Julia Collection Band 87

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IM TRAUMHAUS UNSERER LIEBE von FERRARELLA, MARIE
Für die Renovierung seines Hauses beauftragt der erfolgreiche Unternehmer Philippe Zabelle die Baufirma J.D. Wyatt. Nur entpuppt J. D. sich als Frau - und zwar als eine ganz hinreißende, die nicht nur sein Haus, sondern sein gesamtes Leben auf den Kopf stellt.

SAG JA ZUR LIEBE, VIENNA von FERRARELLA, MARIE
In letzter Sekunde wird Vienna von Dr. Georges Armand aus einem brennenden Autowrack befreit. Dankbar küsst sie ihren Lebensretter - und verspürt ein ungeahnt sinnliches Prickeln. Doch das darf nicht sein. Denn Georges hat den Ruf, ein unverbesserlicher Playboy zu sein …

MEIN RETTENDER ENGEL BIST DU! von FERRARELLA, MARIE
Alain Dulac liebt Luxus und versteht nicht, wie die warmherzige Tierärztin Kayla es in ihrem einfachen Landhaus ohne Strom aushält. Aber nach einem Unfall ist er auf ihre Hilfe angewiesen und muss mit ihr unter einem Dach leben. Und findet das mit einem Mal ganz reizvoll …


  • Erscheinungstag 13.11.2015
  • Bandnummer 87
  • ISBN / Artikelnummer 9783733703431
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marie Ferrarella

JULIA COLLECTION BAND 87

1. KAPITEL

„Wann reparierst du endlich das Waschbecken mit dem Sprung?“

Beau de la Croix ließ sich zurück auf seinen Platz am Pokertisch sinken. Er richtete die scheinbar harmlose Frage an seinen Cousin Philippe Zabelle, den Gastgeber ihrer wöchentlichen Pokerrunde.

Beau und ein paar andere Verwandte und Freunde kamen regelmäßig zu Philippe, um sich zu unterhalten, etwas zu essen und um auf das launenhafte Kartenglück zu wetten. Sie benutzten dazu bunte Zahnstocher anstelle von Chips oder Geld. Das waren nun einmal die Hausregeln, und Philippe, der sonst eher ein lässiger Zeitgenosse war, wachte streng über ihre Einhaltung.

Angesichts der unschuldigen, aber doch provozierenden Frage zog er die dunklen Augenbrauen über seinen hellgrünen Augen leicht nach oben. Beau hatte einen wunden Punkt getroffen, und jeder am runden Tisch wusste das.

„Wenn ich dazu komme“, erwiderte er tonlos.

„Hoffentlich ist das nicht so bald der Fall“, kommentierte Philippes Halbbruder Georges Armand das kleine Wortgefecht und versuchte dabei, sich ein Grinsen zu verkneifen. „Wenn der Hausherr sich daran zu schaffen macht, dann bedeutet das definitiv das Ende des Waschbeckens.“

Philippe, der älteste von drei Brüdern, richtete einen eisigen Blick auf den zwei Jahre jüngeren Georges. „Willst du damit sagen, dass ich handwerklich unbegabt bin?“

Alain Dulac, der dritte im Bunde und so blond wie Philippe dunkel, krümmte sich vor Lachen bei der Vorstellung, dass sein Halbbruder tatsächlich ein Werkzeug in der Hand hielt. „Du liebe Zeit, Philippe! Wenn handwerkliches Geschick in Los Angeles zu finden ist, dann strampelst du gerade irgendwo im Atlantik herum, so weit bist du davon entfernt! Und vermutlich bist du gerade am Ertrinken!“, brachte er schließlich mühsam hervor.

Georges warf zwei Karten auf den Tisch und blickte kurz unzufrieden auf das Blatt in seiner Hand. „Zwei“, entschied er laut. Dann schaute er Philippe an, der rechts von ihm saß. „Jeder weiß, dass du viele Talente besitzt, mein Lieber, aber praktisches Geschick gehört nun mal nicht dazu.“

Der Gastgeber wollte sich die Spötteleien eigentlich nicht zu Herzen nehmen, aber sie trafen ihn trotzdem. Er selbst hätte sich am ehesten als freien Denker charakterisiert. Als einen Mann, der niemanden aufgrund von Geschlecht, Abstammung oder Beruf in eine Schublade steckt. Bei einer Mutter wie der schillernden Künstlerin Lily Moreau, neben der selbst die exzentrische Modeschöpferin Vivienne Westwood wie eine Klosterschülerin aussehen würde, war diese Sichtweise aber auch kein Wunder.

Trotzdem machte ihm die Tatsache zu schaffen, dass er kaum den Unterschied zwischen einem einfachen Schlitzschraubenzieher und einem Kreuzschlitzschraubenzieher kannte. Ein Mann musste solche Dinge doch wissen. Das stand nun einmal unwiderruflich irgendwo in einem großen Buch mit Regeln für richtige Männer geschrieben.

Über die Tatsache, dass er weder zu einer Automotor-Reparatur in der Lage war noch sich zu helfen wusste, wenn sein Fahrzeug nicht starten wollte, ärgerte er sich allerdings nicht besonders. Schließlich gab es viele Männer, die überhaupt keine Ahnung vom Innenleben ihres besten Stücks hatten.

Aber dass er sich im eigenen Haus nicht selbst nützlich machen konnte, das war noch mal eine ganz andere Sache.

Auf diesem Gebiet besaß Philippe nicht den Hauch einer natürlichen Begabung und auch keine erlernte. Er war einfach immer zu beschäftigt gewesen. Zum einen mit seinem Studium, zum anderen als Vater- und Mutterersatz für seine beiden Brüder, wenn Lily mal wieder unterwegs war. Entweder reiste sie mit einer ihrer Ausstellungen durch die Lande oder – und das kam genauso häufig vor – mit einem Mann.

In seiner Jugend und auch noch danach hatte er allzu oft die Rolle eines ausgleichenden Puffers zwischen den ständig wechselnden Kindermädchen und seinen zwei jüngeren Brüder einnehmen müssen.

Nachdem sie endlich ihre rebellischen Teenagerjahre hinter sich gebracht hatten, konnten Georges und Alain ihm gegenüber zugeben, dass allein Philippe normale Menschen aus ihnen gemacht hatte. Oder zumindest relativ normale Menschen. Sie liebten ihre Mutter. Aber sie wussten auch, was sie an ihrem älteren Bruder hatten.

Was sie nicht davon abhielt, ihn zu ärgern, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Ihre Zuneigung zu dem Mann, den sie als Familienoberhaupt anerkannten, schien dieses Verhalten sogar geradezu herauszufordern.

„Eine“, verlangte Alain, nachdem er eine Karte weggelegt hatte. Nach einem kurzen Blick auf die neue sah er zu Philippe auf.

Mit einem Gesichtsausdruck, und das wusste Philippe nur zu genau, der jedes weibliche Herz höher schlagen ließ. Keines der Mädchen an Alains Universität konnte sich diesem Charme entziehen. Zweimal im Jahr bekam der Ältere eine Rechnung über die Studiengebühren, jedes Mal zahlte er bereitwillig.

„Könnte ich die alte wiederhaben?“, scherzte Alain.

Philippe rang sich kein Lächeln ab. „Nachdem du mich so beleidigt hast?“

„Das war doch keine Beleidigung, Philippe“, antwortete sein Cousin Remy.

Der Geologe ergriff damit Partei für den gleichaltrigen Alain. „Alain hat nur die Wahrheit gesagt. Hey“, fügte er schnell hinzu, denn er wollte auf keinen Fall den Mann verärgern, den sie alle bewunderten, „wir haben dich alle sehr gern, Philippe. Aber du weißt doch bestimmt, dass du niemals der Erste bist, den einer von uns anruft, wenn er einen verstopften Abfluss hat.“

„Oder eine Schranktür, die nicht mehr richtig schließt“, rief Vincent Mirabeau von der Küche aus herüber. „So eine wie die hier.“

Zur Veranschaulichung versuchte Vincent, auch er ein Cousin von Philippe und das Patenkind von Lily, die Schranktür so gut es ging zu schließen. Sie quietschte und klemmte, am Ende hing sie wieder in ihrer alten, schiefen Position. „Meiner Meinung nach solltest du in den sauren Apfel beißen und dein Haus renovieren lassen.“

Remy setzte zwei Zahnstocher. „Oder wenigstens das Badezimmer und die Küche.“

Philippe legte sein Blatt ab und sah seine Brüder und Cousins lange an. „Was gefällt euch nicht an meinem Haus?“, fragte er und betonte dabei jedes Wort.

Nachdem er seine Softwarefirma gegründet hatte, konnte er sich das Haus vom ersten ersparten Geld kaufen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er wusste sofort, dass der Grundriss wie für ihn und seine Brüder gemacht war. Von der Straße aus und flüchtig betrachtet, wirkte sein Anwesen wie ein einziges riesiges Haus. Nur wer etwas genauer hinsah, konnte erkennen, dass es in Wirklichkeit aus drei miteinander verbundenen Gebäuden bestand.

Eine zentrale Tür führte in Philippes Apartment.

An den Seiten des Hauses gab es separate Eingänge zu den Wohnungen von Georges und Alain. So verfügte jeder über sein eigenes Reich, gleichzeitig waren aber auch alle in Rufweite, wenn mal wieder ein spontanes Familientreffen einberufen wurde. Was keine Seltenheit war, mit einer Mutter wie Lily kam so etwas häufiger vor als in anderen Familien.

„Uns gefällt dein Haus, Philippe, das weißt du doch“, beeilte sich Beau zu sagen. Schließlich wussten alle in der Runde, wie sehr ihr Gastgeber sein Zuhause liebte. „Aber ein guter Handwerker könnte mit Sicherheit hier und da noch was verbessern.“

Philippes Gesichtszüge entspannten sich immer noch nicht.

„Hey, hör mal, mein Lieber“, drängte Remy, „jedes Mal, wenn man den Wasserhahn in der Küche aufdreht, klingt das, als ob jemand die ersten fünf Takte von ‚When the Saints come marching in‘ schmettert.“

Bevor Philippe protestieren konnte, drehte Remy den Hahn über der Küchenspüle auf. Ganz allmählich floss heißes Wasser heraus, aber erst, nachdem ein seltsam schepperndes Geräusch durch die Röhren gegurgelt war.

Philippe seufzte. Er brauchte sich gar nicht vorzumachen, dass er jemals dazu kommen würde, den Wasserhahn zu reparieren. Mit welchem Handwerkszeug musste man dabei überhaupt zu Werke gehen? Er wusste nur, wie man den Hahn auf- und zudrehte. Darüber hinaus hatte er keine Ahnung, wie eine Mischbatterie funktionierte.

Schwungvoll warf er einen pinkfarbenen Zahnstocher auf den Haufen, auf dem schon rote, blaue, grüne und gelbe lagen. „Möchte noch jemand setzen?“

Vincent schüttelte den Kopf, dann legte er seine Karten ab. „Ich steige aus.“

„Ich bin auch draußen“, folgte Remy.

Beau aber setzte sein schönstes Lächeln auf. „Dein Zahnstocher plus einen grünen.“

Philippe nahm einen grünen von seinem geschrumpften Stapel und zögerte kurz. Grün stand für fünf Cents. Höher ging er bei einem Einsatz normalerweise nicht. Sein Vater, Jon Zabelle, war schließlich ein charmanter, aber auch ein unheilbarer Spieler gewesen.

Der Mann hatte die Familie beim Zocken beinahe in den Ruin getrieben. Er war dafür verantwortlich, dass Lily Moreau für eine kurze Zeit regelrecht in ärmlichen Verhältnissen leben musste. Die Episode hatte einen entscheidenden Einfluss auf Philippes jetziges Verhalten. Obwohl sie sich nur über drei Monate erstreckt hatte und obwohl diese Ereignisse mittlerweile lange zurücklagen. Aber sie machten ihm bewusst, dass sein zeitweiliges Verlangen nach Spieleinsätzen kein gutes Zeichen war.

Mit dieser Vorwarnung ging Philippe die Dinge entschieden an. Er mochte Karten- und andere Glücksspiele. Aber niemals standen für ihn mehr als eine Handvoll bunter Zahnstocher im Wert von wenigen Cents auf dem Spiel. Der Verlierer am Tisch bezahlte seine Rechnung am Ende damit, dass er Aufgaben für andere erledigte. Auf keinen Fall sollte das Spiel mit einem Gang an den Geldautomaten enden. Das waren die Regeln des Hausherrn, und die wurden bereitwillig angenommen.

„Ich gehe mit“, erklärte Philippe und warf einen grünen Zahnstocher auf den Haufen in der Mitte des Tisches.

„Drillinge“, sagte Beau stolz und legte zwei schwarze und eine rote Neun aus.

„Hab ich auch“, erwiderte Philippe, legte drei Vieren und zwei Damen daneben und murmelte beiläufig: „Oh, ich hab ja auch noch ein Pärchen.“

Beau fand das gar nicht witzig und starrte auf Philippes Blatt. „Fullhouse, du hast vielleicht immer ein Glück!“ Dann schob er den „Pott“ mit dem buntem Mix aus Zahnstochern zu seinem ältesten Cousin hinüber.

„Na, löst du diesmal deine Gewinne ein und bezahlst davon die Renovierung deines Hauses?“, stichelte Remy, als der Hausherr die verschiedenen Farben sortierte und auf kleinere Stapel verteilte.

Philippe schaute gar nicht zu seinem Cousin auf. „Ich hab keine Zeit für die Suche nach einem vernünftigen Bauunternehmer.“

Vincent grinste von einem Ohr zum anderen und zog sein Portemonnaie aus der hinteren Jeanstasche. „So ein Zufall. Hier hab ich doch tatsächlich die Karte eines Bauunternehmers.“

Philippe hörte auf zu sortieren und fühlte sich, als ob er reingelegt worden wäre. „Tatsächlich?“

„Ja, tatsächlich. Jemand, der J. D. Wyatt heißt“, erwiderte Vincent. „Ein Freund von mir hat einige Arbeiten bei sich zu Hause von ihm erledigen lassen. Es soll alles ziemlich schnell gegangen sein, und der Preis soll weit unter dem der Konkurrenz gelegen haben.“

Ein gutes oder auch ein schlechtes Zeichen. Philippe war klar, was dahinter stecken konnte: Entweder hatte der Bauunternehmer die Arbeit sehr nötig, oder aber er verwendete zweitklassiges Material. Wenn er sich dazu entschloss, diesen J. D. zu beauftragen, würde er sicher ein Auge auf ihn haben müssen.

Philippe hing noch einen Moment lang schweigend seinen Gedanken nach. Er wusste einfach, dass seine Brüder und seine Cousins ihn so lange nerven würden, bis er schließlich einwilligte. Und er wusste auch, dass eine Renovierung schon seit Langem anstand. Ihn ärgerte nur, dass jemand anderes die Arbeit erledigen musste.

Besser so, als wenn du es selbst versuchst und dabei alles vermasselst und einen richtig dicken Schaden anrichtest, Philippe!

Seine innere Stimme siegte. Er würde es einfach mal riskieren. Schließlich wollte er auch nicht warten, bis sein Zuhause zum Katastrophengebiet erklärt werden musste. Das würde erst recht nicht zu ihm passen. Er konnte das Ganze ja jederzeit abbrechen, wenn es nicht so ablief, wie er es wollte. „Und, hat dieser J. D. auch eine Telefonnummer?“

Das war Vincents Stichwort. „Ja, klar.“ Er zog blitzschnell die Visitenkarte aus seiner Geldbörse und überreichte sie seinem Cousin.

„Was für ein glücklicher Zufall“, sagte Remy geheimnisvoll, und als sein Cousin ihn verstört ansah, fügte er noch hinzu: „Zufälle gibt es ja eigentlich gar nicht.“

„Was sind das denn für Weisheiten?“, wollte Philippe wissen.

„Es gibt keine Zufälle, es gibt nur ein Karma“, gab Remy schlagfertig zum Besten.

Jetzt wurde es Philippe aber wirklich zu bunt. Er glaubte nicht an diese Dinge.

Karma! So ein Ausdruck gehörte eher zum Wortschatz seiner Mutter. Lily und ihre Tarotkarten, Teeblätter, geistigen Medien, einfach alles, was sie angeblich mit ihrer eigenen Vergangenheit in Verbindung bringen konnte. Philippe liebte seine Mutter sehr, aber er hatte sein halbes Leben damit verbracht, möglichst anders als sie zu werden. Und anders als sein Vater.

Darum hatte er auch seiner künstlerischen Begabung, die er ohne jeden Zweifel geerbt hatte, stets den Rücken zugewandt. Auf keinen Fall wollte er so sein wie seine Mutter!

Lily Moreau hatte ihren Erstgeborenen dazu überredet, einen Pinsel in die Hand zu nehmen, bevor sie ihm eine Zahnbürste zeigte. „Als erfolgreicher Künstler kannst du dir jederzeit neue Zähne kaufen!“, verkündete sie strahlend.

Aber er beharrte auf seinem Standpunkt, gab nie nach und weigerte sich erfolgreich, irgendetwas zu zeichnen oder zu malen. Ob in Lilys Anwesenheit oder alleine. Nur wenn er geistesabwesend oder ein bisschen gelangweilt war, zum Beispiel wenn er gerade telefonierte, brachte er sehr hübsche Zeichnungen zu Papier.

Um danach und so schnell wie möglich jeden Beweis für sein Talent zu vernichten.

„Okay“, sagte er, nickte und steckte das kleine Stück Papier in seine Hosentasche. „Sobald ich dazu komme, rufe ich diesen J. D. an.“

„Bevor das Waschbecken im Bad in zwei Teile zerbricht?“, fragte Georges.

Philippe nickte abermals. „Bevor das Waschbecken in zwei Teile zerbricht“, versprach er. Er nahm das Kartenspiel wieder in die Hand und sah seine Freunde an. „Also, möchte jetzt hier noch jemand pokern, oder wollt ihr alle nur rumsitzen und über mein Haus herziehen?“

„Alle, die lieber über Philippes Haus herziehen möchten, Hände hoch“, rief Georges.

Alle Hände schossen sofort in die Höhe, aber Philippe nahm nur Georges ins Visier. Er griff sich eine Handvoll Chips und warf sie ihm entgegen. Sein Bruder lachte und tat es ihm nach.

So entwickelte sich aus der Pokerrunde eine Essensschlacht, in der jegliches essbare Material auf dem Tisch sowie sämtliche Zahnstocher zum Einsatz kamen.

Das Resultat war ein unglaubliches Chaos und lautes Gelächter.

Ein paar Stunden später löste sich die Pokerrunde ganz allmählich auf. Vorher hatten aber noch alle bei der Beseitigung der Unordnung geholfen.

Danach ging jeder wieder seiner Wege. Alain kehrte zu seinen Gesetzestexten zurück, und Georges erklärte, er habe noch ein spätes Date. Und zwar ein „äußerst vielversprechendes“.

Remy, Vincent und Beau wollten, wie sie sagten, höchstens noch für ein halbes Stündchen in ihrer Stammkneipe vorbeigucken.

Für Philippe war es eigentlich noch zu früh, um ins Bett zu gehen. Aber er schlug sich in letzter Zeit mit Abgabefristen und lästigen Computerviren herum, das zehrte an ihm. Diese Viren ließen sich einfach nicht vernichten, egal, wie geschickt er gegen sie zu Felde zog. Sein neuestes Softwarepaket sollte aber auf jeden Fall einwandfrei sein, bevor er es an seinen Auftraggeber ablieferte. Die Frist lag wie ein bedrohlicher Schatten auf ihm.

Er musste nicht so hart arbeiten. Er wollte so hart arbeiten. Philippe hatte vor fünf Jahren ein Softwarepaket entworfen, das mittlerweile in der Werbebranche als die Nummer eins galt und das ihm ein kleines Vermögen beschert hatte. Seine Software war äußerst modern und effizient, und an ihr wurden nun alle anderen Programme für dieselben Anwendungsbereiche gemessen.

Er hatte es also eigentlich gar nicht nötig, weiterhin seinen harten, beinahe asketischen Lebenswandel aufrechtzuerhalten. Aber das Wort Müßiggang war ein Fremdwort für ihn, er mochte es, beschäftigt zu sein, Dinge zu gestalten und einen festen Tagesablauf mit jeweils kleinen Zielen zu haben.

Auch in dieser Hinsicht war er ganz anders als sein Vater. Der hatte nie etwas gegen das Nichtstun einzuwenden gehabt.

Lily Moreaus zweiter Mann, Georges Vater, war ein sogenannter Selfmademan. Ein Millionär, der sein Vermögen mit einem edlen Parfüm verdient hatte, das bei sehr reichen Damen reißenden Absatz fand. André Armand war ein Mann, der bis in den Mittag hinein schlief und bis in den Morgen hinein feierte. Aber ihm verdankte Philippes Familie ihren jetzigen Wohlstand.

Noch vor seiner Heirat mit Lily hatte André heimlich Pläne für Philippes Zukunft geschmiedet. Als dann das Eheversprechen gegeben war, hatte er seinen Stiefsohn gänzlich unter seine Fittiche genommen. Er betrachtete ihn als seinen Schützling und wollte ihm alles beibringen, was er sich selbst beigebracht hatte.

Philippe merkte aber schon als Teenager, dass er seinen Stiefvater zwar gerne mochte, dass er sein eigenes Leben aber ganz anders führen wollte als André. Er kam zu dem Schluss, dass er trotz Reichtum immer eine sinnvolle Aufgabe in seinem Leben brauchte.

Seine beiden Brüder hatte er unzählige Male aufgefordert: „Macht etwas aus eurem Leben! Ihr müsst ja keine Weltrekorde aufstellen, aber strengt euch an und macht das Beste aus euch! Sonst seid ihr nur ein Haufen Materie, der ziellos durch den Weltraum irrt.“

Philippe griff in seine Hosentasche und fühlte ein Stück Papier zwischen seinen Fingern. Er zog es heraus und brauchte erst einmal eine Sekunde, um zu verstehen, was er in der Hand hielt und wo das Kärtchen herkam.

Der Bauunternehmer.

Richtig.

Wenn er den Anruf nicht jetzt gleich erledigte, würde er die Angelegenheit bestimmt wieder vergessen. Das Leben brachte ihm jeden Tag so viel Neues. Besonders wenn es wieder einmal hieß, dass Lily, auch „Hurrikan-Lily“ genannt, in der Stadt war und sicher bald bei ihm auftauchen würde. Da konnte ein Anruf bei einem Bauunternehmer schon mal in Vergessenheit geraten.

Mach es jetzt gleich oder vergiss es wieder.

Philippe haderte kurz.

Dann ging er aber doch zum nächsten Telefon, nahm den Hörer in die Hand und schaute vorher auf seine Uhr. Er wollte sichergehen, dass es nicht zu spät war. Kurz vor zehn. Früh genug also. Er wählte die in grünen Lettern auf die Karte gedruckte Nummer.

Am anderen Ende läutete es. Dreimal. Keiner hob ab.

Philippe wollte gerade auflegen, als er doch noch ein kurzes Knacken vernahm.

Gleich darauf sang die melodischste Stimme, die er je gehört hatte, in den Hörer: „Sie sind verbunden mit J. D. Wyatts Büro, das zurzeit leider nicht besetzt ist. Bitte hinterlassen Sie Ihre Nummer und eine detaillierte Nachricht mit Ihren Wünschen. Wir werden Sie schnellstmöglich zurückrufen.“

Offensichtlich hatte Wyatts Sekretärin das Band besprochen, oder, noch wahrscheinlicher, seine Frau. Der sinnliche Ton ihrer Stimme verführte Philippe zu Gedanken über seine Wünsche, die aber in diesem Moment nicht das Geringste mit irgendwelchen Renovierungsarbeiten in seinem Haus zu tun hatten. Eher mit einer Renovierung seines Körper. Oder vielleicht auch seiner Seele, musste er sich eingestehen.

Philippe knüpfte in letzter Zeit hin und wieder Bekanntschaften mit Frauen an. Dabei legte er großen Wert auf das Wort Bekanntschaften. Niemals würde er sie als Beziehungen bezeichnen, denn so konnte man sie nicht nennen. Beziehungen brauchten Zeit, Engagement und den Einsatz von Gefühlen.

Er hatte einfach zu viele davon zerbrechen sehen, vor allem im Leben seiner Mutter. Auch in ihrem Leben hatte es durchaus dauerhafte Liebesbeziehungen gegeben, besonders mit Alains Vater und mit einem Mann namens Alexander Walters. Aber so schön sie es auch fand, einen Mann in ihrer Nähe zu haben, sie blieb doch immer die rastlose Lily.

Egal, wie gut eine Partnerschaft funktionierte, irgendwann verspürte sie immer den Drang, sie zu beenden. Dann ließ sie die Liebe hinter sich wie eine Schlange ihre alte Haut. Und jedes Mal war sie weitergezogen. Dabei hatte sie es immerhin geschafft, trotz der Scheidungen ihren drei Ehemännern freundschaftlich verbunden zu bleiben.

Lily schien Beziehungen zu brauchen wie die Luft zum Atmen. Besonders Beziehungen in ihren Anfangsstadien. Sie liebte es, verliebt zu sein.

Philippe dagegen verspürte nie das Bedürfnis nach dieser Art von Aufregung. Er wollte dem Schmerz, etwas beenden zu müssen, in das man so viele Gefühle gesteckt hatte, aus dem Weg gehen. Also vermied er das Risiko schon im Vorfeld. So einfach war das.

Gefühle konnten nicht verletzt werden, wenn man keine entwickelte – auf beiden Seiten nicht. Ganz allmählich war es für ihn selbstverständlich geworden, rein oberflächliche Beziehungen zu führen. Er knüpfte eine Bekanntschaft an und genoss sie, ohne nach dem Morgen zu fragen. Und dann zog er weiter.

Er wusste es nicht besser.

Der Piepton am anderen Ende der Leitung weckte ihn aus seinen Tagträumen. „Ähm, hier spricht Philippe Zabelle.“ Anschließend ratterte er seine Telefonnummer herunter. „Ein Freund hat mir Ihre Nummer gegeben. Ich möchte zwei meiner Badezimmer renovieren lassen. Wenn es Ihnen passt, schauen Sie doch morgen so gegen sieben Uhr bei mir vorbei.“

Langsam und deutlich sprechend hinterließ er seine Adresse. „Wenn ich nichts von Ihnen höre, erwarte ich Sie morgen. Bis dann.“

Philippe legte auf. Er hasste es, sich mit Maschinen zu unterhalten. Selbst wenn sie eine sexy Stimme hatten. Als er die Treppe hinauf zu seinem Schlafzimmer ging, dachte er über die moderne Zeit nach. Darüber, dass sich die Menschen heutzutage viel zu weit voneinander entfernten und dass sie viel zu viele Arbeiten von Maschinen erledigen ließen.

Er musste lächeln. Ein ziemlich merkwürdiger Gedanke von einem Mann mit einem Job wie seinem. Er lächelte noch immer. Die Welt war wirklich ein seltsamer Ort.

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen kam Philippe gar nicht erst zum Atemholen.

Normalerweise konnte er sich auf seine innere Uhr verlassen. An Arbeitstagen wachte Philippe sonst immer um halb sechs auf. Aber als er sich an diesem Morgen nach dem Aufwachen umdrehte und einen Blick auf den Wecker warf, konnte er kaum glauben, was er sah.

Leuchtend rot zeigten die Ziffern 7.46 Uhr an.

Er fiel förmlich aus dem Bett, spurtete unter die Dusche und beschloss, sich gar nicht erst mit einer Rasur aufzuhalten. Genau eine Minute vor acht war er in der Küche.

Wenn noch Brot im Haus gewesen wäre, hätte er sich Toast und Rührei gemacht. Oder gekochte Eier. Stattdessen bestand sein Frühstück aus einem letzten Rest Kaffee vom vorhergehenden Tag und ein paar Scheiben hartem Schweizer Käse.

Er lehnte sich gegen die Arbeitsfläche und schüttelte den Kopf. Es war so weit. Er musste sich in das Unvermeidliche fügen. Er brauchte eine Haushälterin. Eine Frau, die einmal in der Woche vorbeikam, die Einkäufe erledigte und ein bisschen putzte. Mehr war gar nicht nötig.

Als Philippe den letzten Bissen Käse hinuntergeschlungen hatte, ging er zum Telefon. Zehn Minuten später hatte er in der örtlichen Tageszeitung und auf der dazugehörigen Website eine Anzeige geschaltet. Darin suchte er nach einer erfahrenen Haushälterin, einmal die Woche, für leichte Hausarbeit.

Stirnrunzelnd legte er den Hörer auf die Basisstation.

Die Entscheidung, jemanden einzustellen, der in seine Privatsphäre eindringen würde, fiel ihm nicht leicht. Aber das war ein notwendiges Übel. Sein Geschäft ging gut und nahm ihn stark in Anspruch. Da blieb nicht einmal mehr Zeit für das Notwendigste – wie Einkäufe zu erledigen.

Eigentlich hätte er auch eine Stellenanzeige für einen Assistenten aufgeben können, überlegte Philippe, als er das geordnete Chaos seines Arbeitszimmers betrat. Sekunden später war er völlig in die Programmiersprache vertieft und nahm seine Umgebung überhaupt nicht mehr wahr.

Hin und wieder brauchte sein Gehirn im Laufe des Tages eine Pause. Oder ein Magenknurren machte ihn darauf aufmerksam, dass sein Bauch sich vernachlässigt fühlte. Woraufhin Philippe sich für gewöhnlich auf der Suche nach etwas Essbarem in die Küche begab.

Heute bestand sein Lunch aus Brezeln. Die hatten eine Nacht lang auf der Ablage herumgelegen und waren dementsprechend weich. Sein Abendessen war auch nicht üppiger. Aber was er zu sich nahm, war ihm meistens auch herzlich egal.

Einzig seine Arbeit war jetzt wichtig. Und er kam gut voran, was ihm, wie immer, ein Gefühl der Genugtuung gab. Genau wie die Tatsache, dass er ganz alleine die Programme erstellte, die künstlerische Ausstattung gestaltete, selbst die Bedienungsanleitungen und Hilfedateien entwarf.

Mit einem tiefen Seufzer schaltete Philippe den Computer aus. Er erhob sich und ging in die Küche, um mit der letzten Flasche Bier das Ende eines äußerst produktiven und äußerst anstrengenden Tages zu feiern.

Als er gerade einen Blick in den Kühlschrank warf, hörte er die Türklingel. Es war Punkt sieben, und seine Brüder und seine Freunde wussten, dass er normalerweise um diese Zeit dem Computer den Rücken kehrte. Offensichtlich wollte einer von ihnen ihm einen Besuch abstatten.

Das war ihm recht. Im Augenblick konnte er ein bisschen Gesellschaft vertragen. Vielleicht könnten sie ja zusammen einen Happen essen gehen.

„Hallo“, rief er fröhlich und griff nach der Türklinke.

Einen Augenblick später wurde ihm klar, dass seine lebhafte Begrüßung einer ihm unbekannten Person gegolten hatte. Einer äußerst attraktiven, ihm völlig fremden Frau. Sie trug ein blaues Sweatshirt und ausgeblichene Jeans. Und diese Jeans schmiegten sich so eng an ihren Körper, dass sie damit als Werbefigur in jedem Laden für reißenden Absatz sorgen würde. Die Fremde hielt die Hand eines kleinen Mädchens, das ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Genau wie die Frau war das Mädchen zierlich und sehr, sehr blond. Er vermutete, dass sie ungefähr fünf Jahre alt war.

Philippe betrachtete erneut das herzförmige Gesicht der Besucherin. Er musste sich räuspern, ehe er fragen konnte: „Kann ich Ihnen helfen?“

Kornblumenblaue Augen musterten ihn. In dem Augenblick erinnerte er sich daran, dass er barfuß war und das erstbeste T-Shirt anhatte, das ihm am Morgen in die Finger gekommen war. Wenn man dann noch den Dreitagebart und die abgetragenen Jeans berücksichtigte, sah er wahrscheinlich nicht viel besser aus als ein Obdachloser.

Philippe warf einen Blick auf das kleine Mädchen. Anstatt sich zu fürchten, grinste sie zu ihm hinauf. Die Frau wirkte deutlich skeptischer. Ohne sich zu rühren, blieben sie und das Kind auf der Türschwelle stehen.

Gerade als er seine Frage wiederholen wollte, antwortete sie – und ihre Worte verunsicherten ihn nur noch mehr. „Ich bin wegen des Jobs hier.“

„Was für ein Job?“, wiederholte er verwirrt. Dann traf es ihn wie ein Blitz. Die Frau mit den vollkommenen Lippen und dem makellosen Teint sprach von der Anzeige, die er erst an diesem Morgen aufgegeben hatte.

„Oh, der Job“, wiederholte er, einigermaßen erleichtert, weil das Rätsel gelüftet war. Sie wollte ihre Dienste als Haushaltshilfe anbieten. Schöne Frauen standen normalerweise nicht wie aus heiterem Himmel auf seiner Türschwelle. Es sei denn, sie wollten zu Georges. „In Ordnung. Klasse. Kommen Sie rein“, bat er und trat einen Schritt zurück, um den beiden Platz zu machen.

Die Frau schien immer noch zu zögern. Dann drückte sie ihre Handtasche enger an sich und trat ein.

„Ich heiße Kelli, und du?“ Die Frage kam von dem Mädchen.

Er senkte seinen Blick und erwiderte: „Philippe.“

Sie nickte, als ob sein Name ihre Billigung fand.

Ihm fiel auf, dass sie sehr ausdrucksvolle Augen hatte, fast wie die einer Erwachsenen. Kelli war die Neugier in Person und nahm ihre Umgebung genau unter die Lupe. Wenn man sie nicht festhielt, würde sie wahrscheinlich sofort auf Entdeckungsreise gehen. Ihre Augen waren genauso blau wie die ihrer Mutter.

„Ist das dein Haus?“, fragte die Kleine.

Er unterdrückte ein Lächeln und spürte, wie seine Mundwinkel zuckten. „Ja.“

Sie schaute zu der Treppe hinauf, die in den ersten Stock führte. „Sieht groß aus.“

Philippe fragte sich, ob die Frau ihrer Tochter beigebracht hatte, an ihrer Stelle bestimmte Fragen zu stellen. Die unschuldigen Fragen von Kindern konnte man nicht so leicht übergehen.

Daher richtete er seine Antwort an die Mutter und nicht an das Kind.

„Nicht wirklich“, versicherte er. „Es wirkt von außen viel größer, als es ist. Aber mir gehört nur das mittlere Haus.“ Er breitete die Arme aus. „Das hier sind eigentlich drei Häuser, die nur wie ein einziges aussehen.“

Die Erklärung rief bei der Fremden ein Stirnrunzeln hervor, eine kleine Falte genau zwischen ihren Augenbrauen. Sie warf ihm einen Blick zu, der Ungeduld verriet. „Ich bin mit der Bauweise vertraut“, antwortete sie mit sanfter Stimme.

„Gut.“

Er hatte noch nie eine Haushälterin gehabt und keine blasse Ahnung, wie er sich benehmen sollte, ohne wie ein Idiot zu wirken. Nach einem Verlegenheitsräuspern meinte Philippe forsch: „Dann wissen Sie ja, dass hier nicht besonders viel Arbeit ansteht.“

Die Frau lächelte, als hätte sie gerade einen schlechten Witz gehört.

Philippe fand ihr Lächeln angenehm, sah nicht nur Spott in ihren Gesichtszügen. Sonst hätte er sich möglicherweise gekränkt gefühlt.

„Ich will nicht unhöflich sein, Mr Zabelle“, sagte sie, während sie das Wohnzimmer und was sie sonst noch vom Inneren des Hauses sehen konnte, einer Musterung unterzog. „Aber das kann ich wohl selbst beurteilen.“ Sie wandte sich zu ihm um. „Natürlich erst, sobald Sie mir sagen, was Sie sich vorgestellt haben.“

Er hatte keine Ahnung, warum er sich beinahe auf die Zunge biss. Vielleicht lag es daran, wie sie ihn ansah. Oder an der Zweideutigkeit ihrer Bemerkung. Sie war jedenfalls ganz anders als alle Haushälterinnen, die für seine Mutter gearbeitet hatten.

„Haben Sie so was schon mal gemacht?“, fragte er. Seiner Erfahrung nach waren Haushälterinnen meistens ältere Damen, eher der mütterliche Typ. Diese hier war weder das eine noch das andere.

Sie schaute ihn an, als ob er sie gerade beleidigt hatte. „Ja“, antwortete sie. „Ich habe Empfehlungen. Ich kann sie Ihnen vorlegen, sobald wir das Grundsätzliche geklärt haben.“

Er nickte, obwohl ihm nicht ganz klar war, wie er die Zeit finden sollte, den Inhalt der Schreiben zu überprüfen. Die Frau wartete ganz offensichtlich darauf, dass er ihren zukünftigen Aufgabenbereich erläuterte. Er tat sein Bestes. „Nun ja, ich werde Sie um nichts bitten, was Sie nicht schon mal gemacht haben.“

Sie blinzelte und fragte: „Wie bitte?“

Philippe versuchte es noch einmal. „Ich meine, es geht nur um das Übliche. Ein bisschen Staub wischen.“ Er zuckte die Achseln und überlegte. „Und einmal die Woche einkaufen.“

Der Besucherin blieb der Mund offen stehen. Trotzdem wirkte sie verdammt sinnlich. Mit etwas Verspätung wurde ihm klar, dass er immer noch nicht ihren Namen kannte.

„Aber ich …“, setzte sie an.

„Sie putzen keine Fenster?“, beendete er ihren Satz. „Das geht in Ordnung. Ich habe eine Firma beauftragt, die das zweimal im Jahr macht. Ich brauche nur jemanden zum Saubermachen – nichts Großartiges“, versicherte er ihr eilig. „Die meiste Zeit verkrieche ich mich sowieso in meinem Arbeitszimmer.“

Er deutete mit dem Daumen nach hinten. „Und es wäre mir lieber, wenn Sie da gar nicht erst reingehen.“

Sie schüttelte den Kopf, als ob sie sich durch seine Antworten abgestoßen fühlte. „Mr Zabelle, ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor.“

Er wollte nicht, dass ein Irrtum vorlag. Er wollte, dass sie den Job annahm. Wieder und wieder Bewerbungsgespräche führen zu müssen, das konnte und wollte er sich einfach nicht vorstellen.

Philippe versuchte, ihrem Kommentar auf den Grund zu gehen. „Sie arbeiten nur Vollzeit, oder?“

„Wenn ich arbeite, dann ja.“

Philippe hielt inne und überlegte. „Ich brauche aber nicht wirklich eine Vollzeitkraft.“

„Ich glaube, was Sie brauchen, ist ein Übersetzer.“

Ihre Antwort verwirrte ihn.

Aber eher er das auch nur andeuten konnte, fuhr sie fort: „Wenn ich einen Job anfange, dann bringe ich ihn auch zu Ende, Mr Zabelle.“

Nun, das ist ja eigentlich lobenswert, dachte er. Aber er würde sie trotzdem nicht als Vollzeitkraft anstellen. „Das ist bewundernswert. Aber wie ich schon sagte, ich brauche wirklich nur einmal die Woche jemanden.“

Anstatt seine Wiederholung einfach so hinzunehmen, stemmte sie die Hände in die Hüften. „Und warum, wenn ich fragen darf?“

Vielleicht handelte es sich doch um einen Irrtum. „Weil es einfach nicht genug für Sie zu tun gibt“, sagte er kurz und bündig. „Außerhalb meines Büros bin ich ziemlich ordentlich.“

Sie schüttelte den Kopf. „Was hat das denn damit zu tun?“

„Mir ist klar, dass Sie wahrscheinlich immer das gleiche Honorar verlangen, egal, ob Sie für einen Chaoten oder für einen pingeligen Typen arbeiten …“

Sie unterbrach ihn, ehe er ausreden konnte. „Meine Rechnungen beruhen darauf, was meine Kunden verlangen, Mr Zabelle, und nicht darauf, ob sie schlampig oder ordentlich sind.“

In Philippes Ohren klang das alles irgendwie viel zu persönlich für ein Gespräch über gelegentliches Putzen.

Ihre Blicke begegneten sich. Je länger er sie betrachtete, umso weniger wirkte sie wie eine Haushälterin. In welcher Rubrik war seine Anzeige gelandet? Und wenn sein Verdacht zutraf, warum um Himmels willen brachte sie dann ihre Tochter zu dieser Art Vorstellungsgespräch mit?

Er kniff die Augen zusammen. „Habe Sie meine Nummer bei den Kontaktanzeigen gefunden?“

Er bemerkte, wie ihre Hand sich fester um die ihrer Kleinen schloss.

„Mommy, du zerdrückst mir ja die Finger“, beschwerte sich das Mädchen.

„Tut mir leid“, murmelte sie, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Sie schaute ihn an, als ob sie vielleicht doch den Rückzug antreten sollte. Schleunigst. „Ihre Nummer war auf meinem Anrufbeantworter, Mr Zabelle“, sagte sie mit einer plötzlich ärgerlich klingenden Stimme.

Okay, jetzt war er vollends verunsichert. „Auf Ihrem Anrufbeantworter?“ Das ergab überhaupt keinen Sinn. „Ich habe die Zeitung doch erst heute Morgen angerufen.“

Sie legte den Kopf schief, als ob ihr die Geste helfen würde, sich einen Reim auf die ganze Geschichte zu machen. „Wegen was?“

„Na, wegen der Anzeige“, sagte er genervt.

„Was für eine Anzeige?“, fragte sie. Sie hörte sich an, als ob sie kurz davor war, die Geduld zu verlieren.

Philippe holte tief Luft. Dann sprach er ganz langsam und vorsichtig. Er betonte jedes Wort, als ob er mit jemandem redete, der geistig nicht voll auf der Höhe war: „Die … Anzeige … wegen … der … Sie … hier … sind.“

Ihre Stimmlage schnellte um eine Oktave nach oben. „Ich bin nicht wegen irgendeiner Anzeige hier. Ich …“

Plötzlich machte es Klick! in seinem Kopf. Ihre Stimme kam ihm bekannt vor. Er hatte sie schon einmal gehört. Vor Kurzem.

Philippe hob die Hand, um sie zu unterbrechen. „Stopp. Moment mal.“ Er musterte sie eindringlich und versuchte, sein Gedächtnis auf Trab zu bringen. Aber da tat sich nichts. „Wer sind Sie?“

Ein geräuschvoller Atemzug ging ihrer Antwort voraus. Dann sprach sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich bin J. D. Wyatt. Sie haben mich angerufen, weil Ihr Badezimmer umgebaut werden soll.“

Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Er wusste, wann er diese Stimme schon einmal gehört hatte – am Telefon, erst am vergangenen Abend. „Sie sind J. D. Wyatt?“

J. D. richtete sich zu ihrer vollen Größe auf.

Er hatte den Eindruck, dass sie eine derartig erstaunte Nachfrage schon des Öfteren gehört hatte – und keinerlei Verständnis dafür aufbrachte.

„Ja.“

Sich vergewissernd, dass er die Situation wirklich erfasst hatte, hakte er nach: „Sie sind nicht wegen des Jobs als Haushälterin hier?“

„Als Haus …“ Oh Gott, jetzt ergab das alles einen Sinn. Die wöchentlichen Einkäufe, das Putzen. Es lag eine ganz harmlose Verwechslung vor – und eine, die sie ärgerte. „Nein, ich bin nicht wegen einer Anstellung als Haushälterin hier. Ich bin Bauunternehmerin.“

„Ich habe gedacht, ich rufe bei einem Handwerker an.“

J. D. zuckte die Achseln. Sie hatte ihr ganzes Leben in einer Männerwelt verbracht und die meiste Zeit darum kämpfen müssen, in dieser Welt anerkannt zu werden. „Eine Handwerkerin“, korrigierte sie ihn.

Philippe fühlte sich immer unbehaglicher. Es war schlimm genug, handwerklich ungeschickt zu sein und sich einem anderen Mann unterlegen zu fühlen. Aber sich einer Frau mit einem Werkzeuggürtel nicht ebenbürtig zu fühlen? Er war sich nicht sicher, ob er der Situation gewachsen war.

Irgendwie fühlte er sich betrogen. „Wofür steht denn J. D.?“

Sie beäugte ihn eine Zeit lang. Als würde sie überlegen, ob sie ihm das Geheimnis anvertrauen sollte oder nicht. „Janice Diane.“

„Und warum steht das dann nicht auf Ihrer Karte?“, fragte er. „Ihnen ist doch klar, dass Sie damit Ihre Kunden hinterlistig hinters Licht führen, oder?“

„Meine Mama ist nicht hinterlistig!“, begehrte Kelli ungnädig auf und schob sich zwischen ihre Mutter und ihn.

„Kelli, sei still“, beruhigte J. D. das Kind. „Es ist alles okay.“ Als sie zu Philippe aufsah, verdunkelte sich ihre Miene. „Daran ist nichts hinterlistig. Das sind meine Initialen.“

„Sie wissen genau, was ich meine. Sie lassen die Leute glauben, dass sie einen Mann anstellen.“

Das ist doch der Sinne der Sache, dachte sie. Dieser Mann mochte vielleicht äußerlich so richtig zum Anbeißen sein, aber er war dumm wie Bohnenstroh.

„Niemand ruft eine Janice Diane an, um seine Toiletten reparieren oder die Kacheln im Kamin erneuern zu lassen. Aber J. D. rufen sie an. Für dieselbe Arbeit. Vorurteile bestimmen unsere Welt, Mr Zabelle. Und eines dieser Vorurteile besagt, dass Männer mit Werkzeugen umgehen können und Frauen nicht. Ihre Reaktion bestätigt das mal wieder. Sie haben geglaubt, dass ich hier bin, um Ihr Haus zu putzen, und nicht, um es zu renovieren.“

Es behagte ihm gar nicht, dass sie recht hatte. Aber ihm fiel einfach keine Erwiderung ein, die seinen Stolz noch retten konnte. „Nun ja, ich …“

Selbst wenn ihm noch etwas auf der Zunge gelegen hätte, sie ließ ihn gar nicht erst ausreden.

„Ich habe mein ganzes Leben mit Werkzeugen gearbeitet“, fuhr sie mit vor der Brust gekreuzten Armen fort. „Also, wie sieht es aus? Hindern Ihre Vorurteile Sie daran, die beste Handwerkerin anzuheuern, der Sie in Ihrem ganzen Leben begegnet sind? Oder entpuppen Sie sich als moderner Mann und zeigen mir, was hier genau zu tun ist?“

Das war eine klare Herausforderung. Sie hoffte, er würde darauf eingehen.

Aus den Augenwinkeln konnte Janice erkennen, wie Kelli jede ihrer Bewegungen nachahmte. Sie kreuzte sogar die Arme vor ihrer Brust.

Nebeneinander und sehr einträchtig wirkend standen Mutter und Tochter vor dem Hausherrn und warteten auf eine Antwort.

Philippe kämpfte innerlich mit zwei völlig unterschiedlichen Reaktionen.

So lange er denken konnte, hatte man ihm eingehämmert – und daran hatte er schließlich auch geglaubt –, dass es außer ein paar zu vernachlässigenden biologischen Geschlechtsmerkmalen keinen wesentlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen gab. Seine Mutter hatte stets und mit Entschiedenheit behauptet, dass Frauen all das konnten, wozu auch Männer in der Lage waren.

Aber er verspürte noch eine andere, genauso starke Reaktion. Er war überzeugt davon, dass Männer die geborenen Anführer und Beschützer waren. Diese Auffassung hatte sich bei ihm herausgebildet, als er noch sehr jung war. Seine Mutter hatte sich stets von einer Beziehung zur nächsten gehangelt. Während er dafür sorgte, dass ihr Zuhause nicht im Chaos versank und dass seine Brüder zur Schule gingen und nicht in Schwierigkeiten gerieten. Und bei Bedarf war es seine Schulter, an der seine Mutter sich ausweinte.

Daher war er in der Überzeugung aufgewachsen, dass es einfach bestimmte Dinge gab, die Männersache waren. Und das galt, zumindest im weiteren Sinne, auch für handwerkliche Tätigkeiten. Frauen hatten für diese Arbeiten keine natürliche Begabung. Zumindest keine größere als ein Mann.

Philippe schwankte zwischen zwei Möglichkeiten. Er konnte sich entscheiden, seinem Stolz nachzugeben, oder aber er konnte fair sein.

In diesem Augenblick hörte er förmlich die Stimme seiner Mutter.

Verdammt, Philippe, ich habe dir bessere Manieren beigebracht. Gib dem Mädchen eine Chance. Um Himmels willen, sie hat ein Kind. Außerdem ist sie doch ganz niedlich. Wäre doch gar nicht schlecht, sie in der Nähe zu haben.

Zumindest konnte es nicht schaden, wenn er sich von J. D. einen Kostenvoranschlag geben ließe. Wenn der ihm nicht zusagte, wäre die Sache damit erledigt. Er konnte gerade noch einen Seufzer unterdrücken, bevor er nickte. „In Ordnung. Dann zeige ich Ihnen mal das Badezimmer.“

Philippe führte sie zunächst an der Küche vorbei in den hinteren Teil des Hauses. Irgendwie schaffte es Kelli, sich an ihm vorbeizumogeln, als sie das Badezimmer betraten, mit dem alles angefangen hatte, in dem das Waschbecken einen Sprung hatte.

Die Hände an den Türrahmen gelegt, schaute sich die Kleine um, ehe ihre Mutter sie aufhalten konnte. Mit einer sehr erwachsenen, sehr betrübt klingenden Stimme erklärte sie: „Das sieht aber gar nicht schön aus.“

Sie drehte sich um und sah lächelnd zu ihm auf. Als wollte sie ihm versprechen, dass alles gut wird. „Aber mach dir keine Sorgen. Mama macht es dir hübsch. Sie ist richtig gut.“

Philippe zog eine Augenbraue hoch. „Ihre PR-Beraterin?“, fragte er. Ganz gegen seinen Willen musste er schmunzeln.

Lächelnd fuhr Janice ihrer Tochter liebevoll durch das seidige blonde Haar. „Eher meine ganze persönliche Cheerleaderin.“

Kelli machte einen Schritt und zog ihre Mutter in den kleinen rechteckigen, leicht muffigen Raum hinein. „Komm schon, Mommy, sag ihm, was du machst, damit es hier richtig hübsch wird.“

„Ich glaube nicht, dass Mr Zabelle unbedingt ein hübsches Badezimmer haben will, Süße.“

Das Mädchen kräuselte die Lippen. Offensichtlich dachte sie über die Bemerkung ihrer Mutter nach. Dann sah sie Philippe mit ihren hellen blauen Augen an, musterte ihn eindringlich und entschied schließlich im Brustton kindlicher Überzeugung: „Alle mögen hübsche Sachen.“

Philippe verfügte nur über einen äußerst kleinen Erfahrungsschatz im Umgang mit Kindern. Eigentlich hatte er nur seine Erinnerungen an seine eigene Kindheit. Und an die Kindheit seiner Brüder, die er praktisch großgezogen hatte. Aber all das lag jetzt schon lange zurück.

Zu lange, um sich daran noch deutlich zu erinnern.

Da Kelli sich wie eine zu kurz geratene Erwachsene benahm, behandelte er sie auch so und erwiderte: „Das hängt ganz davon ab, was du mit hübsch meinst.“

Ihr rosiger Mund verzog sich wieder zu einem Lächeln. Diesmal schaute sie zu ihrer Mutter auf und kicherte. „Der ist aber komisch, Mommy.“

Janice legte ihre Hand auf Kellis Schulter und beugte sich nach unten. „Er ist mein Kunde, Kelli, und wir reden nicht über ihn, als ob er nicht da wäre, wenn er genau neben uns steht.“

„Eine gute Regel“, sagte Philippe zustimmend. Dann entschied er sich, selbst eine Frage zu stellen. „Bringen Sie Ihre Tochter immer zu den Verhandlungen mit Ihren Kunden mit?“

„Mein Babysitter hatte eine Verabredung.“

Vermutlich war das eine annehmbare Erklärung. Aber sie hätte ihren Terminplan ändern sollen. „Schön für sie.“

„Ihn“, verbesserte sie. „Schön für ihn“, fügte sie hinzu, als er sie fragend anblickte. „Mein Babysitter ist mein Bruder Gordon.“

Philippe wusste nicht, was er davon halten sollte. Das war viel mehr, als er über diese Frau wissen musste oder wollte. Sollte er sie wirklich anheuern, dann wollte er nur auf geschäftlicher Ebene mit ihr zu tun haben.

Aber das würde gar nicht so einfach sein, wurde ihm im nächsten Augenblick klar. Das kleine Mädchen nahm seine Hand und teilte ihm strahlend mit: „Ich habe keinen Bruder. Hast du einen?“

Er nahm an, dass Kellis Mutter sich einmischen und ihre Tochter ermahnen würde, Fremden gegenüber nicht so vorlaut zu sein. Aber J. D. blieb stumm, und die Kleine wartete offensichtlich auf eine Antwort.

„Ja“, sagte er schließlich. „Zwei.“

„Leben die auch hier?“, fragte Kelli. Sie machte den Eindruck, als ob sie drauf und dran wäre, sich auf die Suche nach seinen Brüdern zu begeben.

Er wandte sich der Handwerkerin zu. „Meinen Sie nicht, Sie sollten ihr beibringen, Fremden gegenüber nicht so offenherzig zu sein?“

Janice hatte es noch nie gemocht, wenn man ihr sagte, was sie tun und lassen sollte. Sie musste darum ringen, ihren Ärger nicht zu offensichtlich zu zeigen. Schließlich wollte sie ihn als Kunden gewinnen. Aber was gab ihm das Recht, sich in ihre Erziehung einzumischen?

Als sie endlich antwortete, sprach sie in dem gleichen ruhigen Tonfall, den er auf dem Anrufbeantworter gehört hatte. „Kelli weiß, dass sie nicht mit Fremden sprechen soll, wenn sie allein ist – und ich lasse sie nie allein. Außerdem kann sie andere Menschen sehr gut einschätzen.“

Also das fand er jetzt doch schwer zu glauben. „Wie alt ist sie denn?“

Er macht sich über sie lustig, dachte Janice. Aber Kelli, davon war ihre Mutter überzeugt, hatte wirklich einen ungewöhnlichen Spürsinn. Unangenehmen Zeitgenossen gegenüber zeigte sie sich außerordentlich schüchtern.

„Das Alter spielt bei so etwas nicht immer eine Rolle“, erklärte sie. Ihr Bruder Gordon hatte zum Beispiel in etwa ein so gutes Urteilsvermögen wie ein zwei Monate alter Labradorwelpe. „Manchmal braucht man einfach nur gute Instinkte.“

Und das war genau das, was ihrem Bruder im Umgang mit Frauen fehlte. Immer wieder schleppte er merkwürdige Frauen an, die nur auf sein Geld aus waren. Das Traurige daran war, dass er auf diesem Auge blind war. Und wenn sie es wagte, etwas zu dem Thema zu sagen, hielt Gordon sie für spießig.

„Wie wäre es, wenn wir jetzt das Geschäftliche besprechen?“, schlug Janice vor. Weil sie vor dem Termin keine Zeit für die Zubereitung des Abendessens gehabt hatte, wollte sie diese Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen.

„Soll mir recht sein“, meinte Philippe und deutete auf das Waschbecken. Der Sprung war nicht zu übersehen, er reichte von einem Ende zum anderen. „Das muss ersetzt werden.“

Anstatt sich das Becken näher anzusehen, nahm Janice in aller Ruhe das gesamte Badezimmer unter die Lupe und kam zu dem Ergebnis, dass an dem Raum mit der zu klein geratenen Duschkabine vermutlich dreißig Jahre lang nichts verändert worden war. Der beste Beweis dafür war der Teppichboden, typisch für die frühen siebziger Jahre.

Sich wieder Philippe zuwendend, sagte sie: „Also, mein Eindruck ist, dass das Badezimmer eine vollständige Renovierung vertragen könnte.“

An eine Generalüberholung hatte er bisher noch keinen Gedanken verschwendet. „Ach?“

Sie nickte, als ob er ihr zugestimmt hatte. „Die Kacheln sind sehr langweilig.“ Sie deutete auf die Wand. „Da sieht man gleich, wie alt das Design ist. Genau wie bei dem Teppich. Und an ein paar Stellen ist der Mörtel aus den Fugen gebrochen. Der ist vermutlich im Laufe der Jahre beim Putzen abgeschabt worden.“

Ihre Vermutung beruhte auf der Tatsache, dass es keine sichtbaren Schimmelspuren gab. Sich selbst überlassen, hatten die meisten Männer Badezimmer, die man als Pilzfarm nutzen konnte. „Wer auch immer hier fürs Putzen zuständig ist, er geht außerordentlich gründlich zu Werke. Aber mit der Zeit hinterlässt das Schrubben eben so seine Spuren auf den Kacheln und dem Fugenmörtel.“

Er war sich nicht ganz sicher, ob sie ihm gerade ein Kompliment gemacht hatte, oder ob sie versuchte, mehr über sein Privatleben herauszufinden. Aber egal. Mit den Schultern zuckend, antwortete er: „Ich besorge mir einfach was zum Sprühen – wenn ich dran denke.“

Die beiläufige Erklärung beeindruckte J. D. „Ein Mann, der sein eigenes Badezimmer saubermacht, meine Hochachtung.“

Sie hörte sich an, als würde sie einem Fabelwesen gegenüberstehen.

„Ich muss dafür sorgen, dass mein Bruder Sie kennenlernt.“

Das war so ziemlich das Letzte, was Philippe vorschwebte – es sei denn, ihr Bruder gehörte zu ihren Mitarbeitern. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass sie ihn irgendwie dazu gebracht hatte, sich die Sache mit der Komplettrenovierung durch den Kopf gehen zu lassen.

Vielleicht war eine Rundumerneuerung ja gar nicht so verkehrt. Eine Minute lang betrachtete er sie schweigend. „Also, nur mal angenommen …“

„Ja?“, fragte sie begeistert. In Gedanken drückte sie sich selbst die Daumen.

„Falls ich das Badezimmer renovieren lasse …“, bei näherer Betrachtung wirkte es in der Tat reichlich abgewohnt und farblos, „… was würde so etwas kosten?“

Auf diese Frage gab es keine einfache Antwort. „Das hängt davon ab, was Sie wollen.“

Noch vor fünf Minuten hab ich überhaupt nichts gewollt. „Nichts Großartiges“, sagte er laut. „Ich würde eben alles durch etwas Neueres ersetzen lassen.“

Sie warf einen Blick auf den ausgetretenen Teppichboden. Wie hatte man den jemals auch nur für annehmbar halten können? „Und Kacheln für den Fußboden.“

Es überraschte ihn nicht, dass J. D. ausgerechnet den Bodenbelag ansprach. In Gedanken hatte er bereits damit gespielt, ihn herrichten zu lassen. Sobald er mal dafür Zeit hatte. Der Teppichboden hatte ihm ohnehin nie gefallen. Wenn man nasse Füße hatte, weichte er vollständig durch.

„Und Kacheln für den Fußboden“, wiederholte er zustimmend. Wenigstens schienen sie sich im Grundsatz einig zu sein.

„Die Qualität der Armaturen wirkt sich natürlich auf die Gesamtsumme aus“, gab Janice zu bedenken.

„Einfach nur eine Schätzung“, bat er. Dann fügte er hinzu: „Was Sie ungefähr für die Arbeitsstunden verlangen. Ich nehme an, dass ich für das Material das Gleiche bezahlen muss wie Sie.“

„Mehr“, korrigierte sie ihn.

Er schaute sie fragend an.

„Es sei denn, Sie haben eine Zulassung als Bauunternehmer in der Tasche“, erläuterte sie.

Er hakte seine Daumen in die Hosentaschen. „Also bekomme ich Prozente, wenn ich Sie anstelle?“

Wenn man zu viel Druck ausübte, wusste Janice aus Erfahrung, vergraulte man potenzielle Kunden. Das hatte sie von ihrem Vater gelernt. „Mich oder irgendeinen anderen Bauunternehmer.“

„Okay, also wie sieht das dann bei Ihnen unterm Strich aus?“

Nach einer kurzen Pause, in der sie die ganze Angelegenheit im Kopf überschlagen und alle Posten zusammengezogen hatte, gab sie ihm eine erste Schätzung.

Philippe starrte sie ungläubig an. „Und das meinen Sie ernst?“

„Ja, warum?“

Sie hatte ihm einen Betrag genannt, der viel zu niedrig klang. Sogar wenn es sich nur um ihre Arbeitsstunden ohne die Materialkosten handelte. „Wie kommen Sie bei solchen Preisen über die Runden?“

Vor Erleichterung leise seufzend, wurde Janice klar, dass er nicht zu den Geizkragen gehörte. Nicht zu denen, die glaubten, alles runterhandeln zu müssen.

„Keine hohen Nebenkosten“, witzelte Janice ohne zu zögern. Dann wagte sie sich noch ein wenig weiter vor. „Wollen Sie vielleicht noch irgendetwas anderes renovieren lassen?“

„Ich habe eigentlich nicht mal vorgehabt, das Bad renovieren zu lassen“, teilte er ihr mit und hielt plötzlich inne. Ihr Kostenvoranschlag war viel vernünftiger gewesen, als er erwartet hatte. „Oben sind noch zwei.“

„Sie haben drei Badezimmer?“, fragte Kelli mit großen Augen.

Er hatte keine Ahnung, warum das kleine Mädchen diese Tatsache so verwunderlich fand. „Ja.“

„Wir haben nur zwei“, vertraute sie ihm an. „Und Onkel Gordon ist immer in einem von beiden.“

Janice bemerkte, wie ihr Gegenüber die Augenbrauen hochzog und sie fragend anblickte. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck vermitteln, dass Gordon eigenartig war. „Mein Bruder lebt bei uns, bis er wieder auf die Füße kommt. Er hat es nicht leicht gehabt in der letzten Zeit.“ Also von seiner Geburt bis zum heutigen Tag, fügte sie in Gedanken hinzu.

Zabelle schien diese Auskunft nicht weiter zu beunruhigen. „Wenigstens hat er seine Familie.“

Der Kommentar überraschte sie. Janice hatte nicht erwartet, dass er so etwas sagen würde – immerhin eine einfühlsame Bemerkung.

Vielleicht war der Typ doch gar nicht so übel.

„Ja“, stimmte sie mit einem Hauch von Begeisterung zu, als sie den Treppenabsatz erreichte. „Übrigens …“, bemerkte sie, lehnte sich gegen die Außenwand des Badezimmers und schaute ihn an, „… ich habe Ihre Küche gesehen.“

„Und?“

„Die könnte es auch vertragen, ein bisschen hergerichtet zu werden.“

„Hier geht es eigentlich nur um ein Waschbecken mit einem Sprung“, rief Philippe ihr in Erinnerung.

Janice wusste aus Erfahrung, dass es nie nur um ein Waschbecken mit einem Sprung ging. Wenn es erst einmal dazu gekommen war, mussten auch andere Dinge in einem Haus repariert und ersetzt werden. „Ich dachte, dass der älteste Sohn von Lily Moreau für konstruktive Vorschläge offener sein würde – auch wenn sie von einer Frau mit Werkzeuggürtel stammen.“

Seine Augen weiteten sich vor Überraschung.

„Ich verfüge über einen Internetanschluss“, erklärte sie leichthin. „Und ich versuche, so viel wie möglich über neue Kunden herauszufinden, ehe ich mich mit ihnen treffe.“

Ihm fiel auf, dass ihr das Wort „neu“ wie beiläufig über die Lippen kam, während sie das Wort „Kunde“ betonte. Sie schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein.

Trotzdem, er mochte es gar nicht, wenn jemand versuchte, seine Entscheidungen für ihn zu treffen.

„Also, machst du seine Badezimmer hübsch, Mama?“, fragte Kelli vom Rücksitz aus, als sie endlich von Philippe Zabelles Haus wegfuhren.

Janice trat leicht auf die Bremse, als sie sich einer roten Ampel näherten, und warf einen Blick in den Rückspiegel. Kelli strampelte mit den Füßen im Kindersitz, als ob sie abheben wollte. Jeden Moment konnte sie mitsamt ihrem Sitz in die Luft gehen.

Kinder hatten wirklich mehr Energie, als gut für sie war. „Ja, mein Liebling. Das mache ich.“

„Die Küche auch?“ Ihre Tochter klang ganz aufgeregt.

Es überraschte sie immer wieder, wie genau Kelli zuhörte. Andere Kinder hätten wahrscheinlich gar nicht bemerkt, was um sie herum vorging. Zu schade, dass Gordon nicht bei seiner Nichte Nachhilfe nehmen konnte.

„Ja, auch die Küche.“

Das war knapp gewesen. Aber dann hatte sie Zabelle doch noch überzeugen können, dass auch seine Küche reif war für einige Veränderungen. In Wirklichkeit konnte das ganze Haus eine Renovierung vertragen. Aber sie war zufrieden mit ihrem Verhandlungsergebnis. Drei Badezimmer und eine Küche. Jetzt brauchte sie nur noch ihren Computer, und sie konnte mit den Entwürfen anfangen.

„Und was noch?“, erkundigte sich Kelli.

„Das ist im Moment alles, Süße.“

Sie war eine gute Handwerkerin und hatte noch eine Bauunternehmerlizenz aus der Zeit, als sie für die relativ große Firma ihres Vaters gearbeitet hatte. Aber Janice wusste, dass sie mit einem deutlichen Nachteil zu kämpfen hatte. Philippe Zabelle war nicht der einzige Mann, der sich skeptisch zeigte, wenn es darum ging, eine Frau für Renovierungsarbeiten anzustellen. Ihr eigener Vater war genauso gewesen. Ganz egal, wie oft sie ihre Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte.

Ihr Vater hatte Gordon immer vorgezogen. Als er starb, hatte er die Firma seinem Sohn hinterlassen. Im Testament von Jake Wyatt gab es keine einzige Regelung zu ihren Gunsten oder zu Gunsten ihres Babys.

Gordon hatte ungefähr so viel Interesse an der Firma wie eine Bisamratte an einem Nerzmantel. Sobald er nicht mehr unter der Fuchtel ihres Vaters stand, war ihr Bruder außer Rand und Band geraten. Er hatte sich vom Geschäft ab- und seiner wahren Leidenschaft zugewandt: Frauen. Anderthalb Jahre nach dem Tod ihres Vaters gehörte die Firma Wyatt Construction der Bank, weil Gordon hoch in ihrer Schuld stand.

Und sie, eine Witwe mit einem kleinen Kind und einem abgebrochenen Studium, hatte um den Unterhalt für sich und Kelli kämpfen müssen.

Anfangs war sie so verzweifelt gewesen, dass sie jeden Job angenommen hatte. Dabei merkte sie schnell, dass sie es verabscheute, als Verkäuferin oder Kellnerin oder in einem Dutzend anderer Jobs ohne Zukunft zu arbeiten. Sie sehnte sich danach, wieder das zu tun, worin sie gut war und was ihr Spaß machte. Darum gab sie in der örtlichen Tageszeitung Anzeigen auf und hängte auf allen öffentlichen Plakatwänden Werbezettel auf. So konnte sie nach und nach wieder Fuß fassen.

Aber bei jedem Auftrag, den sie ergatterte, musste sie all ihre Überredungskünste aufbieten. Jedes Mal musste sie den Kunden erst überzeugen, dass sie genauso gut wie jeder männliche Handwerker war – höchstwahrscheinlich sogar besser.

„Mama“, ertönte hinter ihr eine schrille, genervte Kinderstimme. „Ich hab dich was gefragt.“

Ihre Blicke begegneten sich im Rückspiegel. Janice tat ihr Bestes, um schuldbewusst zu schauen. „Tut mir leid, Baby. Ich hab nur kurz an was anderes gedacht. Was möchtest du wissen?“

„Will er mehr?“

Eine Sekunde lange hatte Janice keine Ahnung, wovon Kelli gerade redete. „Wer?“

Sie hörte, wie die Kleine lautstark aufseufzte. Um nicht laut herauszulachen, presste sie ihre Lippen zusammen. Manchmal hatte sie beinahe das Gefühl, dass sie und ihre Tochter die Rollen vertauschten.

„Der Mann mit dem hübschen Gemälde, Mama.“

„Mit dem hübschen Gemälde?“, wiederholte Janice völlig verwirrt und versuchte vergeblich, sich an ein ungewöhnliches Bild zu erinnern.

„Im Wohnzimmer. Da war ein großer blauer See und Bäume – hast du das nicht gesehen, Mama?“, fragte Kelli ungeduldig.

„Anscheinend nicht.“

Kunst war die große Leidenschaft ihrer Tochter. Das kleine Mädchen malte, seit sie einen Stift halten konnte. Die ersten Kreise und Strichmännchen waren schnell erkennbaren Formen und Figuren gewichen. Schönen Figuren, die für das Alter der kleinen Künstlerin außerordentlich viel Persönlichkeit ausstrahlten.

Janice’ größter Wunsch war es, Kellis Talent zu fördern und sie auf eine gute Kunstschule zu schicken. Sie sollte niemals durchmachen müssen, was ihre Mutter erlitten hatte. Ihre Begabungen sollten nicht abgetan, abgewertet und ignoriert werden.

„Ich schau es mir an, wenn ich das nächste Mal da bin“, versprach sie und hielt kurz inne, bevor sie fragte: „Du redest doch von Mr Zabelles Haus, oder?“

Kelli seufzte noch mal. „Genau.“ Aber dann kehrte sie wieder zu dem zurück, was sie ursprünglich hatte sagen wollen. „Vielleicht will er, dass du mehr für ihn machst, wenn er merkt, wie gut du bist.“

„Das wäre schön“, sagte Janice laut. Aus genau diesem Grund hatte sie dem Mann eine ganze Wagenladung Kataloge dagelassen, in denen nicht nur Küchen und Badezimmer abgebildet waren. Man sollte die Hoffnung nie aufgeben.

„Wenn du mehr machen kannst, haben wir dann genug Geld für ein Pony?“, fragte Kelli.

Ah, wieder das Thema „Pony“. Noch eine Leidenschaft, nur mit noch viel weniger Aussicht auf Erfolg. Aber sie spielte mit. Das war einfacher, als die Hoffnungen ihrer Tochter zu zerstören. „Noch nicht, Süße. Ponys brauchen ein besonderes Zuhause und spezielles Futter, erinnerst du dich?“

Der Blondschopf nickte. „Wann haben wir genug Geld für ein Pony?“

„Ich sag dir Bescheid“, versprach Janice.

Sie bog in eine Seitenstraße ein und warf dabei einen Blick auf ihre Hand. Drei Wochen nach Neujahr hatte sie ihren Ring ins Pfandhaus bringen müssen, um ihre Rechnungen bezahlen zu können. Sie vermisste den Schmuck noch immer. Der Januar war ein schlechter Monat fürs Geschäft. Ein Monat, in dem sich die Leute darauf konzentrierten, die Schulden zu bezahlen, die über Weihnachten aufgelaufen waren. Der Ausbau und die Renovierung von Zimmern wurden auf später verschoben.

Wenn von Zabelles Auftrag Geld übrig blieb, würde sie es verwenden, um das Schmuckstück wiederzubekommen. Der Stein war zwar wertvoll, aber nicht besonders groß. Gary hatte ihn für sie ausgesucht, und allein aus diesem Grund liebte sie ihren Verlobungsring.

Ihr wurde wehmütig ums Herz. Sie und Gary hatten sich von einer Woche zur anderen verlobt. Nur zwei Wochen später heirateten sie, weil seine Kompanie auf die andere Seite der Welt in den Krieg geschickt wurde. Er war nie zurückgekommen.

Sein Tod lag jetzt fünf Jahre zurück. Trotzdem ging es ihr immer noch nicht besser. Aber sie tat alles, was nötig war, um sich und ihre gemeinsame Tochter aus eigener Kraft zu ernähren. Den Ring ins Pfandhaus zu bringen, war zu dem Zeitpunkt die einzige Lösung gewesen. Die Rechnungen mussten schließlich bezahlt werden. Ohne Dach über dem Kopf für sich und Kelli würde auch er keine große Bedeutung mehr haben.

„Wo ist denn Ihre Cheerleaderin?“, fragte Philippe zwei Abende später, als J. D. alleine bei ihm vor der Tür stand. Er lehnte sich gegen den Türstock und lugte um die Ecke, für den Fall, dass sich das kleine Mädchen versteckt hatte.

„Daheim“, lautete die Antwort.

Er trat zurück und ließ Janice eintreten.

„Mein Babysitter hat heute Abend mal keine Verabredung“, erklärte sie. „Kelli wäre allerdings gern mitgekommen. Ich glaube, sie mag Sie“, fuhr sie fort und ging ins Wohnzimmer, wo sie vor einem riesigen Gemälde stehen blieb.

Liebe Güte, das war aber groß. Wie hatte sie das Bild nur bei ihrem ersten Besuch übersehen können?

Weil ich mich darauf konzentriert habe, diesen Job an Land zu ziehen.

Janice wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Gemälde zu. Es war atemberaubend. „Mit Sicherheit weiß ich allerdings, dass sie Ihr Gemälde mag.“

„Das Gemälde meiner Mutter“, verbesserte er sie. „Ich richte ihr aus, dass sie einen neuen Fan hat. Sie ist bestimmt entzückt, wenn sie hört, dass sie endlich an die ganz Kleinen rankommt. Die meisten Kinder bemerken ein Kunstwerk nicht mal. Es sei denn, man schleppt sie mit Gewalt in ein Museum.“

„Die meisten Kinder fangen doch auch nicht an zu zeichnen, wenn sie gerade mal drei Jahre alt sind“, entgegnete Janice.

Fragend warf er ihr einen Blick zu. „Zeichnen?“

„Zeichnen“, wiederholte sie stolz.

Das kann nicht ihr Ernst sein. Wenn er sich recht erinnerte, hatten seine Brüder auch versucht, ihre Mutter nachzuahmen. Die Ergebnisse ihrer Anstrengungen hatten wie Spuren von wilden Tieren ausgesehen. Er lachte leise und rückte ihr einen Stuhl zurecht. „Da spricht die liebende Mutter.“

Janice war ein bisschen beleidigt. Nicht um ihretwillen, aber ihre Tochter hatte eine bessere Behandlung verdient. „Ich werde es Ihnen beweisen.“

„Sie schleppen ihr Portfolio mit sich herum?“ Die Ironie war kaum zu überhören.

Sie griff in die schäbige Aktentasche mit den Verträgen, die sie ihm zum Unterzeichnen mitgebracht hatte. Philippe wurde klar, dass sie seine Frage ernst nahm. Sie ließ die Schlösser aufschnappen und hob den Deckel an.

„Sie machen Witze“, sagte er ungläubig.

Weil ein Bild eben doch mehr wert war als tausend Worte, machte sie sich nicht die Mühe, zu antworten. Er sollte selbst sehen, wie ungewöhnlich begabt sie war, nur so konnte er sich ein Urteil erlauben. Also holte sie ein paar Mappen und ihren Laptop aus der Tasche und zog Kellis neueste Zeichnung mit einem weißen Hengst heraus. Ein Motiv aus der Lieblingsserie ihrer Tochter.

Vorsichtig legte sie die Zeichnung auf ihre Aktentasche und drehte sie zu Philippe herum.

Er machte große Augen. „Sie haben keine Witze gemacht“, murmelte er.

Kopfschüttelnd bewunderte er die Zeichnung. Es war unmöglich, dass die temperamentvolle Kleine, die er zwei Abende zuvor kennengelernt hatte, das hier gemalt hatte. Er zweifelte ernsthaft daran, dass sie lange genug stillsitzen konnte.

„Das haben Sie gemalt“, sagte er und sah J. D. in die Augen.

„Ich wünschte, das könnte ich“, antwortete sie lachend. „Ich kann nur Rechtecke und Quadrate malen. Blaupausen kriege ich hin“, erläuterte sie, „aber keine Pferde.“

Zabelle nahm ihr die Zeichnung aus der Hand und gab ihr eine letzte Chance, die Behauptung zurückzunehmen. „Das hat sie wirklich gemalt?“

„Das hat sie wirklich gemalt“, erklärte Janice stolz.

Sein halbes Leben lang hatte seine Mutter versucht, ihn dazu zu bringen, in ihre Fußstapfen zu treten. Wenn sie nicht gerade zu sehr mit ihren eigenen Kunstwerken beschäftigt war. Oder damit, eine neue Beziehung aufzubauen oder eine alte zu beenden. Obwohl er bis zu einem gewissen Grad ihr Talent geerbt hatte, weigerte er sich standhaft, ihr nachzueifern.

Seine Beweggründe musste er nicht lange erforschen. Die Kunst war ihr Revier, und er wollte ihr weder ins Gehege kommen, noch in ihrem Schatten stehen.

Aber das hielt ihn nicht davon ab, das Talent anderer zu bewundern. „Kann ich das eine Weile behalten?“, fragte er plötzlich.

Der Mann, dachte Janice, macht nicht den Eindruck, als ob er solche Kunstwerke an die Kühlschranktür hängt. Genau dort hatte sich das Bild nämlich befunden, ehe sie es aus einer Laune heraus mit den Verträgen eingepackt hatte. Für diesen Abend sollte es ihr als eine Art Glücksbringer dienen.

„Ich würde die Zeichnung gerne meiner Mutter zeigen, wenn sie hier das nächste Mal einfliegt“, erklärte Philippe.

„Ihre Mutter ist gerade nicht im Lande?“, fragte Janice, ein wenig verwirrt.

„Ja und nein.“ Er drehte einen Stuhl zu sich herum, setzte sich und stützte sich mit den Armen auf die Lehne. „Sie ist schon hier in Bedford. Aber meine Mutter wirkt immer ein bisschen überlebensgroß, als ob sie hier einfliegt und nicht einfach nur das Haus betritt.“

„Oh, ich verstehe.“ Ihre eigene Mutter hatte sie vor langer Zeit verlassen. Noch bevor sie eine echte Beziehung zu ihr hatte aufbauen können. Sie erinnerte sich nur an eine große, dünne Frau mit hellblondem Haar, die immer ein wenig ungeduldig war. Irgendwann hatte diese Ungeduld die Oberhand gewonnen, sie war einfach auf und davon gegangen und hatte nur einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen.

„Hm, ich schätze das geht in Ordnung. Wenn Kelli mich fragt, sage ich ihr einfach, dass die Dame, die das Gemälde in Ihrem Wohnzimmer gemalt hat, sich ihre Zeichnung einmal ansehen wollte.“

„Warum sagen Sie ihr nicht einfach, dass ich es habe? Warum die umständliche Erklärung?“

Ihr wurde klar, dass er nicht viel Erfahrung mit Kindern hatte.

„Wollen Sie von der Kleinen belagert werden?“, gab sie zurück. „Sobald ich ihr verrate, dass das Bild bei Ihnen ist und dass Sie es für gut halten, haben Sie keine Ruhe mehr“, fügte sie hinzu. „Dann wird Kelli unbedingt wissen wollen, wie es Ihrer Mutter gefällt, und was sie daran gut gefunden hat. Und vorher wird sie Sie löchern, wie gut Ihnen ihr Werk gefallen hat. Glauben Sie mir, so ist es besser.“

Sie klingt, dachte Philippe, als ob sie von einem erwachsenen, verständigen Menschen spricht. Diese Frau traute ihrer Tochter viel zu viel zu. Und dennoch …

Als sie die Hand nach ihrer Aktentasche ausstreckte, um die Verträge herauszuholen, stieß sie sie aus Versehen vom Tisch. Ihre Unterlagen flatterten in alle Richtungen davon.

Philippe und Janice bückten sich gleichzeitig, um die Papiere aufzuheben. Beide griffen im gleichen Moment nach der Tasche, sodass sich ihre Finger berührten.

Das war bestenfalls eine Szene aus einer drittklassigen Schnulze. Es gab keinen Grund, warum sie sich fühlen sollte, als hätte sie ein Blitz getroffen. Trotzdem, da war etwas. Es ging ihr durch und durch. Janice war wie elektrisiert. Nur für einen winzigen Augenblick, aber trotzdem deutlich spürbar. Völlig unerwartet überlief sie diese Empfindung, von den Fingern über die Arme bis zum Nacken.

Janice holte tief Luft und versuchte, ihren Herzschlag wieder unter Kontrolle zu kommen. Vor drei Jahren war sie das letzte Mal mit einem Mann zusammen gewesen. Ihr Lebensstil, fand sie, könnte eine Nonne stolz machen.

„Danke.“ Sie richtete sich auf, hob die Verträge auf – einen für jeden Raum – und legte sie auf den Tisch. „Dann schauen wir uns die mal an, in Ordnung?“, fragte sie und spürte einen unangenehmen Kloß im Hals. „Ich will nur sichergehen, dass ich alles richtig erfasst habe. Auf keinen Fall sollen Sie später irgendwelche bösen Überraschungen erleben.“

Zu spät, dachte er. Seine Reaktion auf die Berührung ihrer Hand hatte ihn mehr als nur überrascht. Aber er riss sich zusammen, sortierte seine Gedanken und lächelte sie an. „Mögen Sie keine Überraschungen?“

„Ich persönlich schon. Aber meine Kunden nicht – wenigstens nicht, wenn es um ihre Kosten geht.“

Philippe stand auf und ging zum Kühlschrank hinüber. „Möchten Sie etwas trinken?“

Der Raum – genau wie der Rest des Hauses, soweit sie sehen konnte – sah ganz genauso aus wie bei ihrem letzten Besuch. Der Mann war wirklich sehr ordentlich. Oder hatte er inzwischen eine Haushälterin gefunden?

„Eine Diätlimo – wenn Sie eine da haben.“

„Habe ich zufälligerweise.“ Mit einer Dose in der Hand kehrte er zurück, stellte sie auf den Tisch und ein Glas daneben.

Janice öffnete den Verschluss, ignorierte das Glas und nahm einen tiefen Schluck, ehe sie ihn fragte: „Wie steht’s um Ihre Suche nach einer Haushälterin? Haben Sie jemanden gefunden?“

Philippe zuckte die Achseln, setzte sich wieder verkehrt herum auf den Stuhl und zog ihn dann näher an den Tisch heran. „Ich ziehe die Anzeige zurück.“

„Warum?“

„Na ja, das Haus sieht in Kürze wie nach einem Erdbeben aus. Das macht eine Haushälterin fürs Erste überflüssig.“ Ein Bier, er brauchte ein Bier. Wenn er weiter in ihre himmelblauen Augen sehen musste, brauchte er irgendeine Stärkung. Während er noch einmal zum Kühlschrank ging, fuhr er fort: „Ich kümmere mich darum, wenn hier alles wieder normal läuft.“

Was auch immer das heißen mag, fügte er im Stillen hinzu.

3. KAPITEL

Er hatte nicht angerufen.

Janice seufzte und starrte den Wandkalender mit den Hundebildern an. Philippe Zabelle hatte nicht angerufen – weder auf ihrem Festnetzanschluss noch auf ihrem Handy. Es gab keine Nachrichten für sie. Sie hatte das überprüft. Regelmäßig.

Verdammt.

Es war mehr als eine Woche her, seit Zabelle die Verträge für die Renovierungsarbeiten in seinem Haus unterschrieben hatte. Ihr war aufgefallen, wie gleichmütig er die veranschlagten Kosten hingenommen hatte. Ohne sich mit ihr über die Rechnungen für die Abriss-, Aufräum- und Bauarbeiten zu streiten.

Vielleicht weil er nie vorgehabt hatte, das Projekt wirklich durchzuziehen.

Acht Tage.

Momentan hatte sie keinen neuen Auftrag und auch sonst nichts zu tun. Mit Freizeit hatte Janice noch nie viel anzufangen gewusst. Vor allem nicht jetzt, auf ihrem Schreibtisch häuften sich unbezahlte Rechnungen.

Gordon war dabei überhaupt keine Hilfe, dachte sie, während sie ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. Ihr großer Bruder war ein Teil ihres Problems und nicht ein Teil der Lösung. Im Augenblick lag er mal wieder auf dem Sofa und döste vor dem Fernseher.

Sie seufzte. Kelli war momentan als Einzige produktiv. Sie hatte ihre Stifte, Farben, Pinsel und viel Papier auf dem Esstisch ausgebreitet und malte gerade eine Waldlandschaft.

Janice überlegte, dass sie ihr wirklich eine Staffelei besorgen sollte. Sobald genug Geld übrig war.

Enttäuscht ging sie zum Sofa hinüber und legte Gordon die Hand auf die Schulter. Ohne Erfolg. Ihr Bruder schlief einfach weiter. Feingefühl führte in diesem Fall offensichtlich nicht weiter. Also machte sie eine Faust und knuffte ihn in den Arm.

Gordon zuckte zusammen.

„He!“, rief er protestierend und rieb sich den Arm. „Du hast einen Schlag drauf wie ein Schwergewichtler“, beschwerte er sich. „Stimmt was nicht?“

„Alles. Schau mal, Gordon.“ Sie setzte sich auf die Armlehne am anderen Ende des Sofas. „Ich weiß, dass du gerade eine schwierige Zeit durchmachst, aber du musst auch ein bisschen mit anpacken.“

„Tu ich doch“, protestierte er ungnädig. „Ich pass auf die Kleine auf.“

Janice knirschte mit den Zähnen. Mühsam hielt sie sich zurück, um nicht damit herauszuplatzen, dass ihre finanziellen Probleme hauptsächlich auf sein Konto gingen. „Ich meine unsere Einnahmen.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Wie denn?“

„Besorg dir einen Job, Gordon. Einen Job.

Er seufzte, als ob sie über ein fernes Ziel gesprochen hatte. Ein Ziel, das er durchaus anstrebte, aber das er bisher einfach noch nicht ganz hatte erreichen können. „Ich versuche immer noch, mich selbst zu finden, J. D.“

„Da hab ich gute Neuigkeiten für dich“, verkündete sie. „Ich hab dich gefunden. Du sitzt auf dem Sofa. Und jetzt steh auf und besorg dir einen verdammten Job, Gordon.“

„Und was für einen, bitte?“

Sie hob die Hände. „Krawatten im Kaufhaus verkaufen, in einer Kneipe bedienen, an der Kasse sitzen. Irgendwas.“ Als sie keine Antwort erhielt, fügte sie mit zusammengebissenen Zähnen hinzu: „Das Gleiche, was ich getan habe, als du Wyatt Construction in den Ruin getrieben hast.“

Sein Blick sagte ihr, dass er sich tief getroffen fühlte, weil sie die Vergangenheit nicht ruhen ließ.

„Ich will nicht einfach nur irgendwas machen, J. D.“

Sie stand auf, ging zu ihm hinüber und beugte sich weit herunter, bis ihr Gesicht auf seiner Höhe war. „Du möchtest doch jeden Tag etwas essen, oder? Du willst ein Dach über dem Kopf haben? Täglich duschen? Ich habe eine Neuigkeit für dich, großer Bruder. Die schönen Dinge des Lebens sind nicht umsonst zu haben.“

„Seit wann bist du so auf Geld fixiert?“

„Seit du dich mir gegenüber nicht mehr wie ein Erwachsener benimmst, sondern wie ein zweites Kind“, erwiderte sie. Schlimmer, im Vergleich mit ihm ist Kelli erwachsen.

„Aua.“ Gordon zuckte theatralisch zusammen, als ob er einem Fausthieb ausweichen würde. „Lass es doch bitte nicht an mir aus, wenn du gerade keinen Auftrag hast.“

„Ich lasse nichts an dir aus“, gab sie zurück. Ihr Geduldsfaden war kurz vorm Reißen. „Ich will nur, dass du für dich selbst sorgst. Ich will nur …“ Genervt winkte sie ab. „Ach, vergiss es.“

„Schön.“ Er lehnte sich wieder in den Polsterkissen zurück und streckte die Beine aus.

Die Versuchung, ihm ein Kissen um die Ohren zu hauen, war groß. Sie kämpfte darum, die Ruhe zu bewahren. Janice wusste, dass ihr Bruder sich nichts bei alledem dachte, und dass er tatsächlich gerade eine schwierige Zeit durchmachte.

Wahrscheinlich hatte er sogar irgendwie recht. Sie ließ ihren Frust an ihm aus. Schließlich hatte sie einen richtig guten Auftrag an der Angel. Aber solange Zabelle sich nicht bei ihr meldete, konnte sie nicht loslegen.

Es sei denn, sie konnte herausfinden, wo sein Problem lag.

Und das könnte sie natürlich am leichtesten herausbekommen, wenn sie sich in die Höhle des Löwen wagte. Schließlich wusste sie, wo der Löwe hauste.

Unvermittelt drehte Janice sich um und ging zu ihrer Tochter hinüber. „Süße“, rief sie ihr zu, „ich muss kurz weg. Pass für mich auf Onkel Gordon auf, okay?“

Die Bitte wurde mit einem sonnigen Lächeln beantwortet. „Du kannst dich auf mich verlassen, Mom.“

„Das weiß ich.“ Sie küsste Kelli aufs Haar. „Mehr als auf ihn“, fügte Janice halblaut hinzu und verließ das Zimmer.

Das Haus von Philippe Zabelle lag an einer Durchgangsstraße. Es gehörte zu einem Block von großzügigen Stadthäusern mit gepflegten Rasenflächen. Bedford galt als eine der nobleren Städte in Südkalifornien.

Nachdem Janice ihr Auto am Straßenrand geparkt hatte, marschierte sie zu der weißen Steintreppe, die zu seiner Haustür führte. Sie klopfte. Einmal, zweimal, ein drittes Mal.

Nichts.

Vielleicht hätte sie vorher anrufen sollen.

„Suchen Sie Philippe?“

Autor

Marie Ferrarella
<p>Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...
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