Jahr verließ Lorna wegen der Trennung von ihrem Freund das Florida State College und kehrte zurück nach Texas, wo sie sich an der Universität in Austin einschreiben ließ. Irgendwann hatten die beiden Mädchen sich aus den Augen verloren.

Als Amy nun das Schild sah, kam es ihr wie ein Fingerzeig des Schicksals vor. Inzwischen war sie seit elf Stunden unterwegs und erschöpft, aber eine weitere Pause hatte sie nicht einlegen wollen. Es war schon schlimm genug gewesen, eine Übernachtung einlegen zu müssen.

Das Motel in Louisiana war abgelegen genug, damit Cole sie dort nicht aufspüren konnte – zumindest hoffte sie das. Neben den gefälschten Papieren hatte das geheime Netzwerk sie auch mit Kennzeichen aus Louisiana versorgt, die sie bei der erstbesten Gelegenheit anmontierte, um ihre Spur weiter zu verwischen. Doch Cole kannte ihren Wagentyp, und er konnte der Polizei Fotos von ihr und Calista geben.

Ihre Hoffnung bestand darin, dass er die Suche auf Florida konzentrierte, wo sie aufgewachsen war und wo ihr verwitweter Vater lebte. Dennoch war sie am Morgen bereits um sechs Uhr weitergefahren, um den Vorsprung nicht zu verlieren, den sie hoffentlich immer noch besaß.

Auf dem Rücksitz regte sich Calista in ihrem Kindersitz.

„Hi, Sweetie“, sagte Amy. „Hast du gut geschlafen?“

Calista machte eine unzufriedene Miene. „Mommy, hab Hunger.“

Aus ihrer Reisetasche zog Amy eine Tüte Knabbergebäck und reichte sie ihrer Tochter nach hinten, doch die verschränkte trotzig die Arme. „Ich will Fritten. Und einen Hamburger“, forderte sie.

„Honey, damit kann ich nicht dienen, aber ich verspreche, ich halte sofort an, wenn es irgendwo Hamburger gibt“, erwiderte Amy.

Daraufhin begann Calista zu weinen und zerrte am Gurt ihres Sitzes.

Amy war auch nach Weinen zumute, doch sie zwang sich, Ruhe zu bewahren, und fuhr weiter nach Morgan Creek. Was sie machen würde, wenn sie dort ankam, war ihr noch nicht klar. Sie wusste nur, sie selbst und Calista benötigten dringend eine Pause.

Fünf Minuten später erreichte sie die Stadt, fuhr an einem halben Dutzend Geschäfte, einer Bank und zwei Kirchen vorbei, bis sie an einer Ecke eine Tankstelle entdeckte. Sie musste ohnehin tanken, dann konnte sie auch dort anhalten.

Die heiße Augustluft schlug ihr entgegen, als sie ausstieg. Während ein Tankwart sich um den Wagen kümmerte – Amy hatte fast vergessen, dass es nicht nur Tankstellen mit Selbstbedienung gab –, ging sie mit Calista zur Toilette, damit sie sich frisch machen konnten. Bei der Frau an der Kasse fragte sie dann nach einem Telefonbuch.

„Klar, Sugar“, meinte die Frau hinter dem Tresen und holte ein dünnes, ramponiert aussehendes Verzeichnis hervor. „Wen suchen Sie denn?“

„Eine alte Freundin“, antwortete Amy vorsichtig.

„Ich kenne jeden hier in der Gegend.“

Amy zögerte, kam jedoch zu dem Schluss, es sei lächerlich, Lornas Namen für sich zu behalten. „Sie heißt Lorna Hathaway, aber ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch hier wohnt.“

„Lorna? Na klar, Sugar, die kenn ich. Alle anderen Hathaways übrigens auch.“ Sie nahm das Telefonbuch wieder an sich, schlug es auf und zeigte auf eine Nummer. „Da steht sie.“

Amy notierte es, bezahlte und fuhr zur nächsten Telefonzelle. Ihr Mobiltelefon konnte sie nicht mehr benutzen, wenn sie vermeiden wollte, dass man ihre Telefonate zurückverfolgte.

Nach dem sechsten Klingeln wollte sie schon entmutigt auflegen, als sich doch noch eine Frau meldete, die unüberhörbar außer Atem war. „Hallo?“

„Lorna?“

„Ja.“

„Hier ist Amy, Amy Summers.“ Sie nannte ihren Mädchennamen. „Erinnerst du dich noch? Wir waren zusammen auf dem Florida State College.“

„Amy? Ich glaub’s nicht! Das ist ja schon Jahre her. Wohnst du immer noch in Florida?“

„Nein, ich ziehe gerade aus Louisiana weg.“

„Louisiana? Das erklärt natürlich, warum ich dich nicht finden konnte, als ich letztes Jahr in Orlando war und dich anrufen wollte.“

„Tatsächlich?“ Das klang vielversprechend.

„Ja. Du kannst dir nicht vorstellen, wie enttäuscht ich war. Ich habe sogar beim College angefragt, aber da kannte auch niemand deine aktuelle Adresse.“

Amy musste daran denken, wie Cole sie gedrängt hatte, ihr altes Leben hinter sich zu lassen, bis sie schließlich keinen ihrer Kontakte weiterpflegte. Auf diese Weise war es ihm gelungen, sie völlig zu isolieren und von allen Menschen fernzuhalten, die er als eine Bedrohung für seine totale Kontrolle über seine Frau ansah. Er wollte ihr sogar die Besuche bei ihrem Vater verbieten, doch zumindest in diesem Punkt war sie standhaft geblieben.

„Und wo bist du jetzt?“

„Hier in Morgan Creek.“

„Ehrlich? Was hat dich denn hierher verschlagen?“

„Das ist eine lange Geschichte.“ Amy seufzte. „Ich bin auf der Durchreise, und da dachte ich, wir könnten uns treffen. Kannst du mir hier in der Gegend ein Hotel empfehlen … zumindest für eine Übernachtung?“

„Natürlich müssen wir uns sehen“, rief Lorna begeistert. „Aber vergiss das Hotel, du kannst bei mir schlafen. Ich habe genug Platz. Oh Amy, ich freue mich so, dass du dich gemeldet hast. Jetzt sag mir erst mal, wo du bist.“

Nachdem Lorna ihr den Weg beschrieben hatte, fuhr Amy los und fand mühelos das gelb gestrichene, mit Braun abgesetzte Haus im viktorianischen Stil. Ringsum verlief eine Veranda, auf der Amy eine Korbgarnitur und sogar eine Hollywood-Schaukel entdeckte. Ein perfektes Haus, das für eine Person allerdings viel zu groß zu sein schien. Nach dem Eintrag im Telefonbuch zu urteilen, war Lorna nicht verheiratet, aber vielleicht hatte sie trotzdem einen Partner und sogar Kinder.

Amy stellte ihren silberfarbenen Toyota am Straßenrand vor dem Haus ab und öffnete gerade die Fahrertür, da kam Lorna auch schon auf sie zugelaufen. Ihre Freundin hatte sich kaum verändert. Sie war natürlich älter geworden, aber immer noch schlank und blond, auch wenn sie ihr Haar nicht mehr schulterlang, sondern modisch kurz trug. Amys Haar war so lockig, dass sie es nie gebändigt bekam.

Lorna strahlte sie an, ihre hellblauen Augen sprühten vor Begeisterung. Ehe Amy die hintere Tür des Wagens öffnen konnte, um Calista aus dem Kindersitz zu nehmen, wurde sie von ihrer Freundin überschwänglich umarmt. „Amy! Es ist so wunderbar, dich wiederzusehen!“ Erst dann tat sie einen Schritt nach hinten und musterte sie. „Toll siehst du aus. Du bist überhaupt nicht älter geworden!“

„Und du konntest noch nie gut lügen“, gab Amy zurück und verzog den Mund. „Ich sehe entsetzlich aus, das weiß ich.“

„Du könntest nicht mal entsetzlich aussehen, wenn du es versuchen würdest.“

„Mommy!“

Lornas Augen wurden größer, sie beugte sich vor und warf einen Blick in den Wagen. „Und wer ist diese Kleine da?“

„Meine Tochter Calista. Warte, ich hole sie raus.“

Amy löste die Gurte des Kindersitzes. Neugierig betrachtete Calista die fremde Frau.

„Na, hallo, Calista“, gurrte Lorna. „Du bist ja ein hübsches Ding.“

Die Kleine lächelte breit, wobei sich in ihren Wangen tiefe Grübchen bildeten, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

„Amy, sie ist ja ein Schatz!“

Amy entging nicht der sehnsüchtige Tonfall in Lornas Stimme.

Gemeinsam brachten sie nun das Gepäck ins Haus. Amy hätte gern ausgiebig den gepflegten Garten bewundert. Doch ihre Sorge wog zu schwer, um sich an irgendetwas erfreuen zu können.

Im Haus war es angenehm kühl. Glänzender Parkettboden, wunderschöne Antiquitäten und stilvolle Teppiche zeugten von gutem Geschmack. An der Decke drehte sich leise surrend ein Ventilator.

„Wenigstens ist alles sauber“, meinte Lorna erleichtert. „Meine Putzfrau kommt zweimal die Woche her, und zum Glück war heute einer der beiden Tage.“

„Es ist herrlich“, erwiderte Amy. Doch es war nicht nur herrlich, sondern es strahlte zudem eine solche Ruhe aus, dass sie sich nicht mehr so nervös und ängstlich fühlte. Ihr kam es vor, als könne ihr hier nichts Schlimmes widerfahren.

„Sollen wir erst deine Sachen nach oben bringen, bevor ich dir das Haus zeige?“

„Es ist wirklich lieb von dir, dass du uns hier übernachten lässt, Lorna.“

„Hey, wir sind schließlich Freundinnen. Außerdem bin ich ganz aus dem Häuschen, dass du hier bist.“

„Das freut mich“, gab Amy zurück.

Sie gingen in den ersten Stock, wo Lorna sie in ein Zimmer führte, in dem ein Himmelbett mit blassgrüner Tagesdecke, eine Kommode, ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch standen. Auf der breiten Fensterbank lag ein dickes grünes Kissen, darauf saß ein großer Teddybär.

„Ein Teddy!“, rief Calista aufgeregt.

„Oh je“, meinte Amy, als ihre Tochter sofort auf das Plüschtier zulief.

„Sie kann ruhig mit dem Bären spielen. Der stammt noch aus der Zeit, als meine Nichten ganz klein waren“, sagte Lorna.

„Calista geht mit ihren Spielsachen manchmal sehr grob um.“

„Nicht so schlimm.“ Sie drehte sich zu Amy um. „Tut mir leid, aber ich habe kein Kinderbett für sie. Ich kann dir nur ein Klappbett anbieten.“

„Ach, Calista schläft sowieso nicht mehr im Kinderbett. Sie wird bei mir schlafen, das hätten wir im Hotel auch so gemacht.“

„Okay, dann lasse ich euch erst mal allein, damit du in Ruhe auspacken kannst. Ich muss noch schnell telefonieren, danach können wir reden.“

„Ja, einverstanden.“

Nachdem Lorna nach unten gegangen war, ließ sich Amy aufs Bett sinken, während Calista das Zimmer erkundete und sich ausgiebig mit dem Teddy beschäftigte. Was würde Amy dafür geben, hier für ein paar Tage bleiben zu können! Doch sie wollte sich nicht aufdrängen. Sollte Lorna es dagegen von sich aus vorschlagen, wäre das eine ganz andere Sache.

Schließlich packte sie die Kleidung zum Wechseln aus. „Okay, Sweetie, wir gehen jetzt nach unten. Sag dem Teddybären auf Wiedersehen.“

Calista wirkte darüber nicht erfreut, schüttelte den Kopf und drückte das Stofftier an sich.

„Schon gut“, seufzte Amy. „Der Bär kann mitkommen.“

Als sie das Erdgeschoss erreichten, hörte sie, wie Lorna sich am Telefon von jemandem verabschiedete, dann kam sie ihnen auch schon entgegen.

„Habt ihr Hunger?“, fragte sie ihre Besucher. „Abendessen gibt es erst halb acht, aber ich kann euch Kräcker und Früchte anbieten.“

„Calista hat auf jeden Fall Hunger.“ Amy hoffte, ihre Tochter würde nicht wieder auf einem Hamburger bestehen.

„Dann kommt mit.“

Die Küche war so, wie Amy sie sich vorgestellt hatte: groß, hell und freundlich. Blasses Gelb mit roten Akzenten bestimmte die Farbgebung, ein Kamin am einen und ein großer Eichentisch am anderen Ende des Raums prägten die Einrichtung. Auf einem Schaukelstuhl am Kamin lag eine dicke gefleckte Katze, die die Neuankömmlinge nun aufmerksam beobachtete.

„Kätzchen!“, rief Calista und stürmte in Richtung Kamin.

„Calista, fass die Katze nicht an“, warnte Amy sie und lief ihr nach. „Du weißt nicht, ob sie dich kratzen wird.“

„Schon okay“, beruhigte sie Lorna. „Buttercup ist ein ungewöhnliches Tier. Sie kann kleine Kinder tatsächlich gut leiden.“

Als Calista der Katze über den Kopf strich, drückte die sich wirklich gegen die kleine Hand und begann laut zu schnurren. Das Mädchen lachte glücklich und setzte sich zu dem Tier. Amy beobachtete die Szene eine Zeit lang, dann kam sie zu dem Schluss, sich keine Sorgen machen zu müssen.

In der Zwischenzeit stellte Lorna etwas zu essen und Gläser mit Limonade auf den Tisch und erklärte, am Abend werde der neunzigste Geburtstag ihrer Großmutter gefeiert. Natürlich seien Amy und ihre Tochter auch eingeladen.

Alles Protestieren war vergebens, Lorna ließ sich von der Einladung nicht abbringen. „Ich habe das vorhin mit meiner Großmutter besprochen, und sie sagt auch, es wäre unhöflich, wenn ich euch beide einfach allein lassen würde.“ Augenzwinkernd fügte sie hinzu: „Wenn sie befiehlt, gehorchen alle Hathaways.“

Zwar war Amy neugierig auf Lornas Familie, doch so recht behagte es ihr nicht, bei einer Familienfeier anwesend zu sein, bei der sie sich bestimmt wie eine Außenseiterin fühlen würde.

Ihre Freundin fegte auch diesen Einwand hinweg: „In etwa einer Stunde müssen wir uns fertig machen, damit wir pünktlich um sieben Uhr da sind. Vergeuden wir also nicht noch mehr Zeit mit dieser Diskussion, lass uns lieber darüber reden, was jeder von uns in den letzten Jahren gemacht hat.“

In der nächsten halben Stunde erfuhr Amy, dass Lorna nach ihrem Abschluss nach Morgan Creek zurückgekehrt war und seitdem im Familienbetrieb arbeitete. Ihre Ehe war geschieden worden, Kinder hatte sie keine. Zwar schilderte sie das in nüchternem Tonfall, doch eine gewisse Sehnsucht konnte sie nicht überspielen. Die war ihr auch jedes Mal anzumerken, wenn sie zu Calista hinübersah. Insgeheim bedauerte Amy sie, weil ihr das Mutterglück versagt worden war.

„Und jetzt bist du an der Reihe“, wechselte Lorna das Thema. Auf Amys eindeutigen Blick hin schlug sie Calista vor: „Möchtest du mit Buttercup im Garten spielen? Sie muss sich ein bisschen bewegen.“

„Au ja“, freute sich die Kleine.

„Wir können auf der Veranda sitzen und die beiden im Auge behalten“, meinte Lorna zu ihrer Freundin.

Nachdem sie draußen Platz genommen hatten und Calista außer Hörweite war, begann Amy zu erzählen.

„Ich bin ebenfalls geschieden. Mein Exmann wohnt in Shreveport, er ist Investment-Banker.“ Beides war gelogen, denn in Wahrheit war er ein hochkarätiger Anwalt und lebte in Mobile, doch das Netzwerk hatte Amy dazu angehalten, keine Risiken einzugehen und niemandem zu vertrauen. Dazu gehörte auch, sich eine erfundene Vergangenheit zurechtzulegen.

„Er wollte eigentlich nie Kinder haben“, fuhr sie fort. „Darum hatte er nichts dagegen einzuwenden, als ich beschloss, in Richtung Westküste zu ziehen. Soweit ich weiß, kann man da als Lehrerin richtig gut verdienen, sogar als Vorschullehrerin wie ich.“

Zum Teil stimmten ihre Ausführungen. Cole hatte wirklich keine Kinder haben wollen. Wie sollte er auch der Mittelpunkt in Amys Welt bleiben, wenn er sie auf einmal mit einem Kind teilen musste? Allerdings hätte er sehr viel dagegen einzuwenden gehabt, dass sie mit Calista Mobile verließ – hätte er davon gewusst. Dabei war er nicht um seine Tochter besorgt, ihm ging es nur darum, Amy wehzutun, weil er wusste, wie viel die Kleine ihr bedeutete.

Ihre Scheidung hatte Cole vor Wut kochen lassen, und er hatte Amy Steine in den Weg gelegt, wo er nur konnte. Bis heute wusste sie nicht, woher sie die Kraft genommen hatte, sich von ihm zu trennen. So oft hatte Cole sie in den Jahren davor gedemütigt, dass es stets einfacher gewesen war, sich seinen Wünschen zu beugen, als sich gegen ihn durchzusetzen.

Um Amy so tief zu verletzen, wie es nur ging, präsentierte er „Zeugen“, die unter Eid beteuerten, Amy nehme Drogen und vernachlässige ihre Tochter. Dank Coles Position und seiner verlogenen Freunde bekam er das Sorgerecht für Calista zugesprochen, während Amy sie nur zweimal in der Woche unter Aufsicht besuchen durfte.

„Dann bist du also Lehrerin geworden?“, fragte Lorna. „Ich dachte, dein Hauptfach war Journalismus.“

„Ja, aber das habe ich aufgegeben. Nach dem ersten Jahr war ich in den Sommerferien in einem Kindertagesstätte tätig, und ich liebte die Arbeit mit den Kindern. Deshalb beschloss ich, auf Erzieherin umzusatteln, und bis zu meiner Heirat war ich Vorschullehrerin.“

„Bis zu deiner Heirat?“

„Mein Ex wollte nicht, dass ich weiter arbeiten gehe“, erklärte Amy und meinte dann mit ironischem Tonfall: „Wie sollte ich meine ganze Zeit und Energie auf ihn konzentrieren, wenn ich daneben noch einem Job nachging?“

„Verstehe.“ Lorna verzog das Gesicht. „Die Sorte Mann.“

„Du musst es miterlebt haben, um zu wissen, wie schlimm es war.“

„Und dann hat er dich einfach Calista mitnehmen lassen?“

„Ihm blieb keine andere Wahl.“

Lorna nickte. „Wie lange wart ihr verheiratet?“

„Sieben Jahre. Sieben verdammt lange Jahre. Und du?“

„Sechs Jahre.“

„Was ist passiert, wenn ich so direkt fragen darf?“

„Eine Zwanzigjährige mit großer Oberweite, Cheerleader bei den Dallas Cowboys.“

„Das ist ja mies.“

Lorna machte eine wegwerfende Geste. „Der Lack war zu der Zeit ohnehin schon ab. Mir wurde mein Fehler sehr früh klar, doch ich blieb stur und redete mir ein, ich könnte das schon hinkriegen, wenn ich mir nur Mühe gebe. Bedauerlicherweise wollte Keith sich keine Mühe geben. Er suchte eigentlich eine Frau, die ihn mehr anbetete, als ich es jemals hätte tun können.“

„Hast du zu der Zeit hier in Morgan Creek gelebt?“

„Ja, und darin lag wohl ein weiteres Problem. Er hasste es, für meine Familie arbeiten zu müssen, aber noch viel schlimmer war für ihn, dass ich im Unternehmen mehr zu sagen hatte als er. Keith wollte die erste Geige spielen, doch das konnte er nicht.“

Sie stieß einen Seufzer aus. „Ich weiß nicht. Hätte ich ihn mehr geliebt, hätte ich vielleicht stärker versucht, ihn glücklich zu machen. Es war nicht nur seine Schuld.“ Einen Moment lang schwieg sie, dann verdrängte sie ihre düsteren Gedanken und lächelte Amy an. „Aber das ist alles Schnee von gestern. Hier sitzen wir zwei also, haben beide unsere Lektion gelernt, und jetzt blicken wir nach vorn. Aufs Überleben.“

Amy hob ihr Glas, das sie wie Lorna auf die Veranda mitgenommen hatte. „Aufs Überleben.“

2. KAPITEL

Bryce Hathaway stand die Geburtstagsfeier seiner Großmutter Stella Morgan Hathaway bevor, weil er befürchtete, dass es weniger eine Feier als vielmehr eine Tortur werden würde.

Grund dafür war Bryce’ jüngste Schwester Claudia, die zwar seit ihrem Universitätsabschluss im Familienunternehmen arbeitete, ihren Job aber hasste. Da es in Morgan Creek außer der Hathaway Bakery praktisch keine anderen Arbeitgeber gab, die jemanden mit Claudias Qualifikation benötigten, war es so gut wie beschlossen, dass sie in eine andere Stadt gehen würde.

Hinzu kam, dass Claudia ihm noch letzte Woche anvertraut hatte, in „diesem Kuhkaff“ werde sie ohnehin nie einen Mann finden, also ein Grund mehr, anderswo ihr Glück zu versuchen. Bryce konnte gut verstehen, wie sie sich fühlte.

Stella war über diese Entwicklung verärgert, doch ihre Wut galt auch Bryce, da der seine Schwester in ihrer Ansicht bestärkte.

Aber das war noch das geringere seiner Probleme, denn er suchte momentan händeringend nach einem neuen Kindermädchen für seine Töchter. Die zweite Nanny innerhalb von nur sechs Monaten hatte am letzten Freitag aus heiterem Himmel gekündigt.

Bryce konnte diese Entscheidung in gewisser Weise nachvollziehen. Schließlich war Claudia nicht die einzige Frau, die nicht den Rest ihres Lebens in Morgan Creek verbringen wollte. Außerdem war es nicht jedermanns Sache, sechs Tage die Woche rund um die Uhr bei seinem Arbeitgeber im Haus zu leben, auch wenn Gehalt und Dienstwohnung großzügig bemessen waren.

Und dann war da noch Susan.

Bryce sollte eigentlich auf seine jüngere Tochter wütend sein, doch sosehr sie auch seine Geduld strapazierte, hielt seine Verärgerung nie lange an. Schließlich war sie in den ersten Monaten nach dem Tod ihrer Mutter Michelle die Einzige gewesen, die Bryce zum Lächeln hatte bringen können.

Drei Jahre war seine Frau inzwischen tot, doch keines der Kindermädchen hielt es lange mit Susan aus, auch wenn die ältere Schwester Stella mit ihrer umgänglichen Art viel von dem wettmachte, was die jüngere anstellte.

So machte Susan auch keinen Hehl daraus, dass sie Miss Roberts nicht ausstehen konnte und deshalb diese letzte Nanny systematisch vergrault hatte. Solange sich niemand fand, der ihr sympathisch war, würde es wohl ein Kommen und Gehen bleiben.

„Daddy, ich bin so weit.“

Bryce riss sich aus seinen Gedanken los und sah Stella an. Es amüsierte ihn immer wieder aufs Neue, dass seine Tochter den gleichen Namen trug wie ihre Urgroßmutter, ihr Temperament aber ein völlig anderes war. Susan dagegen war der sprichwörtliche Apfel, der nicht weit vom Stamm fiel.

„Und wo ist deine Schwester?“

„Gleich fertig. Sie frisiert sich noch.“

„Du siehst gut aus, Honey.“ Ihr volles Haar, das den gleichen goldbraunen Farbton hatte wie seine eigenen Haare, war nach hinten gekämmt und wurde durch ein zu ihrem Kleid passendes korallenrotes Band zusammengehalten.

Stella senkte verlegen den Kopf. „Danke, Daddy.“

„Ich hoffe, deine Schwester weiß auch, dass sie sich für Großmutter fein machen soll.“

In dem Moment kam Susan mit wehendem Haar aus dem ersten Stock gestürmt. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass sie ein besonders schönes Kleid trug. Sogar ihr Haar, lockiger und etwas heller als das ihrer Schwester, hatte sie zu einer ordentlich aussehenden Frisur gebändigt.

Zustimmend lächelte Bryce die beiden an. „Dann wollen wir mal. Vergesst nicht eure Geschenke für Großmutter. Und jetzt nichts wie los. Ihr wisst, sie mag es nicht, wenn man unpünktlich ist.“

Susan verzog das Gesicht, grinste dann aber Stella an.

Manchmal bereitete es ihm Sorgen, wenn er sah, wie sehr seine jüngste Tochter versuchte, es jedem recht zu machen. Er fürchtete, sie könnte irgendwann einmal an die falschen Leute geraten und sich die größten Probleme einhandeln. Ihm war klar, dass er sie stärker im Auge behalten musste als ihre Schwester.

Kinder großzuziehen war keine leichte Aufgabe, doch für einen einzelnen Elternteil bedeutete das eine noch größere Anstrengung. Wenigstens war Bryce mit drei jüngeren Schwestern aufgewachsen, sodass er leichter die Denkweise seiner Töchter nachvollziehen konnte.

Ein Glück, dass es Lorna gibt, dachte er. Seine Lieblingsschwester hatte selbst keine Kinder, und seit ihrer Scheidung und Michelles Tod richtete sie ihre Mutterinstinkte ganz auf die beiden.

Zu dritt gingen sie durch die parkähnliche Anlage, die sich zwischen seinem eigenen Haus und dem prachtvollen Herrenhaus der Familie erstreckte.

„Daddy?“, fragte Susan, als sie sich dem Haupthaus näherten. „Kommt Cameron heute Abend auch her?“

„Ja, es werden alle da sein.“

„Cool.“

Cameron, die Tochter von Bryce’ Schwester Chloe und deren Mann Greg aus Austin, war mit ihren vierzehn Jahren zwar sechs beziehungsweise sieben Jahre älter als Stella und Susan, doch die zwei liebten sie über alles. Sie war ihre einzige Hathaway-Cousine, und es stand zu befürchten, dass sich daran so bald nichts ändern würde.

Lorna hatte zwar Kinder gewollt, als sie verheiratet gewesen war, doch es gab irgendwelche medizinischen Probleme. Und Chloe wollte nicht noch einmal Mutter werden, womit alle Hoffnungen auf Claudia ruhten.

Sie erreichten die breite, flache Treppe, die hinaufführte zum Eingang mit den flackernden Gaslaternen zu beiden Seiten. Obwohl Bryce hier aufgewachsen, trat er nie ein, ohne zuvor anzuklopfen oder zu klingeln.

Lucy, eines der Dienstmädchen, öffnete prompt die Tür. „Guten Abend, Mr Bryce.“ Lächelnd sah sie seine Töchter an. „Guten Abend, Miss Susan, Miss Stella. Na, ihr beide seht ja hübsch aus.“

„Guten Abend, Lucy“, erwiderte Bryce und stieß die Mädchen an, damit sie sie ebenfalls grüßten.

„Die anderen sind alle im Salon“, erklärte Lucy.

Bryce schüttelte im Geiste den Kopf. Das Wohnzimmer als Salon zu bezeichnen war eine Marotte seiner Mutter, die sie vor einigen Jahren von einer Englandreise mitgebracht hatte. Der hochtrabende Ausdruck hatte ihn von Anfang an gestört, da die Hathaways bis dahin nie vorgegeben hatten, etwas Besseres zu sein. So wie die Morgans – die Familie seiner Großmutter – waren auch sie Pioniere gewesen, Männer und Frauen, die körperlich hart arbeiteten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Warum seine Mutter einen anderen Anschein erwecken wollte, war ihm zwar nicht klar, doch er wollte sie nicht darauf ansprechen. Lieber konzentrierte er seine Energie auf wirklich wichtige Dinge.

Die Mädchen stürmten vor ihm her in den „Salon“, der sich über die gesamte rechte Frontseite des Gebäudes erstreckte. Die linke Hälfte des Parterres wurde von einem ebenso großen Esszimmer eingenommen, das angesichts der Größe eher die Bezeichnung Speisesaal verdient hätte.

Als Bryce den elegant eingerichteten Raum betrat, fand er dort den größten Teil der Familie versammelt vor. Lorna unterhielt sich mit einer zierlichen, dunkelhaarigen Frau, die er nicht kannte. Chloe war mit Ehemann Greg und Tochter Cameron da, außerdem Claudia, die immer noch zu Hause lebte, sowie Bryce’ Eltern Jonathan und Kathleen.

Bevor er sich einem von ihnen zuwenden konnte, ging er erst zum anderen Ende des Raums, wo seine Großmutter auf einem mit blauem Samt bezogenen Stuhl thronte. Mit ihren neunzig Jahren sah Stella Morgan Hathaway immer noch sehr gut aus.

Ihr schneeweißes, bis zur Taille reichendes Haar trug sie hochgesteckt, mit Diamanten und Rubinen besetzte Spangen sorgten für sicheren Halt. Dazu passend waren die Ohrringe und das Armband ausgewählt. Gekleidet war sie in ein langes granatrotes Abendkleid aus Satin, und um sich gegen den frischen Luftzug der Klimaanlage zu schützen, hatte sie einen weißen Kaschmirschal um die Schultern gelegt.

Als Bryce und die Mädchen näher kamen, hob sie ein wenig den Kopf, doch obwohl sie lächelte, blickten ihre blauen Augen kühl.

Immer noch sauer auf mich, dachte er und ließ den Mädchen den Vortritt, die ihre Großmutter umarmten und küssten und dann die Geschenke zu den anderen auf einen Tisch legten.

Während die beiden zu Cameron liefen, beugte sich Bryce vor und küsste Stella auf die Wange. „Alles Gute zum Geburtstag, Großmutter.“

„Dieser Geburtstag wäre viel schöner, wenn du Claudia zur Vernunft bringen könntest.“

„Großmutter, wir haben das alles schon diskutiert.“

Ihre Lippen wurden schmal. „Das heißt nicht, dass ich mit deiner Entscheidung zufrieden bin.“

„Ich weiß. Es tut mir auch leid.“ Fast hätte Bryce noch mehr gesagt, doch er hielt sich lieber zurück. Es war alles besprochen worden, er würde seinen Standpunkt nicht ändern, und Stella würde sich nicht von ihrer Ansicht abbringen lassen. „Wir beide müssen einfach akzeptieren, dass wir unterschiedlicher Meinung sind.“

„Ich nehme an, du befürwortest ihre Bewerbung an dieser Schule in Houston.“

„Ja.“ Claudia wollte dort an einem öffentlichen College Betriebswirtschaftslehre unterrichten.

„Hm. Houston. Nichts als Schmutz und Verbrechen und Lärm.“

„Großmutter, das ist nicht wahr. Ich war oft in Houston, und mir gefällt es da sehr gut. Ein Umzug dorthin würde Claudia guttun.“

Er sah seiner Großmutter an, wie sehr sie bemüht war, nicht die Fassung zu verlieren. Kaum jemand hatte ihr einmal widersprochen, umso schwerer musste es für sie sein, dass Bryce so unnachgiebig blieb. Da jede weitere Diskussion allenfalls zu einem Streit führen würde, zog Bryce sich lieber zurück und begrüßte die anderen Gäste.

„Bryce“, sagte Lorna. „Ich würde dir gern eine alte Freundin vorstellen. Amy, mein Bruder Bryce. Bryce, das ist Amy …“ Sie brach mitten im Satz ab. „Ich habe dich gar nicht nach deinem Nachnamen gefragt. Heißt du jetzt wieder Summers oder …?“

„Nein, ich habe den Namen Gordon behalten“, antwortete die Frau. „Das macht es für Calista einfacher.“

„Ach so, natürlich. Ich habe meinen Mädchennamen wieder angenommen, weil keine Kinder im Spiel waren.“

Bryce entnahm dem Wortwechsel, dass die Frau in Lornas Begleitung geschieden sein musste.

„Amy und ich lernten uns auf dem College kennen“, fuhr seine Schwester fort. „Wir haben uns damals ein Zimmer geteilt, und jetzt ist sie zusammen mit ihrer Tochter für ein paar Tage bei mir zu Gast.“ Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf ein kleines Mädchen, das sich bei Cameron und den Mädchen aufhielt. „Das da drüben ist Calista.“

„Freut mich, dich kennenzulernen, Amy. Als alte Freundin von Lorna darf ich dich doch duzen?“ Neugierig betrachtete er sie. Im Büro hatte Lorna nicht davon gesprochen, dass sie Besuch erwartete.

„Natürlich“, entgegnete Amy freundlich und gab ihm die Hand.

„Ich hoffe, du langweilst dich hier nicht. In Morgan Creek kann man nicht viel unternehmen.“

„Mir reicht es völlig, mit Lorna über alte Zeiten zu reden.“

Nicht nur ihre Art, ihn anzusehen, gefiel Bryce, sondern auch ihre Stimme, die so melodisch klang. Vor allem aber fesselten ihn ihre großen braunen Augen, die seinem Blick nicht auswichen. „Ihr habt euch damals also ein Zimmer geteilt?“

„Ja. Lorna hat mir sehr gefehlt, als sie nach einem Jahr wieder abging“, erzählte sie. Wieder lächelte sie flüchtig, wobei ihm das Grübchen auffiel, das sich dabei in ihrer rechten Wange bildete.

„Amy ist auf dem Weg nach Kalifornien“, warf Lorna ein. „Sie ist Vorschullehrerin und will da einen Job finden.“

„Und wo in Kalifornien?“

„Ich weiß noch nicht so genau“, antwortete Amy. „Mir sind Kleinstädte am liebsten, vielleicht irgendetwas im Großraum San Diego.“

Bryce wollte noch eine Frage stellen, als weitere Gäste ins Zimmer kamen: ihr Nachbar Jake Kenyon in Begleitung seiner Tochter Tara. Sie und Bryce waren zusammen aufgewachsen, und bevor er sich in Michelle verliebte, hatten alle erwartet, er und Tara würden ein Paar werden.

Sie heiratete damals nur sechs Monate nach ihm, und Bryce hatte sich immer gefragt, ob das vielleicht nur eine Antwort war auf seine Hochzeit. Jedenfalls hielt ihre Ehe nicht lange, und nach nicht mal zwei Jahren wurde unter eine kinderlos gebliebene Verbindung der Schlussstrich gezogen.

Danach lebte Tara lange Zeit in Dallas und arbeitete als Model, obwohl sie als Jakes einziges Kind genug Geld besaß und ein beträchtliches Vermögen erben würde. Vorübergehend war sie mit einem Broker verlobt gewesen, doch den Grund für die Trennung kannte Bryce nicht.

Vor einem halben Jahr war sie nach Morgan Creek zurückgekehrt, und seitdem half sie ihrem Vater bei seinen geschäftlichen Unternehmungen. Außerdem engagierte sie sich für das jährliche Rodeo, das zusammen mit der Nachbarstadt Bailey Springs ausgerichtet wurde.

Bryce konnte Tara gut leiden, und seine Mädchen mochten sie auch. Aber obwohl alle dachten, aus ihrer Freundschaft hätte mehr werden können, glaubte er nicht, sich mit weniger als der Liebe zufriedengeben zu können, die ihn mit Michelle verbunden hatte.

Dieser Gedanke ging ihm durch den Kopf, als Tara mit ihrem Vater auf ihn zukam.

Amy fand, Tara Kenyon sah aus wie ein Filmstar. Sie war groß und schlank, hatte kastanienbraunes Haar und funkelnde grüne Augen, dazu einen makellosen Teint und ein perfekt geschnittenes Gesicht.

Und erst ihre Figur! Amy hätte alles dafür gegeben, mit ihr tauschen zu können. Die weiblichen Kurven waren in ein hautenges, orangefarbenes Seidenkleid gehüllt, das ein ganzes Stück oberhalb der Knie endete und zusammen mit den hochhackigen Schuhen ihre ohnehin langen Beine noch stärker betonte.

Im Vergleich zu ihr kam sich Amy in ihrem beigefarbenen Kleid und den schlichten braunen Pumps blass und langweilig vor.

Tara sah nicht nur aus wie eine Schauspielerin, sie verhielt sich auch so, indem sie Amy kaum zur Kenntnis nahm und stattdessen ihre ganze Aufmerksamkeit auf Bryce richtete, dem sie ein strahlendes Lächeln schenkte.

Sie kam zu ihm und küsste ihn auf den Mund. „Hallo, Fremder. Dich habe ich ja schon seit Tagen nicht mehr gesehen“, säuselte sie. „Wo hast du dich versteckt gehalten?“

„Das letzte Kindermädchen hat gekündigt“, erwiderte Bryce.

„Bist du dir ganz sicher, dass du die armen Dinger nicht schlägst? Nicht, dass es wirklich so unangenehm sein dürfte, von dir geschlagen zu werden“, gurrte Tara mit einem leisen Lachen.

Amy und Lorna ließen die beiden in Ruhe und zogen sich zurück.

„Schlampe“, zischte Lorna, woraufhin Amy nicht ernst bleiben konnte.

„Klingt so, als würdest du sie nicht mögen“, bemerkte sie.

„Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich dir ein paar Geschichten über Tara erzählen.“

In diesem Moment gesellte sich Lornas jüngste Schwester Claudia zu ihnen. Schon zuvor war Amy aufgefallen, wie gut die Hathaway-Geschwister aussahen, Bryce eingeschlossen. Sie alle hatten strahlend blaue Augen, und während die Frauen blond waren, hob sich lediglich Bryce von ihnen ab, dessen Haarfarbe mehr ins Braune spielte.

Amy betrachtete ihn beiläufig und kam zu dem Schluss, dass man ihn eigentlich nicht als wirklich gut aussehend bezeichnen konnte. Dafür war sein Kinn zu kantig und die Nase ein wenig schief, was aber nichts an seinem faszinierenden Lächeln und seiner warmherzigen Ausstrahlung änderte. Und er hatte Sex-Appeal, eine Eigenschaft, die ihn nicht nur für Tara Kenyon unwiderstehlich machte.

„Was heckt ihr denn aus?“, wollte Claudia amüsiert wissen.

„Gar nichts“, antwortete Lorna. „Ich ziehe nur über Miss T. her.“

Claudia nickte verstehend.

Erfreut erkannte Amy, dass Tara Kenyon nicht nur ihr unsympathisch war. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass die Frau sich bei Bryce untergehakt hatte und zu ihm hochschaute, als sei sie mit ihm völlig allein.

„Ja“, bestätigte Lorna, die Amys Blick verfolgte. „Sie schießt sich ganz auf ihn ein.“

„Dein Bruder stört sich offenbar nicht daran.“ Amy fand es enttäuschend, dass er Taras Aufmerksamkeit zu genießen schien, doch es wunderte sie nicht. Kein Mann war gegen eine solche Frau immun.

„Sie war schon hinter Bryce her, als sie gerade mal laufen konnte“, erklärte Claudia.

Lorna fügte mit Genugtuung hinzu: „Es hätte sie fast der Schlag getroffen, als er seine Verlobung mit Michelle bekanntgab. Ich glaube, ihr war nie der Gedanke gekommen, er könnte sich für eine andere Frau als sie interessieren. Das dürfte fast das einzige Mal in ihrem Leben gewesen sein, dass sie nicht bekam, was sie haben wollte.“

Da Bryce und Tara sich in ihre Richtung bewegten, wechselten die Schwestern rasch das Thema. „Stimmt es, dass du auf dem Weg nach Kalifornien bist?“, fragte Claudia beiläufig. „Hast du dort Verwandte?“

„Nein. Ich will mich nur verändern, weiter nichts.“

„Sie will ihren Ex hinter sich lassen“, ergänzte Lorna.

„Bewundernswert. Ich möchte mich auch verändern, aber viel habe ich dafür noch nicht getan“, gestand Claudia. „Es ist nicht so einfach, sich gegen Großmutter durchzusetzen.“

„Mommy, Mommy! Guck mal, was ich gekriegt habe!“, rief auf einmal Calista begeistert und lief auf Amy zu, um ihr eine Perlenkette zu präsentieren, die sie um den Hals trug.

„Wo hast du die denn her?“, wollte Amy wissen und sah, dass die beiden Mädchen mitgekommen waren, mit denen Bryce zuvor das Zimmer betreten hatte.

„Von Stella.“

Stella Hathaway lächelte Amy schüchtern an.

„Das war sehr nett von dir, Stella.“ Lorna legte ihr einen Arm um die Schultern.

„Ich habe auch solche Perlen“, meldete sich Susan zu Wort. „Meine sind grün, die kann sie auch haben.“

Der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sich Susan von ihrer Schwester nicht ins Abseits drängen lassen wollte.

„Hast du dich auch bedankt?“, fragte Amy.

Calista machte: „Mm.“

„Ich finde es auch sehr nett von euch.“ Amy sah die Geschwister freundlich an. „Aber vielleicht gefällt es eurem Vater nicht, wenn ihr euren Schmuck verschenkt.“

Susan verzog den Mund. „Das ist ihm egal.“

„Wir haben die Perlen von unserem eigenen Geld gekauft“, erklärte Stella stolz, „als wir letztes Jahr in Mexiko waren.“

„Ihr wart in Mexiko?“ Amy war beeindruckt.

„Wir haben mit Daddy eine Kreuzfahrt gemacht“, antwortete Susan.

„Das hört sich ja toll an.“

„Es war auch toll“, bestätigte Lorna. „Claudia und ich waren mit dabei.“

„Wir hatten unsere eigene Party!“, trumpfte Susan auf.

„Während die Erwachsenen sich auf einer Cocktailparty vergnügten“, erklärte Lorna.

„Das war total super“, schwärmte Stella. „Wir durften tanzen und so.“

Einige Minuten lang schwärmten die beiden Mädchen von der Kreuzfahrt, dann erst zogen sie sich zusammen mit Calista wieder zurück.

„Das scheint bei den Mädchen ja Liebe auf den ersten Blick zu sein“, meinte Claudia und blickte ihnen hinterher.

Als Amy einige Minuten später durch den Kopf ging, wie sehr sie es bedauerte, Morgan Creek wieder verlassen zu müssen, kamen die Dienstmädchen herein und baten die Gäste zu Tisch nach nebenan. Erstaunt erfuhr Amy von Lorna, dass die Kinder in einem anderen Raum essen würden.

„Mutter und Großmutter mögen es lieber zivilisiert“, erklärte sie ihrer Freundin amüsiert. „Beim Essen wollen sie die Kinder nicht sehen und erst recht nicht hören. Das haben sie auch mit uns so gehandhabt.“

Für Amy war es unvorstellbar, wie eine Mutter ihre eigenen Kinder beim Essen nicht um sich haben wollte.

Am Tisch saß sie zwischen Lorna und Chloes Ehemann Greg Standish – und direkt gegenüber von Tara und Bryce. Greg war ein attraktiver und charmanter Mann, der Amy seine ganze Aufmerksamkeit schenkte.

Es war ihr noch nie angenehm gewesen, wenn Männer so offen mit ihr flirteten, wie Greg es tat. Sie mochte keine Geplänkel, und mit anzüglichen Bemerkungen kam sie überhaupt nicht zurecht. Vielleicht kam es daher, dass sie immer mit Kindern gearbeitet hatte, die einem ihre Meinung klar und deutlich sagten.

Womöglich waren auch Coles besitzergreifende Art und seine Eifersucht der Grund dafür, dass sie auf diesem Gebiet keine Erfahrung besaß. Letztlich mochte es aber auch an ihrer eigenen direkten Art im Umgang mit anderen Menschen liegen. Dass sie nun hier saß und allen Anwesenden etwas vorspielte, um die Wahrheit zu verheimlichen, löste bei ihr Schuldgefühle aus.

„Übrigens, Bryce“, sagte Lorna auf einmal, „ist dir aufgefallen, wie gut sich Susan und Stella mit Amys Tochter verstehen?“

„Ja, das habe ich gemerkt.“ Er sah zu Amy und lächelte sie an. „Sie ist ja auch wirklich reizend.“

„Und gut erzogen“, betonte Lorna. „Kein Wunder. Schließlich weiß Amy, wie man mit kleinen Kindern umgehen muss. Ich glaube, ich erwähnte schon, dass sie in Kalifornien als Vorschullehrerin arbeiten will.“

Amy wünschte, Lorna würde das Thema wechseln. Erstens konnte sie sich nicht so recht vorstellen, dass es Bryce überhaupt interessierte. Zweitens wollte sie nicht im Mittelpunkt stehen.

„Und wieso willst du gerade nach Kalifornien?“, fragte er sie. „Wartet da bereits eine Arbeitsstelle auf dich?“

„Nein, noch nicht.“ Sie wusste, er fragte es nur aus Höflichkeit.

„Würdest du in Texas bleiben, wenn du hier einen Job finden könntest?“

Seine Frage überraschte sie. „Ich … ich weiß nicht. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Wenn sich hier in Morgan Creek etwas ergeben würde … vielleicht. Ich mag Kleinstädte.“

Einen Moment lang betrachtete Bryce sie einfach nur. Was ihm durch den Kopf ging, konnte sie nicht einmal ahnen. Schließlich meinte er: „Vielleicht könnte man das arrangieren.“

„Wirklich? Weißt du, ob es hier einen Job für mich gibt?“

Er nickte bedächtig. „Ja, den gibt es.“

„Bryce“, warf Tara Kenyon in diesem Augenblick ein. „Sie ist Kindergarten – Lehrerin. In Morgan Creek gibt es nur einen Kindergarten, und da ist keine Stelle frei.“

„Ich dachte auch an etwas anderes“, erwiderte Bryce, ohne Tara anzusehen. „Amy, was hältst du davon, in Vollzeit für mich zu arbeiten – als Kindermädchen für meine beiden Töchter?“

3. KAPITEL

Amy saß da und wollte ihren Ohren nicht trauen. „W…was hast du gerade gesagt?“

„Ob du für mich arbeiten möchtest. Als Nanny.“

Bryce’ Angebot war die Lösung für all ihre Probleme! Cole würde in Morgan Creek niemals nach ihr suchen, weil er weder von diesem Dorf noch von Amys Verbindung zu Lorna etwas wusste. Und wenn sie für Bryce arbeitete, war sie hier auf dem Anwesen untergebracht, das ringsum streng bewacht wurde. Damit würde sie praktisch völlig von der Bildfläche verschwinden.

Calista und sie wären in Sicherheit.

„Bryce, eine Nanny ist aber etwas anderes als eine Lehrerin im Kindergarten“, betonte Tara pikiert, doch er ging auf ihren Einwand gar nicht erst ein, sondern blickte Amy weiter fest an.

„Ich würde sagen, wir könnten beide davon profitieren“, fuhr er fort. „Ich brauche jemanden, der auf meine Mädchen aufpasst, jemanden, der jung ist und mit Kindern umgehen kann. Du suchst einen Job, und du musst deine Tochter unterbringen, während du arbeitest. Hier könntest du alles gleichzeitig machen. Dafür zahle ich dir ein Gehalt, das du als Lehrerin auch bekommen würdest.“

Er nannte einen großzügig bemessenen Betrag.

„Hast du denn überhaupt Erfahrung mit Kindern in Stellas und Susans Alter?“, wandte Tara zweifelnd ein, die sich nicht ignorieren lassen wollte.

Die Frage klang im ersten Moment freundlich und angebracht, doch Amy wusste, die Frau hatte etwas gegen sie.

„Ja, die habe ich tatsächlich“, gab sie im gleichen Tonfall zurück, dann wandte sie sich wieder Bryce zu. „Ich darf von der Vorschule bis zum zweiten Grundschuljahr unterrichten. Die meiste Erfahrung habe ich zwar im Kindergarten gesammelt, aber gleich nach dem College habe ich auch in der Grundschule im ersten und zweiten Schuljahr Vertretungsstunden gegeben.“

Er nickte zufrieden. „Stella hat die zweite Klasse gerade erst abgeschlossen, und Susan wird dieses Jahr eingeschult.“

„Ja, etwas in dieser Richtung dachte ich mir schon“, sagte Amy.

„Und? Interesse?“

„Oh Amy, es wäre toll, dich hier zu haben!“, meinte Lorna begeistert. „Nimm sein Angebot an.“

Am liebsten hätte Amy einen Freudentanz aufgeführt, weil dieser Job die ideale Lösung darstellte. Aber sie zwang sich zur Ruhe und erwiderte mit gelassener Miene: „Ich weiß das Vertrauen zu schätzen, das du in mich setzt, und ich nehme das Angebot an. Ich verspreche, ich werde dich nicht enttäuschen.“

„Wunderbar“, erklärte Bryce.

Während er ehrliche Freude ausstrahlte, genügte Amy ein kurzer Blick zu Tara, um zu erkennen, dass sie sich diese Frau soeben zur Feindin gemacht hatte. Der Grund dafür war ihr nicht klar, konnte Amy ihr doch in keiner Hinsicht gefährlich werden.

So deutlich, wie sie wusste, dass sie bei Tara keine guten Karten hatte, konnte Amy erkennen, dass Bryce sie mochte. Das hing jedoch nur mit seinen Kindern und der Notwendigkeit zusammen, jemanden zu haben, der sich um seine Töchter kümmerte. Und selbst wenn sein Interesse tatsächlich ihr als Frau gegolten hätte, wäre es trotzdem unwichtig gewesen.

Sie war nicht an einer Romanze interessiert, weder jetzt noch später – und erst recht nicht mit einem Mann, dem sie die Wahrheit über sich verschwieg. Ihr Leben war momentan eine Lüge, und darauf konnte man keine Beziehung aufbauen.

Als einige Zeit nach dem Abendessen bereits einige Gäste gegangen waren, fand Bryce, es sei Zeit, die Kinder ins Bett zu bringen. Also verabschiedete er sich von seiner Großmutter und wünschte ihr eine gute Nacht. Auf dem Weg zur Tür kam er an seiner Mutter und Claudia vorbei. Seine Schwester drehte sich zu ihm um. „Du gehst schon?“

„Ja, die Mädchen werden allmählich unruhig, sie müssen schlafen.“

„Das ist mir auch aufgefallen“, kommentierte seine Mutter spitz.

Bryce sah kurz zu Claudia, die ihn verständnisvoll und mitfühlend anschaute. Die Hathaway-Geschwister wussten, ihre Mutter würde nie die Rolle einer liebevollen, fürsorglichen Großmutter übernehmen können. Zwar liebte Kathleen Hathaway ihre Enkel, aber sie konnte kein Verständnis dafür aufbringen, wenn die Kinder sich nicht stets von ihrer besten Seite zeigten.

Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass Kinder nun mal Kinder sind und keine kleinen Erwachsenen. Aber es war überflüssig, das zur Sprache zu bringen, denn in diesem Punkt waren seine Mutter und seine Großmutter genau gleich: Sie hatten zu dem Thema eine bestimmte Meinung, und davon ließen sie sich von niemandem abbringen.

„Bevor du gehst, Junge“, fuhr sie fort, „möchte ich noch mit dir unter vier Augen sprechen.“

„Das ist mein Stichwort, das Weite zu suchen“, meinte Claudia grinsend und ließ die beiden allein.

„Bryce“, begann seine Mutter schließlich. „Ich habe dich nie als einen impulsiven Menschen erlebt, jedenfalls nicht, seit du erwachsen bist.“

Ihm war sofort klar, worauf sie hinauswollte.

„Hältst du es für klug, Lornas Freundin einzustellen, obwohl du gar nichts über sie weißt?“

„Ich weiß, dass sie Lornas Freundin ist, und meine Schwester scheint von ihr eine hohe Meinung zu haben.“

„Ja, aber nach allem, was ich gehört habe, kannten die beiden sich nur kurze Zeit, und das ist viele Jahre her. Wir wissen nichts über ihre Familie, ihren Umgang – im Grunde überhaupt nichts.“ Kathleen machte eine nachdenkliche Miene. „Das bereitet mir Sorgen. Findest du nicht, du solltest wenigstens ihre Referenzen überprüfen?“

„Das werde ich schon noch“, versicherte er ihr.

„Gut, denn in unserer Position sollte man vorsichtig sein, wem man seine Kinder anvertraut.“

„Das sollten Eltern grundsätzlich sein“, gab er zurück.

„Ja, natürlich, doch Leute wie wir müssen doppelt vorsichtig sein.“

Bryce verkniff sich eine Erwiderung, gab seiner Mutter einen Gutenachtkuss und machte sich mit den Kindern auf den Heimweg. Als sie durch den Park gingen, begann er zu grübeln, wieso er eigentlich heute Abend so impulsiv gehandelt hatte.

Normalerweise beschäftigte er sich gründlich mit einer Frage, beleuchtete sie von allen Seiten und traf erst dann eine Entscheidung, wenn er sicher war, keinen Aspekt übersehen zu haben. Doch bei der Wahl, wer sich um seine Kinder kümmern sollte – also in einer extrem wichtigen Sache –, hatte er sich allein auf seinen Instinkt verlassen, anstatt wenigstens erst einmal Amys Referenzen zu überprüfen.

Warum nur?

Nachdem er die Mädchen ins Bett gebracht hatte, war er der Antwort noch immer kein Stück näher gekommen. Erst als er selbst schlafen ging und das Licht ausschaltete, wurde es ihm schlagartig klar.

Amy Gordon erinnerte ihn an Michelle!

Dabei sah sie ihr gar nicht ähnlich. Michelle war blond gewesen, hatte graublaue Augen und war nicht annähernd so zierlich wie Amy. Und doch gab es zwischen den beiden eine Verbindung – wenn er bloß gewusst hätte, welche …

Eine Weile grübelte er noch über sein unverständliches, spontanes Verhalten, kam letztlich aber zu der Überzeugung, dass es eigentlich nicht wichtig war.

Sein Instinkt sagte ihm, er könne Amy vertrauen, auch wenn er so gut wie nichts über sie wusste. Und seine Menschenkenntnis war gut genug, um ihm die Gewissheit zu geben, dass Amy Gordon kein schlechter Mensch war und dass mit ihren Referenzen alles stimmte.

Er bereute nicht, ihr die Stelle angeboten zu haben. Vielmehr war er sich sogar sicher, dass sie die beste Nanny sei, die seine Mädchen bekommen konnten.

„Erzähl mir etwas über deinen Bruder“, bat Amy, als sie und Lorna auf der Veranda saßen und ein Glas Wein tranken.

Mit Einbruch der Nacht ließ endlich die Hitze des Tages ein wenig nach, ein leichter Wind war aufgekommen, der für den nächsten Morgen auf Regen hoffen ließ. Es war so friedlich, im Mondschein dazusitzen und zu lauschen, wie eine Brise die Blätter des Magnolienbaums rascheln ließ.

Amy konnte förmlich spüren, dass der Stress und die Sorge der letzten Tage von ihr abfielen.

„Bryce ist ein anständiger Kerl“, begann ihre Freundin. „Natürlich bin ich voreingenommen, weil er mein Bruder ist, trotzdem stimmt es. Ich bewundere ihn, und vor ihm habe ich mehr Respekt als vor jedem anderen Menschen.“

„Was ist mit seiner Frau geschehen?“

„Eierstockkrebs. Sie starb vor drei Jahren.“

„Ein harter Schlag.“

„Ja. Das traf uns alle schwer. Michelle war etwas Besonderes, jeder mochte sie, sogar Mutter.“

Wie Lorna „sogar Mutter“ betonte, ließ Amy hellhörig werden, doch sie hatte Hemmungen nachzufragen. Zum Glück ging Lorna von sich aus näher darauf ein. „Dazu muss man wissen, dass unsere Mutter Bryce mit Tara Kenyon verheiraten wollte. Deshalb war es umso erstaunlicher, wie schnell sie Michelle akzeptierte.“

„Warum sollte er denn Tara heiraten?“

„Weil es Mutters Position gestärkt und das Vermögen der Familien vergrößert hätte“, erklärte Lorna wie selbstverständlich. „Es ging ihr nicht darum, ob Tara eine besonders gute Ehefrau für ihren Sohn gewesen wäre. Sie sah es als eine rein wirtschaftliche Verbindung an. Aber egal, wie Tara zu Bryce steht, ich glaube nicht, dass er sie liebt. Die beiden sind zusammen aufgewachsen, sie haben viele gemeinsame Interessen, und sie waren immer eng befreundet. Trotzdem ist meiner Meinung nach mehr nicht drin.“

„Und wie war Michelle?“

„Eine warmherzige, liebevolle Frau, die mit jedem gut auskam und die jeder mochte. Ihre Art machte es praktisch unmöglich, sie nicht zu mögen.“

„Klingt so, als sei sie ein wunderbarer Mensch gewesen.“

„Ja, das stimmt. Natürlich war sie nicht perfekt, aber das ist schließlich keiner von uns. Sie besaß Sinn für Humor, und wir verbrachten schöne Zeiten mit ihr.“ Etwas leiser fügte sie hinzu: „Sie fehlt mir.“

Amy fragte sich, wie es wohl sein musste, nicht nur vom eigenen Ehemann, sondern auch von seiner Familie so geliebt zu werden. So etwas hatte sie nie erfahren. Sicher, ihre eigene Familie liebte sie, daran gab es keinen Zweifel. Aber genauso sicher war, dass Cole sie nie wirklich geliebt hatte.

Für ihn war sie nur etwas, was er hatte besitzen wollen. Leider war ihr diese Erkenntnis viel zu spät gekommen. Er hatte keinen engen Kontakt zu seinen Verwandten, die zudem in Michigan lebten, sodass es nie zu einem Kennenlernen gekommen war. Diese Tatsache hätte Amys Misstrauen wecken müssen, weil es etwas Wichtiges über Coles Charakter aussagte, doch auch da war sie erst viel zu spät aufgewacht.

„Und die Mädchen?“, fragte Amy nach einer Weile. „Wie haben sie den Tod der Mutter verkraftet?“

„Monatelang haben die beiden nur geweint, aber ich finde, sie haben es bemerkenswert gut verarbeitet. Allerdings sollte ich dich warnen. Susan ist ganz schön anstrengend, und sie ist auch mit ein Grund dafür, warum Bryce immer wieder die Kindermädchen davonlaufen.“

„Wie viele hatte er denn schon?“

„Ehrlich gesagt habe ich die Übersicht verloren. Sechs waren es mindestens.“

Amy erschrak. Sechs Kindermädchen in drei Jahren? „Sie alle wurden von Susan verjagt?“

„Ich würde sagen, dass sie der Hauptgrund war.“

„Und was genau hat sie mit ihnen gemacht?“

„Nichts wirklich Schlimmes, nur Streiche ohne Ende. Außerdem ist sie listig, und wenn sie jemanden nicht mag, kann sie ihm das Leben zur Hölle machen. Mal legt sie eine Echse ins Schmuckkästchen, oder sie füllt Salz in den Zuckerstreuer. Einem Kindermädchen hat sie ständig die Brille versteckt.“

„Sie konnte wirklich keine von ihnen leiden?“

„Ein paar von ihnen haben wohl auch deshalb aufgehört, weil sie das Leben in Morgan Creek nicht ertragen konnten. Hier kann man wirklich so gut wie nichts unternehmen.“

„Ich bin nicht hier, um etwas zu unternehmen. Durch Calista sind mir ohnehin die Hände gebunden, darum ist es egal, ob ich hier arbeite oder irgendwo anders, wo ständig etwas los ist. Außerdem habe ich dich, also werde ich nicht einsam sein.“

„Ja, das ist doch schön, nicht wahr? Mir hat eine beste Freundin wirklich gefehlt.“

„Aber du hast doch sicher Freundinnen hier im Ort. Immerhin bist du hier aufgewachsen.“

„Das schon, nur sind die meisten meiner Freundinnen schon lange weg. Einige haben geheiratet und sind deshalb fortgezogen, andere haben in Austin oder San Antonio bessere Jobs gefunden. Natürlich habe ich immer noch eine paar Freundinnen, aber ich fühle mich mit keiner von ihnen so verbunden wie mit dir. Claudia ist die einzige Ausnahme. Leider wird sie nicht mehr lange bleiben.“

„Ah ja? Heiratet sie?“

„Nein, und das ist ein weiteres großes Problem. In Morgan Creek gibt es nicht mehr viele junge Männer. Die meisten ziehen um nach Austin, Dallas oder Houston, weil es da die guten Jobs gibt.“

„Und was ist mit eurem Familienunternehmen? Ihr beschäftigt doch sicher viele Menschen.“

„Stimmt, nur sind die meisten von ihnen Arbeiter. Nicht, dass es eine Schande wäre, Arbeiter zu sein. Das Problem liegt woanders: Selbst wenn es die Jungs nicht einschüchtern würde, eine Hathaway vor sich zu haben, wären da zu wenige gleiche Interessen für eine Beziehung. Es gibt nur ein paar Verwaltungsstellen, und die drei höchsten Positionen werden bereits von Bryce, Vater und mir besetzt.“

„Und Handelsvertreter? Solche Leute braucht ihr doch auch, oder?“

„Die werden alle nicht von hier aus eingesetzt. In Morgan Creek ist der Sitz des Unternehmens, und hier steht auch nach wie vor die größte unserer Fabriken, aber über die USA verteilt gibt es zwölf weitere Filialen.“

„Dann lässt sich Claudia in eine andere versetzen?“

„Nein, sie will überhaupt nicht für den Familienbetrieb arbeiten“, erklärte Lorna. „Mit ihrem Abschluss kann sie an einer Highschool oder an einem College unterrichten, deshalb sucht sie eine Stelle in dieser Richtung. Am liebsten wäre ihr Betriebswirtschaft.“

Amy hatte inzwischen ihr Glas ausgetrunken und spürte die Wirkung des Weines. Unwillkürlich begann sie zu gähnen.

„Bist du müde?“, fragte Lorna, dann schlug sie sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Natürlich bist du müde! Du bist den ganzen Tag gefahren, dann schleppe ich dich erst mit zu einer Party, und anschließend rede ich unentwegt auf dich ein.“

„Ich habe jede Minute genossen“, antwortete Amy aufrichtig. „Aber jetzt bin ich tatsächlich etwas müde.“ Sie stand auf. Gemeinsam gingen sie ins Haus. Lorna schloss die Tür ab und schob den Riegel vor, wie Amy erleichtert registrierte.

„Schließt du immer ab?“, fragte sie. „Ich dachte, in so einer kleinen Stadt sei das nicht üblich.“

Lorna zuckte mit den Schultern. „Früher war das auch nicht nötig, doch die Zeiten ändern sich … sogar in Morgan Creek. Außerdem lebe ich hier allein.“

Beruhigt nickte Amy. Sie hätte sich sonst in diesem Haus nicht wirklich sicher gefühlt. Nicht sicher vor Cole.

Nachdem sie sich eine gute Nacht gewünscht hatten, ging Amy nach oben, zog sich im Badezimmer um und schlich dann auf Zehenspitzen zum Bett. Sie legte sich zu ihrer schlafenden Tochter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Ich liebe dich so sehr, mein Mädchen, ich werde nicht zulassen, dass dir wieder jemand wehtut, dachte sie, woraufhin Calista einen leisen Seufzer ausstieß, als hätte sie den Gedanken ihrer Mutter gehört.

Amy ließ den Kopf aufs Kissen sinken. Augenblicke später war sie eingeschlafen.

4. KAPITEL

„Was hältst du davon, wenn ich Bryce anrufe und ihn frage, ob wir die Mädchen abholen sollen? Dann könnten wir heute etwas mit ihnen unternehmen“, schlug Lorna vor, als sie und Amy am nächsten Morgen beim Frühstück beisammensaßen. Calista hatte bereits ihre Waffeln aufgegessen, spielte mit dem Teddy und erzählte ihm ausgiebig von Buttercup.

„Woran hast du denn gedacht?“, fragte Amy. Die Idee ihrer Freundin klang gut, weil sie so die Mädchen näher kennenlernen konnte, bevor sie ihre Stelle als deren Nanny antrat.

„Ich weiß nicht.“

Lorna trank ihren Kaffee aus, dann fuhr sie fort: „Vielleicht in den Club fahren. Die Kinder können schwimmen, und wir uns zum Mittagessen an den Pool setzen. Oder wir packen einen Picknickkorb und fahren nach San Marcos. Ich kenne da einen schönen Park mit Spielplatz. Ein kleiner Bach läuft mitten hindurch, und es gibt einen Teich mit Enten. Calista würde es dort bestimmt gefallen.“

„Der Park klingt gut.“

Amy wäre gern schwimmen gegangen, aber ihr gefiel nicht der Gedanke, im Club von lauter Leuten umgeben zu sein, denen Lorna sie vorstellen müsste.

Vermutlich gab es keinen Grund, sich Sorgen zu machen, doch die Frauen von dem Netzwerk, das sie mit gefälschten Papieren ausgestattet hatte, betonten immer wieder, sie dürfe keine unnötigen Risiken eingehen. Also schied der Club aus.

„Mir ist der Park auch lieber“, stimmte Lorna ihr zu. „Gut, dann rufe ich Bryce an.“

Fünf Minuten später war alles geregelt. Bryce war froh, dass sie ihm den Tag über die Mädchen abnehmen wollten, da er sich dringend um wichtige geschäftliche Angelegenheiten kümmern musste.

„Ich habe ihm gesagt, wir holen sie gegen halb elf ab“, sagte Lorna.

Amy sah auf ihre Uhr. Es war bereits Viertel nach neun. „Habe ich noch Zeit zum Duschen?“

„Natürlich. Mach ruhig.“

„Und unser Picknick?“

„Getränke sind da, für die Sandwiches haben wir auch alles, und unterwegs können wir noch kurz anhalten, um Chips und Kekse zu holen.“

Eine Stunde später luden sie die Sachen in Lornas Geländewagen, der sogar einen eingebauten Kindersitz für Calista hatte. So brauchte Amy nicht einmal den aus ihrem eigenen Wagen zu holen. Fünf Minuten vor halb elf passierten sie das Tor zum Hathaway-Anwesen.

„Auf die Minute“, meinte Lorna.

Amy betrachtete interessiert das Haus, in dem sie ab Montag wohnen und arbeiten würde. Wie das wesentlich größere Hauptgebäude war es auch aus rotem Ziegelstein gebaut und zweistöckig. Ringsum standen etliche große Eichen, einige Kiefern, ein Tulpenbaum und diverse andere Bäume, die sie nicht bestimmen konnte. Rotblühende Myrthe zierte die Beete.

Die Mädchen hatten die Ankömmlinge offensichtlich schon erspäht, denn kaum parkte Lorna den Wagen in der Auffahrt, ging die Haustür auf, und die beiden kamen nach draußen gestürmt. „Tante Lorna! Tante Lorna!“, riefen sie, als hätten sie sie seit Wochen nicht mehr gesehen.

Amy freute sich sehr darauf, sich um Bryce’ Töchter zu kümmern, auch wenn Lorna sie vor Susan gewarnt hatte. Heute trugen die beiden wie Calista Shorts, T-Shirt und robuste Sandalen.

„Hi, Calista“, rief Stella ins Wageninnere.

„Soll ich Calista abschnallen?“, fragte Amy ihre Freundin.

„Nicht nötig. Ich wollte gar nicht erst noch ins Haus gehen“, erwiderte Lorna.

In diesem Moment tauchte Bryce an der Tür auf, und unwillkürlich machte Amys Herz einen Satz, als er sie begrüßte. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Dieser Mann ist dein neuer Arbeitgeber, weiter nichts.

„Und wie war die erste Nacht in Morgan Creek? Hast du gut geschlafen?“, fragte er.

„Ja, sehr gut, danke.“

„Ich habe auch gut geschlafen“, warf Lorna ironisch ein.

„Keine Sorge, ich habe dich nicht übersehen“, entgegnete er lachend.

„Oh doch, das hast du. Ist aber nicht so schlimm, ich bin es ja von dir gewöhnt.“

„Achte einfach nicht auf sie“, riet er Amy.

„Siehst du?“, rief Lorna prompt gespielt empört dazwischen. „Ich habe es doch gewusst. Er ignoriert mich.“

Bryce murmelte „Frauen“ und schüttelte amüsiert den Kopf. „Amy, ich habe gestern Abend ganz vergessen, dich nach deinen Referenzen zu fragen.“

Zum Glück war das geheime Netzwerk in jeder Hinsicht gründlich und hatte sie auch damit versorgt. „Die werde ich am Montagmorgen mitbringen. Wenn du sie früher haben möchtest, können wir nachher auf dem Rückweg bei Lorna vorbeifahren, und dann bekommst du sie heute Abend.“

„Nein, nein, Montag genügt mir.“ Dann wandte er sich an seine Töchter. „Ihr zwei benehmt euch, ihr hört auf das, was Tante Lorna und Mrs Gordon euch sagen. Ich will anschließend keine Klagen hören.“

Beide nickten eifrig.

„Natürlich werden sie lieb sein“, versprach Lorna augenzwinkernd. „Und falls nicht, gibt’s eine Tracht Prügel.“

„Meine Erlaubnis habt ihr“, erwiderte Bryce mit gespielt finsterem Gesichtsausdruck, doch die beiden Mädchen lachten nur.

Amy war froh, dass er ein Mann mit Humor war, denn es hätte ihr nicht gefallen, für jemanden zu arbeiten, der keinen Spaß verstand.

„Viel Spaß“, wünschte er den Mädchen, die sich zu beiden Seiten von Calista auf die Rückbank setzten.

„Klar doch“, gaben sie zurück.

„Wir sind so gegen fünf wieder zurück“, rief Lorna.

„Fahr vorsichtig.“

Bryce stand in der Auffahrt und sah ihnen nach. Als sie das Tor passierten, fühlte sich Amy so glücklich wie schon lange nicht mehr. Sie mochte Bryce Hathaway, und sie mochte seine beiden Töchter.

Vielleicht hatte sich das Blatt endlich zum Besseren gewendet.

Bryce saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und studierte gerade den Produktionsbericht des Betriebes in Morgan Creek für den Monat Juli, als sein Telefon klingelte.

„Ja?“, meldete er sich.

„Guten Morgen.“

„Hallo, Tara.“

„Es war eine schöne Feier gestern Abend, nicht wahr?“

„Freut mich, dass es dir gefallen hat.“

„Oh ja, sehr sogar. Und Daddy fand es auch nett. Er sagt, deine Großmutter wird ihn vermutlich noch überleben, so gut sah sie aus.“

„Damit könnte er richtigliegen.“

„Ist sie eigentlich immer noch wütend auf dich?“

„Scheint so.“

„Es ist mutig von dir, Bryce, dich gegen sie zu stellen.“

„Spaß macht mir das nicht, aber wenn sie so unfair ist, bleibt mir keine andere Wahl.“

„Und was macht Claudias Jobsuche?“

„Eine Zusage hat sie noch nicht, doch sie ist fest entschlossen, nicht aufzugeben, und ich bin mir sicher, sie wird etwas Passendes finden.“

„Na, im Moment freue ich mich erst mal für dich, dass du für deine Mädchen eine neue Nanny gefunden hast.“

Obwohl das beiläufig klang, kannte Bryce Tara gut genug, um zu wissen, dass sie auf etwas anderes hinauswollte.

„Allerdings …“, legte sie wie erwartet nach und stockte dann.

„Allerdings was?“

„Na ja, du kennst die Frau doch gar nicht.“

„Sie ist eine alte Freundin von Lorna“, entgegnete er geduldig.

„Schon, aber deine Schwester hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr“, gab Tara zu bedenken. „Amy Gordon könnte ebenso gut letzte Woche aus einer geschlossenen Anstalt entlaufen sein, ohne dass Lorna davon etwas wüsste.“

Auch wenn an dem, was sie sagte, etwas dran war, ärgerte sich Bryce darüber. „Tara, das ist ja lächerlich. Du brauchst dich nur fünf Minuten mit Amy zu unterhalten oder zu beobachten, wie sie mit ihrer Tochter umgeht, dann siehst du, dass sie einen guten Draht zu Kindern hat. Susan und Stella konnten sie jedenfalls auf Anhieb gut leiden.“

„So was kann täuschen. Außerdem würde ich eher sagen, die beiden haben einen Narren an ihrer Tochter gefressen.“

„Du hast etwas gegen Amy, stimmt’s?“, sagte er Tara auf den Kopf zu.

„Das ist doch albern. Ich kenne diese Frau nicht mal, und genau das ist der Punkt. Du kennst sie auch nicht, und was die Mädchen betrifft, müssen wir ganz besonders vorsichtig  ein.“

Bryce verkniff sich eine Bemerkung darüber, dass Tara „wir“ sagte. Es klang so, als sei sie für ihn und seine Töchter mehr als nur eine Freundin – als sei sie mitverantwortlich. „Ich weiß deine Sorge zu schätzen“, gab er förmlicher als beabsichtigt zurück. „Aber Amy wird mir schon noch ihre Referenzen vorlegen.“

„Ah, dann ist ja alles in Ordnung.“

„Ja, genau. Kein Grund zur Sorge.“

„Okay“, meinte Tara. „Ich bin mir sicher, dass mit ihr alles stimmt.“ In fröhlichem Ton fügte sie hinzu: „Deshalb habe ich aber gar nicht angerufen. Ich wollte fragen, ob du heute Nachmittag mit den Kindern zu uns kommst. Wir haben einen neuen Wallach gekauft, und die Mädchen reiten doch so gern. Anschließend könntet ihr dann alle zum Abendessen bleiben.“

„Tut mir leid, Tara. Lorna und Amy haben Susan und Stella vor einer Stunde abgeholt, um mit ihnen einen Ausflug zu machen. Vor fünf Uhr werden sie nicht zurück sein.“

„Ach so. Tja, dann komm doch allein her. Heute ist ein so schöner Tag, da könnten wir ein Picknick machen.“

„Klingt sehr verlockend, aber ich versinke in Arbeit. Darum war ich auch über Lornas Vorschlag froh. So habe ich wenigstens nicht das Gefühl, die Mädchen zu vernachlässigen, nur weil ich arbeiten muss.“

„Bryce, in letzter Zeit arbeitest du viel zu viel. Du weißt, dass du zwischendurch auch mal abschalten musst. Man kann nicht immer nur schuften.“

„Das lässt sich nun mal nicht ändern. Wir haben in diesem Jahr massiv expandiert, und für mich bedeutet das, dass sich das Pensum fast verdoppelt hat.“

Er erwähnte nicht, dass es ihn ganz erheblich entlasten würde, wenn sein Vater sich um all die Dinge kümmerte, die in seinen Aufgabenbereich fielen. Jonathan Hathaway war zwar der Chef von Hathaway Baking, Inc., doch in Wahrheit leitete Bryce als Vizepräsident das Unternehmen nun praktisch allein.

Tara seufzte unüberhörbar. „Kann ich dich wenigstens dazu überreden, später zum Abendessen rüberzukommen? Nur wir beide?“

„Es ist niemand da, um auf die Mädchen aufzupassen.“

„Ich könnte auch zu dir rüberkommen“, schlug sie leise vor.

Was sollte er entgegnen, ohne ihre Gefühle zu verletzen? „Ich wollte für heute Abend nur ein paar Hamburger mitbringen. Die Mädchen dürften nach dem Tag ziemlich müde sein.“

„Ich meinte ja auch nicht, dass du für mich kochen solltest, Dummkopf. Keine Sorge, ich bringe etwas mit. Du musst dich um gar nichts kümmern. Es gibt mein berühmtes Limonenhühnchen auf Reis, außerdem den Schokoladenkuchen, den du so gern magst.“

Warum sträubte er sich nur so sehr gegen ihre Vorschläge? Es war fast schon peinlich, und deshalb antwortete er mit mehr Enthusiasmus, als er in Wahrheit verspürte: „Das hört sich großartig an. Ich stelle Wein für uns kalt.“

Nachdem sie sich auf sechs geeinigt und das Telefonat beendet hatten, saß Bryce nachdenklich da. Er würde etwas unternehmen müssen, und das schon bald.

Es war nicht fair, Tara immer länger hinzuhalten, besonders da er sich dabei von Mal zu Mal unbehaglicher fühlte. Er wusste, sie erwartete mehr von ihm, und wenn es niemals zu diesem Mehr kommen sollte, musste er ihr das auf eine Weise klarmachen, die nicht gleich auch das Ende ihrer Freundschaft nach sich zog.

Lange würde er mit einer Entscheidung nicht mehr warten können.

Amy seufzte zufrieden. Eben hatten sie das Mittagessen beendet, und nun lagen sie und Lorna auf einer Decke im Schatten einer großen Eiche. Auf die Ellbogen gestützt, sahen sie den Kindern zu, die durch den flachen Bach wateten.

Zuerst war Amy nicht davon begeistert gewesen, ihre Tochter allein ins Wasser zu lassen, doch ihr wurde schnell klar, dass sie sich unnötige Sorgen machte. Das Wasser stand keine zehn Zentimeter hoch, außerdem wurde Calista die ganze Zeit über entweder von Susan oder von Stella an der Hand gehalten.

„Die Mädchen hätten bestimmt gern eine kleine Schwester“, bemerkte Lorna.

„Wenn dein Bruder und Tara heiraten, bekommen sie ja vielleicht noch eine“, meinte Amy. Und dann würde sie selbst vermutlich ohne Job dastehen. Der Gedanke hatte eine ernüchternde Wirkung auf sie.

Lorna verzog das Gesicht. „Ich hoffe inständig, dass er sie nicht heiratet.“

„Was magst du eigentlich nicht an ihr?“

„Vor allem, dass sie total egoistisch ist. Sie interessiert sich im Grunde genommen für keinen anderen Menschen, erst recht für keine andere Frau. Bei Männern gibt sie sich um jeden Preis charmant, aber einer Frau würde sie nicht mal die Uhrzeit sagen. Natürlich tut sie so, als sei sie an meinen Schwestern und mir interessiert. In Wahrheit macht sie das nur wegen Bryce. Wenn er nicht da ist, sind wir Luft für sie.“

Amy setzte sich auf und legte die Arme um ihre Beine. Es war ein wundervoller Tag, Calista lachte ausgelassen mit den älteren Mädchen, die im Bach umherliefen, dass das Wasser nur so spritzte.

„Mit ist sogar schon der Gedanke gekommen“, fuhr Lorna fort und setzte sich ebenfalls auf, „dass sie insgeheim bestimmt gejubelt hat, als sich ihre Eltern scheiden ließen, weil sie von da an die einzige Frau im Leben ihres Vaters war. Aber bei Jake hat sie sowieso schon immer die erste Geige gespielt. Du musst nur einmal darauf achten, wie er ihr jeden Wunsch von den Augen abliest.“

„Wann ließen sich ihre Eltern denn scheiden?“

„Als Tara sechzehn war. Ihre Mutter zog sofort zurück nach Houston, heiratete ein knappes Jahr danach erneut und ist seitdem mit ihrem zweiten Mann glücklich. Tara blieb bei ihrem Vater auf der Ranch.“

„Glaubst du, Bryce und Tara werden heiraten?“

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Das Thema ist für mich tabu. Die Beziehung zwischen den beiden geht mich nichts an, deshalb halte ich mich da ganz heraus. Natürlich wäre es etwas anderes, wenn Bryce mich nach meiner Meinung fragen würde.“

„Was würdest du ihm dann sagen?“

„Dass er vor Tara die Flucht ergreifen soll.“

Autor

Patricia Kay
Patricia Kay hat bis heute über 45 Romane geschrieben, von denen mehrere auf der renommierten Bestsellerliste von USA Today gelandet sind. Ihre Karriere als Autorin begann, als sie 1990 ihr erstes Manuskript verkaufte. Inzwischen haben ihre Bücher eine Gesamtauflage von vier Millionen Exemplaren in 18 verschiedenen Ländern erreicht!
Patricia ist...
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