Julia Exklusiv Band 254

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TANZ AUF DEN KLIPPEN von COX, MAGGIE
Unerwartet kehrt der gefährlich attraktive Jack Fitzgerald in Carolines Leben zurück - und mit ihm die Sehnsucht nach seiner Zärtlichkeit! Aber Im Reicht das, um eine Liebesnacht mit ihm in ihrem Haus am Meer zu riskieren? Nach allem, was vor Jahren geschah?

UNVERGESSLICHE GEFÜHLE von ADAMS, JENNIE
Sollte sich Lily den überaus smarten Zach Swift nicht einfach aus dem Kopf schlagen? Schließlich ist sie nur seine Sekretärin! Als ihr Boss sie bittet, ihn auf einer Geschäftsreise nach Australien zu begleiten, sagt ihr Verstand deutlich Nein. Doch ihr Herz ist anderer Meinung …

LIEBE, HOFFNUNG UND VERZEIHEN von BROOKS, HELEN
Wie ein Märchenprinz erscheint Marianne der Im Reiche Rafe Steed, als er sein Vorhaben, ihr romantisches Herrenhaus in Cornwall zu retten, mit einem zärtlichen Kuss besiegelt. Einem Happy End scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Doch dunkle Schatten der Vergangenheit bedrohen ihr Glück …


  • Erscheinungstag 02.01.2015
  • Bandnummer 0254
  • ISBN / Artikelnummer 9783733703608
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Maggie Cox, Jennie Adams, Helen Brooks

JULIA EXKLUSIV BAND 254

MAGGIE COX

Tanz auf den Klippen

Jack kann es kaum fassen: Endlich hat er die Macht, altes Unrecht zu vergelten. Nur aus diesem Grund will er Caroline wiedersehen – glaubt er. Doch als er sie nach Jahren in dem Haus am Meer aufsucht, brennt zu seiner Überraschung nicht mehr Hass in seinem Herzen – sondern nur der alles verzehrende Wunsch nach Liebe …

JENNIE ADAMS

Unvergessliche Gefühle

Vom ersten Augenblick an fühlt Lily sich magisch zu ihrem neuen Boss Zach Swift hingezogen. Doch sie hat einen eisernen Grundsatz: Verliebt dich nie in deinen Chef! In der Hoffnung, dass ihr verzehrendes Verlangen ein Ende hat, verbringt sie eine leidenschaftliche Nacht mit ihm. Und macht damit nur alles nur noch viel schlimmer …

HELEN BROOKS

Liebe, Hoffnung und Verzeihen

Rafe und Marianne wissen beide, dass ihre Liebe eigentlich keine Chance hat. Schließlich sind ihre Familien seit Jahren verfeindet. Dabei würde der reiche Unternehmer der hinreißenden Frau nur zu gerne seine Gefühle offenbaren und die Feindschaft für immer begraben. Doch kann die Liebe die tiefen Wunden der Vergangenheit heilen?

1. KAPITEL

Den ganzen Tag hatte Caroline das Gefühl, das Meer würde sie rufen. Deshalb schloss sie den Laden pünktlich um halb sechs, schwang sich auf das Fahrrad und fuhr so schnell zum Strand, als würde sie verfolgt. Dort angekommen, sprang sie vom Rad und lief ans Wasser. Die frische Luft atmete sie so begierig ein, dass man beinahe hätte glauben können, sie hätte die letzten Stunden in einem stickigen düsteren Verlies verbracht.

Es war ganz egal, wie ein Tag verlief: Sobald sie am Strand war, schien die Welt wieder in Ordnung. Sie liebte das Meer und konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben.

Caroline wusste selbst nicht, warum sie schon am Morgen beim Aufstehen so nervös gewesen war. Ihre Unruhe hatte bis in die Abendstunden angehalten. Es gab jedoch keine vernünftige Erklärung dafür, dass sie sich nicht hatte konzentrieren können. Mit den Kunden, die in ihren kleinen Laden für Künstlerbedarf und Kunstgewerbe kamen, hatte sie sich kaum unterhalten. Das war recht ungewöhnlich.

Auch wenn keine Kunden im Laden waren, gab es genug für sie zu tun. Aber Caroline hatte sich zu nichts aufraffen können. Stattdessen hatte sie immer wieder sehnsüchtig auf die Uhr geblickt. Am liebsten hätte sie das Geschäft schon früher geschlossen, um sich zu ihrer Lieblingsbucht zu flüchten oder sich mit Malen abzureagieren. Aber das hatte sie natürlich nicht getan.

Während sie jetzt die schaumgekrönten Wellen betrachtete, die sich an den Felsen brachen, war sie bestürzt über den Schmerz, der in ihr aufstieg. Ehrlicherweise gestand sie sich sogleich ein, dass sie ihn den ganzen Tag gespürt, ihn jedoch immer wieder verdrängt hatte. Jetzt konnte sie ihn nicht länger ignorieren. Schon seit siebzehn Jahren war ihr dieser Schmerz sehr vertraut, sie war nur zuweilen erstaunt darüber, dass er immer noch so heftig war und sie derart aus dem seelischen Gleichgewicht brachte.

Aber Caroline wollte sich nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen, sondern die Empfindungen, die den Schmerz auslösten, so schnell wie möglich verbannen. Die kleine geschützte Bucht mit dem Sandstrand war ihre ganz private Oase des Friedens und der Ruhe. Hier konnte sie sich entspannen und die traurigen Gedanken vergessen. Es war sowieso sinnlos, zu intensiv über das, was vor so vielen Jahren geschehen war, nachzudenken.

Hier zu stehen, hinaus aufs Meer zu blicken und die frische Luft tief einzuatmen, half ihr immer, sich zu beruhigen und ihre innere Ausgewogenheit wiederzugewinnen. Diese Methode hatte sich bewährt, wenn Caroline vor lauter Verzweiflung nicht mehr ein noch aus wusste. So würde es auch heute sein, davon war sie überzeugt.

Seit genau siebzehn Jahren war Jack nicht mehr in der kleinen Stadt am Meer gewesen. Jetzt stellte er fest, dass sich der Ort, der ihn nachts bis in die Träume verfolgte, kaum verändert hatte. Der Sommer war längst vorbei, und der Herbst neigte sich dem Ende zu. Dennoch hatte Jack damit gerechnet, Horden lärmender Urlauber zu begegnen. Doch glücklicherweise erwiesen sich seine Befürchtungen als unbegründet. Die Stadt war vom Tourismus verschont geblieben und kam ihm immer noch so ruhig und ziemlich nichtssagend vor wie damals; sie hatte sich kaum verändert. Einen Bevölkerungszuwachs hatte es offenbar auch nicht gegeben.

Wäre es mir lieber, wenn sich hier viel verändert hätte? fragte er sich wehmütig. Zumindest wären dann die Erinnerungen, die er am liebsten ganz und für immer ausgelöscht hätte, nicht schlagartig wieder erwacht. Die Reihenhäuser mit Blick auf das Meer wirkten noch genauso grau und abweisend wie vor siebzehn Jahren. Und in der Straße, die in die Sackgasse führte, in der er mit seiner Mutter gelebt hatte, schien ebenfalls die Zeit stehen geblieben zu sein. Plötzlich kehrte die mühsam verdrängte Vergangenheit schmerzlich zurück.

Vor allem an ein Ereignis erinnerte er sich klar und deutlich: die erste Begegnung mit Caroline Tremayne. Sie war mit ihren Freundinnen von der Schule nach Hause gegangen, und er war auf den ersten Blick von ihrem Lächeln, ihrem schönen Gesicht, dem langen, gelockten, blonden Haar und den wunderschönsten Beinen, die er jemals gesehen hatte, fasziniert gewesen. Sekundenlang hatte er sich wie verzaubert gefühlt. Später hatte sein Herz beim Anblick einer schönen jungen Frau nie wieder so heftig geklopft wie in diesem Moment.

Es regnete, und Jack schob die Hände tiefer in die Taschen seines Regenmantels. Wahrscheinlich hatte Caroline die Stadt, in der er aufgewachsen war, längst verlassen. Sie war damals als Sechzehnjährige gerade erst hierher gezogen. Vermutlich hatte sie schließlich zur Freude ihres Vaters, der im Ort eine Praxis als Allgemeinmediziner aufgemacht hatte, einen jungen ehrgeizigen Arzt geheiratet und lebte jetzt in einem vornehmen Londoner Stadtviertel.

Er fragte sich, ob sie Kunst studiert hatte, wie es ihr Plan gewesen war. Vielleicht war sie auch damit zufrieden, Hausfrau und Mutter zu sein, während ihr Mann sich auf seine Karriere konzentrierte.

Zornig fuhr er sich mit der Hand durch das nasse dunkle Haar und verlangsamte den Schritt. Er ärgerte sich darüber, dass er es immer noch unerträglich fand, sich Caroline mit einem anderen Mann vorzustellen. Als erfolgreicher Unternehmer traf er jeden Tag schwerwiegende und weitreichende Entscheidungen. Das war für ihn ein Kinderspiel im Vergleich zu seinen bisher vergeblichen Versuchen, die quälenden und beunruhigenden Erinnerungen an Caroline Tremayne auszulöschen. Sie hatte es nicht verdient, dass er auch nur einen einzigen Gedanken an sie verschwendete, das war die nackte harte Wahrheit. Nach allem, was sie ihm vor siebzehn Jahren angetan hatte, konnte er keiner Frau mehr vertrauen.

Jack zwang sich, die bitteren Gefühle zu verdrängen und sich darauf zu konzentrieren, was er hier erledigen wollte. Entschlossen ging er auf das verfallene viktorianische Haus zu, in dem er aufgewachsen war und das jetzt ihm gehörte.

Caroline hatte gehofft, sich am Meer entspannen und neue Kraft schöpfen zu können, aber der plötzlich einsetzende Regen machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Während sie mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, wehte ihr der Wind den Regen ins Gesicht. Dummerweise hatte sie das Regencape vergessen, und die sportliche Jacke, die sie heute anhatte, bot keinen Schutz gegen dieses Wetter.

Als ihr ein Auto mit viel zu hoher Geschwindigkeit entgegenkam, stieg sie vorsichtshalber vom Rad und wich auf den Gehweg aus. Da sie sowieso bald zu Hause war, beschloss sie, zu Fuß weiterzugehen und das Fahrrad zu schieben. Mit gesenktem Kopf kämpfte sie gegen den Wind und den Regen an. Deshalb bemerkte sie den Mann, der ihr entgegenkam und tief in Gedanken versunken war, erst, als sie mit ihm zusammenstieß.

Er schreckte auf, zog die Hände aus den Taschen und bemühte sich, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Als sie ihn dann auch noch mit dem Vorderrad am Schienbein traf, fluchte er laut. Caroline entschuldigte sich und sah ihn reumütig an.

Doch als sie seinem Blick begegnete, war sie überrascht und schockiert. Dieses tiefe intensive Blau hatte sie nie vergessen, es gab nur einen Mann, der solche Augen hatte.

„Jack?“, stieß sie hervor. Ihre Kehle fühlte sich plötzlich wie zugeschnürt an.

„Caroline.“ Er straffte seine Schultern und sah sie kühl und gleichgültig an.

Sie war schmerzlich berührt und hätte weinen können über die Feindseligkeit, die sein Blick verriet. Sie biss sich auf die Lippe. Am liebsten wäre sie auf ihr Fahrrad gestiegen und rasch weitergefahren. Aber sie konnte sich nicht rühren und stand wie erstarrt da.

„Du hast dich kaum verändert“, stellte er hart fest.

Jacks Gedanken wirbelten durcheinander. Wohnte Caroline etwa immer noch hier? Das war kaum vorstellbar. Wenn er geahnt oder vermutet hätte, ausgerechnet ihr zu begegnen, wäre er niemals hergekommen. Und er hätte auch das Haus, in dem er aufgewachsen war, nicht gekauft. Oder vielleicht doch?

Zunächst hatte er Caroline leidenschaftlich geliebt, später hatte er sie genauso leidenschaftlich gehasst. Jetzt empfand er nur noch Verachtung für sie. Aber er gestand sich ein, dass sie immer noch so hinreißend schön war wie damals.

Mit der feinen Haut, den braunen Augen und den verführerischen Lippen wirkte sie ganz bezaubernd. Und genau wie damals schien sie auch jetzt noch Macht über ihn zu haben, denn gegen seinen Willen konnte er dem Wunsch, sie zu küssen, kaum widerstehen.

„Was machst du hier?“, fragte sie schließlich, während sie den Fahrradlenker mit beiden Händen so fest umklammerte, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

„Das geht niemanden etwas an.“

„Entschuldige, ich …“

„Hast du etwa vergessen, dass ich kein Freund von Small Talk bin?“ Spöttisch zog er eine Augenbraue hoch.

Caroline errötete und blickte ihn schweigend an.

Er verzog zufrieden die Lippen und schien sich über ihr Unbehagen zu freuen. „Nun, es hat sich nichts geändert.“ Dann schob er die Hände tief in die Taschen seines Regenmantels und ging weiter. „Auf Wiedersehen, Caroline.“

„Ist Dr. Brandon fertig für heute?“

„Ja, der letzte Patient ist gerade weg, Miss Tremayne. Gehen Sie doch einfach hinein“, forderte die Arzthelferin sie freundlich auf.

Ohne zu zögern, eilte Caroline an ihr vorbei, klopfte kurz an die Tür des Behandlungsraums und öffnete sie, nachdem Nicholas „Herein!“ gerufen hatte.

Er war der beste Freund ihres Vaters bis zu dessen Tod, und jetzt war er ihr ein enger Vertrauter. Beim Anblick seines liebenswürdigen und warmen Gesichtsausdrucks konnte sie nur mühsam die Tränen zurückhalten. Die Begegnung mit Jack Fitzgerald hatte sie aufgewühlt und verwirrt.

„Hallo, Caroline.“ Nicholas ging um den riesigen Schreibtisch aus Eiche herum, umarmte Caroline zur Begrüßung und küsste sie auf die Wange. „Was für eine angenehme Überraschung. Ich habe gerade an dich gedacht.“

„Hast du einen Brandy für mich oder dergleichen? Als Medizin sozusagen.“ Sie rang sich ein Lächeln ab.

Nicholas betrachtete sie besorgt und runzelte die Stirn. „Was ist passiert? Du bist völlig durchnässt und zitterst. Setz dich, und erzähl mir, was los ist.“ Er drückte sie auf den Stuhl, auf dem sonst seine Patienten saßen. Dann holte er eine Flasche Whisky aus dem Schrank. „Einen Brandy kann ich dir leider nicht anbieten, aber ein Whisky ist genauso gut.“ Er schenkte ihr ein Glas ein und reichte es ihr. Nachdenklich beobachtete er sie, während sie einige Schlucke trank.

„Dein merkwürdiges Verhalten beunruhigt mich, Caroline“, erklärte er und drückte ihr kurz die Schulter.

Der Whisky brannte ihr wie Feuer in der Kehle, doch wenige Sekunden später setzte die wohltuende Wirkung ein, die sie sich erhofft hatte. Der Schmerz über die unerwartete zufällige Begegnung mit Jack ließ etwas nach.

Sie sah Nicholas an und versuchte, ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. „Du denkst wahrscheinlich, ich sei völlig durchgedreht. Entschuldige bitte, dass ich unangemeldet hereingeschneit bin.“

„Caroline, was ist los? Wir kennen uns schon so lange und sind gute Freunde. Und daran hat auch Megs Tod im letzten Jahr nichts geändert. Wenn du irgendwelche Probleme hast, kannst du jederzeit mit mir darüber reden. Ich bin für dich da, das weißt du doch.“

Ja, das wusste sie natürlich. Seit dem Tod ihres Vaters war Nicholas Brandon eine wichtige Bezugsperson für sie. Die Freundschaft mit ihm und seiner Frau Meg hatte Caroline ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit gegeben, das sie so lange vermisst hatte. Als ihr Vater gestorben war, hatte sie erkannt, wie sehr sie sich nach der Zuneigung sehnte, die er ihr nicht hatte geben können. Und ihre Mutter natürlich auch nicht, denn sie war schon lange tot. Nicholas und seine Frau hatten Caroline sehr in ihrem Entschluss bestärkt, wieder in ihr früheres Zuhause zurückzukehren. Jack Fitzgerald wurde jedoch nie erwähnt. Sie hatte nicht mit ihnen darüber geredet, dass sie sich als Sechzehnjährige hoffnungslos in ihn verliebt hatte und ihm überallhin gefolgt wäre, wenn er es gewollt hätte.

Aber das war nicht der Fall gewesen. Er war damals von der Idee besessen, mehr aus seinem Leben zu machen als seine Eltern und es zu etwas zu bringen. Nach den Ereignissen, die sein und Carolines Leben für immer verändert hatten, war er nach Amerika gegangen, um dort sein Glück zu finden. Weshalb war er jetzt zurückgekommen?

Bei ihrer letzten Zusammenkunft damals hatte er sie zutiefst verletzt. Er erklärte, er würde nie wieder nach England zurückkehren und hasse sie für alles, was sie ihm angetan hatte. Sie hatte ihm jedes Wort geglaubt und war überzeugt gewesen, dass es nie wieder zu einer Versöhnung kommen würde. Die heutige Begegnung hatte ihr bewiesen, dass er seine Einstellung zu ihr nicht geändert hatte.

„Das weiß ich zu schätzen, Nicholas. Aber ich habe eigentlich gar keine Probleme. Ich bin nur etwas schockiert, das ist alles“, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen.

„Warum bist du schockiert?“

„Jemand aus der Vergangenheit ist mir über den Weg gelaufen.“ Ich habe ihn einmal so sehr geliebt, dass ich mich Tag und Nacht nach ihm gesehnt habe, fügte sie insgeheim hinzu.

„Handelt es sich dabei vielleicht um einen ehemaligen Freund?“ Nicholas setzte sich auf die Schreibtischkante. „Du bist sehr aufgewühlt, Liebes. Offenbar hat dieser Mensch dir einmal viel bedeutet.“

„Er war nicht mein Freund.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls nicht … offiziell.“

Sie hatte die Beziehung mit Jack geheim halten müssen, weil ihr Vater mit der Freundschaft nicht einverstanden gewesen war und ihr den Umgang mit Jack verboten hatte. Er kam nicht aus ihren Kreisen, er war der Sohn eines Alkoholikers, und ihr Vater erwartete von ihr als seiner einzigen Tochter, dass sie in ihrem Umgang wählerischer war.

Drei Monate später, sie war gerade siebzehn geworden, stellte sie fest, dass sie schwanger war. Sie musste mit ihrem Vater reden und zugeben, dass sie Jack heimlich getroffen hatte.

Da Jack vorhatte, den Ort zu verlassen und in einer Großstadt Karriere zu machen, wie er es ausdrückte, wollte Caroline ihm nicht im Weg stehen. Außerdem betonte er immer wieder, er würde sich von nichts und niemandem aufhalten lassen. Sie wusste, wie schwierig sein Leben war, und wünschte sich für ihn und seine Zukunft nur das Allerbeste. Deshalb hatte sie dem Druck ihres Vaters nachgegeben, der vor Zorn gewütet und getobt hatte, und die Schwangerschaft abbrechen lassen.

Als sie es Jack erzählte, schlug seine Liebe zu ihr in Hass um. Er hatte ihr versichert, er würde ihr niemals verzeihen, und erklärte, er wolle sie nie wiedersehen.

Heute hatten sie sich nach siebzehn Jahren wiedergesehen, doch verziehen hatte er ihr nicht.

„Geht es um Jack Fitzgerald?“

Caroline sah Nicholas entsetzt an und wurde blass. „Du weißt von ihm?“

„Dein Vater war mein bester Freund, Liebes. Natürlich weiß ich, dass du in den Jungen sehr verliebt warst.“

Der „Junge“ war damals schon zwanzig gewesen, und jetzt war er siebenunddreißig, drei Jahre älter als Caroline. Er war noch genauso attraktiv, trotz der Falten auf seiner Stirn und des bitteren Zuges um seine Lippen. Allzu gut erinnerte sie sich daran, wie leidenschaftlich und sinnlich er sie damals geküsst hatte, und sie stöhnte laut auf.

„Weißt du etwa alles?“

„Ja, ich weiß von der Schwangerschaft und der Abtreibung“, antwortete Nicholas.

Caroline war froh, dass in seiner Stimme weder Vorwurf noch Missbilligung schwang. Er schwieg eine Zeit lang, sodass sie ihren Gedanken nachhängen konnte, ehe er ruhig fortfuhr: „Dein Vater hielt es für das Beste, dass du das Kind nicht bekamst – und er hatte recht. Du warst erst siebzehn, Caroline, und hattest deine ganze Zukunft noch vor dir. Du solltest studieren und dich zunächst auf deine Karriere konzentrieren. Ihm war klar, dass ein Junge wie Jack Fitzgerald niemals zu dir gestanden hätte. Du wärst eine alleinerziehende Mutter gewesen, während deine Freundinnen das Leben genießen und Spaß haben konnten. Dein Vater hat dich sehr geliebt, das musst du mir glauben.“

„Hat er das?“ Caroline blickte ihn mit Tränen in den Augen an. „Hätte er mich wirklich geliebt, hätte er mir damals niemals eine Abtreibung zugemutet, sondern zu mir gehalten und mir geholfen, als ich feststellte, dass ich schwanger war. Doch er hat mich verurteilt und dafür gesorgt, dass der Mann, den ich geliebt habe, mich für immer verachtet.“

„Er hat versucht, es wiedergutzumachen, indem er dir das Haus und genug Geld vererbt hat, um ein eigenes Geschäft zu eröffnen“, wandte Nicholas ruhig, aber bestimmt ein. Seine Loyalität ihrem Vater gegenüber war durch nichts zu erschüttern.

Verzweifelt stand Caroline auf und stellte das Glas auf den Schreibtisch. Dann warf sie mit einer Kopfbewegung die lange, gelockte, blonde Mähne zurück und entgegnete: „Er hat mich nur selten spüren lassen, dass er mich liebt. Glaubst du wirklich, das Haus und das Geld könnten mich für die Zuneigung, die mir gefehlt hat, entschädigen oder mich vergessen lassen, dass ich mein Kind und Jack verloren habe?“

Als Nicholas schwieg, senkte sie traurig den Kopf. „Ich sollte jetzt nach Hause gehen und hätte nicht herkommen und dich nicht mit meinen Problemen belasten dürfen.“

„Es ist keine Belastung für mich, Caroline. Du weißt doch, ich würde alles tun, um dir zu helfen.“ Er nahm ihre Hand und drückte sie liebevoll. „Aber egal weshalb Jack Fitzgerald zurückgekommen ist, es ist meiner Meinung nach das Beste, du hältst dich von ihm fern.“

Sie zog sogleich die Hand zurück, drehte sich um und ging zur Tür. „Du meinst es gut, Nicholas, das ist mir klar. Aber du hättest dir den Rat sparen können. Jack Fitzgerald würde sich nie wieder mit mir einlassen, denn er verachtet mich immer noch genauso sehr wie damals. Das hat er mir heute deutlich zu verstehen gegeben.“

2. KAPITEL

Nach der Besprechung mit dem Bauunternehmer, den er mit der Renovierung beauftragt hatte, verließ Jack das Haus, in dem er aufgewachsen war, und ging zu seinem Wagen. Dann fuhr er ziellos an der Küste entlang, ohne auf die Umgebung zu achten.

Caroline nach siebzehn Jahren wiederzusehen hatte ihn zutiefst aufgewühlt. Nachdem er eine Stunde umhergefahren war, hielt er am Straßenrand an, stellte das Radio ab und starrte frustriert ins Leere.

Sie hat kein Recht, so verdammt strahlend zu wirken und so schön zu sein, dass es mir fast das Herz zerreißt, dachte er zornig. Was für eine Ironie, dass das Schicksal es offenbar gut mit ihr gemeint hatte. Lebte sie vielleicht in einer glücklichen Ehe und wurde von ihrem Mann geliebt und angebetet? Sah sie deshalb so blendend aus? Den Gedanken fand Jack unerträglich. Damals hätte er alles für sie getan. Er war so sehr in die schöne Caroline mit dem gelockten blonden Haar und den braunen Augen verliebt gewesen, dass ihn ihr Verrat an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte. Damals war etwas in ihm zerbrochen.

Seitdem hatte er mehrere Affären und Beziehungen gehabt. Aber keine andere Frau hatte er so sehr geliebt wie Caroline. Nach der Scheidung von Anna vor einem Jahr lebte er wieder allein.

Schließlich atmete er tief durch, um sich zu beruhigen. Wie so oft seit seinem Herzanfall, klopfte auch jetzt sein Herz wieder viel zu unregelmäßig. Es störte ihn, und er ärgerte sich über sich selbst.

Die wunderschöne Landschaft um ihn herum hätte ihn ablenken und ihm helfen können, sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Doch er nahm seine Umgebung kaum wahr. Er wusste, auch wenn er noch so lange im Auto sitzen blieb, das quälende Gefühl der inneren Leere würde sich nicht auflösen.

Er war zurückgekommen, um den Leuten zu zeigen, dass er trotz seiner schwierigen Kindheit und Jugend so erfolgreich war wie kaum ein anderer Mensch. Alle hier waren überzeugt gewesen, er würde so enden wie sein Vater. Aber jetzt war er Multimillionär und ein überaus angesehener Unternehmer. Er besaß mehrere Firmen und hatte in der Geschäftswelt einen guten Ruf. Man schätzte ihn wegen seiner Integrität und seiner Menschlichkeit, und man bewunderte ihn wegen seiner Disziplin und seines Ehrgeizes. Von allen Seiten wurde ihm Anerkennung zuteil, und vor einem Jahr war er in New York zum Unternehmer des Jahres gewählt worden.

Die Schande darüber, dass sein alkoholsüchtiger Vater die Familie verlassen hatte und seine Mutter von Medikamenten abhängig geworden war, die ihr der Arzt verschrieben hatte, damit sie das ganze Elend, in dem sie leben musste, besser ertragen konnte, hatten ihn in seiner Kindheit und Jugend nie losgelassen. Doch sein Erfolg und seine glänzende Karriere hätten die Erniedrigungen der Vergangenheit wettmachen sollen. Die Begegnung mit Caroline heute hatte Jack jedoch daran erinnert, dass er für sie nicht gut genug gewesen war. Lieber hatte sie ihr Kind abtreiben lassen, als es gemeinsam mit ihm großzuziehen. Das trübte seine Freude darüber gewaltig, nach Hause zu kommen und allen beweisen zu können, wie sehr sie sich in ihm getäuscht hatten. Das erhoffte Triumphgefühl wollte sich nicht einstellen.

Aber er hatte zu lange auf diesen Tag hingearbeitet und empfand tiefe Genugtuung darüber, dass er das Haus hatte kaufen können. Es hatte einmal seinen Eltern gehört, doch weil sie die Raten für die Hypothek nicht mehr hatten bezahlen können, war es versteigert worden. Die Stadtverwaltung hatte Jack und seiner Mutter eine ziemlich schäbige Wohnung am Stadtrand zugewiesen. Dort waren sie nie glücklich geworden, hatten sich sehr geschämt, und die schwierige Situation hatte zweifellos dazu beigetragen, dass seine Mutter viel zu früh gestorben war. Jetzt gehörte das Haus ihm. Er wollte es von Grund auf renovieren lassen. Es sollte das exklusivste Gebäude weit und breit werden und alle anderen Häuser in den Schatten stellen. Nur so konnten die Erinnerungen an die damals erlittene Schmach ausgelöscht werden und in Vergessenheit geraten. Leider hatte seine Mutter nicht lange genug gelebt, um sich mit ihm freuen zu können.

Als er vor sechs Monaten nach seinem Herzanfall im Krankenhaus gelegen hatte, war der Plan in ihm gereift. Doch wie sollte er damit umgehen, dass die Frau, die ihm vor siebzehn Jahren das Herz gebrochen hatte, noch hier in der Stadt oder in der näheren Umgebung wohnte? Damit hatte er nicht gerechnet, und es machte die Sache komplizierter.

„Verdammt!“, stieß er zornig hervor. Dann startete er den Motor und fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit weiter, so als könnte er dadurch seiner eigenen Vergangenheit entfliehen.

„Ich habe mir vorgestellt, eine Collage aus Schmetterlingen …“

„Entschuldige, was hast du gesagt?“ Schuldbewusst strich sich Caroline das Haar aus dem Gesicht und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit auf den Teenager vor ihr zu konzentrieren. Sadie Martin, ein scheues unsicheres Mädchen, kam regelmäßig in den Laden. Caroline hatte sie in der Schule kennengelernt, an der sie einmal in der Woche Kunstunterricht erteilte.

„Ich wollte eine Collage aus Schmetterlingen machen. Ich finde sie so schön und habe mir einige Bücher darüber ausgeliehen.“ Sadie errötete und seufzte so wehmütig, als wäre ihr Wunsch, etwas Schönes zu kreieren, unerfüllbar.

Caroline hatte Verständnis für das Mädchen, denn sie wusste, was es bedeutete, Träume zu haben, die nicht in Erfüllung gehen konnten. Sie hatte damals davon geträumt, mit Jack für immer zusammen zu sein, doch daraus war nichts geworden. Jetzt war Jack zurückgekommen, und sie fing schon wieder an zu träumen. Nur war dieses Mal von Anfang an klar, dass es kein Happy End geben konnte. Er empfand nichts mehr für sie, das war völlig klar. Es war ihm sogar schwergefallen, sie anzusehen und kurz mit ihr zu reden.

Den ganzen Morgen hatte Caroline darüber nachgedacht, warum er wieder hier war. Wollte er länger hierbleiben? Und würde er sie jedes Mal, wenn sie sich zufällig begegneten, ignorieren? Es ließ sich kaum vermeiden, dass sie sich ab und zu über den Weg liefen. Aber es wäre schrecklich, wenn er sie noch einmal so verächtlich behandelte.

Sie verdrängte die bedrückenden Gedanken und lächelte Sadie freundlich an. „Es ist eine gute Idee, Bücher über Schmetterlinge zu lesen. Du kannst dir aber auch entsprechende Fotos aus Zeitschriften ausschneiden. Ich habe noch einen ganzen Stapel davon zu Hause und bringe sie dir am Freitag mit in den Unterricht, wenn du möchtest.“

Sadie lächelte erfreut. „Würden Sie das tun? Das wäre fein. Meine Mutter liest keine Zeitschriften, und ich habe kein Geld, mir selbst welche zu kaufen.“

„Im Hinterzimmer meines Ladens habe ich auch noch eine Menge Material, das ich nicht mehr brauche. Du kannst es haben, wenn du willst. Es reicht für einige wunderschöne Collagen“, schlug Caroline vor.

„Das ist sehr nett von Ihnen, Miss Tremayne.“

„Du sollst mich Caroline nennen.“

„Okay. Dann bis Freitag in der Schule.“

„Ja.“ Caroline strich dem Mädchen eine Strähne des kastanienbraunen Haares aus dem ernsten Gesicht. „Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ich bin für dich da.“ Sie wusste natürlich, dass eine zu freundschaftliche private Beziehung zwischen Lehrern und Schülern nicht gern gesehen wurde. Doch Caroline hatte nie vergessen, wie einsam und verlassen sie sich als Kind und Teenager gefühlt hatte. Außer ihrem Vater hatte sie niemanden gehabt. Sie war davon überzeugt, dass jeder manchmal einen Menschen brauchte, mit dem er reden konnte und der ihm half. Sadie Martin strahlte jedenfalls etwas aus, was an Carolines Herz rührte.

„Danke.“

Als Sadie weg war, dachte Caroline darüber nach, wie schwierig es war, einer Sechzehnjährigen zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen. Es ist ja sogar für mich mit meinen vierunddreißig Jahren nicht immer leicht, selbstbewusst aufzutreten, gestand sie sich ein.

Jack wanderte ziellos umher, um sich mit seiner Heimatstadt wieder vertraut zu machen. Als er die Hauptstraße verließ und durch die schmalen Seitengassen ging, entdeckte er plötzlich das Schild „Carolines Paintbox“ über einem Laden. Sein Puls beschleunigte sich, und er wusste instinktiv, dass die Besitzerin des Geschäfts die Frau war, die seit siebzehn Jahren in seinen Träumen herumspukte. Er blickte durch das Schaufenster und sah, dass Caroline gerade eine Kundin bediente.

Ehe ihm bewusst wurde, was er tat, hatte Jack schon die Tür geöffnet und den Laden mit den vielen Bildern, der großen Auswahl an Farben, Buntstiften, Leinwänden und anderem Zubehör für Künstler betreten.

Nachdem die Kundin, eine elegante Frau mittleren Alters, bezahlt hatte, verließ sie den Laden und warf Jack im Vorbeigehen ein Lächeln und einen bewundernden Blick zu. Doch beides prallte an ihm ab, er nahm es kaum wahr. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Caroline, die ihm den Rücken zukehrte.

„Moment, ich bin gleich so weit“, sagte sie und räumte einige Bogen Papier weg. Schließlich drehte sie sich lächelnd um, aber sogleich erstarrten ihre Gesichtszüge.

„Bist du gekommen, um mich noch mehr zu beleidigen und zu verletzen?“, fragte sie steif und verschränkte die Arme.

„Ich bin zufällig vorbeigekommen und habe das Schild gesehen. Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dein Geschäft ist“, antwortete er, ohne sie anzublicken. Stattdessen betrachtete er interessiert das reichhaltige Angebot. Hier gab es alles, was sich Maler und andere Künstler für ihre Arbeit nur wünschen konnten. War das alles, was sie aus ihrer Begeisterung für Kunst und ihrem Talent gemacht hatte? Irgendwie kam es ihm nicht richtig vor. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie unbedingt Künstlerin hatte werden wollen. Nie hatte sie vorgehabt, anderen Leuten Zubehör für ihre Hobbys zu verkaufen.

Sie hatte so viele Ideen und Träume gehabt, was sie nach dem Kunststudium machen wollte. Ihr hatte vorgeschwebt, sich in einem herrlichen Atelier mit Blick auf einen der Londoner Parks zu wunderschönen Bildern inspirieren zu lassen, die sie in Galerien ausstellen wollte. Sie hatte gehofft, viele ihrer Arbeiten zu verkaufen und sich einen Namen zu machen.

Jack war fest davon überzeugt gewesen, sie würde ihre Ziele erreichen. Ihre hinreißende Schönheit und ihre Lebensfreude hatten ihn zutiefst beeindruckt. Seine Mutter hatte ihn jedoch immer gewarnt, Caroline würde ihm das Herz brechen. Leider hatte sie recht gehabt.

„Nimm dir ruhig Zeit, und schau dir alles an“, forderte sie ihn spöttisch auf. „Aber mich musst du entschuldigen, ich habe zu arbeiten.“

„Hast du die Bilder selbst gemalt, die hier hängen?“, fragte er ungerührt. Mit einer Kopfbewegung wies er auf die Gemälde hinter ihm.

Sie hob den Kopf, und in ihren dunklen Augen blitzte es so ärgerlich auf, als hätte er sie mit der Frage beleidigt. Sie sieht so verdammt gut aus, dass ich, wenn ich Maler wäre, nicht wüsste, aus welcher Perspektive ich sie zeichnen sollte, dachte Jack. Hitze breitete sich in ihm aus, und er war überrascht über sein plötzliches heftiges Verlangen.

„Nein. Die Bilder, die ich male, sind unverkäuflich und nur für mich bestimmt.“

„Warum das denn?“ Jack sah sie mit seinen klaren blauen Augen betont gleichgültig an.

„Weil ich dann malen kann, was ich will. Die Bilder brauchen nur mir selbst zu gefallen. Ich male zu meinem eigenen Vergnügen und weil ich mich dabei entspannen kann. Die Meinung anderer interessiert mich nicht.“

„Du wolltest dir als Künstlerin einen Namen machen.“

„Es reicht mir, den Laden zu haben und zu unterrichten.“

Er spürte ihre innere Abwehr. Immerhin malte sie immer noch, wenn auch nur für sich selbst. Und das war offenbar nicht das Einzige, was sie machte. Was damals geschehen war, schien ihr kaum etwas von ihrer Energie und ihrer Lebensfreude geraubt zu haben. Seltsamerweise störte ihn dieser Gedanke.

„Was unterrichtest du denn?“, fragte er nach kurzem Zögern.

„Kunst. Willst du noch mehr wissen? Ich habe viel zu tun.“ Ihre Stimme klang kühl.

Er runzelte die Stirn. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass du noch hier lebst“, wechselte er das Thema.

„Eine Zeit lang habe ich in London gelebt. Aber dann ist mein Vater gestorben und hat mir das Haus hinterlassen. Als ich herkam, um alles zu regeln, habe ich beschlossen, hierzubleiben. Ich liebe das Meer, das war schon immer so.“ Eigentlich wollte sie ihm gar nicht so viel erzählen, doch die Worte sprudelten wie von selbst über ihre Lippen. Sie war viel zu aufgeregt, was auch kein Wunder war, denn schließlich hatte sie diesen Mann eine halbe Ewigkeit nicht gesehen. Jetzt stand er vor ihr und wirkte in dem teuren Outfit erschreckend reif und anziehend. Er hatte nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem schlanken jungen Mann, in den sie sich damals verliebt hatte und der von dem brennenden Wunsch erfüllt gewesen war, den schwierigen Verhältnissen, in denen er aufgewachsen war, zu entkommen und reich und erfolgreich zu werden. Während sie ihn aufmerksam ansah, gestand sie sich ein, dass er noch besser aussah als zuvor. Sein attraktives Äußeres und seine faszinierende Ausstrahlung konnten ihr immer noch gefährlich werden, sonst wäre sie nicht so nervös und würde sich auch nicht vor Sehnsucht nach ihm verzehren.

„Gibt es in deinem Leben auch einen Ehemann?“, fragte Jack mit gleichgültiger Miene, so als interessierte ihn die Antwort eigentlich gar nicht.

Ob er wohl verheiratet ist? Aber wenn, warum ist er dann zurückgekommen und quält mich? schoss es ihr durch den Kopf.

„Nein. Und was ist mit dir? Hast du geheiratet?“, fragte sie zurück, um ihre Neugier zu befriedigen.

„Ich bin geschieden. Offenbar waren wir beide, du und ich, nicht erfolgreich, was eine dauerhafte Partnerschaft angeht“, erwiderte er und fügte zynisch hinzu: „Das überrascht mich nicht.“

Ihr Magen verkrampfte sich, so elend und unglücklich fühlte sie sich. „Warum tust du das, Jack? Du hast mich doch schon daran erinnert, dass du Small Talk hasst. Es war wirklich nicht nötig, zu mir zu kommen und die Vergangenheit heraufzubeschwören. Wir sollten sie ruhen lassen.“

Seine Miene verfinsterte sich, und Caroline glaubte, seine Verbitterung körperlich zu spüren. Offenbar bereute er, dass er sich entschlossen hatte, mit ihr zu reden. Zweifellos hatte er sie nie vermisst.

Jack zuckte mit den Schultern und ging zur Tür. Dann drehte er sich noch einmal zu Caroline um und sah sie spöttisch an. „Dein Vater ist gestorben? Entschuldige, aber es widerstrebt mir, dir mein Beileid auszusprechen und so zu tun, als wäre ich betroffen“, erklärte er und verschwand.

Als Caroline später das alte viktorianische Haus betrat, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte und in das sie vor fünf Jahren wieder eingezogen war, wollte sich die Freude, die sie normalerweise beim Heimkehren empfand, nicht einstellen. Während sie die Eingangshalle mit dem Marmorfußboden und dem antiken Schrank durchquerte, hatte sie plötzlich das Gefühl, es sei nicht ihr Zuhause. Jacks sarkastische und abfällige Bemerkung beim Verlassen des Geschäfts beschäftigte sie immer noch.

Natürlich konnte sie ihm nicht verübeln, dass er über den Tod ihres Vaters nicht betroffen war. Charles Tremayne hatte Jack vom ersten Moment an abgelehnt. Er hatte den jungen Mann für hinterhältig und berechnend gehalten. Außerdem hatte er ihm unterstellt, sich nur für Caroline zu interessieren, weil sie die Tochter eines Arztes war und Jack sich dadurch eine bessere gesellschaftliche Stellung erhoffte.

Caroline hatte sich wegen des Snobismus und der Voreingenommenheit ihres Vaters sehr geschämt. Sie hatten natürlich in besseren Verhältnissen gelebt als Jack und seine Mutter, doch deshalb hatten sie nicht das Recht, sich überlegen zu fühlen und sich für etwas Besseres zu halten. Caroline war vom ersten Tag an aufgefallen, wie intelligent und fleißig Jack war. Auf Außenstehende wirkte er vielleicht etwas arrogant und abweisend, doch ihr gegenüber hatte er sich so liebevoll und zärtlich gezeigt, dass sie oft zu Tränen gerührt war. Ihr Vater hatte ihr seine Zuneigung nie zeigen können, sodass Jacks Liebe ihr wie ein wunderbares Geschenk vorgekommen war.

Sie seufzte unglücklich und ging in die Küche. Die Gedanken an die Vergangenheit ließen sie nicht los, während sie sich das Abendessen zubereitete. Und als sie sich wenig später in das große Esszimmer setzte, betrachtete sie die dunkelgrünen Vorhänge an den hohen Fenstern und fragte sich, warum sie auch nach fünf Jahren noch in diesem Haus wohnte. Und warum wies sie jeden Mann, der sich für sie interessierte, zurück, so als hätte sie es nicht verdient, glücklich zu sein und geliebt zu werden? Natürlich kannte sie den Grund.

Nachdem Jack damals von der Abtreibung erfahren hatte, war er mehr als wütend auf Caroline gewesen. Seine harten Worte verletzten sie zutiefst, und sie hatte sogar befürchtet, sie würde nie darüber hinwegkommen. Er hatte es geschafft, dass sie sich wie eine Mörderin vorkam, und so getan, als hätte sie ihr Kind abgetrieben, weil es ihr lästig gewesen war. Wie verzweifelt sie über die Forderung ihres Vaters war, die Schwangerschaft abzubrechen, und wie schuldig sie sich gefühlt hatte, war Jack verborgen geblieben. Genauso wenig ahnte er, wie zornig ihr Vater gewesen war, als er herausgefunden hatte, dass sie schwanger war, und wie übel er sie beschimpft hatte, weil sie mit Jack geschlafen hatte. Solche Erfahrungen gingen nicht spurlos an einem Menschen vorüber. Caroline fand es beinahe unmöglich, sich selbst zu verzeihen, was sie getan hatte. Und weil sie die Schuldgefühle nicht loswurde, konnte eine Beziehung mit einem anderen Mann nicht funktionieren.

„Oh Jack“, sagte sie laut vor sich hin. Sie legte die Gabel auf den Teller, ohne das Essen angerührt zu haben. „Warum bist du zurückgekommen? Ich bin nicht die berühmte Künstlerin, die ich damals werden wollte, aber ich war bisher zufrieden mit meinem Leben. Warum bist du wieder da und verdirbst mir alles? Ich hatte gehofft, dich irgendwann doch noch ganz vergessen zu können.“

3. KAPITEL

Nach dem Gespräch mit dem Architekten, der den Umbau des Hauses und die Renovierungsarbeiten überwachte, verließ Jack das Hotel, in dem er abgestiegen war. Er trug einen hochwertigen schwarzen Jogginganzug und wollte einen langen Spaziergang am Meer machen. In Manhattan war er regelmäßig gejoggt. Doch nach seinem Herzanfall hatten ihm die Ärzte geraten, kürzerzutreten und sich nicht zu überanstrengen.

Es war außergewöhnlich kühl an diesem Herbstmorgen, und der Wind wehte ihm ins Gesicht. Jack dachte über die Bemerkung nach, die er gemacht hatte, ehe er gestern Carolines Laden verließ. Es war dumm und kindisch, so auf die Nachricht vom Tod ihres Vaters zu reagieren, und Jack war verärgert über sich selbst. Auch wenn Charles Tremayne ihn abgelehnt, schlecht behandelt und für den letzten Abschaum gehalten hatte, Caroline hatte ihren Vater zweifellos geliebt und vermisste ihn vermutlich sehr.

Jack überlegte ernsthaft, ob er sich bei ihr entschuldigen sollte. Nein, das war keine gute Idee. Es wäre besser, die Sache auf sich beruhen zu lassen und ihr aus dem Weg zu gehen. Aber was Caroline betraf, hatte er noch nie auf die Stimme der Vernunft hören wollen. Sonst hätte er natürlich dafür gesorgt, dass sie nicht schon mit siebzehn schwanger wurde. Allzu gut erinnerte er sich daran, wie sehr er sie geliebt und wie sehr er sie vom ersten Augenblick an begehrt hatte. Er hatte nicht wahrhaben wollen, dass sie für ihn eigentlich unerreichbar war. Als sie ihn mit ihren dunklen Augen bei der ersten Begegnung so sehnsüchtig angeblickt hatte, war er verloren gewesen.

Er beschleunigte den Schritt, achtete jedoch genau darauf, dass er sein Herz nicht zu sehr belastete. Der Herzanfall war beunruhigend und beängstigend gewesen, aber glücklicherweise nicht lebensbedrohlich. Jack spürte, dass es ihm jeden Tag besser ging und er sich wieder mehr zumuten konnte. Aber ihm war auch klar, dass er sich ab und zu Ruhe gönnen und ausspannen musste.

„Sie sind keine Maschine, Jack, und können nicht sieben Tage in der Woche bis spät in die Nacht durcharbeiten. Früher oder später müssen Sie den Preis dafür bezahlen, dass Sie nachts nur zwei bis drei Stunden schlafen“, hatte der Arzt ihn gewarnt.

Natürlich hatte er recht. Aber nachdem die Probleme in Jacks Ehe angefangen hatten und Anna sich anderweitig Trost suchte, hatte Jack sich in die Arbeit geflüchtet, ohne Rücksicht auf seine Gesundheit zu nehmen. Denn in dem luxuriösen Penthouse, das er nach seiner Heirat mit Anna gekauft hatte, erinnerten ihn die leeren Räume allzu sehr daran, dass er hinsichtlich seiner Ehe versagt hatte. Deshalb hatte er sich so selten wie möglich darin aufgehalten.

Er blieb stehen und wischte sich die feuchte Stirn ab. Dann kreisten seine Gedanken wieder um Caroline. Sollte er sich vielleicht doch bei ihr für sein grobes Benehmen entschuldigen? Auch wenn sie damals sein Kind nicht hatte haben wollen und er ihr nie verzeihen würde, was sie getan hatte, konnte er sie anständig behandeln. Sie bedeutete ihm nichts mehr. Was schadete es schon, wenn er zu ihr in den Laden ging und sie für seine ungehörige Bemerkung um Verzeihung bat?

Caroline stand auf der Leiter im Hinterzimmer ihres Ladens und suchte im obersten Regal des Warenlagers nach den Sachen, die sie Sadie versprochen hatte. Da sie nicht schwindelfrei war, seufzte sie erleichtert, als sie alles gefunden hatte. Sie konnte es kaum erwarten, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, und presste den großen Karton fest an sich, ehe sie hinunterstieg.

Plötzlich verfehlte sie eine Stufe, verlor das Gleichgewicht und stürzte rückwärts von der Leiter. Sie landete auf dem Po und schrie auf, während der Karton sich öffnete und alles herausfiel. Caroline stöhnte auf vor Schmerzen.

In dem Moment hörte sie jemanden in das Geschäft kommen. Was für ein gutes Timing, dachte sie spöttisch und stand mühsam auf.

Als sie in den Laden humpelte, strich sie sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht – und blieb verblüfft stehen.

„Was ist passiert? Was hast du gemacht?“, fragte Jack und runzelte die Stirn.

Es ist nicht fair, dass ausgerechnet er unmittelbar nach diesem Missgeschick auftaucht, schoss es ihr durch den Kopf. Sie fühlte sich viel zu verletzlich, und sie sah bestimmt fürchterlich aus. Außerdem trug sie an diesem Tag alte Jeans und eine weite bedruckte Bluse, in der sie nicht besonders vorteilhaft wirkte. Aber sie war bequem, und Caroline fühlte sich darin wohl. Sie hatte dieses Outfit nur deshalb an, weil sie heute das Hinterzimmer aufräumen wollte.

Sie wollte jetzt allein sein, um sich erst einmal zu beruhigen. Und sie konnte auch darauf verzichten, von Jack verächtlich gemustert zu werden. Er war sowieso der Überzeugung, sie verdiene es nicht, dass er überhaupt ein Wort mit ihr redete.

„Es ist alles in Ordnung. Ich bin von der Leiter gefallen, das ist alles“, erwiderte sie und befürchtete, die Beine würden gleich unter ihr nachgeben.

„Du bist von der Leiter gefallen?“, wiederholte er. Dann ging er kurz entschlossen auf sie zu und packte sie an den Schultern, während er sie durchdringend ansah. „Bist du verletzt? Du scheinst unter Schock zu stehen. Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht, auf die Leiter zu steigen, obwohl du ganz allein im Laden bist?“

Caroline war überrascht über die Frage und verzog spöttisch die Lippen. „Wie bitte? Seit wann muss jemand im Raum sein, wenn ich auf eine Leiter steige? Findest du das nicht etwas übertrieben?“

„Den Spott kannst du dir sparen“, antwortete er vorwurfsvoll. „Setz dich erst einmal hin. Hast du ein Beruhigungsmittel da?“

Ein doppelter Wodka würde mir jetzt guttun, dachte sie, während Jack sie zu dem Korbsessel führte und sie sanft hineindrückte. Seine Hände auf ihren Schultern fühlten sich herrlich warm an, und ihr wurde ganz schwindlig. Prompt geriet sie in Panik und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Es irritierte sie, dass Jack sich um sie kümmerte und besorgt um sie war. Doch schließlich zog er die Hände zurück, verschränkte die Arme und sah Caroline durchdringend an.

Mit den dunklen Bartschatten auf seinem Kinn wirkt er seltsam gefährlich und unberechenbar, überlegte sie und zuckte insgeheim zusammen.

„Ich habe dich gefragt, ob du ein Beruhigungsmittel da hast“, wiederholte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich nehme Medikamente nur, wenn es unbedingt sein muss. Aber ich habe immer Notfalltropfen in meiner Handtasche.“

„Notfalltropfen?“

„Ja, das ist ein pflanzliches Mittel. Es wirkt gut bei Aufregung und dergleichen.“ Ihr Magen verkrampfte sich, als Jack sie skeptisch musterte.

„Obwohl dein Vater Arzt war, ziehst du Naturheilmittel, deren Wirkung zweifelhaft ist, herkömmlichen Medikamenten vor?“

„Du weißt genau, dass ich mir erlaube, eine eigene Meinung zu haben und das zu tun, was ich für richtig halte.“ Noch ehe sie die Worte ausgesprochen hatte, erinnerte sie sich schmerzlich daran, dass sie dem Druck ihres Vaters nachgegeben und eine Abtreibung hatte vornehmen lassen. Natürlich hatte sie protestiert und ihm erklärt, dass sie das Kind behalten wolle und Jack liebe, doch ihr Vater hatte ihre Einwände nicht gelten lassen.

Sie schluckte und versuchte, ihren Kummer und den Schmerz über den Verlust ihres Kindes zu verdrängen. Jack sollte sie allein lassen, und zwar sofort. Weshalb war er eigentlich gekommen? Hatte er nichts Besseres zu tun, als die Frau zu besuchen, die er zutiefst verachtete?

Es beunruhigte Jack sehr, Caroline so verletzlich zu sehen. Er wäre besser damit zurechtgekommen, wenn sie ihn gleichgültig behandelt oder ihn aufgefordert hätte, sich zum Teufel zu scheren. Doch ihr gequälter Blick machte ihn tief betroffen.

Dass er nach allem, was sie ihm angetan hatte, immer noch das Gefühl hatte, sie beschützen zu müssen, überraschte ihn. Sei vernünftig, verlass den Laden, und halte dich von dieser Frau fern, befahl er sich. Ihre engen verwaschenen Jeans betonten ihre Figur, die noch immer so perfekt war wie damals. Doch nur weil Caroline sehnsüchtige Fantasien in ihm auslöste, durfte er nicht länger bei ihr bleiben als unbedingt nötig. Es reichte, dass er sich einmal die Finger verbrannt hatte.

„Du brauchst etwas Stärkeres als diese Tropfen. Hast du denn für Notfälle nichts anderes da?“, fragte er ungeduldig. Er ärgerte sich über sich selbst. Warum konnte Caroline ihn immer noch aus der Fassung bringen?

„Doch, ich habe einen Erste-Hilfe-Kasten, aber der enthält nur Verbandszeug und solche Sachen. Vergiss es. Mir geht es wirklich gut.“

„Du hättest dir alle Knochen brechen können.“ Die innere Anspannung war zu groß, irgendwie musste Jack sich Luft machen. Er warf Caroline einen zornigen Blick zu.

Sie sah ihn schockiert an. „Das hätte dir so gepasst, stimmt’s? Entschuldige, dass ich dich enttäuscht habe“, entgegnete sie sarkastisch. Ihre Stimme klang jedoch etwas unsicher.

„Ich gebe zu, ich habe mir eine Zeit lang gewünscht, dass du leidest, nach allem, was du mir angetan hast. Aber ich möchte natürlich nicht, dass du dich ernsthaft verletzt“, erklärte er.

Die Ernsthaftigkeit und Qual in seiner Stimme ließen sie aufhorchen.

„Erst hattest du mir erzählt, du seist schwanger“, fuhr er leise fort, „und wenig später erfahre ich von dir, dass du eine Abtreibung hast machen lassen. Ich konnte es nicht glauben und wäre beinahe verrückt geworden, Caroline.“

Vor lauter Schmerz presste sie die Nägel fest in ihre Handflächen, so als wollte sie sich körperlich bestrafen. Am liebsten hätte sie Jack anvertraut, dass ihr Vater sie zu der Abtreibung gezwungen hatte. Doch was hatte sie davon? Wahrscheinlich würde er ihren Vater dann noch mehr verachten. Außerdem konnte er ihr dann vorwerfen, sich nicht durchgesetzt zu haben.

Sie atmete tief ein. „Du hattest sowieso vor wegzugehen. Ich wusste, wie sehr du dir gewünscht hast, dir in der Großstadt eine sichere Existenz aufzubauen. Vergiss nicht, ich war erst siebzehn, Jack.“ Plötzlich stiegen sämtliche Emotionen in ihr auf, die sie all die Jahre verdrängt hatte, um nicht den Verstand zu verlieren. Doch sie flüsterte nur: „Ich hatte Angst.“

„Du hättest mit mir über alles reden müssen, statt mich vor vollendete Tatsachen zu stellen.“ Er stand kurz davor, ihr an den Kopf zu werfen, sie hätte ihr gemeinsames Kind getötet. Aber er beherrschte sich, obwohl es ihm schwerfiel. Zorn und Schmerz drohten ihn zu überwältigen. Sicher, sie war erst siebzehn gewesen, und vielleicht hatte sie wirklich Angst gehabt. Dennoch fühlte er sich von ihr verraten und betrogen, weil sie nicht mit ihm gesprochen und ihn um Hilfe gebeten hatte.

Es stimmte: Er hatte die kleine Stadt, in der er aufgewachsen war, unbedingt verlassen wollen. Als Caroline ihm erzählt hatte, sie sei schwanger, war er schockiert gewesen. Doch wenn sie mit ihm über alles geredet und nicht diese eigenmächtige Entscheidung getroffen hätte, wäre er natürlich bei ihr geblieben. Er hatte sowieso vorgehabt, mit ihr zusammenzuleben, sobald er genug Geld verdiente und sie die Ausbildung beendet hatte. Darüber hatten sie sich oft genug unterhalten. Sie hatte gewusst, was er für sie empfand und dass er es ernst meinte.

„Können wir das Gespräch beenden? Ich möchte nicht mehr über die Vergangenheit reden. Außerdem muss ich weiterarbeiten. Auch wenn es so wirkt, als hätte ich keine Sorgen, solltest du nicht vorschnell urteilen und glauben, mein Leben sei leicht gewesen, nachdem du mich verlassen hast.“ Entschlossen stand Caroline auf, obwohl ihr schwindelig und übel war. Sie konnte sich gut vorstellen, was Jack damals empfunden hatte, und sie hasste sich dafür, dass sie ihn so sehr verletzt hatte. Ich wollte, ich könnte die Abtreibung ungeschehen machen, aber das ist leider unmöglich, dachte sie. Kein Zweifel, Jack war auch nach all den Jahren nicht bereit, ihr zu verzeihen.

Der Schmerz darüber kam ihr vor wie eine offene Wunde, die nicht heilen wollte. Doch damit musste sie leben.

„Warum bist du überhaupt in den Laden gekommen, Jack? Es gibt hier nichts, was dich interessieren könnte.“

Das stimmt, ich will nichts mehr von Caroline Tremayne, sagte er sich und erinnerte sich wieder daran, weshalb er hier war.

„Diese Bemerkung gestern im Zusammenhang mit deinem Vater war völlig unnötig. Es tut mir leid.“

„Du wolltest dich entschuldigen?“ Verblüfft sah sie ihn an.

„Woran ist er gestorben?“

„An einem Gehirnschlag.“

„Hat er leiden müssen?“, fragte er.

Sie zögerte mit der Antwort. Ihm war sogleich klar, dass sie befürchtete, er wolle schon wieder eine boshafte Bemerkung machen. Verdammt, ihm konnte egal sein, was sie dachte. Er brauchte nur das Gespräch zu beenden und den Laden so schnell wie möglich zu verlassen. Es hatte keinen Sinn, die für sie beide quälende Unterhaltung noch länger fortzusetzen.

Caroline strich sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht und blickte Jack an. „Glücklicherweise ist alles sehr schnell gegangen. Nicholas, ein Freund der Familie und Arzt wie mein Vater, hat mir versichert, er hätte nicht lange leiden müssen.“

„Gut.“ Jack drehte sich um und ging zur Tür. Doch plötzlich blieb er stehen und redete sich ein, er wolle sich nur vergewissern, ob wirklich alles in Ordnung war mit ihr. Dass sie immer noch dieselbe gefährliche Anziehungskraft auf ihn ausübte wie vor siebzehn Jahren, versuchte er zu verdrängen. „Du solltest dich gründlich untersuchen lassen. Durch den Sturz von der Leiter kannst du dir innere Verletzungen zugezogen haben“, fügte er rau und besorgt hinzu.

Sie räusperte sich. „Glaub mir, es geht mir gut. Ich brauche mich nicht untersuchen zu lassen. Ich bin ziemlich gelenkig und habe Knochen wie aus Gummi. Weißt du das nicht?“, versuchte sie zu scherzen.

„Gut für dich“, antwortete er mit undefinierbarer Miene und eilte hinaus.

„Glücklicherweise hast du dir nichts gebrochen, aber du hättest gleich nach dem Sturz kommen müssen. Du hast dir heftige Prellungen zugezogen, die du noch einige Tage spüren wirst.“ Nicholas ging um den Schreibtisch herum auf Caroline zu, die gerade ihre Jacke anzog. „Ich lade dich zum Abendessen ein. Du siehst aus, als könntest du eine Aufmunterung gebrauchen.“ Er blickte sie besorgt und belustigt zugleich an und streichelte ihr die Wange.

Da ihr eigener Arzt im Urlaub war, hatte Caroline sich von Nicholas untersuchen lassen, obwohl es ihr irgendwie unangenehm war. Doch als ihr am Morgen die Hüfte wehtat, hatte sie Jacks Rat, zum Arzt zu gehen, befolgt. Viel schlimmer als der körperliche Schmerz war jedoch für sie, dass Jack ihr die Abtreibung immer noch nicht verziehen hatte. In der Nacht hatte sie lange wach gelegen und sich von ganzem Herzen gewünscht, sie hätte sich gegen ihren dominanten Vater durchgesetzt und das Kind bekommen.

Das Wiedersehen mit Jack nach so vielen Jahren hatte ihr den mühsam gefundenen inneren Frieden geraubt. Er war offensichtlich beruflich sehr erfolgreich, denn seine Kleidung war elegant und von bester Qualität. Außerdem trat er so sicher und selbstbewusst auf wie jemand, der auf der Leiter des Erfolgs ganz oben stand. Doch in seinem Blick lag so etwas wie Kummer oder Trostlosigkeit. Trotz allem, was er erreicht hatte, schien er seine tiefe Traurigkeit nicht überwinden zu können.

„Zum Abendessen?“, wiederholte sie zögernd und verdrängte die Gedanken an Jack.

„Ja. Ich hole dich um acht ab. Versuch, nicht ganz so unglücklich auszusehen, Liebes. Wegen einiger Prellungen geht doch die Welt nicht unter.“

Caroline rang sich ein Lächeln ab und nickte. „Ich weiß. Aber ich ärgere mich über meine eigene Dummheit. Vielen Dank für die Einladung, Nicholas. Ich nehme sie gern an.“

„Kommst du etwa immer noch nicht damit zurecht, dass Jack Fitzgerald wieder da ist?“ Nicholas konnte sein Missfallen nicht verbergen und ging zu seinem Platz zurück.

Obwohl ihre Gedanken seit Jacks Rückkehr vor drei Tagen nur noch um diesen Mann kreisten, behauptete sie: „Natürlich komme ich damit zurecht! Ich bin längst über die ganze Sache hinweg. Es war ein Schock, ihn nach so vielen Jahren wiederzusehen, das ist alles. Wie gesagt, ich bin darüber hinweg. Dann bis heute Abend.“

Was bin ich doch für eine Lügnerin, dachte Caroline beim Hinausgehen und seufzte.

4. KAPITEL

Nicholas führte Caroline in ein bekanntes und beliebtes Restaurant in einem eleganten Hotel im viktorianischen Stil. Es war modernisiert worden, hatte einen guten Ruf, und die Leute kamen von weit her, um dort zu essen. Caroline war öfter nachmittags zum Kaffeetrinken hier gewesen. Die Atmosphäre gefiel ihr, und sie liebte es, in dem hübschen Raum zu sitzen, dessen Ausstattung noch an den Glanz und die Pracht einer längst vergangenen Zeit erinnerte.

Sie trug ihr elegantes blaues Seidenkleid, das ihre herrliche Figur betonte. Außerdem hatte sie etwas Make-up aufgetragen und hoffte, man würde ihr nicht mehr ansehen, wie aufgewühlt sie war. Nicholas erklärte, sie sehe sehr gut aus, und das Kompliment stärkte ihr Selbstbewusstsein. Nach der Begegnung mit Jack am Tag zuvor war sie froh über Nicholas’ aufmunternde Worte.

„Möchtest du Wein trinken, Liebes?“ Nicholas ließ die Weinkarte, die er in der Hand hielt, sinken und blickte Caroline lächelnd an.

„Gern. Ich überlasse dir die Wahl.“ Sie wusste, dass er diese Antwort erwartete. Nicholas Brandon war ein Kavalier der alten Schule. Sein perfektes Benehmen war gepaart mit einer gehörigen Portion Chauvinismus. Das lag natürlich an seinem Elternhaus und seiner Erziehung, und Caroline nahm es ihm nicht übel. Doch dass ihr Vater sich sehr ähnlich verhalten hatte, war ihr gewaltig gegen den Strich gegangen.

Unglücklich studierte sie die Speisekarte. Bei der Erinnerung an ihren Vater traten ihr Tränen in die Augen, und sie hatte Mühe, sie zurückzuhalten. Um sich abzulenken, hob sie den Kopf und sah sich in dem großen Raum um. Plötzlich entdeckte sie Jack. Er saß ganz allein an einem Tisch am Fenster, vor ihm stand eine Tasse Kaffee, die er nicht anrührte. Er schien nichts wahrzunehmen um sich herum und ganz in Gedanken versunken zu sein.

Vor lauter Entsetzen glitt Caroline die Speisekarte aus der Hand. Als sie danach greifen wollte, stieß sie zu allem Überfluss das leere Weinglas vom Tisch. Es landete auf dem dicken Teppich und zerbrach glücklicherweise nicht. Automatisch bückte sie sich und hob es mit zitternden Fingern auf. Niemals hätte sie damit gerechnet, Jack hier zu begegnen.

In dem Moment bemerkte er die schöne Blondine in dem blauen Seidenkleid, die das Glas vom Boden aufhob. Als sie aufblickte, erkannte er Caroline, und sein Körper verkrampfte sich augenblicklich.

In den letzten Stunden hatte er immer wieder an sie denken müssen. Jetzt hatte er das Gefühl, dass sie kraft seiner Gedanken auf wundersame Weise hier erschienen war, und er war völlig verblüfft. Erst nach einem kurzen Moment bemerkte er, dass sie nicht allein war. Ihr Begleiter war zweifellos viel älter als sie, Jack schätzte ihn auf Ende fünfzig. War er etwa ihr Freund?

Eifersucht stieg in ihm auf. Der Mann hätte ihr Vater sein können. Jack passte das besitzergreifende Verhalten des Mannes ganz und gar nicht, der sich zu Caroline hinüberbeugte und ihr die Hand drückte, nachdem sie das Glas hingestellt hatte. Ehe ihm bewusst wurde, was er tat, war Jack schon aufgestanden und hatte den Raum durchquert. An dem Tisch der beiden blieb er stehen.

„Hallo, Caroline“, sagte er, ohne ihren Begleiter zu beachten.

Sie errötete. Bei unserer allerersten Begegnung hat sie genauso reagiert, dachte Jack. Er hatte sie angesprochen, nach ihrem Namen gefragt und ihr gesagt, sie sei das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Dass sie errötete, fand er ganz bezaubernd, und es war um ihn geschehen. Brennende verzehrende Sehnsucht hatte ihn damals erfasst, und ihm war sogleich klar gewesen, dass er Caroline nie würde vergessen können. Er hatte sich nicht getäuscht.

„Hallo, Jack“, erwiderte sie und wandte den Blick ab. Jack hatte das Gefühl, dass sie ihren Begleiter wie um Entschuldigung bittend ansah, und das machte ihn rasend.

Sofort stiegen die Erinnerungen daran auf, wie herablassend und verächtlich ihr Vater ihn behandelt hatte, so als wäre er ein kleines Nichts.

„Willst du mich deinem Freund nicht vorstellen?“, fragte er. An die Möglichkeit, dass sie mit diesem Mann wirklich liiert war, wollte er nicht glauben. Es war ein schrecklicher Gedanke.

„Natürlich.“ Ihr Versuch, ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, misslang. „Das ist Dr. Nicholas Brandon, ein guter Freund meines Vaters.“

Jack spürte gleich, dass der Mann ihn nicht ausstehen konnte, und musste lächeln. Er war froh, dass Caroline ihn als Freund ihres Vaters und nicht als ihren eigenen vorgestellt hatte.

„Nicholas, das ist Jack Fitzgerald.“

„Ah ja.“

Obwohl er aufstand und Jack nach kurzem Zögern die Hand schüttelte, war Caroline klar, dass er Jack ablehnte. Offenbar hatte Nicholas sich von ihrem Vater beeinflussen lassen, und sie wurde zornig. Nicholas hatte kein Recht, Jack unhöflich und respektlos zu behandeln. Schließlich kannte er ihn gar nicht.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Jack betont freundlich. Sein leichter Akzent verriet, dass er sich lange in Amerika aufgehalten hatte. „Du siehst wunderschön aus“, wandte er sich wieder an Caroline. „Gibt es einen Grund zum Feiern?“

„Nein“, mischte sich Nicholas ärgerlich ein und warf Caroline einen vorwurfsvollen Blick zu. Er schien es für eine Zumutung zu halten, dass sie ihm ihren Exfreund vorstellte. „Ein Essen unter guten Freunden. Wenn Sie uns jetzt entschuldigen würden …“

Caroline konnte kaum glauben, dass Nicholas Jack so schroff abfertigte. Das wollte sie nicht hinnehmen, es war unanständig und unfair, egal wie schäbig Jack sich ihr gegenüber verhielt.

„Hast du schon gegessen, Jack? Setz dich doch zu uns, wenn du möchtest“, forderte sie ihn mutig auf.

Jack war überrascht. Ohne ihren Begleiter zu beachten, ließ er den Blick langsam über Carolines Gesicht, ihre Schultern und ihren Körper gleiten. Unter dem feinen Material ihres Kleides zeichneten sich ihre Brüste deutlich ab, und schon wieder stieg bei ihrem Anblick heftiges Verlangen in ihm auf.

Kein Wunder, dass Nicholas Brandon sie für sich allein haben will, dachte er. Vielleicht war Caroline wirklich überzeugt, eine rein freundschaftliche Beziehung mit dem Arzt zu haben. Aber Jack war sofort aufgefallen, dass dieser Mann sie genauso heftig begehrte wie er selbst. Jack wollte sie unbedingt wieder in seinem Bett haben, wenigstens ein einziges Mal, das war ihm schlagartig klar geworden. Nach all den Jahren und nach allem, was sie ihm angetan hatte, war das vielleicht eine große Dummheit. Darüber wollte er jedoch nicht nachdenken.

„Nein, vielen Dank“, antwortete er und lächelte, als er den erleichterten Blick ihres Begleiters bemerkte. „Ich trinke meinen Kaffee aus, dann gehe ich auf mein Zimmer. Ich muss noch arbeiten. Vielleicht ein andermal. Wir laufen uns bestimmt wieder über den Weg.“

„Du wohnst hier im Hotel?“ Caroline war überrascht.

„Ja. Übrigens, was machen die Prellungen und die blauen Flecke von gestern?“, fragte er, um Nicholas Brandon zu ärgern.

„Sie wissen, dass Caroline von der Leiter gefallen ist?“, reagierte der Arzt prompt mit vorwurfsvoller Miene.

„Es war gerade passiert, als ich den Laden betrat. Sie war immer schon ein kleiner Unglücksrabe. Stimmt’s, Caroline?“ Jack gab seiner Stimme absichtlich einen rauen und seltsam intimen Klang und schaute Caroline so vielsagend in die Augen, dass es sie heiß überlief.

Auch damals hatte er es verstanden, ihr mit einem einzigen liebevollen Blick das Gefühl zu geben, sie körperlich zu begehren. Aber warum sah er sie jetzt wieder so an? Er verachtete sie doch, wie er ihr deutlich zu verstehen gegeben hatte.

Trotz ihrer Verwirrung konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden. Kurz entschlossen küsste Jack sie auf die Wange, um ihren Begleiter zu provozieren. Der Duft seines Aftershaves erregte all ihre Sinne, und sie spürte einen wohligen Schauer.

„War ich das wirklich?“, erwiderte sie nervös. Es war ihr peinlich, an ihre Ungeschicklichkeit erinnert zu werden. Außerdem konnte sie kaum glauben, dass Jack sie geküsst hatte. Siebzehn Jahre, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, hatte sie seine Berührungen und Zärtlichkeiten vermisst. Und nachdem sie jetzt seine Lippen auf ihrer Haut gespürt hatte, sehnte sie sich verzweifelt nach mehr. Sie empfand tiefe Freude, obwohl sie wusste, dass ihr Verlangen unerfüllt bleiben würde.

„Okay, ich lasse euch allein“, erklärte er und blickte Caroline noch einmal so herausfordernd und bedeutungsvoll an, dass es ihr den Atem raubte. Er schien mit seinem Blick anzudeuten, dass er sich etwas Schöneres vorstellen konnte, als den Abend allein in seinem Hotelzimmer zu verbringen.

Als er weg war, überlegte Caroline, ob er die Bemerkung, sie würden sich bestimmt wieder über den Weg laufen, ernst gemeint hatte. Oder hatte er nur Nicholas ärgern wollen? Jack fand ihn offenbar sehr unsympathisch, das hatte sie gespürt. Lag es daran, dass Nicholas ein Freund ihres Vaters gewesen war? Jack musste davon ausgehen, dass die beiden Männer damals über ihn geredet hatten, und das störte ihn natürlich. Nicholas hatte jedenfalls keinen Hehl aus seiner Abneigung, seinen Vorurteilen und seiner Verachtung gegenüber Jack gemacht.

„Du solltest dich von dem Mann fernhalten, Caroline. Das ist für dich das Beste“, stellte Nicholas missmutig fest. „Ich kann mich auf meine Menschenkenntnis verlassen und täusche mich selten. Ich traue ihm nicht, er würde dir nur Ärger bringen.“

Am liebsten hätte sie ihm heftig widersprochen, denn ihre Sehnsucht nach Jack war wieder genauso stark wie damals. Sie schwieg jedoch, weil Nicholas wahrscheinlich recht hatte. Vielleicht verfolgte Jack seine eigenen Pläne. Möglicherweise wollte er sich für das rächen, was sie ihm angetan hatte.

Da ihr der Appetit vergangen war, stocherte sie lustlos im Essen, bis es endlich Zeit war zu gehen.

Am nächsten Tag, einem Freitag, verließ Caroline nach dem Unterricht eilig die Schule, um Sadie Martin einzuholen. Das Mädchen war sehr zerstreut und unaufmerksam gewesen, hatte die ganze Zeit seltsam verträumt dagesessen. Das hatte Caroline beunruhigt, und sie wollte wissen, was los war.

Zwar hatte Caroline genug mit ihren eigenen Gedanken zu tun, doch sie verbat sich das Grübeln über Jack und lächelte Sadie strahlend an, als sie schließlich auf einer Höhe mit ihr war. „Hallo! Du hast es heute so eilig. Hast du etwas Bestimmtes vor?“

Sadie errötete und senkte schuldbewusst den Kopf.

„Ist alles in Ordnung, Sadie?“, fragte Caroline.

Sadie wartete, bis ihre Klassenkameradinnen verschwunden waren. Dann blieb sie stehen. „Ja, es ist alles in Ordnung, wirklich“, antwortete sie.

Dass sie ihre Aussage bekräftigte, war für Caroline sehr aufschlussreich, und sie kniff besorgt die Augen zusammen. „Möchtest du reden? Wir können in den Park gehen, ich habe Zeit.“

„Ja, gern. Vielen Dank.“ Überrascht und dankbar zugleich blickte Sadie sie an und bestätigte Caroline damit indirekt, dass sie das Richtige tat.

Sie setzten sich auf eine Bank im Schatten einer Eiche, die langsam ihr goldenes Herbstlaub verlor.

„Ich habe einen Jungen kennengelernt. Ich … mag ihn sehr“, begann Sadie schließlich.

Überrascht und zutiefst beunruhigt sah Caroline sie an. Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet und war sekundenlang sprachlos. Dann räusperte sie sich und atmete tief ein. Sadie ist sechzehn, genauso alt wie ich war, als ich mich in Jack verliebt habe, überlegte sie. „Wann und wo habt ihr euch denn kennengelernt?“

Wieder errötete Sadie. „Ich kenne ihn schon einen Monat. Er heißt Ben und studiert Kunst hier am College. Die ältere Schwester meiner Freundin ist eine Kommilitonin von ihm. Sie hat uns Eintrittskarten zu einer Tanzveranstaltung der Studenten geschenkt. Und da sind Ben und ich uns begegnet.“

„Dann ist er einige Jahre älter als du“, stellte Caroline fest.

„Ja, aber nur drei. Das ist kein großer Altersunterschied, oder?“

„Nein.“ Caroline fuhr sich mit den Fingern durch die blonde Mähne. „Das ist es nicht. Jetzt weiß ich wenigstens, warum du in der letzten Zeit so zerstreut warst. Hast du ihn schon deinen Eltern vorgestellt?“

„Ja. Ich würde mich niemals hinter ihrem Rücken mit ihm treffen. Außerdem bin ich sonst nur selten ausgegangen, doch seitdem ich ihn kenne, gehe ich sehr oft weg. Sie hätten Verdacht geschöpft, wenn ich es ihnen verschwiegen hätte. Mein Vater mag ihn sehr, und meine Mutter gewöhnt sich langsam an den Gedanken, dass ich einen Freund habe, glaube ich.“ Sadie zuckte verlegen mit den Schultern. „Sie macht sich immer zu viele Sorgen. Wahrscheinlich befürchtet sie, ich könnte in Schwierigkeiten geraten.“

„In was für Schwierigkeiten?“ Noch ehe sie die Frage ausgesprochen hatte, wusste Caroline, dass Sadie eine ungewollte Schwangerschaft meinte. Oh nein, die Geschichte darf sich nicht wiederholen, dachte sie besorgt. Sadie hatte eine glückliche Zukunft verdient. Es sollte ihr erspart bleiben, dass die Romanze zerbrach oder der Mann, in den sie verliebt war, sie zurückwies, ehe sie überhaupt erwachsen geworden war. Aber das Mädchen hatte Eltern, die es liebten und die vermutlich zu ihm halten würden, falls etwas schiefging. Für mich war die Situation damals wesentlich schwieriger, gestand sich Caroline ein.

„Sie befürchtet, ich könne schwanger werden.“ Sadie verzog die Lippen. „Doch ich bin vernünftiger, als meine Eltern glauben, auch wenn ich noch sehr jung bin. Ben und ich sind gerade erst dabei, uns richtig kennenzulernen. Wir haben noch nicht zusammen geschlafen. Wenn es so weit ist, gehe ich zum Arzt und lasse mir ein Verhütungsmittel verschreiben. Ich will nichts riskieren und uns beiden nicht die Zukunft verbauen.“

„Das klingt wirklich sehr vernünftig, Sadie.“ Caroline schluckte und rang sich ein Lächeln ab. Sie wünschte, sie und Jack hätten damals auch so vernünftig gehandelt. Aber sie waren Sklaven ihrer Leidenschaft gewesen, sie hatten nicht genug voneinander bekommen und sich nicht beherrschen können. Ihr Magen verkrampfte sich bei den bittersüßen Erinnerungen. „Manchmal geraten die Dinge jedoch trotz aller guten Vorsätze außer Kontrolle. Du weißt, dass eure Soziologielehrerin Glynis Hopkins Teenager in Beziehungsfragen berät, oder? Rede doch einmal mit ihr. Sie ist sehr nett, und alles, was du mit ihr besprichst, behandelt sie streng vertraulich, das kann ich dir versichern.“

Sadie strahlte übers ganze Gesicht. „Danke. Ich bin so froh, dass ich mit Ihnen reden kann. Sie verstehen mich, das wusste ich.“

Caroline drückte dem Mädchen die Hand. „Als deine Lehrerin und deine Freundin wünsche ich mir sehr, dass du glücklich bist“, erwiderte sie sanft.

Später am Abend war Caroline nervös und angespannt und ihre Gedanken kreisten immer wieder um Jack. Normalerweise zog es sie ans Meer, wenn sie unruhig und aufgewühlt war. Aber heute Abend brachte sie nicht die Energie auf, an dem einsamen Strand entlangzuwandern. Stattdessen beschloss sie, mit dem Auto ziellos durch die Gegend zu fahren. Sie setzte sich in ihren Wagen und gönnte unterwegs den Wellen, die ans Ufer schlugen, keinen Blick.

Als Caroline nach Hause zurückkehrte, wurde es schon dunkel. Sie stellte den Wagen in der Einfahrt ab und stieg aus. Vielleicht friert es heute Nacht, es ist ziemlich kalt, überlegte sie, während sie ihre Handtasche vom Beifahrersitz nahm und das Auto abschloss. Dann ging sie müde zur Haustür.

„Bleibst du immer so lange in der Schule nach dem Unterricht?“

Beim Klang der ihr so vertrauten Stimme wirbelte sie schockiert herum. Jack stand hinter ihr und blickte sie mit diesen unglaublich blauen Augen durchdringend an.

„Jack, was machst du denn hier? Woher wusstest du, dass ich heute unterrichtet habe?“ Sie bekam weiche Knie. Wie gebannt betrachtete sie sein Gesicht und die kleine Narbe über der Lippe. Er hatte ihr erzählt, dass er sich mit sechzehn mit einem anderen Jungen geprügelt hatte, der ihn dabei mit einem Messer verletzte. Am Ende war Jack jedoch der Stärkere gewesen, und der andere Junge hatte ihn danach nie mehr belästigt. Das glaubte Caroline ihm unbesehen. Er war ein energiegeladener Mensch und zugleich gefährlich und unberechenbar. Zweifellos hatte der Junge ihn damals völlig unterschätzt.

„Ich habe deine Nachbarin gefragt. Sie war sehr hilfsbereit.“ Sein Lächeln wirkte nicht warm und herzlich, sondern eher überlegen und zufrieden, so als wäre ihm klar, dass er Caroline da hatte, wo er sie haben wollte. Und damit hatte er recht. Sie wusste, dass sie ihm nicht widerstehen konnte.

Autor

Jennie Adams
<p>Jennie Adams liebt die Abwechslung: So wanderte sie schon durch den Australischen Kosciusko Nationalpark, arbeitete auf Farmen, spielte Klavier auf Hochzeitsfeiern, sang in einer Chorproduktion und hatte verschiedenste Bürojobs. Jennie lebt in einem kleinen Städtchen in New South Wales, wo sie einem Halbtagsjob nachgeht weil sie nach eigenen Angaben auch...
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