Julia Exklusiv Band 253

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VERLIEB DICH NIE IN DEINEN BOSS! von LEE, MIRANDA
Jessie braucht den Job unbedingt! Auch wenn er ihr Herz auf eine harte Probe stellt. Denn ihr neuer Chef ist Kane Marshall, ein Traummann, der all ihr Begehren weckt. Aber eine Affäre mit ihrem Boss ist absolut tabu. Dabei lässt er nichts unversucht, sie zu erobern …

JAHRE DER HEIßEN SEHNSUCHT von LAWRENCE, KIM
Holly ist hin- und hergerissen! Die Verlobte ihrer Jugendliebe Niall Wesley zu spielen ist wirklich verlockend. So kann sie ihm endlich heimzahlen, dass er ihre leidenschaftlichen Gefühle nie erwidert hat. Doch ihr kalter Racheplan droht an ihrer heißen Sehnsucht zu scheitern …

EIN ABENTEUER ZU VIEL? von WILLIAMS, CATHY
Ihr neues Leben in London ist für die schüchterne Ruth ein einziges Abenteuer. Zumal ihr smarter Chefredakteur Franco Leoni sie zu einer Recherche über das Nachtleben mitnimmt. Sie ahnt, was er wirklich will - aber nicht, welch bitter-süße Folgen die Nacht haben wird …


  • Erscheinungstag 05.12.2014
  • Bandnummer 0253
  • ISBN / Artikelnummer 9783733703592
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Miranda Lee, Kim Lawrence, Cathy Williams

JULIA EXKLUSIV BAND 253

MIRANDA LEE

Verlieb dich nie in deinen Boss!

Jessies Herz schlägt zum Zerspringen! In den Armen eines attraktiven Fremden tanzt sie Wange an Wange zu romantischen Klängen – muss aber vermuten, dass ihr sinnlicher Tanzpartner eine Ehefrau hat. Als Jessie kurz darauf einen tollen Job angeboten bekommt, sieht sie ihren Traummann wieder: Kane Marshall ist ihr neuer Boss und entschlossen, sie zu erobern …

KIM LAWRENCE

Jahre der heißen Sehnsucht

Als der smarte Multimillionär Niall Wesley sie bittet, für kurze Zeit in die Rolle seiner Verlobten zu schlüpfen, sieht Holly ihre Chance gekommen. Endlich kann sie Niall, für den sie schon als Teenager schwärmte, zeigen, was er bisher verpasst hat. Danach wird sie ihn eiskalt fallenlassen. Bei ihrem Spiel hat sie nur eins nicht einkalkuliert: die Liebe …

CATHY WILLIAMS

Ein Abenteuer zu viel?

In der Redaktion der Zeitschrift „Issues“ lieben alle die hübsche, schüchterne Ruth. Auch ihr Chef Franco Leoni, der ohnehin keine Affäre auslässt. Und Ruth gefällt die Idee, von diesem erfahrenen Mann zum ersten Mal geliebt zu werden. Allerdings verschwendet sie keinen Gedanken daran, dass eine Liebesnacht auch Folgen haben könnte …

1. KAPITEL

„Und was hättest du gern zu Weihnachten, Jessie? Ich gehe morgen Geschenke kaufen. Bis Heiligabend sind es nur noch reichlich zwei Wochen, und ich hasse es, Dinge bis zum letzten Moment aufzuschieben.“

Jessie hörte auf, sich die Wimpern zu tuschen, und lächelte ihrer älteren Freundin und Vermieterin über den Küchentisch hinweg ironisch zu. „Kennst du ein Geschäft, in dem Männer verkauft werden?“

„Männer?“ Dora sah sie erstaunt an. „Vor zehn Minuten hast du noch gesagt, die meisten Männer seien Mistkerle und du seist ohne einen besser dran.“

Jessie zuckte die Schultern. „Das war vor zehn Minuten. Mich so aufzustylen hat mich an die Zeiten erinnert, als ich jung war und die Wahrheit über das andere Geschlecht nicht kannte. Ich würde alles darum geben, nur einen Abend lang wieder dieses sorglose Mädchen zu sein und mit einem tollen Typ ein heißes Date zu haben.“

„Und wenn sich die Wunschvorstellung erfüllen würde, wohin würde er dich ausführen?“, fragte Dora, die weiter skeptisch dreinblickte.

„In ein wirklich schickes Restaurant und hinterher zum Tanzen in einen Nachtklub.“ Später nimmt er mich dann mit in sein Apartment und … Dieser Gedanke überraschte Jessie. Ganz ehrlich, sie hatte Männer nicht im Geringsten vermisst, seit sie Emily bekommen hatte. Sie hatte überhaupt keine Lust gehabt, mit einem zusammen zu sein. Jetzt plötzlich war die Vorstellung ziemlich angenehm, in den Armen eines fantastischen Mannes zu liegen. Mehr als angenehm.

Anscheinend waren ihre weiblichen Hormone wieder in Schwung gekommen.

Jessie seufzte verärgert. Darauf konnte sie gut verzichten. Männer komplizierten nur alles. Das taten sie immer. Sie waren zu nichts zu gebrauchen. Außer auf diesem einen Gebiet!

Sie musste zugeben, dass nichts über das Vergnügen ging, mit einem Mann zusammen zu sein, der ein guter Liebhaber war.

Emilys Vater war ziemlich gut im Bett gewesen. Aber er war auch ein unzuverlässiger, leichtsinniger Dummkopf gewesen, und seine Abenteuerlust hatte ihn schließlich ins Grab gebracht. Noch bevor Jessie festgestellt hatte, dass sie ein Kind von ihm bekam, war er beim Snowboardfahren in eine Gletscherspalte gestürzt.

Im hohen Alter von achtundzwanzig Jahren hatte Jessie endlich begriffen, dass Männer, die gut im Bett waren, nur selten für eine feste Bindung taugten. Meistens waren sie charmante Schufte. Auch wenn Lyall am Leben geblieben wäre, hätte er vermutlich nicht zu ihr und seinem Kind gehalten.

Nein, sie war besser dran ohne einen Mann in ihrem Leben. Zunächst einmal, jedenfalls. Emily war gerade erst vier und sehr für Eindrücke empfänglich. Dass ihre Mutter mit Kerlen ausging, die nur eines wollten, war das Letzte, was sie brauchte. Es hatte keine Zukunft. Und brachte kein Glück.

Männer konnten Sex auch ohne Bindung genießen. Sie erlitten dabei keinen seelischen Schaden. Für Frauen war das nicht ganz so einfach.

Jessie hatte lange gebraucht, um über Lyall hinwegzukommen. Sie hatte nicht nur seinen Tod verwinden müssen, sondern auch das, was sie erst danach herausgefunden hatte: Sie war nicht die einzige Frau in seinem Leben gewesen.

„Mehr als alles andere wünsche ich mir zu Weihnachten einen anständigen Job in einer Werbeagentur“, sagte sie, während sie die wichtigsten Schminksachen in ihre schwarze Abendtasche steckte.

Bevor sie schwanger geworden war, hatte sie als Grafikerin gearbeitet und immer im Auge gehabt, irgendwann zum Artdirector befördert zu werden. Sie hatte nicht ihr ganzes Berufsleben lang die Ideen anderer Leute umsetzen und ihnen die Anerkennung überlassen wollen, wenn sie ihre Entwürfe verbessert hatte. Jessie wusste, dass sie sehr kreativ war, und sie träumte davon, eines Tages ihr eigenes Team zu leiten, als Führungskraft bei den Präsentationen dabei zu sein. Dann würde sie das Lob bekommen – und entsprechende Tantiemen –, wenn sie einen prestigeträchtigen Auftrag für Jackson & Phelps gesichert hatte. Das war die Werbeagentur, für die sie damals arbeitete, eine von Sydneys größten und besten.

Emilys Geburt setzte jedoch neue Prioritäten in Jessies Leben. Sie plante, nach dem Mutterschaftsurlaub zurück zu Jackson & Phelps zu gehen. Aber als es so weit war, stellte sie fest, dass sie ihre kleine Tochter nicht in eine Tagesstätte geben wollte. Sie wollte zu Hause bleiben und sich selbst um Emily kümmern.

Jessie glaubte, sie könnte freiberuflich zu Hause arbeiten. Sie hatte einen Computer und sämtliche erforderliche Software. Ein Konjunkturrückgang hatte jedoch zur Folge, dass die Werbeetats gekürzt und viele Grafiker arbeitslos wurden. Freiberufliche Tätigkeit war nur noch ein Wunschtraum. Jessie musste Sozialhilfe beantragen und aus ihrer schicken kleinen Mietwohnung ausziehen. Zum Glück kam sie bei Dora unter, einer sehr netten Dame mit einem hübschen Haus in Roseville, einem nördlichen Vorort Sydneys an der Bahnstrecke.

Als ihre inzwischen verstorbene Mutter zu ihr gezogen war, hatte Dora an der Rückseite des Hauses eine Einliegerwohnung anbauen lassen. Sie hatte nur ein Schlafzimmer, aber ein Bad und ein großes Wohnzimmer mit integrierter Küche, das in den großen und sicheren Garten führte. Genau das Richtige für eine alleinerziehende Mutter mit einem aktiven Kleinkind. Emily war beim Umzug nach Roseville gerade ein Jahr alt geworden und konnte schon laufen.

Außerdem war die Miete sehr günstig, und dafür half Jessie der alten Dame bei der schweren Hausarbeit und im Garten.

Trotzdem war das Geld knapp. Nach einem halben Monat war meistens nicht mehr viel übrig. Jessie konnte sich nur selten etwas gönnen. Geschenke waren immer billige kleine Sachen, sowohl an Geburtstagen als auch zu Weihnachten. Im vergangenen Jahr hatte es zu Weihnachten keine Probleme gegeben. Mit drei Jahren hatte Emily noch nicht verstanden, dass alle ihre Geschenke vom Schnäppchenmarkt eines Warenhauses stammten.

Aber damals war Jessie klar geworden, dass Emily im nächsten Jahr schon viel schlauer sein würde.

Sosehr Jessie es auch genossen hatte, nur Hausfrau und Mutter zu sein, die Lebensbedürfnisse hatten erfordert, dass sie von der Sozialhilfe wegkam und wieder arbeiten ging. Deshalb meldete sie Emily im Januar in einer Tagesstätte an und begann, nach einem Job zu suchen. Leider hatte sie keinen Erfolg, zumindest nicht auf ihrem Gebiet. Sie trug sich bei mehreren Arbeitsvermittlungen ein und hatte unzählige Einstellungsgespräche, doch anscheinend wollte niemand eine Grafikerin beschäftigen, die alleinerziehende Mutter und seit über drei Jahren aus dem Beruf heraus war. Schließlich bewarb sich Jessie auf eine Anzeige in der Zeitung. Ein Privatdetektiv suchte eine Empfangsdame. Erfahrung wurde nicht verlangt, nur Ausstrahlung und eine nette Telefonstimme. Als Jessie dort hinkam, wurde ihr gesagt, die Stelle sei schon besetzt. Man bot ihr stattdessen Ermittlungsarbeit an.

Es war ein grässlicher, aber lukrativer Job. Jessie wurde als Lockvogel losgeschickt, um Männer zu verführen, die von ihren Partnerinnen verdächtigt wurden, ihnen untreu zu sein. Ihr Chef teilte ihr Zeit und Ort mit – immer ein Pub oder eine Bar –, außerdem erhielt sie eine Kurzbiografie und ein Foto der Zielperson. Jessie musste sich sexy kleiden, den Kontakt herstellen und dann mit dem Mann flirten, bis er sein wahres Gesicht zeigte. Der Privatdetektiv stellte ihr ein elegantes Hightechhandy zur Verfügung, dessen Videoaufnahmen hervorragend waren, und sobald Jessie damit genug Beweise gesammelt hatte, verschwand sie unter dem Vorwand, zur Toilette gehen zu wollen.

Nach sechs solchen Begegnungen kündigte Jessie. Vielleicht hätte sie weitergearbeitet, wenn nur ein einziges Objekt ihren Reizen widerstanden und sich als anständiger Mann erwiesen hätte. Aber nein! Sie waren alle Mistkerle. Jedes Mal war sie sofort angequatscht worden und hatte nach kurzer Zeit ein unmissverständliches, unmoralisches Angebot bekommen. Jedes Mal hatte sie sich schmutzig gefühlt, wenn sie sich schließlich davongemacht hatte.

Jessie nahm einen Job als Serviererin in einem Restaurant in Roseville an. Da sie wegen Emily nicht abends und an den Wochenenden arbeiten wollte, entgingen ihr die zu diesen Zeiten meist höheren Trinkgelder, und ihr Gehalt war nicht gerade großartig. Obendrein stiegen ihre Kosten. Sie bekam zwar staatliche Beihilfe für Alleinerziehende, aber es war nicht billig, Emily fünf Tage die Woche in der Tagesstätte zu haben.

Der einzige Pluspunkt war, dass Emily unheimlich gern in ihrer Vorschule war. Sie hatte ihre Lehrer und die anderen Kinder so lieb, dass Jessie manchmal eifersüchtig war. In diesem Jahr war ihre Tochter sehr schnell groß geworden.

Zu schnell.

Sie war vier und ging auf die vierzehn zu. Am vergangenen Wochenende hatte sie zum ersten Mal nach ihrem Vater gefragt. Und war nicht beeindruckt gewesen, als ihre nervöse Mutter versucht hatte, das Thema zu umgehen. Jessie war festgenagelt worden und hatte Emily die Wahrheit sagen müssen. Dass ihr Vater noch vor ihrer Geburt bei einem tragischen Unfall gestorben sei. Und nein, ihre Mom und ihr Dad seien nicht verheiratet gewesen.

„Dann seid ihr also nicht geschieden“, hatte Emily zu Jessies Erstaunen erwidert. „Joels Dad ist zurückgekommen. Mein Dad kommt wohl niemals zurück.“

Joel war Emilys bester Freund in der Vorschule.

„Nein, dein Vater kommt niemals zurück. Er ist im Himmel.“

„Oh“, hatte Emily gesagt und war stirnrunzelnd davongelaufen.

Jessie hatte sie im Garten gefunden, wo sie ein ernstes Gespräch mit ihrer lebensgroßen Babypuppe führte – Dora hatte sie ihr zu ihrem vierten Geburtstag im August geschenkt. Als Jessie sich ihr genähert hatte, war Emily verstummt, doch es war kein unheilvolles Schweigen gewesen. Sie hatte schließlich heiter lächelnd aufgesehen und gefragt, ob sie am Nachmittag den Weihnachtsmann bei „K-Mart“ besuchen könnten. Sie müsse ihm erzählen, was sie sich wünsche, bevor es zu spät sei.

Offensichtlich war Emily mit vier zu jung, um am Boden zerstört zu sein, weil sie erfahren hatte, dass ihr Vater im Himmel war. Sie hatte ihrer Mutter jedoch bewusst gemacht, dass Weihnachten schnell näher rückte. Und Jessie war bereits klar, was ganz oben auf Emilys Wunschliste stand. Deshalb hatte sie beschlossen, noch einen ekelhaften Auftrag für Jack Keegan zu erledigen. Der Privatdetektiv hatte gesagt, sie solle anrufen, falls sie mal Geld nebenbei brauche. Und das tat sie jetzt, weil „Felicity Fairy“ die teuerste Puppe auf dem Spielzeugmarkt war. Jessie würde das ganze Honorar von vierhundert Dollar für die verdammte Puppe und das Zubehör ausgeben müssen. Es gab ein Märchenschloss, ein Zauberpferd und einen funkelnden Schrank voller Kleidungsstücke. Dabei fiel ihr ein …

Jessie stand auf und strich den Rock des Kleides glatt, das sie für den Job an diesem Abend aus ihrer dezimierten Garderobe ausgewählt hatte. Das Halterneckkleid aus schwarzer Seide war das eleganteste und erotischste, das sie besaß, aber es war sechs Jahre alt, und Jessie befürchtete, dass es allmählich auch so aussah.

„Ist das Kleid wirklich okay?“, fragte sie nervös. „Es ist schon so alt.“

„Es ist prima“, versicherte ihr Dora. „Und überhaupt nicht aus der Mode. Der Stil ist zeitlos. Du siehst fantastisch aus, Jessie. Wie ein Model.“

„Mach dich nicht lächerlich. Ich weiß, dass ich eine gute Figur habe, aber der Rest ist ziemlich durchschnittlich. Ohne Make-up würde mich kein Mann genauer beachten. Und mein Haar ist eine unkontrollierbare Katastrophe, wenn ich es nicht zurückbinde oder hochstecke.“

„Du unterschätzt deine Attraktivität.“ In jeder Hinsicht, dachte Dora.

Jessie hatte eine sensationelle Figur, so einen Körper, wie man ihn heutzutage häufig in der Dessouswerbung sah. Volle Brüste, schmale Taille, schlanke Hüften und lange Beine. Noch länger wirkten sie in den High Heels, die Jessie an diesem Abend trug. Es stimmte, dass ihr Gesicht nicht klassisch schön war. Der Mund war zu groß, das Kinn zu eckig und die Nase ein bisschen zu lang. Aber die großen, exotisch geformten dunkelbraunen Augen, die vor Sinnlichkeit funkelten, übten zweifellos eine magnetische Anziehungskraft auf Männer aus.

Was ihr Haar betraf … Als Dora noch jünger gewesen war, hätte sie für solches Haar getötet. Es war blauschwarz, dicht und von Natur aus lockig. Wenn Jessie es offen trug, fiel es ihr herrlich unordentlich kaskadenförmig um die Schultern. Wenn es hochgesteckt war, rutschten immer einige Strähnen heraus und ließen Jessie besonders sexy aussehen.

Dora war nicht überrascht gewesen, als der Privatdetektiv Jessie sofort als Lockvogel eingestellt hatte. Sie war die perfekte Waffe, um Männer zu fangen, die ihre Ehefrauen betrogen. Und vielleicht auch solche, die nicht fremdgingen.

„Ist das der Mann?“ Dora nahm das Foto, das auf dem Tisch lag.

„Ja. Das ist er.“

„Er sieht gut aus.“

Das hatte Jessie auch sofort gedacht. Er sah viel besser aus als die anderen widerlichen Kerle, mit denen sie schon hatte flirten müssen. Und er war jünger. In den Dreißigern anstatt in den Vierzigern oder Fünfzigern. Sie war sich jedoch sicher, was für ein Typ Mann er war. „Das Äußere besagt nicht viel, Dora. Er ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder, trotzdem sitzt er jeden Freitagabend in einer Bar in der Innenstadt und trinkt bis in die Puppen.“

„Viele Männer trinken freitagabends.“

„Ich bezweifle, dass er nur das tut. Die Bar ist ein bekanntes Aufreißerlokal.“

„Das könnte man von jeder Bar behaupten.“

„Seine Frau hat erklärt, sein Verhalten würde nicht zu ihm passen. Er habe sich verändert. Sie ist überzeugt, dass er ihr untreu ist, und will die Wahrheit wissen.“

„Mir klingt das nicht nach einem zwingenden Beweis für Ehebruch. Vielleicht wird sie sich noch wünschen, sie hätte die Sache niemals in Gang gesetzt.“

„Wie meinst du das?“

„Ich habe es schon immer für unfair gehalten, eine Frau wie dich loszuschicken und mit diesen Männern flirten zu lassen. Es ist sehr wohl möglich, dass dieser Mann überhaupt noch nicht fremdgegangen ist. Vielleicht arbeitet er hart und entspannt sich am Ende der Woche bei einigen Drinks. Jetzt kommst du heute Abend und machst ihm schöne Augen. Er könnte etwas tun, was er normalerweise niemals machen würde und hinterher bereut.“

Jessie musste lachen. Dora stellte sie als große Verführerin hin. Unwiderstehlich war sie nicht! Da brauchte man nur all die Chefs zu fragen, die ihr in diesem Jahr keinen Job gegeben hatten. Nein, Dora wusste nicht, wovon sie redete, besonders nicht im Hinblick auf die Zielperson dieses Abends. Aber sie war schließlich sechsundsechzig. Zu ihrer Zeit mochten ja mehr Männer mehr Ehrgefühl gehabt haben.

„Wenn eine Frau Jack Keegan aufsucht und das Geld ausgibt, das er verlangt, dann besteht eigentlich kein Zweifel an der Untreue ihres Ehemannes. Es geht nur noch um einen Beweis für den Anwalt. Unser Mr Curtis Marshall hier …“ Jessie nahm Dora das Foto aus der Hand und blickte in seine babyblauen Augen, „… ist kein bedauernswerter, schwer arbeitender, missverstandener Göttergatte. Er amüsiert sich auswärts, und er wird erwischt werden!“ Jessie schob das Foto ins Reißverschlussfach ihrer Abendtasche. „Jetzt muss ich wirklich los. Ich sehe nur noch schnell nach Emily.“

Jessie ging auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer. Ihre Tochter hatte das Bettzeug weggetreten. Der Abend war ziemlich warm, deshalb schaltete Jessie den Deckenventilator ein, bevor sie Emily wieder zudeckte. Vor Kurzem hatte sie ihr Kinderbett ausrangiert, und in dem neuen, größeren Bett sah sie sehr klein aus. Jessie küsste sie auf die Schläfe und richtete sich auf, dann stand sie einfach da und blickte auf das kleine Mädchen hinunter. Ihr ging das Herz vor Liebe fast über, wie immer, wenn sie ihr Kind ansah. Das hatte Jessie am meisten überrascht, als sie Mutter geworden war. Die sofortige und uneingeschränkte Liebe, die sie empfunden hatte, sobald sie ihr Baby in den Armen gehalten hatte. Ob es ihrer Mutter ebenso ergangen war? Jessie glaubte es nicht. Jede Zuneigung zu ihr war vermutlich von Scham überschattet gewesen.

Jessie verdrängte den bedrückenden Gedanken. Sie strich ihrer Tochter die dunklen Locken aus der Stirn, bevor sie Emily noch einen weiteren sanften Kuss gab. „Schlaf gut, Schatz“, flüsterte sie. „Mom ist bald wieder da.“

„Vielen Dank, dass du hier bleibst und auf sie aufpasst, Dora“, sagte Jessie, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte.

„Ist mir ein Vergnügen“, erwiderte Dora, die sich schon aufs Sofa gesetzt und das Fernsehgerät eingeschaltet hatte.

„Du weißt, wo der Tee und die Kekse sind?“

„Ich komme zurecht. Um halb neun fängt ein guter Spielfilm an. Das ist in zehn Minuten. Du solltest besser losziehen. Und nimm dir ein Taxi, wenn du fertig bist. Mit dem Zug ist es spätabends zu gefährlich, besonders freitags.“

„Ich hoffe, es wird nicht allzu spät.“ Jack übernahm die Fahrtkosten, aber Jessie wollte so viel Geld wie möglich aus diesem grässlichen Abend herausschlagen. Warum dreißig Dollar für ein Taxi verschwenden?

„Jessie Denton, versprich mir, dass du dir ein Taxi nach Hause nimmst“, befahl Dora streng.

„Ich tue es, wenn ich muss.“ Jessie blickte ihre Freundin mit zusammengekniffenen Augen an.

„Du kannst sehr dickköpfig sein, weißt du das?“

Jessie lachte. „Ja. Aber du liebst mich trotzdem. Mach’s gut.“ Sie küsste Dora flüchtig auf die Wange, nahm ihre Handtasche und ging zur Tür.

2. KAPITEL

Kane saß an der Theke, hielt sich an einem doppelten Scotch fest und grübelte über die Wunderlichkeiten des Lebens.

Er konnte noch immer kaum glauben, was ihm sein Bruder gerade erzählt hatte: Er sei unglücklich in seiner Ehe und verbringe jeden Freitagabend hier in dieser Bar, anstatt zu seiner Familie heimzufahren. Curtis hatte sogar gestanden, dass er am Wochenende manchmal ins Büro gehe, um den Spannungen und Auseinandersetzungen zu Hause zu entfliehen.

Kane hätte schockierter nicht sein können. Er hatte Curtis in den vergangenen Jahren oft um seine Ehefrau und die beiden prachtvollen Kinder beneidet. Um seine perfekte Familie! Anscheinend war die Wahrheit himmelweit von dem entfernt, was sich Kane unter dem häuslichen Leben seines Zwillingsbruders vorgestellt hatte. Lisa war offensichtlich überhaupt nicht damit zufrieden, nur Hausfrau zu sein. Sie langweilte sich und fühlte sich tagsüber ohne die Gesellschaft Erwachsener einsam. Obendrein war der zweijährige Joshua in diesem Jahr ein Frechdachs geworden. Die vierjährige Cathy bekam ständig Wutanfälle und wollte abends nicht ins Bett. Lisa wurde nicht mit ihnen fertig, und das Sexleben des Ehepaars war gleich null.

Curtis, der noch nie besonders kommunikativ gewesen war, hatte angefangen, immer öfter von zu Hause wegzubleiben. Inzwischen bestrafte Lisa ihn mit Schweigen. Er hatte schreckliche Angst, dass sie daran dachte, ihn zu verlassen und die Kinder mitzunehmen. Was ihn veranlasst hatte, an diesem Abend bei seinem Bruder anzurufen. Wegen eines unzulänglichen Grafikers, der plötzlich gekündigt hatte, war Kane noch im Büro gewesen und hatte an der Lösung des Problems gearbeitet. Er war seinem Zwillingsbruder zu Hilfe gekommen, wie er es immer tat, wenn Curtis irgendwie verletzt oder bedroht wurde. Er kam Curtis zu Hilfe, seit sie Kleinkinder gewesen waren.

„Ich liebe meine Familie und will sie nicht verlieren“, hatte Curtis vor zehn Minuten gejammert. „Sag mir, was ich tun soll. Du bist der Mann, der für alles eine Lösung hat. Verrat mir, was ich tun soll!“

Kane verdrehte die Augen. Okay, er konnte verstehen, warum Curtis meinte, sein Bruder könne einen Zauberstab schwenken und mit einigen gut gewählten Worten alles wieder in Ordnung bringen. Er, Kane, verdiente ein Vermögen damit, den Leuten zu zeigen, wie man im Berufsleben jedes Ziel erreichen konnte. Seine Motivationsseminare zogen Menschenmassen an. Sein Honorar als Veranstaltungsredner war unerhört. Sein Buch „Am Arbeitsplatz siegen“ war in den Vereinigten Staaten schon ein Bestseller und würde in den meisten Ländern der Welt erscheinen.

Anfang des Jahres war er durch die USA gereist und hatte für das Buch geworben, und der Absatz dort war überwältigend.

Der Terminstress in Amerika hatte Kane körperlich und seelisch erschöpft, und seit seiner Rückkehr hielt er sehr viel weniger Vorträge. Er hatte gerade einen langen Urlaub geplant, als sein Freund Harry Wilde ihn gebeten hatte, sich im Dezember um seine kleine, aber erfolgreiche Werbeagentur zu kümmern, damit er, seine Frau und die Kinder eine Kreuzfahrt machen konnten.

Kane hatte sofort zugegriffen. Eine Abwechslung war ebenso gut wie ein Urlaub. Und er hatte wirklich Spaß an der Aufgabe. Es war interessant, zu sehen, ob sich seine Theorien auf jeden Managementjob anwenden ließen. So weit, so gut. Bedauerlicherweise war es nicht unbedingt möglich, seine Erfolgsstrategien in der Berufswelt aufs Privatleben zu übertragen. Besonders nicht auf sein eigenes. Mit einer gescheiterten Ehe hinter sich und keiner neuen Beziehung in Sicht war er vielleicht nicht gerade der beste Ratgeber für seinen Bruder.

Aber eins wusste er. Man löste niemals irgendein Problem, indem man in einer Bar saß und ein Bier nach dem anderen runterkippte. Man löste überhaupt kein Problem, indem man vor dem Leben davonlief. Curtis hatte das aber schon immer getan. Er war immer den einfachsten Weg gegangen und vor Schwierigkeiten davongelaufen. Curtis war der schüchterne Zwilling. Derjenige mit weniger Durchsetzungsvermögen. Derjenige, der beschützt werden musste. Er war ebenso intelligent wie Kane, besaß jedoch nicht dessen Selbstbewusstsein, Dynamik und Ehrgeiz. Es hatte Kane nicht überrascht, dass Curtis Steuerberater geworden war.

Allerdings sah Kane ein, dass es nicht leicht war, der Zwillingsbruder von Kane zu sein. Er wusste, dass er mit seiner starken Persönlichkeit und Selbstsicherheit ein anstrengendes Vorbild sein konnte.

Trotzdem, es wurde höchste Zeit, dass Curtis seinen Pflichten und dem Leben mutig ins Auge sah. Er hatte eine reizende Ehefrau und zwei wundervolle Kinder, die im Moment – aus welchem Grund auch immer – Schwierigkeiten hatten und ihn wirklich brauchten. Ganz gleich, was diese neuen Beziehungsgurus für Tipps gaben, Kane war der Meinung, dass der Mann das Familienoberhaupt sein sollte. Der Fels in der Brandung. Der Mensch, auf den sich Frau und Kinder immer verlassen konnten.

Curtis benahm sich wie ein Feigling.

Nicht dass Kane das sagte. Regel Nummer eins bei seinen Ratschlägen für Führungskräfte war, niemals Angestellte und Kollegen zu kritisieren oder schlecht zu machen. Lob und Ermutigung funktionierten viel besser, als auf Unzulänglichkeiten hinzuweisen.

Unter Berücksichtigung dieser Theorie hielt Kane vor Curtis einen seiner besten Motivationsvorträge überhaupt. Er sagte zu Curtis, er sei großartig. Ein großartiger Bruder, ein großartiger Sohn, ein großartiger Ehemann und großartiger Vater. Kane erwähnte sogar, Curtis sei ein großartiger Steuerberater. Schließlich würde er jedes Jahr die hoch komplizierte Steuererklärung seines Bruders machen.

Kane versicherte Curtis, dass seine Frau ihn liebe und niemals verlassen werde. Es sei denn, sie glaube, er erwidere ihre Liebe nicht. Was Lisa glauben musste.

An diesem Punkt schickte Kane seinen Bruder nach Hause. Curtis sollte Lisa sagen, dass er sie abgöttisch liebe und es ihm leidtue, nicht für sie da gewesen zu sein, als sie ihn brauchte. Er sollte leidenschaftlich schwören, dass er in Zukunft immer für sie da sein würde, und fragen, wie er ihr helfen könne.

„Und wenn Lisa dir dann weinend in die Arme sinkt“, hatte Kane hinzugefügt, „schaff sie ins Bett, und schlaf so mit ihr, wie du offensichtlich seit langer Zeit nicht mehr mit ihr geschlafen hast!“

Curtis hatte noch immer gezögert, also hatte Kane versprochen, am nächsten Tag vorbeizukommen, um seinen Bruder moralisch zu unterstützen und ihm weitere Vorschläge zu unterbreiten, wie er seine Frau und die Kinder viel glücklicher machen konnte.

Kane hoffte, dass ihm bis dahin einige einfielen.

Eine Scheidung in der Familie war mehr als genug! Ihre Eltern würden Zustände bekommen, wenn sich Curtis und Lisa auch trennten. Kane schwenkte seinen Drink und betrachtete die bernsteinfarbene Flüssigkeit, während er sich fragte, warum er Natalie überhaupt geheiratet hatte. Für einen angeblich intelligenten Mann war er damals sehr dumm gewesen. Seine Ehe war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.

„Hallo, Süßer.“

Kane blickte zur Seite. Eine attraktive Blondine glitt verführerisch auf den Barhocker neben ihm. Sie zeigte alles, was sie hatte – und es war eine ganze Menge. Einen Moment lang meldeten sich Kanes Hormone. Bis er der Frau in die Augen sah.

Sie waren durchaus schön, aber ihr Blick war leer. Kane verlor immer schnell das Interesse an Frauen mit einem solchen Blick.

Natalie hatte einen intelligenten Blick gehabt. Schade, dass sie keine Kinder hatte haben wollen.

Die Blondine winkte dem Barkeeper und bestellte ein Glas Champagner. „Sie machen den Eindruck, als könnten Sie Gesellschaft gebrauchen“, sagte sie zu Kane. „Schlechte Woche?“

„Nein. Gute Woche. Kein so großartiger Abend“, erwiderte er, mit den Gedanken noch immer bei den Problemen seines Bruders.

„Einsamkeit ist fies.“

„Ich bin nicht einsam. Nur allein.“

„Jetzt nicht mehr.“

„Vielleicht möchte ich allein sein.“

„Niemand möchte allein sein, Lover.“

Die Worte der Blondine trafen ihn schwer. Sie hatte recht. Niemand wollte das. Er auch nicht. Aber eine Scheidung – sogar eine in aller Freundschaft – machte einen Mann vorsichtig. Es war fünfzehn Monate her, dass er sich von Natalie getrennt hatte. Vor drei Monaten war die Scheidung rechtskräftig geworden. Und er hatte noch keine Neue gefunden. Er war nicht einmal den vielen Angeboten für einen One-Night-Stand erlegen, die er bekommen hatte.

Ständig ließen ihn Frauen wissen, dass sie für die Nacht oder ein Wochenende verfügbar seien. Aber an solchen Begegnungen war Kane nicht interessiert. Er hatte geglaubt, Curtis hätte die ideale Frau, und er hatte gehofft, auch so eine zu finden. Eine Frau, die nicht ganz in ihrem Beruf aufging. Eine Frau, die zumindest einige Jahre lang gern ihren Job aufgab, um nur Hausfrau und Mutter zu sein.

Jetzt war sich Kane nicht mehr so sicher, ob dieses Wesen existierte. Die Frauen, zu denen er sich hingezogen fühlte, engagierten sich ausnahmslos für ihren Beruf. Es waren intelligente, freche, sexy Mädels, die schwer arbeiteten und sich schwer amüsierten. Sie wollten nicht Hausfrau und Mutter werden.

„Na los, werden Sie ein bisschen lockerer“, forderte ihn die Blondine auf. „Bestellen Sie sich noch einen Drink, um Himmels willen. Der da ist doch schon Geschichte.“

Kane wusste, dass er es nicht tun sollte. Er hatte seit dem Mittag nichts gegessen, und der Whisky stieg ihm sofort zu Kopf. Kane war an der Blondine nicht interessiert, aber er wollte auch nicht heimfahren zu einem leeren Haus. Er würde noch ein Glas mit ihr trinken, sich dann entschuldigen und in irgendeinem Restaurant hier in der Innenstadt zu Abend essen.

3. KAPITEL

Die Bar, die Curtis Marshall jeden Freitagabend besuchte, hieß „Der Keller“, deshalb hätte Jessie eigentlich nicht überrascht sein sollen, dass sie im Souterrain lag. Vorsichtig ging sie auf ihren acht Zentimeter hohen Absätzen die schmale, steile Treppe hinunter. Der Länge nach hinzufallen fehlte ihr gerade noch!

Die Musik erreichte Jessie nur Sekunden vor dem Rauch. Jazz. Nicht ihre Lieblingsmusik. Aber war das wichtig? Sie war nicht hier, um sich zu amüsieren. Sie hatte einen Job zu erledigen.

Neben der offenen Tür stand ein Rausschmeißer. Er schätzte Jessie mit einem Blick ab. „Sehr hübsch“, stellte er fest, als sie an ihm vorbei in die Rauschschwaden hineinging.

Sie antwortete nicht. Während sie den Blick durch den nur mäßig besetzten Raum gleiten ließ, gewöhnten sich ihre Augen langsam an die schwache Beleuchtung. Neun Uhr und nichts los. Die Gäste, die freitagabends nach der Arbeit gern einen tranken, waren schon wieder weg, und die echten Wochenendpartylöwen waren noch nicht eingetroffen.

Jessie war noch nie in dieser Bar gewesen und hatte auch noch nie von ihr gehört. Dass sie den Ruf hatte, ein Aufreißerlokal zu sein, hatte Jessie von Jack erfahren. Der Raum war im Stil der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts eingerichtet, mit viel Holz, Leder und Messing. Sitzgruppen säumten die Wände, der restliche verfügbare Platz war mit Tischen und Stühlen vollgestellt. Die Band nahm eine Ecke ein, mit einer sehr kleinen Tanzfläche davor.

Gegenüber der Tür war die halbkreisförmige Theke. Die ungefähr ein Dutzend Barhocker waren aus Holz und hatten Sitzflächen aus Leder. Hinter den Flaschenregalen war ein Spiegel angebracht, in dem Jessie die Gesichter der Leute sehen konnte, die an der Theke saßen.

Es waren nur sechs. Jessie erkannte die Zielperson sofort. Mr Marshall saß in der Mitte, links neben ihm eine Blondine. Rechts von ihm waren mehrere Hocker frei. Während Jessie dastand und die beiden beobachtete, beugte sich die Blondine zu ihm hinüber und sagte irgendetwas. Er winkte dem Barkeeper, der zu ihnen ging und Jessie vorübergehend die Sicht auf Curtis Marshall nahm.

Hatte ihn die Blondine gebeten, ihr einen Drink zu spendieren? Tat er gerade genau das, dessen ihn seine Ehefrau verdächtigte?

Jessie stellte erleichtert fest, dass sie vielleicht nicht mit dem Mistkerl würde flirten müssen. Wenn sie sofort an die Theke ging, konnte sie Beweise dafür sammeln, dass er eine andere Frau anmachte, ohne sich selbst herabzusetzen. Ihr Herz hämmerte, und sie hatte Magenkrämpfe vor Nervosität, als sie auf die Theke zusteuerte. Jessie hasste es noch immer, diesen Job zu machen, auch wenn sie passiv bleiben konnte.

Denk an das Geld und an Emilys strahlendes Gesicht, wenn sie feststellt, dass der Weihnachtsmann ihr genau das bringt, was sie sich gewünscht hat! sagte sich Jessie, während sie sich mit anmutigen Bewegungen auf einen Hocker rechts von der Zielperson gleiten ließ, mit einem freien Platz dazwischen.

Die Standpauke half ein bisschen. Jessie wurde ruhiger. Sie legte ihre Abendtasche auf die glänzende Holztheke, dann zog sie sehr lässig das Handy heraus und tat so, als würde sie ihre SMS lesen. Dabei schaltete sie das Video ein und schob das Handy so hin, dass es auffangen konnte, was zu ihrer Linken vorging.

„Danke“, säuselte die Blondine, als der Barkeeper ein Glas Champagner vor sie hinstellte. „Und worauf trinken wir, schöner Mann?“

Der Barkeeper entfernte sich, und Jessie konnte wieder das Gesicht des Objekts im Spiegel beobachten. Mr Marshall sah wirklich sehr gut aus. Besser als auf dem Foto. Und reifer. Vielleicht war die Aufnahme in ihrer Handtasche schon einige Jahre alt. Sein Haar war auch anders. Nicht die Farbe. Es war noch immer braun, aber nicht mehr ziemlich lang und wellig, sondern sehr kurz. Die Frisur lenkte die Aufmerksamkeit stärker auf seine Augen.

Die auch anders waren. Auf dem Foto sahen sie babyblau aus, und sein Blick war verträumt. In Wirklichkeit waren sie eisblau. Und sein Blick hatte nichts Sanftes.

Mr Marshall lächelte sarkastisch, während er den Rest seines Drinks im Glas schwenkte. Er hatte Jessie noch nicht bemerkt.

„Auf die Ehe“, sagte er und hob sein Glas.

„Die Ehe ist eine völlig überholte Institution!“, höhnte die Blondine. „Ich trinke lieber auf die Scheidung.“

„Scheidung ist ein Fluch unserer Gesellschaft“, erwiderte er scharf. „Darauf trinke ich nicht.“

„Dann Sex. Trinken wir auf Sex.“ Die Blondine näherte sehr anzüglich ihr Glas dem seinem.

Er blickte sie amüsiert an. „Süße, ich glaube, Sie haben sich den verkehrten Mann ausgewählt. Es tut mir leid, wenn ich einen falschen Eindruck bei Ihnen erweckt habe, aber ich suche nicht das Gleiche wie Sie.“

Jessie fiel fast vom Hocker. Was war das denn? Ein Mann mit Ehrgefühl? Hatte Dora recht gehabt, was Mr Marshall betraf?

„Sind Sie sicher?“, fragte die Blondine verführerisch lächelnd.

„Absolut sicher.“

„Ihr Verlust, Lover.“ Sie nahm ihr Glas, glitt vom Hocker und ging zu einem Tisch in der Nähe der Band. Höchstens zehn Sekunden blieb sie allein. Ein Mann, der weiter rechts an der Theke gesessen hatte, folgte der Blondine und setzte sich zu ihr.

Jessie sah wieder in den Spiegel und stellte fest, dass Mr Marshall sie bemerkt hatte und unverwandt musterte. Sie erwiderte seinen Blick länger, als klug war. Ihr Herz schlug schneller, dann flatterte es. Es hatte seit Jahren nicht mehr so reagiert.

Plötzlich kletterte ein Mann auf den freien Hocker zwischen ihnen und holte Jessie auf den Boden der Tatsachen zurück.

„Ich habe Sie noch nie hier gesehen, meine Hübsche.“ Er sprach undeutlich und hatte eine Bierfahne. „Kann ich Ihnen einen Drink spendieren?“

Er war ungefähr vierzig, hatte einen billigen, schlecht sitzenden Anzug an, der keine Ähnlichkeit mit dem maßgeschneiderten italienischen Kleidungsstück hatte, das Mr Marshall trug.

„Nein, danke“, erwiderte Jessie steif. „Ich bezahle meine Drinks immer gern selbst.“

„Eine von diesen Feministinnen, was? Ist mir recht. Billiger so.“

„Außerdem trinke ich lieber allein“, erwiderte sie scharf.

Der Betrunkene lachte. „Ein sexy Zahn wie Sie sollte nicht allein trinken. Was ist los, Süße? Sind Sie von Ihrem letzten Kerl nicht anständig behandelt worden? Oder bin ich nicht gut genug für Sie? Ich habe es noch, wo es zählt, verlassen Sie sich darauf. Hier, ich zeige es Ihnen …“ Er fummelte an seinem Hosenschlitz herum.

Im nächsten Moment wurde er gepackt und buchstäblich vom Barhocker gehoben. „Jetzt zeig ich dir mal etwas, Freundchen“, sagte Mr Marshall. „Und zwar die Tür!“

Verblüfft beobachtete Jessie, wie ihr stolzer Ritter in glänzender Rüstung den Betrunkenen zur Tür bugsierte. Der Rausschmeißer blickte beide finster an. Einige Worte wurden gewechselt, dann eskortierte er den Kerl die Treppe hinauf, während Jessies Retter zurück zur Theke kam.

Diesmal bewunderte Jessie nicht nur sein gut aussehendes Gesicht, sondern auch, wie seine breiten Schultern den teuren Anzug ausfüllten. Und wie er gerade mit der Situation umgegangen war. Und wie er lächelte. Das Lächeln war reines Dynamit. Und noch etwas anderes, was überhaupt nichts Reines an sich hatte. Plötzlich fiel Jessie ein, worüber sie früher am Abend nachgedacht hatte. Dass es angenehm wäre, wieder in den Armen eines fantastischen Mannes zu liegen.

Zweifellos wäre es angenehm, in den Armen dieses Mannes zu sein. Er war fantastisch.

Aber er war verheiratet. Und soeben nahm er wieder Platz, und zwar auf dem Hocker direkt neben ihrem, auf dem gerade noch der betrunkene Typ gesessen hatte. Urplötzlich kam Jessie in den Sinn, was Dora kritisiert hatte, und es ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Es sei unfair, eine Frau wie Jessie zum Flirten loszuschicken. Sie könnte den Mann dazu verleiten, etwas zu tun, was er bereuen würde.

Die Logik sprach dagegen. Wenn er so leicht in Versuchung zu führen war, warum hatte ihn dann die sehr attraktive Blondine nicht in Versuchung führen können?

Vielleicht steht er nicht auf blonde Frauen, erwiderte eine innere Stimme ebenso logisch. Möglicherweise mochte er langbeinige Wesen mit wildem schwarzem Haar, die nicht ganz so aufdringlich waren.

Es gab viele Gründe, warum sich ein Mann zu einer Frau mehr als zu einer anderen hingezogen fühlte. Und er fühlte sich zu ihr hingezogen. Jessie erkannte es an seinem Blick. Und an seinem atemberaubenden Lächeln. „D…danke“, sagte sie nervös.

„Sie könnten mir aus Dankbarkeit noch einen Scotch spendieren, wenn Sie möchten.“ Er kippte den Rest seines Drinks hinunter. „Es sei denn, Sie wollen wirklich lieber allein trinken.“ Er lächelte sie wieder an.

Jessie blieb fast das Herz stehen. Verschwinde hier, Mädchen! warnte ihr Verstand. Der Typ war ausgesprochen gefährlich.

„Ich habe nur versucht, ihn loszuwerden“, hörte sie sich erwidern.

„Das hatte ich gehofft. Also, was kann ich Ihnen bestellen? Schließlich erwartet ein Gentleman nicht wirklich von einer Dame, dass sie ihm etwas zu trinken spendiert.“

Hör auf, ihn so anzusehen! befahl sich Jessie. Dann versuchte sie, sich einzureden, dass sie nur ihre Arbeit mache. Sie wurde dafür bezahlt, mit der Zielperson zu flirten und festzustellen, was für ein Mann er war. Ja, richtig, aber sie sollte es nicht genießen!

„Nur eine Cola light, danke.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Sie gehen für eine Cola light in eine Bar? Also, das ist seltsam. Die bekommen Sie auch aus einem Getränkeautomaten.“

„Vielleicht bin auf der Suche nach Gesellschaft hereingekommen“, erwiderte Jessie und hoffte, er würde sich sofort in die Nesseln setzen, sodass sie verschwinden konnte.

„Das muss eine Frau wie Sie bestimmt nicht allzu oft tun. Mit Ihnen wollen doch sicher ständig Männer ausgehen.“

Was ja in der Tat stimmte. Aber sie wollte mit keinem von ihnen zusammen sein. Denn sie wurde jedes Mal schnell entweder als Servierflittchen abgestempelt oder als alleinerziehende Mutter, die es bitter nötig hatte. Das hing einzig davon ab, wann und wo sie die Männer kennenlernte.

In beiden Fällen wusste Jessie immer ganz genau, was sie von ihr wollten, und ein geistreiches Gespräch war es nicht.

Sie lehnte die Einladungen immer ab. One-Night-Stands hatten keinen Reiz für sie. Sex hatte keinen Reiz für sie gehabt.

Bis zu diesem Abend …

„Bringen Sie mir noch einen Scotch“, sagte Mr Marshall zum Barkeeper. „Und eine Cola mit Rum für die Dame. Cola light!“ Er lächelte Jessie belustigt an.

„Was, wenn ich Cola mit Rum nicht mag?“

„Das bisschen Rum, das sie in solchen Bars hineintun, ist doch zu vernachlässigen. Sie werden nur Cola schmecken.“

„Stimmt“, räumte Jessie ein.

„Und? Hatte der Kerl recht? Sind Sie von Ihrem letzten Freund nicht anständig behandelt worden? Sind Sie heute Abend deshalb allein unterwegs?“

Sie zuckte die Schultern. „So ungefähr.“

„Ah. Eine geheimnisvolle, faszinierende Frau. Das gefällt mir. Es sorgt für Abwechslung.“

„Wovon?“

„Von Frauen, die ihre Lebensgeschichte erzählen, sobald man sie kennenlernt.“

„Passiert Ihnen das oft?“

„Zu oft.“

„Hat die Blondine dort drüben es auch getan?“

„Nein. Aber sie hat heute Abend schließlich etwas anderes im Sinn. Sieht so aus, als hätte sie endlich das große Los ge­zogen.“

Jessie beobachtete, wie die Blondine zusammen mit dem Mann aufbrach, der sich zu ihr gesetzt hatte. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu erraten, dass sie entweder zu ihr oder zu ihm nach Hause gingen. Oder in ein Hotel. Von dieser Bar aus waren mehrere leicht zu Fuß zu erreichen.

„Die meisten Männer hätten sofort zugegriffen“, erklärte Jessie, als sie sich wieder ihrer Zielperson zuwandte.

„Ich bin nicht wie die meisten.“

„Ja. Ja, das kann ich erkennen.“ Der Barkeeper servierte ihnen die Drinks, was Jessie eine Atempause verschaffte. So gelassen sie nach außen hin auch erschien, sie war sehr nervös. Sie mochte diesen Mr Marshall. Mehr als das. Sie fand ihn faszinierend. Und wahnsinnig sexy.

Sie beschloss, das Gespräch auf ihn zu lenken und ihn dazu zu bringen, zuzugeben, dass er verheiratet war. Es machte ihr große Sorgen, wohin ihr Gespräch sonst führen könnte. „Was ist mit Ihnen?“

„Was soll mit mir sein?“ Er trank einen Schluck Whisky.

„Hat Ihre letzte Freundin Sie nicht anständig behandelt? Sind Sie deshalb heute Abend allein hier?“

Er trank noch mehr, während er über ihre Frage nachdachte.

Jessies Anspannung wuchs, und fast hätte sie ihn angeschrien, einfach die Wahrheit zu gestehen. Dass er derjenige war, der sich nicht anständig verhielt. Ganz gleich, wie viel Stress er zurzeit vielleicht hatte, er sollte zu Hause bei seiner Frau und seinen Kindern sein. Jessie hatte ihn sagen hören, Scheidung sei ein Fluch. Wollte er sich mitten in einer wiederfinden?

Schließlich sah er auf und lächelte sie an. „Wissen Sie was? Ich werde mir an Ihnen sogleich ein Beispiel nehmen und heute Abend nicht über vergangene Beziehungen sprechen. Ich glaube, manchmal rede ich einfach zu viel.“ Er stellte sein Glas auf den Bartresen zurück. „Kommen Sie. Die Musik hat soeben gewechselt. Lassen Sie uns zusammen tanzen.“

Jessie verkrampfte sich. Sie trank einen großen Schluck Cola mit Rum. „Tanzen? Jetzt?“

Er war schon vom Hocker heruntergeglitten und hielt ihr die Hand hin. „Bitte sagen Sie nicht Nein. Es ist nur ein Tanz. Würden Sie wohl auf die Tasche der Dame aufpassen?“, fragte er den Barkeeper. „Besser, Sie stecken das Handy weg. Sie wollen doch nicht, dass so ein schickes Ding geklaut wird.“

Jessie war sicher, dass sie zögerte. Aber nur einen Moment lang. Dann verstaute sie das Handy, legte die Hand in seine und ließ sich von ihm auf die kleine Tanzfläche führen.

Wir werden ja nur tanzen, beruhigte sich Jessie, während er sie an sich zog.

Das Problem war, dass es ein langsames Tanzen war. Sinnlich und sexy. Und so eng, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als ihm die Arme um den Nacken zu legen. Ihre Brüste waren gegen seine muskulöse Brust gepresst. Er hatte ihr eine Hand auf den Rücken gelegt und ließ die andere tiefer gleiten. Jessie fühlte durch den dünnen Stoff ihres Kleides die Wärme seiner Finger. Ihr Herz schlug schneller. Hitze breitete sich in ihr aus. Sie war ein bisschen benommen. Aufgeregt. Erregt.

Und sie war es nicht allein.

Plötzlich blieb er unvermittelt stehen, wich ein bisschen zurück und blickte Jessie in die Augen. „Würdest du mir glauben, wenn ich dir versichere, dass ich so etwas schon sehr lange nicht mehr gemacht habe?“, fragte er rau.

„Was nicht gemacht?“

„Eine Frau in einer Bar aufgegabelt und sie gebeten habe, mit mir in ein Hotel zu gehen.“

Jessie hörte auf zu atmen. Hörte auf zu denken. Ihre Welt stand Kopf, und sie merkte, dass sie sich nicht mehr in der Gewalt hatte. Eine innere Stimme lockte sie, blindlings Ja zu sagen. Zu allem, was er wollte. Noch nie hatte sie so empfunden wie in diesem Moment. Nicht einmal bei Lyall.

Dies war etwas anderes, etwas viel Stärkeres und Gefährlicheres.

„Willst du?“ Er sah sie forschend an.

Sie antwortete nicht. Aber ihr Blick musste ihm irgendetwas verraten haben.

„Keine Namen“, bat er. „Noch nicht. Erst hinterher. Ich möchte auf keinen Fall verderben, was wir jetzt gerade miteinander erleben. Weil ich noch nie so empfunden habe. Sag, dass es für dich dasselbe ist. Gib zu, dass du mich ebenso begehrst wie ich dich.“

Jessie brachte es nicht heraus. Aber sie schmiegte sich unwillkürlich an ihn und verriet ihm mit ihrer Körpersprache ihre Sehnsüchte. „Du redest wirklich zu viel“, flüsterte sie schließlich.

Er atmete hörbar aus. Tat er es aus Erleichterung? Oder versuchte er, ein bisschen von der sexuellen Spannung abzubauen, die sie beide gepackt hatte?

„Dann gehst du mit mir. Jetzt. Sofort.“

Es waren keine Fragen, sondern Befehle.

Jessie wurde klar, dass dieser Mann ein unglaublicher Liebhaber sein würde. Erfahren. Dominierend. Fordernd. Ein Lover, von dem sie früher immer geträumt hatte. Und nach dem sie sich plötzlich sehnte. „Ich … muss erst noch zur Toilette“, stieß sie hervor. Sie wollte unbedingt weg von ihm. Der Abstand würde den Bann brechen, in den er sie gezogen hatte. Sie würde ihre Zurechnungsfähigkeit zurückgewinnen und entkommen.

„Ich könnte eigentlich auch mal kurz verschwinden. Wir treffen uns an der Theke.“

Jessie hielt sich kaum zwanzig Sekunden in der Damentoilette auf, bevor sie zurück an die Theke lief, beim Barkeeper ihre Tasche holte und zum Ausgang stürzte.

Sie rannte den ganzen Weg bis zur Wynyard Station, wo sie in den ersten einfahrenden Zug nach Norden sprang.

Es war erst eine halbe Stunde her, dass sie in die Bar gegangen war. Aber es kam ihr wie ein ganzes Leben vor.

4. KAPITEL

„Das Telefon klingelt, Mom.“ Emily zerrte an Jessies Jeans. „Mom, hast du gehört? Das Telefon klingelt.“

„Wie bitte? Oh, ja. Danke, Schatz.“ Jessie warf das nasse T-Shirt zurück in den Wäschekorb und lief durch den Garten zur Hintertür.

Wer konnte das sein? Jessie hatte als Allererstes an diesem Morgen Jack angerufen und ihm einen mündlichen Bericht über den vergangenen Abend gegeben. Sie war wie gelähmt gewesen vor Angst, er könnte merken, dass sie log.

In der Nacht hatte sie beschlossen, im Zweifelsfall zu Mr Marshalls Gunsten zu entscheiden und Jack nur von dem Vorfall mit der Blondine zu erzählen, nicht aber von dem Gespräch, das danach stattgefunden hatte. Den Teil hatte sie schon vom Video gelöscht.

Kaum hatte Jessie ihn darüber informiert, dass die Zielperson das eindeutige Angebot einer attraktiven Blondine abgelehnt habe, als Jack sagte, er sei nicht überrascht, denn die Ehefrau hätte gerade angerufen und den Auftrag zurückgezogen. Er könne das Geld behalten, das sie schon bezahlt habe, sie wolle jedoch nicht, dass ihr Mann weiter verfolgt werde. Die ganze Sache sei ein Irrtum und Missverständnis gewesen. Er sei am vergangenen Abend nach Hause gekommen und habe alles erklärt, und sie sei sehr glücklich.

„Ich habe sofort erraten, was bei den Marshalls passiert ist“, hatte Jack ölig behauptet. „Ich weiß immer Bescheid. Die Stimmen der Ehefrauen haben einen bestimmten Klang. Neckisch, verschämt und gleichzeitig selbstsicher. Unser Mr Marshall hat sich gut geschlagen, würde ich sagen. Ich hätte gestern Nacht gern Mäuschen in ihrem Schlafzimmer gespielt.“

Jessie wurde die Vorstellung den ganzen Morgen nicht los: Sie als heimliche Beobachterin im Schlafzimmer, während Mr Marshall Sex mit seiner Frau hatte. Der Mann, mit dem sie, Jessie, am vergangenen Abend getanzt hatte. Der Mann, der sie so verzweifelt begehrt hatte.

Sie wusste, dass es nicht recht von ihr war, eifersüchtig zu sein, weil ein Mann mit seiner Ehefrau schlief. Es war nicht recht von ihr, sich zu wünschen, sie wäre diejenige in seinem Bett gewesen. Aber anscheinend konnte sie ihre Gedanken und Gefühle nicht verdrängen. Sie hatte in der Nacht kein Auge zugetan.

Jetzt, da sie zum Telefon rannte, war es Jessie, als würde sie noch immer die Sehnsucht in seinem Blick sehen, die Leidenschaft in seiner Stimme hören, sein Verlangen spüren.

Er hatte behauptet, es sei eine einmalige Erfahrung. Er habe noch nie so empfunden. Hatte er die Wahrheit gesagt?

Jessie neigte dazu, ihm zu glauben. Vielleicht war er betrunken gewesen und hatte nur nicht so gewirkt. Oder er hatte zu lange keinen Sex gehabt. Es war dumm von ihr, zu glauben, dass vom ersten Blickkontakt an etwas Besonderes zwischen ihnen gewesen war.

Da sprach die Romantikerin aus ihr. Männer dachten anders, besonders, was Sex betraf. Sie war für Mr Marshall nur ein möglicher One-Night-Stand gewesen.

Vielleicht war er erleichtert gewesen, als er festgestellt hatte, dass sie verschwunden war. Vielleicht war er in einem Anfall von schlechtem Gewissen und Scham nach Hause gerast und hatte sich wirklich wieder mit seiner Frau versöhnt. Oder hatte er einfach das von Jessie geweckte Verlangen benutzt, um mit einer Frau zu schlafen, die ihn sexuell nicht mehr reizte? Aber warum sollte er das tun? Seinen Kindern zuliebe?

Vorstellbar war es. Bald war Weihnachten. Weihnachten sollte eine Familie zusammen sein. Er hasste Scheidungen. Jessie hatte es ihn sagen hören. Und er hatte einen Toast auf die Ehe ausgebracht. Offensichtlich war ihm seine wichtig.

Denk nicht mehr an ihn! befahl sich Jessie, als sie das Wandtelefon in der Küche erreichte. Was sie am vergangenen Abend erlebt hatte, war aus und vorbei. Sie würde den Mann nie wiedersehen. Ende der Geschichte.

„Ja?“, meldete sie sich atemlos.

„Jessie Denton?“

„Am Apparat.“

„Hier ist Nicholas Hanks von ‚Adstaff‘.“

„Wie bitte? Wer?“ Und dann fiel der Groschen. „Oh ja, Adstaff. Die Stellenvermittlung. Entschuldigen Sie, es ist schon eine Zeit lang her, dass ich von Ihnen gehört habe.“

„Stimmt, aber wie ich Ihnen vor geraumer Zeit erklärt habe, ist der Markt für Grafiker im Moment nicht besonders gut. Gestern habe ich allerdings etwas hereinbekommen, und ich habe sofort an Sie gedacht.“

„Wirklich? Warum gerade an mich?“ Jessies erste Aufregung wurde durch ihre Erfahrungen in der Vergangenheit abgeschwächt. Arbeitsvermittler waren von Natur aus Optimisten. Man musste mit Vorbehalt aufnehmen, was sie sagten.

„Diese spezielle Werbeagentur will jemanden, der sofort anfangen kann. Sie wollen kein Einstellungsgespräch mit einem Bewerber führen, der gegenwärtig noch bei einer anderen Agentur beschäftigt ist.“

Jessie verlor den Mut. Bestimmt gab es in Sydney Dutzende von arbeitslosen Grafikern. Wieder einmal war die Chance minimal, dass sie einen der heiß begehrten Jobs ergatterte. „Welche Agentur ist es?“, fragte sie, ohne sich Hoffnungen zu machen.

„‚Wild Ideas‘.“

„Oh!“, stöhnte Jessie. „Ich würde furchtbar gern dort arbeiten.“ Sie und so ungefähr jeder andere Grafiker in Sydney. Wild Ideas war eine kleine Werbeagentur, aber dort war man innovativ und sehr erfolgreich. Geleitet wurde sie von dem glamourösen Harry Wilde, der den Ruf hatte, lieber einen seiner Grafiker mit künstlerischem Talent zum Artdirector zu befördern, als einen von einer anderen Agentur abzuwerben.

„Ja, das habe ich mir gedacht“, erwiderte Nicholas Hanks amüsiert. „Ihr Einstellungsgespräch ist am Montagmorgen um zehn Uhr.“

„So bald?“ Sie würde beim Restaurant anrufen müssen. Zum Glück war montags am wenigsten zu tun. Wenn sie früh anrief, konnten sie problemlos eine der Aushilfen holen.

„Können Sie sofort anfangen?“

„Und ob. Aber seien wir ehrlich … Nicholas, wäre das nicht …? Ich meine, wie stehen die Chancen, dass es dazu kommt?“

„Fifty-fifty. Wir haben ihnen gestern Nachmittag die Lebensläufe mehrerer Leute auf unserer Liste geschickt, und sie haben schon zwei Kandidaten ausgesucht. Sie sind einer von den beiden, Jessie. Anscheinend wollen sie die Stelle schnellstens besetzen und keine Zeit verschwenden, indem sie Gespräche mit allen führen, die es werden möchten, wenn es welche gibt, die es auch tatsächlich werden können. Ich erinnere mich sehr gut an Ihre Entwürfe, Jessie, deshalb weiß ich, dass Sie das erforderliche Talent haben. Und Sie sind gut darin, sich bei einer Firma vorzustellen. Offen gesagt, ich war wirklich überrascht, als ich Sie vor einigen Monaten zu einem Einstellungsgespräch schickte und Sie den Job nicht bekommen haben.“

Jessie seufzte. „An mir lag es nicht. Ungeachtet dessen, was sie behaupten, sind manche Arbeitgeber total dagegen, eine alleinerziehende Mutter einzustellen. Sie haben Angst, dass die Frauen freihaben wollen, wenn das Kind krank ist oder irgendetwas anderes passiert. Ich bin sicher, das ist die ganze Zeit über Teil meines Problems gewesen.“

„Dass Sie alleinerziehende Mutter sind, steht in Ihrem Lebenslauf, den sie bei Wild Ideas schon gesehen haben. Sie haben trotzdem Sie verlangt. Es hat sie also offensichtlich nicht abgeschreckt. Ihre Tochter ist in einer Tagesstätte, oder?“

„Ja, aber …“

„Aber nichts. Ihre Situation ist nicht anders als die jeder berufstätigen Mutter, ob sie nun ledig oder verheiratet ist. Bei Wild Ideas wird Ihre Kreativität zählen, Ihre Professionalität und Ihre Zuverlässigkeit. Machen Sie auf diesen drei Ebenen einen guten Eindruck, und der Job gehört Ihnen.“

Jessie hatte Mühe, ihre zunehmende Aufregung zu unterdrücken. Sie durfte sich nicht von einem trügerischen Optimismus hinreißen lassen. Das hatte sie schon mehrmals getan, und am Ende des Tages war sie bitter enttäuscht gewesen. „Sie reden, als wäre ich die Einzige, die sich um den Job bemüht. Haben Sie nicht gesagt, dass da noch ein anderer Kandidat ist?“

„Hm … ja“, erwiderte Nicholas Hanks widerstrebend.

„Vermutlich ist diese Person ebenso gut für die Stelle geeignet wie ich.“

„Mm. Ja. Und nein.“

„Soll was heißen?“

„Hören Sie, Jessie, es wäre sehr unprofessionell von mir, etwas Negatives über eine andere Klientin von mir zu sagen.“

Eine Frau.

„Aber lassen Sie mich Ihnen einen Tipp geben. Ziehen Sie sich für Ihr Einstellungsgespräch nicht zu bunt an. Oder zu exzentrisch oder zu sexy.“

Jessie war verblüfft. „Ich bin niemals so gekleidet. Sie haben mich kennengelernt, Nicholas. Ich bin immer sehr konservativ angezogen.“

„Ja das stimmt. Sie wären aber möglicherweise dem Irrtum unterlegen, bei Wild Ideas ein bestimmtes … Image präsentieren müssen. Glauben Sie mir, Ihre Chancen, eingestellt zu werden, werden sehr viel größer sein, wenn Sie ein schlichtes Outfit tragen.“

„Ein Kostüm, meinen Sie?“

„Das könnte unter diesen Umständen ein Zuviel sein. Ich würde etwas Schickes, aber Lässiges vorschlagen.“

„Wären Jeans zu lässig? Ich habe eine wirklich schöne Jeans. Keine mit ausgefransten Löchern. Sie ist dunkelblau und sehr schick. Ich könnte sie mit einer weißen Bluse und einem Blazer kombinieren.“

„Klingt perfekt.“

„Und ich werde mir das Haar hochstecken. Offen sieht es ein bisschen wild aus. Was ist mit Make-up?“

„Nicht allzu viel.“

„In Ordnung.“ Jessie vermutete, dass die andere Bewerberin eine auffallende Frau war, die versuchte, aus ihrem Sex-Appeal Kapital zu schlagen. Was in der Werbebranche nicht selten war. Jetzt, da Harry Wilde geheiratet hatte und kein Playboy mehr war, zog er es vielleicht vor, auf Nummer sicher zu gehen, wenn er eine Frau einstellte. Möglicherweise teilte ihr Nicholas subtil mit, dass eine Femme fatale nicht wohlwollend betrachtet werden würde. „Sollte ich sonst noch etwas wissen?“

„Nein. Seien Sie einfach Sie selbst, und es wird bestimmt alles gut gehen.“

„Sie sind sehr freundlich gewesen. Danke.“

„Gern geschehen. Es tut mir nur leid, dass ich Ihnen nicht schon früher einen Job besorgen konnte.“

„Ich habe diesen noch nicht.“

„Sie werden ihn bekommen.“

Jessie wünschte, sie könnte Nicholas Hanks’ Zuversicht teilen, aber das Leben hatte sie gelehrt, nicht das Fell des Bären zu verkaufen, ehe sie ihn hatte.

„Ich muss Schluss machen, Jessie. Da ist jemand anders in der Leitung. Viel Glück für Montag.“ Dann legte er auf.

Erst da dachte Jessie daran, dass Emily noch immer ganz allein im Garten war. Ihr Herz fing an zu hämmern, so, wie es das Herz einer Mutter immer tat, wenn ihr klar wurde, dass sie ihr Kind zu lange aus den Augen gelassen hatte.

Emily war zwar kein Kind, das in Schwierigkeiten geriet, denn sie war vorsichtig und konnte sich wunderbar mit sich selbst beschäftigen. Dummheiten machte sie nicht. Sie war überhaupt nicht wie ihr Vater. Kurz und gut, sie war ausgesprochen intelligent.

Trotzdem lief Jessie schnell zurück in den Garten und stellte äußerst erleichtert fest, dass sich Emily noch unter dem großen Feigenbaum in der Ecke befand. Es war ihr Puppenhaus, denn die Flächen zwischen den gewaltigen Wurzeln gaben perfekte Zimmer ab. Emily konnte dort stundenlang zufrieden spielen. Sie besaß eine wundervolle Fantasie. Jessie war als Kind genauso gewesen. Vielleicht war es so bei Einzelkindern, oder es war eine besondere Gabe. Wie auch immer, die Denton-Frauen waren gern kreativ.

In diesem Moment wurde Jessie bewusst, dass sie den Job bei Wild Ideas nicht nur wegen des Geldes wollte, sondern auch für sich selbst. Serviererin zu sein war eine gute Sache zur Überbrückung gewesen, aber sie hatte keine Lust, das für den Rest ihres Lebens zu machen. Sie sehnte sich danach, geistig zu arbeiten, und brauchte die Herausforderungen und die lebendige Atmosphäre in der Werbebranche.

„Mom, wer hat angerufen? War das Dora?“

Jessie hatte gerade die Wäsche aufgehängt und bückte sich jetzt, um ihre Tochter hochzuheben. Es war Zeit fürs Mittagessen. „Nein, nicht Dora. Es war ein Mann.“

„Ein netter Mann?“

„Sehr nett.“

„Wird er dein Freund?“

„Wie? Nein. Du lieber Himmel, nein! Er besorgt nur Leuten Jobs. Es sieht so aus, als hätte er für mich einen als Grafikerin gefunden. Ich muss am Montag zu einem Einstellungsgespräch. Wenn ich die Arbeit bekomme, werde ich viel mehr Geld verdienen und kann dir viele schöne Dinge kaufen.“

Die Neuigkeit schien Emily nicht zu beeindrucken. Sie runzelte die Stirn. „Warum hast du keinen Freund, Mom? Du bist hübsch.“

Jessie spürte, dass sie rot wurde. „Ich … ich habe einfach keinen Mann kennengelernt, der mir so gut gefallen hätte, dass ich ihn als Freund haben wollte.“ Während sie das sagte, dachte sie an eisblaue Augen und ein charismatisches Lächeln. Ihr blieb fast das Herz stehen bei der Erinnerung daran, dass sie fast denselben Fehler wie ihre Mutter begangen hatte. Zum Glück war sie gerade noch rechtzeitig aus dieser Bar herausgekommen.

„Ich habe dich, Schatz.“ Jessie drückte ihre Tochter an sich. „Ich brauche nichts und niemand sonst.“ Was die größte Lüge war, die sie Emily aufgetischt hatte, seit sie ihr erzählt hatte, sie sei gern Serviererin. Denn das Erlebnis am vergangenen Abend zeigte, dass sie noch etwas anderes brauchte. Sie musste sich gelegentlich wie eine Frau fühlen, nicht nur wie eine Mutter. Allmählich bauten sich Frustrationen in ihr auf. Sie sehnte sich danach, noch einmal in den Armen eines Mannes zu liegen.

Eines Tages würde sie einen Mann finden müssen, der diese Bedürfnisse befriedigte. Einen Freund, wie Emily gesagt hatte.

Aber wen?

Wieder kamen Jessie diese blauen Augen in den Sinn. Nein, er nicht. Er war tabu. Verheiratet. Wenn sie nur diese Stelle bekam. Das würde ihr einen ganz neuen männlichen Bekanntenkreis verschaffen. Okay, viele Kerle in der Werbebranche waren schwul. Einige aber auch nicht. Irgendwo da draußen musste es doch wohl den richtigen festen Freund für sie geben. Einen attraktiven und intelligenten Mann. Single und ein guter Liebhaber.

Attraktive, intelligente Singles, die gut im Bett waren, hatten natürlich den Nachteil, dass sie ausnahmslos ganz von sich eingenommen waren und sich nicht binden wollten. So eine Beziehung hatte keine Zukunft. Jessie wusste, dass sie sich nicht in den Mann verlieben durfte, falls sie ihren Wunschtyp tatsächlich kennenlernen sollte. Sie musste aufpassen, dass sie nicht anfing, sich mehr zu erhoffen, als er geben konnte.

Jessie seufzte. Brauchte sie wirklich derartige Komplikationen? Wäre es nicht besser, wenn sie weitermachte wie bisher und eine alleinerziehende Mutter blieb, die ohne Sex lebte?

Männer bedeuteten Probleme. Und zwar immer. Ohne Mann war sie viel besser dran. Sie war glücklich. Noch glücklicher würde sie sein, wenn sie am Montag den Job bekäme.

Jeder war schließlich mal frustriert. Das war eine vorüber­gehende Sache. Sie würde das überwinden. Jessie seufzte wieder.

„Warum seufzt du heute dauernd, Mom?“, fragte Emily. „Bist du müde?“

„Ein bisschen.“

„Warum trinkst du nicht eine Tasse Kaffee? Das tust du immer, wenn du müde bist.“

Jessie blickte ihre Tochter lachend an. „Du kennst mich sehr gut, nicht?“

„Ja, Mom. Tu ich“, erwiderte Emily in dem seltsam erwachsenen Ton, den sie manchmal benutzte. „Ich höre Doras Auto! Los, wir gehen und erzählen ihr von deinem neuen Job.“

„Ich habe ihn noch nicht bekommen. Es ist nur ein Einstellungsgespräch.“

„Du bekommst ihn“, sagte Emily mit all der naiven Zuversicht einer Vierjährigen.

5. KAPITEL

Die Büros von Wild Ideas waren im Norden von Sydney, im dritten Stock eines Geschäftshauses nicht weit von der North Sydney Station. Ein Pluspunkt für Jessie, die kein Auto hatte.

Sie kam zu früh im Foyer des Gebäudes an, sah dennoch wieder prüfend auf ihre Armbanduhr, ohne die sie verloren gewesen wäre: fünfundzwanzig Minuten vor zehn. Sie würde noch nicht hochfahren zu Wild Ideas. Nur Verzweifelte kamen zu früh.

Stattdessen ging sie zur Toilette, wo sie einige Minuten damit verbrachte, zu überprüfen, ob sie nicht wie eine Femme fatale aussah. Jessie hatte ihr Haar im Nacken mit einem schwarz-weiß bedruckten Schal zurückgebunden, der von Dora geliehen war. Sie trug ihre besten Jeans, eine weiße Bluse und einen leichten schwarzen Blazer und hatte ihre schwarze Aktentasche dabei. Ihre schwarzen Pumps waren nicht mehr die neuesten, aber Jessie hatte sie an diesem Morgen geputzt, bis sie glänzten. Ihr Make-up war dezent, und kleine silberne Ohrringe waren außer der Armbanduhr ihr einziger Schmuck.

Tatsächlich würde man ihre Erscheinung in Werbekreisen als sehr konservativ betrachten. Aber sie hatte sich noch nie auffällig gekleidet, nicht einmal in den Zeiten, in denen sie es sich hatte leisten können.

Schließlich fuhr sie mit klopfendem Herzen per Lift in den dritten Stock. Es war einige Monate her, dass sie ein Einstellungsgespräch gehabt hatte, und ihr war schlecht vor Nervosität. Nicht, weil sie sich den Job nicht zutraute. Jessie war immer von ihren Fähigkeiten überzeugt gewesen. Nachdem sie so oft eine Absage bekommen hatte, fragte sie sich jedoch, ob jemals irgendjemand erkennen würde, was sie zu bieten hatte. Immerhin standen ihre Chancen diesmal fifty-fifty. So gut wie noch nie.

Als Jessie aus dem Lift trat, überlegte sie, ob die andere Bewerberin jetzt wohl gerade ihr Einstellungsgespräch mit dem Chef führte und ihn so sehr beeindruckte, dass er sich nicht einmal mehr die Mühe machen würde, mit ihr, Jessie, zu reden. Vielleicht würde die Empfangsdame sagen: „Vielen Dank, aber die Stelle ist schon besetzt.“

Jessie atmete tief durch und befahl sich, nicht so albern und so negativ zu sein. Ihr Lebenslauf hatte Harry Wilde ja offensichtlich gefallen. Sicherlich würde er den Anstand haben, das Einstellungsgespräch mit ihr zu führen.

Der Empfangsbereich von Wild Ideas passte zum Image der Firma. Modern und farbenfreudig, mit flotten, klaren Linien und Möbeln. Rot gestrichene Wände, mit Werbepostern bedeckt. Glänzender schwarz gefliester Boden. Cremefarbene Ledersofas. Der Schreibtisch und die Couchtische waren aus hellem Holz.

Die Empfangsdame war blond und chic, aber nicht allzu glamourös oder allzu schön. Sie war vielleicht dreißig, trug ein geschmackvolles schwarzes Kostüm und lächelte sehr nett. Es war nicht das Lächeln, das man sich abrang, bevor man eine schlechte Nachricht überbrachte.

„Hallo“, begrüßte sie Jessie, „Sie müssen Jessie Denton sein.“

„Ja, das ist richtig“, erwiderte diese nervös. „Ich bin ein bisschen früh dran.“

„Besser, als zu spät aufzutauchen. Oder überhaupt nicht. Ich werde Karen anrufen und ihr Bescheid geben, dass Sie da sind. Karen ist Mr Wildes persönliche Assistentin. Nehmen Sie bitte einen Moment dort drüben Platz.“ Die Blondine zeigte auf eins der Sofas an der Wand. „Jessie Denton ist hier, Karen“, meldete sie sich am Telefon. „Okay … Ja, ich richte es ihr aus.“

Jessie hatte sich hingesetzt, zurückgelehnt und die Beine übereinandergeschlagen. Sie tat ihr Bestes, gelassen und selbstsicher zu wirken. Insgeheim war sie jedoch ein Nervenbündel.

„Mr Marshall ist mit der anderen Bewerberin noch nicht fertig“, teilte ihr die Empfangsdame mit. „Es wird aber nicht mehr lange dauern.“

„Mr Marshall?“, stieß Jessie hervor. Sie stellte die Beine wieder nebeneinander und setzte sich gerade hin. „Aber … aber …“

„Mr Wilde ist zurzeit im Ausland“, erklärte die Empfangsdame. „Während seiner Abwesenheit leitet Mr Marshall die Agentur.“

„Oh. Ich verstehe.“ Jessie atmete tief durch und lehnte sich wieder zurück. Verrückt, anzunehmen, dass dieser Mr Marshall ihr Mr Marshall vom Freitagabend war. Es war kein Name, der selten vorkam. Außerdem war ihr Mr Marshall Steuerberater. Wie sollte ein Steuerberater eine Werbeagentur leiten, selbst wenn es nur vorübergehend war?

„Übrigens, ich heiße Margaret“, stellte sich die Blondine heiter vor. „Wir können uns ebenso gut schon mal kennenlernen. Ich sollte das wahrscheinlich nicht sagen, aber ich glaube, Sie sind mehr Mr Marshalls Fall als die junge Frau, die jetzt bei ihm im Büro ist.“

„Warum?“, fragte Jessie.

Irgendwo auf der Etage knallte in diesem Moment eine Tür zu.

„Urteilen Sie selbst“, flüsterte Margaret.

Und schon rauschte ein erstaunliches Wesen in den Empfangsbereich. Als Erstes fiel Jessie das leuchtend orangefarbene Haar der Frau auf. Es sah aus, als wäre es mit einer Kettensäge geschnitten worden. Das Zweite waren die goldenen Ringe, die ihr weiß geschminktes Gesicht schmückten. Ohren. Nase. Lippen. Augenbrauen. Kinn. Der Himmel wusste, welche anderen Körperteile auch noch gepierct waren. Zum Glück war die junge Frau von Kopf bis Fuß bekleidet, sodass Jessie nur Vermutungen anstellen konnte. Der Stil des Outfits war eine Kombination aus Grunge und Gothic, und jedes Teil sah aus, als wäre es aus einem Altkleidercontainer gerettet worden.

„Sagen Sie Harry Wilde, er soll sich bei mir melden, wenn er zurückkommt und noch interessiert ist“, rief die aus der Addams Family Entflohene über die Schulter, während sie in ihren Armeestiefeln an Jessie und Margaret vorbeimarschierte. „Für den da hinten würde ich nicht einmal arbeiten, wenn er der letzte Mensch auf Erden wäre. Er hat absolut keine Ahnung von Kreativität.“

Sobald die junge Frau verschwunden war, blickte Margaret breit lächelnd die entgeisterte Jessie an. „Verstehen Sie, was ich meine? Ich denke, Sie sind haushohe Favoritin.“

Jessie konnte kaum glauben, dass das Schicksal so freundlich zu ihr war. „Ich hoffe es, denn ich möchte diese Stelle unbedingt haben.“ Sie würde es nicht aushalten, den Rest ihres Lebens als Serviererin zu arbeiten.

Das Telefon summte, und Margaret nahm den Hörer ab. „Ja, Karen, ich schicke sie sofort. Und keine Sorge, diese wird ihm gefallen.“ Die Empfangsdame legte auf und lächelte Jessie aufmunternd an. „Sie sind dran. Am Ende des Flurs. Gehen Sie direkt hinein.“

Jessie atmete tief ein und stand auf. „Nur eins, bevor ich … Wissen Sie zufällig Mr Marshalls Vornamen?“

„Sicher. Er heißt Kane. Warum?“

Jessie war wahnsinnig erleichtert. Einen Moment lang hatte sie … Sie zuckte die Schultern. „Ich kannte früher einmal einen Mann namens Marshall, und ich war ein bisschen beunruhigt deswegen. Zum Glück ist er es nicht.“

Margaret lachte. „Wir haben alle so einen in unserer Vergangenheit.“

Richtig. Das Problem war nur, dass die Begegnung mit diesem nicht lange genug zurücklag. Es war erst drei Abende her, dass Jessie mit ihm zusammen gewesen war, und bei dem Gedanken an ihn bebte sie noch immer.

Ihre Nervosität legte sich jetzt, da sie wusste, dass der Mr Marshall, der das Einstellungsgespräch mit ihr führen würde, nicht Curtis Marshall war, verheiratet und unwiderstehlich sexy. Auch konnte sie nicht leugnen, sich gut zu fühlen, weil ihre Konkurrentin so schlecht abgeschnitten hatte. Offensichtlich hatte Nicholas Hanks von Adstaff dem Karottenkopf nicht den Rat gegeben, sich eher konservativ zu kleiden. Oder er hatte es getan, und die junge Frau hatte nicht auf ihn gehört.

Die Tür am Ende des Flurs führte in das Büro der persönlichen Assistentin. Es war nicht so farbenfreudig wie der Empfang, aber groß, modern und sehr hübsch eingerichtet. Karen selbst war überhaupt nicht so, wie Jessie sich Harry Wildes persönliche Assistentin vorgestellt hatte. Sie war eine Rothaarige um die vierzig, mollig und nett.

„Oh, dem Himmel sei Dank!“, rief sie, als Jessie hereinkam. „Haben Sie die andere Bewerberin gesehen?“

„Ja. Doch solche Leute sind in der Werbebranche nicht ungewöhnlich. Wahrscheinlich hält sie sich für eine Künstlerin, die ein bestimmtes Avantgarde-Image wahren muss.“

„Wir stellen hier keine avantgardistischen Künstler ein“, sagte Karen trocken. „Wir stellen Leute ein, die viele innovative Ideen haben und hart arbeiten können. Hat Margaret zufällig erwähnt, dass Mr Wilde zurzeit verreist ist?“

„Ja, hat sie.“

„Gut. Dann werden Sie verstehen, warum ich einen Teil des Einstellungsgesprächs übernehme. Mr Marshall ist ein großartiger Manager, aber er kommt nicht aus der Werbung. Ich bin schon einige Jahre bei Mr Wilde und weiß, was er an einer Mitarbeiterin mag. Ihren Lebenslauf habe ich mir bereits angesehen, und ich war beeindruckt. Jetzt, da ich Sie persönlich kennenlerne, bin ich noch mehr beeindruckt. Würden Sie mir bitte Ihre Mappe mit Ihren Entwürfen zeigen?“

Jessie holte sie aus ihrer Aktentasche und reichte sie Karen. Sie enthielt die besten Arbeiten, die sie im Lauf der Jahre gemacht hatte.

„Hm. Das ist ausgezeichnet. Sie werden Michele zufriedenstellen. Sie ist eine von unseren Führungskräften und wird Ihre Vorgesetzte sein. Ihr Assistent hat vergangene Woche gekündigt, nachdem sich die beiden über seine mangelnde Motivation gestritten hatten. Er hat oft gefehlt und, wie wir glauben, ein Drogenproblem. Jedenfalls braucht sie einen guten Grafiker, der sofort seinen Platz einnimmt. Mehrere Aufträge müssen noch vor Weihnachten fertiggestellt werden, und obendrein geht sie Mitte nächsten Jahres in Mutterschaftsurlaub. Sie bekommt ihr zweites Baby. Wir hoffen, dass Sie für sie einspringen können, wenn es so weit ist. Ich habe von Nicholas Hanks bei Adstaff gehört, dass Sie Ambitionen haben, selbst Artdirector zu werden. Ist das richtig?“

„Das ist mein größter Wunsch. Die Anzeigen ganz hinten in der Mappe sind meine eigenen Entwürfe. Es handelt sich nicht um Kampagnen, an denen ich gearbeitet habe.“

„Bis dahin war ich noch nicht gekommen.“ Karen schlug einige Seiten um und betrachtete konzentriert eine Zeitschriftenanzeige. „Ist das schon eine, die von Ihnen gestaltet wurde? Die für Haushaltsgeräte?“

„Ja, die stammt von mir.“

Die Seite hatte einen leuchtend blauen Hintergrund, um die weißen Geräte hervorzuheben. In der Mitte befanden sich ein Geschirrspüler, eine Waschmaschine und ein Trockner, darum waren kleinere Küchengeräte aus rostfreiem Stahl angeordnet. Eine ausgesprochen glamouröse Blondine lag lässig ausgestreckt auf den drei großen Gegenständen. Sie trug ein tief ausgeschnittenes weißes Abendkleid, hatte rot lackierte Fingernägel und streichelte die Maschinen. Über ihr standen die Worte: „Es geht nicht um die Haushaltsgeräte in deinem Leben, sondern um das Leben in deinen Haushaltsgeräten.“ Das war eine Parodie der berühmten Bemerkung Mae Wests: „Es geht nicht um die Männer in deinem Leben, sondern um das Leben in deinen Männern.“

„Die Anzeige ist brillant!“, rief Karen.

„Danke“, erwiderte Jessie stolz.

„Wir entwickeln gerade eine Kampagne für ein Küchengeräteunternehmen. Für diesen neuen Kunden wäre die Anzeige perfekt. Ich muss sie Peter zeigen. Er bearbeitet den Auftrag. Ich kann mir vorstellen, dass Michele und Peter um Sie kämpfen werden. Natürlich muss Mr Marshall Sie erst einstellen.“ Karen lächelte. „Aber ich bin sicher, das ist nur noch eine Formalität. Gehen wir also los. Hoffentlich hat er sich inzwischen von der letzten Bewerberin erholt. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen, als sie hineingegangen ist. Mein Fehler, natürlich, denn ich hatte sie vorgeschlagen. Ihr Lebenslauf hat mir imponiert, trotzdem war sie völlig ungeeignet.“

„Darf ich fragen, warum? Das Äußere kann täuschen. Vielleicht ist sie sehr talentiert.“

„Sie ist in der Tat eine sehr talentierte Grafikerin. Für eine Beförderung jedoch nicht geeignet. Harry erwartet von seinen Frontleuten einen bestimmen Look und Stil. Schließlich haben sie mit vielen Kunden zu tun, von denen einige sehr konservativ sind. Harry glaubt, dass der erste Eindruck wichtig ist. Kane ist der gleichen Meinung. Und Sie, Jessie Denton, machen einen sehr guten ersten Eindruck.“

„Ich habe Jeans an.“

„Ja, aber sie sind sauber und hübsch, und Sie tragen sie mit Stil. Und ich finde es toll, was Sie mit Ihrem Haar gemacht haben. Wirklich elegant.“

Jessie hätte nicht zuversichtlicher sein können, als sie zu Harry Wildes Büro geführt wurde. Ihr Selbstwertgefühl war gewaltig, und ihr Herz klopfte nicht vor Nervosität, sondern vor freudiger Erwartung.

Endlich einmal war das Schicksal gut zu ihr gewesen.

Dann sah der Mann auf, der an Harry Wildes Schreibtisch saß, und Jessie blieb buchstäblich das Herz stehen.

Wie konnte das sein? Die Empfangsdame hatte doch gesagt, sein Vorname sei Kane, nicht Curtis! Karen hatte ihn gerade eben Kane genannt!

Aber er war es. Jessie erinnerte sich genau an ihn, besonders da er sogar gleich gekleidet war, im Anzug, mit Hemd und Krawatte. Er kniff die eisblauen Augen zusammen und blickte Jessie überrascht an. Oder schockiert?

„Ja, ich weiß“, sagte Karen lachend zu ihm. „Eine eindeutige Verbesserung gegenüber Miss Jaegers. Dies ist Jessie Denton. Hier ist ihre Mappe mit den Entwürfen.“ Karen legte sie auf den großen Schreibtisch aus Walnussholz. „Ich habe mir alles angesehen, und es ist fantastisch. Möchten Sie Kaffee? Oder Tee?“ Sie blickte von Kane zu Jessie.

Autor

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