Julia Exklusiv Band 264

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ZÄRTLICH VERFÜHRT IN PARIS von JAMES, JULIA
In Paris erlebt die junge Lissa mit dem französischen Millionär Xavier eine berauschende Romanze. Xavier nimmt sie mit in eine neue, aufregende Welt des Luxus und der Sinnlichkeit. Doch dann erfährt Lissa, wer er wirklich ist. Was für ein Spiel treibt dieser Mann mit ihr?

DAS GEHEIMNIS DES MILLIONÄRS von CRAVEN, SARA
Adrienne ist am Boden zerstört: Hinter ihrem Rücken hat ihr Verlobter das Familienanwesen verkauft und sich mit dem Geld abgesetzt. Neuer Besitzer von Windhurst Grange ist ausgerechnet Adriennes Jugendschwarm Chay. Und der macht ihr ein höchst unmoralisches Angebot!

TANGO DER LIEBE von BAIRD, JACQUELINE
Hals über Kopf verliebt sich Emily auf einem Londoner Kostümball in einen charmanten Unbekannten. Überglücklich wird sie bald seine Frau. Doch die Hochzeitsreise nach Monaco verläuft nicht ganz nach Plan: Emily sieht sich plötzlich in ein Netz aus Intrigen verstrickt …


  • Erscheinungstag 09.10.2015
  • Bandnummer 0264
  • ISBN / Artikelnummer 9783733703691
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julia James, Sarah Craven, Jacqueline Baird

JULIA EXKLUSIV BAND 264

1. KAPITEL

Xavier Lauran, Geschäftsführer, Besitzer und Hauptaktionär von XeL, starrte auf die E-Mail vor ihm auf dem Monitor.

… Sie ist die Frau meiner Träume, Xav! Noch weiß sie es nicht, aber ich werde sie heiraten!

In finstere Gedanken versunken blickte er auf die abendliche Skyline von Paris hinaus, auf den Arc de Triomphe und den Place d’Etoiles. Dabei sollte er eigentlich auf dem Weg nach Hause sein, sich umziehen, anschließend Madeline in die Oper begleiten und einen vergnüglichen Abend mit ihr verbringen.

Madeline de Cerasse wusste – wie all die anderen Frauen vor ihr –, was er von einer Beziehung erwartete. Eine kultivierte Begleiterin für die vielen gesellschaftlichen Anlässe, die zu besuchen seine Position verlangte, und danach ebenso anspruchsvolle Vergnügungen intimerer Natur. Körperlich intim – emotionale Intimität hingegen gehörte zu den Dingen, die Xavier weder suchte noch begehrte. Er war kein Mann, der sein Herz über seinen Verstand stellte.

Im Gegensatz zu seinem Bruder Armand.

Seine Miene wurde noch ernster. Armand ließ sich immer von seinen Gefühlen mitreißen. Das letzte Mal endete es fast in einer Katastrophe. Ohne einen Moment zu zögern, war er einer skrupellosen Frau in die Arme gelaufen, die ihm eine rührselige Geschichte über ihre arme Großmutter und ein kostspieliges Pflegeheim und das Märchen ihrer eigenen wohltätigen Arbeit für Waisenkinder in Afrika aufgetischt hatte. Armand zeigte sich äußerst großzügig – bis Xavier die Frau überprüfte. Natürlich war alles gelogen.

Zwar am Boden zerstört, glaubte Armand nach wie vor an das Gute im Menschen. Und nun schrieb er von Hochzeit.

Wen wollte er heiraten? Wer war diese „Frau seiner Träume“? Schnell las Xavier den Rest der E-Mail.

Dieses Mal werde ich vorsichtig sein, Xav. Sie weiß nicht, dass ich etwas mit dir oder XeL zu tun habe, ich habe es ihr absichtlich verschwiegen. Denn ich möchte, dass es eine großartige Überraschung für sie wird.

Offenbar bewies Armand endlich einmal Anzeichen von gesundem Menschenverstand. Doch am Ende der Mail verflog Xaviers anfängliche Erleichterung.

Ich bin mir bewusst, dass es Probleme geben wird. Aber es kümmert mich nicht, dass sie nicht die ideale Braut ist, die du mir wünschen würdest. Ich liebe sie, und das muss genügen …

Griesgrämig starrte Xavier auf den Monitor. Das klang nicht gut, gar nicht gut. In seinem Kopf begannen sämtliche Alarmglocken zu schrillen. Es würde sehr viel schwieriger werden, seinen Bruder erst nach einer Hochzeit zu retten.

Und außerdem viel teurer. Armand gehörte nicht zu den Männern, die einen Ehevertrag schlossen. Gut, er war nur sein Halbbruder und hatte daher auch nicht das Geschäft von Xaviers Großvater geerbt. XeL zählte zu den weltweit bekanntesten Firmen für Luxusgüter. Das exklusive Logo verlieh den Besitzern der sündhaft teuren Gegenstände Prestige und sozialen Status.

Allerdings fungierte Armand nicht nur als hochbezahlter Direktor von XeL, sondern durfte auch einen sehr vermögenden Mann seinen Vater nennen. Lucian Becaud hatte Xaviers Mutter geheiratet, als dieser noch ein kleines Kind war. Also bedeutete Armand auch ohne die Firma einen durchaus guten Fang für eine Frau, die nach einem reichen Ehemann suchte.

Gehörte Armands zukünftige Braut zu diesem Typ Frau? Offensichtlich hielt er sie nicht dafür. Die letzten Zeilen seiner E-Mail zeugten von ungewöhnlicher Härte.

Xav, dieses Mal musst du mir vertrauen. Ich weiß, was ich tue, und du wirst meine Meinung nicht ändern. Bitte misch dich nicht ein, dafür bedeutet mir die Sache zu viel.

Xavier seufzte. Er wollte Armand vertrauen, aber wenn sein Bruder mit seiner Einschätzung nun falsch lag?

Nein, dieses Risiko konnte er nicht eingehen. Nicht, wenn das Glück seines Bruders auf dem Spiel stand. Er musste herausfinden, wer diese Frau war. Widerwillig, aber sehr entschlossen, griff er nach dem Telefonhörer. Er würde einige diskrete Erkundigungen einziehen. Die Männer des Sicherheitsteams von XeL unterstanden ihm allein. Und wenn er die Anweisung erteilte, seinen Bruder beobachten zu lassen, nähmen sie an, es diene allein Armands Sicherheit.

Während er darauf wartete, dass jemand abnahm, tauchte ein anderer Gedanke in seinem Kopf auf. Vielleicht übertreibe ich ja und mache mir unnötig Sorgen.

Er hoffte es, hoffte es wirklich.

Doch binnen vierundzwanzig Stunden begrub er diese Hoffnungen. Missmutig starrte er auf das Dossier seiner Sicherheitskräfte. Nun wusste Xavier mit absoluter Gewissheit, dass es ein Problem gab.

Armands Einschätzung traf zu: Sie war nicht die ideale Braut. Xaviers Lippen verzogen sich zu einer schmalen Linie. Aber wer mit einem Funken Verstand würde das auch von einer Frau denken, die als Hostess in einem Kasino in Soho arbeitete?

Sein Sicherheitsteam war Armand gefolgt, als er die Londoner Filiale von XeL verließ. Er fuhr mit einem Taxi in eine Wohngegend, in der kein Mensch freiwillig lebte. Eine junge Frau öffnete die Tür eines heruntergekommenen Mietshauses und begrüßte ihn herzlich.

Erst nach mehreren Stunden begleitete die Frau ihn nach draußen. Armand hatte sie auf der Schwelle umarmt und sehr ernst mit ihr gesprochen. Eine halbe Stunde später verließ die Frau die Wohnung. Xaviers Männer folgten ihr zu einem Kasino. Eine kurze Recherche ergab, dass sie dort als Hostess angestellt war.

Xavier warf das Dossier auf den Schreibtisch. Sein Magen krampfte sich zusammen. Diese Frau wollte Armand heiraten?

Hatte er völlig den Verstand verloren?

Tief einatmend riss er den Briefumschlag auf, auf dem nur ein Name stand: Lissa Stephens.

Er starrte das Foto an, eine heimliche Aufnahme aus dem Kasino. Und je länger er es ansah, desto mehr wuchs seine Fassungslosigkeit. Furchtbarer hätte sie kaum aussehen können.

Blonde, straff zurückgekämmte Haare, das Make-up einen Zentimeter dick, der Mund grellrot geschminkt, dazu ein billiges, knappes Satinkleid.

Was zur Hölle sah Armand nur in ihr?

Abscheu stieg in Xavier auf. Wie konnte sein Bruder nur eine solche Frau heiraten wollen?

Wusste er überhaupt, dass sie in Londons berüchtigtem Rotlichtbezirk als Kasinohostess arbeitete? Und womöglich war diese Entdeckung nur die Spitze des Eisbergs. Allein der Gedanke, Armand könne diese Frau seinen Eltern vorstellen, sie in die wunderschöne Villa an der Riviera in Menton mitbringen, schockierte ihn.

Er zwang sich, sein Entsetzen zu unterdrücken. Jetzt galt es, die richtigen Schritte zu unternehmen. Immerhin bestand die wenn auch geringe Möglichkeit, dass der äußere Anschein trog. Vernunft zählte, nicht seine Gefühle.

Wieder musterte Xavier das Foto und versuchte hinter das Bild von Lissa Stephens zu schauen. Aus ihrer Miene konnte er nichts ablesen, das Make-up verbarg alles wie eine Maske. Nur eines sah er.

Ihre Augen.

Sie blickten hart. Die Augen einer Frau, die das gute Herz seines Bruders als Schwäche erkannt hatte und gedachte, ihren Vorteil daraus zu ziehen. Armands Worte fielen ihm ein.

Ich weiß, was ich tue …

Wirklich? Oder glaubte er das nur, so wie beim letzten Mal, bis Xavier ihm die Wahrheit präsentiert hatte? Das Risiko konnte er auf keinen Fall eingehen.

Langsam stand er auf und trat ans Fenster. Der niemals endende Verkehr um den Triumphbogen verschwamm vor seinen Augen.

Er würde diese Frau überprüfen. Und zwar persönlich.

Sein Bruder verdiente das.

Und was Lissa Stephens anging … ein Schatten verdunkelte seine Augen. Nun, bald wüsste er höchstpersönlich, was sie verdiente. Seinen Bruder als Ehemann – oder etwas völlig anderes.

2. KAPITEL

Lissa unterdrückte ein Gähnen, zwang sich mit reiner Willenskraft zu einem Lächeln und murmelte eine belanglose Nettigkeit zu den beiden Männern hinüber, die mit ihr am Tisch saßen. Tapfer kämpfte sie gegen die Müdigkeit an. Wann bekam sie wohl endlich wieder genügend Schlaf? Natürlich sollte sie für diesen Job dankbar sein – auch wenn er erniedrigend, verletzend, moralisch zweifelhaft und ihrem inneren Wesen zutiefst zuwider war.

Ihre Miene verhärtete sich. Pech. Sie brauchte das Geld. Und zwar dringend. So dringend, dass sie nach einem anstrengenden Arbeitstag im Büro in der Innenstadt noch bis in die frühen Morgenstunden in diesem Kasino arbeitete. Der einzige andere Nachtjob wäre Putzen gewesen, doch dafür bekam man nicht so viel Geld.

Geld, dachte sie verdrossen. Darauf lief es letztlich immer hinaus. Sie musste in sehr kurzer Zeit so viel Geld wie möglich verdienen. Einen anderen Ausweg gab es nicht.

Oder doch? Durch die Müdigkeit, die ihren Körper und ihren Geist einhüllte, flackerte ein vertrauter, gefährlich verführerischer Gedanke.

Armand.

Armand und sein Geld konnten alles so schnell zum Guten wenden. Nur für einen Moment erlaubte sie sich den Luxus dieses TagtrauMiss

Nein, diese Richtung durften ihre Gedanken nicht nehmen. Seit einigen Tagen schon hatte er sich nicht mehr gemeldet, und sie musste sich der sehr realen Möglichkeit stellen, dass sie sich sein Interesse nur eingebildet hatte.

Ihre Kehle wurde eng. Es war sinnlos zu erwarten, dass jemand einen Zauberstab schwenkte und alles auf wundersame Weise wieder in Ordnung brachte und sie aus ihrer Lage rettete.

Sie zwang ihre Aufmerksamkeit auf die beiden Geschäftsleute. Immerhin unterhielten sie sich nun miteinander – über Verkaufszahlen und dergleichen – und ließen sie in Ruhe. Ihr Blick schweifte wieder ab.

Und hielt abrupt inne.

Gerade betrat jemand den Barbereich des Kasinos. Jemand, das erkannte sie sofort, der sich vom Rest der Besucher in einer Weise unterschied wie ein edles Rennpferd von einem struppigen Pony.

Die Erscheinung des Fremden – vom maßgeschneiderten Anzug mit den goldenen Manschettenknöpfen bis zu dem perfekten Haarschnitt – verriet, dass er an viel glamouröseren Orten zu Hause war. Monte Carlo, Marbella, in Luxushotels wie dem Ritz oder dem Savoy.

Er sah … reich aus. Wirklich reich. Ihr Magen tat einen kleinen Sprung. Er wirkte wie Armand manchmal. Mit jener lässigen, angeborenen Eleganz, die Menschen nicht erlernten. Sondern mit der sie aufwachsen mussten, um sie auf eine Art zu verkörpern, wie Armand und dieser Mann es taten.

Aber es gab noch eine Gemeinsamkeit mit Armand: Er war kein Engländer. Engländer umgab nicht diese vornehme Noblesse, die wie ein teurer Handschuh eine unverhohlene Männlichkeit eher betonte als verbarg. Allerdings bemerkte Lissa auch einen entscheidenden Unterschied.

Armands Gesicht besaß einen offenen freundlichen Ausdruck. Der Unbekannte hingegen war der atemberaubendste Mann, den sie je gesehen hatte.

Das lag an seinem großen schlanken Körper, dem gebräunten Gesicht mit der schmalen Nase, den hohen Wangenknochen, dem markanten Kinn und den sinnlichen vollen Lippen. Und den Augen. Dunkel, undurchsichtig, mit scharf abgegrenzten Augenbrauen, die ihm fast eine düstere Aura verliehen.

Wieder spürte sie ein flaues Gefühl im Magen und hörte ihren Herzschlag. Sie versuchte, die Empfindung zu unterdrücken. Schließlich sah sie nicht zum ersten Mal einen attraktiven Mann. Warum beeindruckte sie dieser so über Gebühr?

Die Antwort lag auf der Hand. Weil sie noch nie einen Mann wie ihn gesehen hatte, deshalb.

Wütend auf sich selbst, zwang sie sich, den Blick abzuwenden. Was um alles in der Welt spielte es für eine Rolle, wenn er der atemberaubendste Mann ihres Lebens war? Ein Kasinobesucher, mehr nicht. Und als Kasinoangestellte lag ihr einziges Interesse an ihm darin, ihm so viel Geld wie möglich aus der Tasche zu ziehen.

Während sie noch diesem Gedanken nachhing, sah sie den Manager des Kasinos auf den Fremden zugehen. Bestimmt funkeln seine Augen, dachte Lissa, weil sich ein so fetter Fisch in sein Netz verirrt hat. Durch gesenkte Lider beobachtete sie, wie der Manager den Neuankömmling unterwürfig begrüßte. Dann, mit einem raschen suchenden Blick, winkte er eine Hostess heran.

Tanya war eine sinnliche Blondine osteuropäischen Typs. Mit einem sexy Lächeln näherte sie sich dem Unbekannten. Der Mann betrachtete sie, wobei seine Augen fast unmerklich schmaler wurden.

Dann berührte eine Hand Lissas nackten Arm und lenkte ihre Aufmerksamkeit ab.

„Ich möchte tanzen“, verkündete einer der beiden Männer an ihrem Tisch.

Sie verbarg ihren Unwillen und setzte ein erfreutes Lächeln auf, während sie aufstand. Unmittelbar neben der Bar gab es eine kleine Tanzfläche. Glücklicherweise lief gerade heitere und schnelle Musik. Doch zwei Minuten später kam eine langsame Nummer, und ihr Begleiter legte eine Hand auf ihre Hüfte. Lissa versuchte, nicht zurückzuzucken. Sie hasste es, mit den Spielern zu tanzen.

Dann, völlig unvermittelt, tauchte noch jemand neben ihr auf.

Xavier ließ zu, dass sich die Blondine an seinen Arm klammerte, doch er beachtete sie nicht weiter. Seine Aufmerksamkeit galt allein seiner Zielperson.

Lissa Stephens.

In Fleisch und Blut. Und kein bisschen anders als auf dem Foto in dem Dossier. Blondes Haar, straff zurückgekämmt, viel zu viel Make-up, die schlanke Figur in ein billiges Satinkleid gehüllt. Einen Moment schäumte er innerlich vor Wut, weil ein so offensichtliches Flittchen seinen idiotischen Bruder hatte einwickeln können. Was zur Hölle sah Armand nur in ihr?

„Ich liebe tanzen“, schnurrte die Hostess an seiner Seite.

Xavier hörte ihren Akzent, polnisch, russisch oder etwas aus dieser Region. Wahrscheinlich in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach London gekommen. Er verspürte einen Hauch von Bedauern. Für viele Menschen aus dem früheren Ostblock war das Leben hart. Er konnte den Frauen, die ihre Lebensumstände verbessern wollten, keinen Vorwurf machen – auch wenn sie es auf so scheußliche Weise versuchten.

Diese Entschuldigung mochte für Immigranten gelten, aber traf sie auch auf Lissa Stephens zu? Sie war mit den Vorteilen einer kostenlosen Erziehung, eines staatlichen Gesundheitswesens und, wenn es darauf ankam, Sozialwohnungen aufgewachsen. Welchen Grund also mochte es für sie geben, an einem Ort wie diesem zu arbeiten – es sei denn, sie tat es freiwillig? Und was sagte Letzteres über eine Frau aus?

Höchste Zeit, sich um Lissa Stephens zu kümmern und sie genauer in Augenschein zu nehmen.

Er ging zu ihr.

„Mein Tanz“, sagte er.

Der Mann an ihrer Seite drehte streitlustig den Kopf. Also kümmerte Xavier sich zuerst um ihn.

„Tauschen wir?“, lud er ihn ein.

Der Mann betrachtete die blonde Schönheit an Xaviers Seite, die definitiv hübscher war als seine derzeitige Tanzpartnerin. Der verärgerte Ausdruck verschwand.

„Einverstanden“, murmelte er ein wenig undeutlich, ließ Lissa los und schloss die kurvige Blondine mit einem breiten Lächeln in die Arme. Ihrer verärgerten Miene nach zu schließen, freute diese der Tausch ganz und gar nicht, aber das interessierte Xavier nicht mehr.

„Sollen wir?“, fragte er Lissa, wartete ihre Antwort gar nicht erst ab und zog sie in seine Arme.

Augenblicklich versteifte sie sich.

Das erstaunte Xavier. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Instinktiv zog er sich ein Stück zurück und brachte etwas Distanz zwischen sich und sie.

„Was ist los?“

Etwas flackerte in ihren Augen auf, dann verschwand es, und sie lächelte.

„Hi, ich bin Lissa“, sagte sie mit leiser Stimme, ohne auf seine Frage einzugehen.

Sie lächelte noch breiter. Oder angespannter? Darüber wollte er nicht nachdenken. Er legte die Hände um ihre Hüften. Durch den dünnen Stoff des Kleides konnte er die kurvige Linie fühlen. Aufmerksam betrachtete er ihr Gesicht.

Ihre Miene hatte jede Härte verloren. Stattdessen blickte er in eine Leere. Aus der Nähe wirkte ihr Make-up noch entsetzlicher. Die Augen mit dunklem Lidschatten überbetont, die Wimpern dick getuscht, und was den Mund anging …

Der blutrote Lippenstift erinnerte an Marmelade, klebrig und süß.

Xavier spürte, wie Ekel in ihm aufstieg. Keine Frau, die er kannte – und er kannte viele –, würde sich jemals so schminken. Die Frauen seiner Welt, Madeline und ihre Freundinnen, waren chic und elegant, ihr Make-up makellos. Sie gehörten einer anderen Spezies an als die Frau, mit der er tanzte. Verachtung schlich sich in seinen Blick.

Rasch nahm er sich zusammen und verbarg seine Empfindungen. Ihr seine Gefühle zu zeigen, brachte ihn nicht weiter.

„So, Lissa, glauben Sie, Sie bringen mir Glück an den Tischen?“, fragte er und lächelte ermutigend.

Wieder versteifte sie sich in seinen Armen – nur für einen Moment.

„Ich bin sicher, Sie werden Glück haben“, sagte sie. Auch diesmal wirkte ihr Lächeln angespannt.

„Gut“, meinte Xavier. „Gehen wir.“

Er nahm seine Hände von ihren Hüften, und einen Augenblick schien sie zu schwanken. Doch Xavier ignorierte es und geleitete sie von der Tanzfläche durch die Bar zu den Spieltischen. Fast meinte er den gierigen Blick des Kasinomanagers in seinem Rücken zu spüren.

Ein zynisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Nun, dann würde er den Wünschen des Inhabers dieses drittklassigen Etablissements nachkommen und eine ausreichende Menge Geld verspielen, um sich einen herzlichen zweiten Empfang zu sichern.

Natürlich nur, falls einer notwendig sein sollte, was er jedoch bezweifelte. Während er Lissas blondes Haar betrachtete, das ihr bis auf die Schultern fiel, dann ihren Po und die sich sanft wiegenden Hüften, verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen. Bereits jetzt hatten sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet.

Lissa setzte sich auf den hohen Stuhl am Blackjacktisch. Was um alles in der Welt war bloß los mit ihr? Ihr Herz hämmerte in der Brust. Sie verspürte ein flaues Gefühl im Magen und Atemnot.

Verzweifelt versuchte sie, sich zusammenzureißen … und scheiterte. Alles, was sie tun konnte, war, sich am Stuhl festzuklammern und irgendwie weiterzumachen.

Zwei Wirklichkeiten prallten heute Nacht aufeinander, und das Ergebnis schockierte sie. Mit einer Wirklichkeit kam sie zurecht, aber nicht mit zweien. Mit der schmutzigen Realität, dass sie an einem Ort wie diesem arbeiten, sich aufreizend kleiden, fremden Männern mit einem Lächeln begegnen und sie überreden musste, billigen Champagner zu überteuerten Preisen zu kaufen, ertrug sie so lange, wie sie innerlich jeden Spieler verachtete. Unter keinen Umständen durfte sie zulassen, dass ihr einer von ihnen zu nahe kam – aus welchem Grund auch immer.

Doch der Mann neben ihr, der jetzt so gelassen seine Karten aufnahm, setzte ihr zu und hatte eine unglaublich starke körperliche Wirkung auf sie.

Das Gefühl seiner physischen Präsenz überwältigte sie nahezu.

Und das war falsch. Völlig falsch. Denn dass ein Mann wie dieser ihr an einem Ort wie diesem, wo sie selbst wie ein Flittchen aussah, seine Aufmerksamkeit schenkte, fand sie einfach fürchterlich. Am liebsten wäre sie weggelaufen.

Lissa atmete scharf ein und riss sich zusammen. Okay, dieser Kerl wirkte hier so fehl am Platz wie ein Diamant an einer Modeschmuckkette. Aber er war hier, oder nicht? Das hieß ja wohl, dass er trotz allem auch nur zur Gruppe der Spieler gehörte. Was also bedeutete es schon, dass er der attraktivste Mann war, den sie je außerhalb eines Films gesehen hatte?

Und noch eine weitere Erkenntnis kam ihr in den Sinn. Aus welchem Grund auch immer er sie gegen Tanya eingetauscht hatte, hing nicht damit zusammen, dass er sie in irgendeiner Weise attraktiv fand.

Der Mann neben ihr würde eine Hostess wie sie, mit schlechtem Make-up und einer furchtbaren Frisur, keines zweiten Blickes würdigen.

Einen Augenblick verspürte sie einen Stich.

Wenn er doch nur ahnte, wie ich aussehen kann …

Sie schob den Gedanken beiseite. Das Mädchen von früher, das Spaß daran hatte, das Beste aus ihrem Aussehen zu machen, das gern flirtete und sich verabredete, existierte nicht mehr. Es war mit dem Quietschen der Reifen, mit dem hässlichen Schaben von Metall auf Metall gestorben, in dem Moment, in dem alles verschwand, was es für selbstverständlich gehalten hatte.

Nun beschränkte sich das Leben auf die harten grausamen Notwendigkeiten, auf den erbarmungslosen Kampf, das eine Ziel zu erreichen, das ihr noch verblieben war.

Und was ihr Aussehen anging … zumindest hatte sie damit diesen Job bekommen. Und diese billige flittchenhafte Aufmachung diente als Schutz. Kein Mann, der sie jetzt mit lüsternen Blicken verfolgte, konnte ihr je gefährlich werden. Die Verkleidung als Hostess wirkte wie ein Schild gegen die Widerwärtigkeiten, die dieser Job mit sich brachte.

Ein Job, den sie erledigen musste, ob es ihr gefiel oder nicht. Deshalb machte es auch keinen Sinn, sich zu wünschen, sie könne einfach durch die Tür spazieren und nie wieder zurückkommen.

Lissa richtete sich gerade auf und zwang sich, das Spiel auf dem Blackjacktisch zu beobachten.

Der Mann neben ihr spielte nicht sonderlich gut und verlor mehrfach. Merkwürdig. Er sah nicht wie ein Verlierer aus. Ganz im Gegenteil.

Innerlich zuckte sie mit den Schultern. Was machte es schon, ob er Geld wegwarf wie wertloses Papier? Was kümmerte es sie? Ihr Job bestand darin, ihn dazu zu bringen, ihr so viel Champagner wie möglich zu kaufen.

„Ich bin sicher, ein Glas Champagner würde Ihr Glück wenden“, murmelte sie und zwang sich zu einem kehligen Flöten. Noch während sie sprach, ekelte sie sich vor sich selbst.

Auf ihrem Mund lag ein falsches Lächeln, und sie neigte geübt einladend den Kopf. Aus den Augenwinkeln sah sie Jerry, einen der Kellner, der mit einem Tablett bereits gefüllter Gläser seine endlosen Runden drehte.

Der Mann an ihrer Seite richtete sich fast unmerklich auf, dann wandte er sich ihr zu. Einen Moment kam es ihr vor, als durchdränge sein Blick sie wie ein Laserstrahl, dann – ebenso abrupt – verschwand das Gefühl wieder. Nun lag in seinen Augen nur noch ein verschleierter Ausdruck, den sie nicht lesen konnte.

„Warum nicht?“, entgegnete er, sah an ihr vorbei und winkte Jerry mit einer kaum merklichen Geste zu sich. Er nahm zwei Gläser vom Tablett und reichte eines an Lissa weiter. Vorsichtig nahm sie es entgegen, sorgsam darauf bedacht, dass ihre Hände einander nicht berührten.

„Meinen Sie, ich sollte es einmal am Roulettetisch versuchen?“

Sein eindeutig französischer Akzent brachte all die inneren Schutzmaßnahmen ins Wanken, die sie so dringend brauchte. Oh, verflixt! Warum geschah das alles? Sie trank einen Schluck Champagner, als ob er helfen könnte, ihre Nerven zu stählen. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln.

Sieh ihm nicht in die Augen. Sieh durch ihn hindurch. Tu so, als wäre er ein ganz normaler Gast, als wäre alles völlig normal.

„Oh, das ist eine gute Idee!“, rief sie. „Beim Roulette gewinnen Sie bestimmt.“ Sie hob ihr Glas. „Auf das Glück“, prostete sie ihm zu und nahm noch einen Schluck.

Als sie ihr Glas abstellte, bemerkte sie, dass er noch gar nichts getrunken hatte. In Anbetracht der Qualität des Champagners überraschte sie das nicht. Aber warum hatte er ihn dann gekauft?

Innerlich zuckte sie zum wiederholten Male die Schultern. Nichts, absolut gar nichts an diesem Mann, der aus irgendeinem bizarren Grund das Kasino besuchte und sie aus einem noch unverständlicheren Grund an seiner Seite behielt, kümmerte sie. Er war ein Gast, den sie zum Geldausgeben animieren sollte.

Vorsichtig glitt sie von dem hohen Stuhl und bemühte sich, nicht zusammenzuzucken, als ihre schmerzenden Füße den Boden berührten.

Die Situation am Roulettetisch erwies sich als ebenso entsetzlich wie die beim Blackjack. Lissa musste neben ihm sitzen und zusehen, wie er die Chips auf den Zahlenfeldern platzierte. Da der Zufall beim Roulette höher ins Gewicht fiel, gewann er nun ab und zu. Aber er spielte völlig sorglos, als interessiere es ihn nicht, ob er gewann oder verlor.

Als er den letzten Chip verspielt und das Angebot des Croupiers, ihm neue zu besorgen, abgelehnt hatte, wandte er sich an Lissa.

„Tant pis.“

„Pech“, übersetzte sie automatisch.

Der Fremde hob eine Augenbraue. „Meinen Sie wirklich? Ich glaube, wir sind für das Glück in unserem Leben selbst verantwortlich, n’est ce pas?“

Ihre Augen trübten sich. War man tatsächlich selbst für sein Glück verantwortlich? Oder den Launen einer höheren grausamen Macht ausgeliefert? Konnte sich das Glück in einem Sekundenbruchteil ins Gegenteil verkehren?

Die Geschwindigkeit eines Wagens, das Ausbrechen von Rädern, ein Moment der Unaufmerksamkeit. Eine Tragödie, die das Glück aller vernichtete. Und nicht nur das Glück, sondern noch viel mehr.

Ein harter Ausdruck trat in ihre Augen.

Xavier bemerkte die Veränderung, die plötzliche Härte in ihrem Blick. Lissa Stephens gehörte wie das russische Mädchen vorhin zu der Sorte Frau, die sich um ihr eigenes Glück kümmerte – auf Kosten von Männern.

Aber nicht – und jetzt verhärtete sich seine Miene – auf Kosten seines verletzlichen gutherzigen Bruders.

Genau aus diesem Grund hatte er seine Geschäftsreise unterbrochen und Armand angewiesen, die XeL-Filiale in Dubai zu besuchen und anschließend nach New York weiterzufliegen. So blieb ihm genug Zeit, um Lissa Stephens gründlich unter die Lupe zu nehmen.

Obwohl seine schlimmsten Befürchtungen sich bereits bewahrheitet hatten, würde er jetzt die nächste Phase seines Plans einleiten.

Xavier schob den Ärmel seines Jacketts hoch und sah auf die Uhr. „Hélas, ich muss gehen. Morgen früh habe ich ein geschäftliches Treffen. Bon soir, mademoiselle … und vielen Dank für Ihre Gesellschaft.“

Er bedachte sie mit einem Lächeln, angesiedelt zwischen oberflächlich und höflich, und ging davon.

Lissa sah ihm nach. Gähnend massierte sie ihre Schläfen, überfallen von einer Woge Müdigkeit … Müdigkeit und Traurigkeit.

Was nützte es, dass ein solcher Mann sie aus ihrer Routine riss und verbotene Wünsche in ihr weckte, sie von einem Glück jenseits aller traurigen Realität träumen ließ? Gar nichts! In ihrem Leben gab es weder Zeit noch Raum für Träume.

Unvermittelt empfand sie ein Gefühl von Schuld. Wie konnte sie es wagen, sich über ihr Schicksal zu beklagen? Ihr Los war nichts, verglichen mit …

Sie schob die Gedanken beiseite. Immerhin hatte der verwirrende Franzose ihr einen Dienst erwiesen. Ihre Schicht lag hinter ihr, und sie konnte endlich nach Hause gehen.

Kaum zehn Minuten später, wieder normal gekleidet, die Haare gebürstet und aus dem straffen Zopf gelöst, das Gesicht vom Make-up befreit, schlüpfte sie hinaus in die Londoner Nacht.

3. KAPITEL

Es war kalt und regnete, aber das spürte Lissa kaum. Nach dem Rauch, dem billigen Parfum und dem Alkohol im Kasino roch die Londoner Nachtluft sauber und frisch.

Sie atmete tief ein, hob den Kopf in den Regen und steckte die Hände in die Jackentaschen. Nun trug sie Jeans und einen gemütlichen Pullover. Die flachen Absätze eigneten sich ideal für schnelles Gehen. Das blonde Haar hielt ein loser Pferdeschwanz zusammen. Hastig eilte sie die schmale Gasse hinter dem Kasino entlang, die zu einer größeren Straße führte, in der ihre Bushaltestelle lag.

Sie ging schnell – nicht nur, weil selbstsicher auszusehen zu dieser Nachtzeit in diesem Teil Londons den besten Schutz bot, sondern auch, weil sie den Bus erreichen musste, der sie über die Themse in den Süden der Stadt brachte. Auf den nächsten müsste sie eine halbe Stunde warten.

Als sie nur noch hundert Meter von der Haltestelle entfernt war, nahm der Regen zu. Die wenigen Wagen, die jetzt noch auf den Straßen fuhren, ließen das Wasser in den Pfützen hoch aufspritzen. Ungeduldig blieb Lissa stehen, um die Straße zu überqueren. In der Ferne sah sie schon den Bus.

In diesem Moment brauste ein großer Wagen besonders nahe am Bürgersteig an ihr vorbei und durchnässte sie von oben bis unten. Sie stieß einen verärgerten Laut aus und sprang instinktiv zurück. Noch mehr jedoch ärgerte sie, dass der Wagen, eine schwarze schnittige Limousine, direkt danach unvermittelt anhielt und den Weg über die Straße blockierte. Sie musste um den Wagen herumgehen, ein weiteres Fahrzeug vorbeilassen und dann über die Straße hasten. Der Bus hatte die Haltestelle schon fast passiert.

Als sie endlich die Verkehrsinsel in der Mitte der Straße erreichte, fuhr er an ihr vorbei.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Mit schmalen Lippen sah Lissa dem Bus nach. Nun musste sie über dreißig Minuten in der Kälte warten. Dabei war sie so müde.

„Mademoiselle?“

Die Tür des verhängnisvollen Wagens ging auf, und jemand lehnte sich halb heraus.

Der Franzose aus dem Kasino.

Sofort fühlte sich Lissas Magen wieder flau an.

Die Tür ging noch ein wenig weiter auf, was einen vorbeifahrenden Wagen zu einem riskanten Ausweichmanöver zwang. Der Franzose stieg aus und kam zu ihr. Er trug einen maßgeschneiderten schwarzen Kaschmirmantel, in dem er noch atemberaubender aussah.

„Lissa, nicht wahr? Beinahe hätte ich Sie nicht erkannt.“

In seinem Blick las sie Überraschung. Und noch etwas anderes. Etwas, was zuvor nicht dort gewesen war.

„Ich hoffe, Sie verzeihen mir. Sie wollten den Bus erreichen, der soeben vorbeigefahren ist?“

„Ja“, erwiderte Lissa angespannt und noch immer verärgert und frustriert. Jedoch machte sich allmählich ein weiteres Gefühl bemerkbar … ein Gefühl, das ihr nicht gefiel und das sie verscheuchte. Es hing mit dem Ausdruck in den Augen des Franzosen zusammen.

Je suis désolé. Erst durchnässt Sie mein Wagen, und nun trage ich auch noch die Schuld daran, dass Sie Ihren Bus verpasst haben. Ich hoffe, Sie erlauben mir, Sie nach Hause zu fahren?“

Seine Stimme klang sanft. Zu sanft für das Bedauern, das er vorgab.

Lissas Augen blitzten auf. „Danke, nein. Gleich kommt der nächste Bus. Entschuldigen Sie mich.“ Damit wandte sie sich um und ging die letzten Meter bis zur Haltestelle. Mittlerweile regnete es in Strömen, und die Haltestelle war nicht überdacht. Sie zog die Schultern hoch und versuchte, ein Zittern zu unterdrücken. Der nasse Stoff ihrer Jeans klebte kalt an ihren Beinen.

Xavier blieb auf der Verkehrsinsel stehen und sah ihr nach. Ihre Reaktion überraschte ihn. Wobei Überraschung nicht ganz zutraf, Schock passte besser.

Und Verstehen. Spät traf ihn die Erkenntnis, aber dafür umso heftiger.

Zumindest ergab es nun einen Sinn, dass diese Frau Armand verzauberte.

Ohne das billige Hostessenoutfit und ohne Make-up war sie umwerfend schön … dabei legte sie es überhaupt nicht darauf an, gut auszusehen. Jetzt bemerkte er, was die Make-up-Schichten so erfolgreich verbargen. Sie strahlte eine Schönheit aus, die jeden männlichen Blick einfing und festhielt.

In seinem Inneren tobten Gefühle. Widersprüchlich, mächtig … und unerwünscht.

Er schob sie fort. Sie waren überflüssig und störten nur. Er durfte ihnen keine Beachtung schenken, sondern musste zum nächsten Punkt in seinem Plan kommen.

Dem kleinen Zwischenfall lag nämlich ein sorgfältig inszenierter Plan zugrunde. Einer seiner Sicherheitsleute hatte ihn informiert, als Lissa Stephens das Kasino verlassen hatte, damit sein Fahrer genau zum richtigen Zeitpunkt auftauchte.

Xavier schlenderte zum Wagen zurück und stieg ein. „Zur Bushaltestelle“, wies er den Chauffeur an.

Dort angekommen, öffnete er die Wagentür ein zweites Mal. Zu seiner Zufriedenheit fiel der Regen nun in dichten Bindfäden.

Er beugte sich vor und hielt die Tür einladend geöffnet. „Bitte akzeptieren Sie mein Angebot, mademoiselle … Es ist nicht das richtige Wetter, dergleichen abzulehnen.“

Ein eiskalter Blick traf ihn. „Ich steige nicht zu Fremden ins Auto.“

Wortlos griff Xavier in seine Tasche und zog eine Visitenkarte hervor. Damit ging er ein kalkuliertes Risiko ein. Armand hatte ihm gesagt, seine Braut wüsste nichts von seiner Verbindung zu XeL. Jetzt würde sich zeigen, ob das stimmte – oder ob die ehrgeizige Mademoiselle Stephens ihre eigenen Recherchen angestellt hatte. Rief die Karte mit dem schlichten „Xavier Lauran – XeL“, ohne weiteren Titel oder Position, irgendeine Reaktion bei ihr hervor?

Verstohlen beobachtete er sie, wie sie die Karte zögernd entgegennahm und im Licht der Straßenlaterne las.

Außer einem leichten Stirnrunzeln bemerkte er keine Reaktion.

„XeL … ist das nicht diese piekfeine Kofferfirma?“, fragte sie schließlich.

Diese saloppe Beschreibung ärgerte Xavier maßlos.

„Neben anderen Produkten“, erwiderte er kühl. „Mademoiselle, ich möchte nicht ungeduldig erscheinen, aber hegen Sie die Absicht, mein Angebot anzunehmen, oder nicht?“

Einen Moment, das spürte er genau – und es vermehrte seinen Ärger zusätzlich –, war sie unentschieden.

„Also gut“, stimmte sie schließlich eher resigniert als dankbar zu.

Sie kam zum Wagen, und Xavier rutschte auf die gegenüberliegende Seite der Rückbank. Lissa setzte sich auf den freigewordenen Platz und legte den Sicherheitsgurt an.

Dann wandte sie sich an Xavier. „Könnten Sie mich am Trafalgar Square bitte absetzen? Von dort aus fahren mehrere Busse.“

„Soll ich Sie nicht nach Hause fahren?“

„Ich wohne auf der anderen Seite des Flusses“, gab sie zurück. „Das liegt Meilen abseits von Ihrem Ziel.“

„Ca ne fait rien“, sagte er gleichgültig. „Das ist nicht wichtig.“

Mit kühler und skeptischer Miene musterte sie ihn. „Im Kasino haben Sie gesagt, Sie müssten zu einem frühen Meeting.“

Xavier bedachte sie mit einem spöttischen Blick. „Das habe ich nur behauptet, weil ich gehen … und mich nicht auf eine Diskussion einlassen wollte.“

Blitzte es da in ihren Augen auf? In dem gedämpften Licht konnte er es nicht genau erkennen. Wohingegen er sehr wohl wusste, dass diese Frau eine Wirkung auf ihn ausübte, und innerlich kämpfte er immer noch gegen dieses Wissen an. Denn das konnte er im Moment ganz und gar nicht gebrauchen.

Doch sosehr er die Gefühle auch zu unterdrücken versuchte, musste er sich doch verdrossen eingestehen, dass seine Wahrnehmung sich verändert hatte. Er sah diese Frau plötzlich mit ganz anderen Augen. Am liebsten hätte er jetzt die unglaublichen Veränderungen an Lissa Stephens im Detail studiert.

Es spielt keine Rolle. Diese Verwandlung ändert nichts. Es erklärt nur, wie sie Armand um den Finger wickeln konnte. Offensichtlich hat er sie immer nur so gesehen, wie sie jetzt aussieht, und nie in ihrem Arbeitsumfeld.

„Wenn Ihr Fahrer den Piccadilly entlangfährt, kann er mich am Trafalgar Square absetzen“, wiederholte die Frau noch einmal und unterbrach seine Gedanken.

„Es ist kein Problem, Sie nach Hause zu fahren“, erwiderte er.

Bei seinen Worten versteifte sie sich. „Trotzdem“, beharrte sie, „wäre es mir lieber, am Trafalgar Square auszusteigen.“

Schon jetzt bedauerte sie es, in den Wagen gestiegen zu sein. Schön, sie wusste nun, wer er war – aber was hieß das schon? Xavier Lauran von XeL mochte ein französischer Geschäftsmann sein, der, selbst wenn er ein schäbiges Kasino besuchte, in einer Liga fernab ihrer eigenen spielte, aber ein Spieler blieb er trotzdem. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass er sie nach Hause fuhr. Sie saßen noch nicht einmal in einem Taxi – wer wusste schon, was er und sein Fahrer planten? Ein unbehagliches Gefühl stieg in ihr auf.

Comme tu veux …“

„Ja, das wünsche ich. Danke.“

Einen Moment ruhte sein Blick auf ihr, absolut unergründlich.

Er saß viel zu nah. Zu nah in diesem Wagen, zu …

Intim. Das war das richtige Wort. In dem beengten Innenraum des Wagens schien er ihr viel näher als im Kasino. Schließlich war das Kasino ein öffentlicher Ort.

Aber dies hier …

Automatisch zog sie sich in die hinterste Ecke ihres Sitzes zurück. Es machte keinerlei Unterschied. Er saß immer noch viel zu nah.

Und er schaute sie immer noch an.

Xavier musterte sie und sah nun die wirkliche Person, nicht die billige Hostess aus dem Kasino.

Wenn sie doch wenigstens Make-up getragen hätte! Auch wenn sie damit wie ein Flittchen aussah, wirkte es doch wie eine schützende Maske.

Aber vor diesem Mann konnte sie sich nicht verbergen. In dem Innenraum des Wagens fühlte Lissa sich seinen Blicken hilflos ausgeliefert. Ein Schauer überlief sie – Angst, Schrecken … und noch etwas ganz, ganz anderes.

Einen Moment zu lange erwiderte sie seinen Blick, spürte, wie ihre Augen sich weiteten, ihre Sicht ein wenig verschwamm. Es war unglaublich, ihn einfach nur anzusehen …

„Tu parles Français?“, fragte er.

„Oui, un peu. Pourquoi?“, erwiderte sie, von seiner Frage überrascht. Zugleich registrierte sie mit einer Mischung aus Verärgerung und jenes anderen ungewollten Gefühls, dass er tu gesagt hatte, sie also duzte.

„Nun, Frauen wie Sie beherrschen normalerweise keine Fremdsprachen.“

„Frauen wie ich? Ja, ich verstehe.“ Ihre Stimme klang spitz. „Sie meinen Frauen, die für jede andere Arbeit zu dumm sind?“

„Dumm?“

„Bête“, übersetzte sie.

„Wenn Sie klug genug sind, um eine fremde Sprache zu sprechen, warum arbeiten Sie dann in dem Kasino?“

„Genauso gut könnte ich fragen, was ein Mann von Ihrer offensichtlichen Intelligenz in einem solchen Etablissement sucht“, entgegnete sie scharf.

Seine Miene verfinsterte sich. Oh, dachte sie, es gefällt ihm gar nicht, wenn eine kleine Kasinohostess sein Verhalten infrage stellt.

„Warum arbeiten Sie dort?“, wiederholte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.

„Es ist ein Job.“ Instinktiv senkte Lissa den Kopf. Sie wollte den verächtlichen Ausdruck in Xaviers Augen nicht sehen. Denn er machte die Mischung aus Wut und Selbstekel nur noch schlimmer, die sie empfand, wenn sie vor sich eingestehen musste, wie sie ihr Geld verdiente.

Mir bleibt keine andere Wahl, wollte sie ihn anschreien. Doch was spielte das für eine Rolle? Erst jetzt bemerkte sie, dass der Wagen Trafalgar Square bereits hinter sich gelassen hatte und auf den Buckingham-Palast zusteuerte.

„Sie sind zu weit gefahren“, rief sie und beugte sich vor, um den Chauffeur darauf aufmerksam zu machen.

„Ich habe gesagt, ich fahre Sie nach Hause“, sagte der Franzose.

„Nein.“

Neugierig schaute Xavier sie an. In ihrer Stimme lag außer Ärger noch etwas. Etwas, wie …

Furcht. Das war es. Er sah die Furcht in ihren Augen.

Furcht und … Müdigkeit. Sie wirkte erschöpft und ausgelaugt.

Mademoiselle, es bereitet mir keine Umstände, Sie zu Ihrer Wohnung zu bringen. Um diese Uhrzeit herrscht nur wenig Verkehr. Es ist allein meine Schuld, dass Sie den Bus verpasst haben – erlauben Sie mir, dies wiedergutzumachen.“

Lissa lehnte sich zurück und betrachtete ihn. Seine Stimme klang plötzlich anders. Freundlicher. Aus einem unerfindlichen Grund schnürte das ihre Kehle zu. Sie wollte nicht, dass er freundlich zu ihr war. Er war ein Fremder. Ein Spieler.

„Das ist wirklich nicht nötig“, sagte sie steif. „Das kann ich nicht von Ihnen verlangen.“

„Es macht keine Umstände“, entgegnete er. „Ich muss einige Telefonate mit den USA führen. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich das in meinem Hotelzimmer oder im Wagen mache.“

Als wollte er seine Worte beweisen, zog er ein schmales Handy aus der Innentasche des teuren Mantels und öffnete es mit einer eleganten Handbewegung.

„Geben Sie dem Fahrer Ihre Adresse“, wies er sie an und wählte eine gespeicherte Nummer.

Unsicher sah Lissa ihn einen Moment an. Draußen zogen die Bäume der Allee zum Palast an ihnen vorbei. Schon fuhren sie am Denkmal der Königin Victoria vorbei. Auf der anderen Seite erhob sich der angestrahlte Buckingham-Palast in seiner barocken Pracht.

Und Xavier Lauran sprach auf einmal so rasch Französisch, dass Lissa ihn nicht mehr verstand. Er schien völlig in das Gespräch vertieft. Kurz erlaubte sie sich das Vergnügen, dem wundervollen Timbre seiner Stimme zu lauschen.

Dann drehte sich der Chauffeur zu ihr um. „Wenn Sie mir Ihre Adresse nennen könnten, mademoiselle?“ Auch er sprach mit französischem Akzent, der ihr jedoch keine Schauer über den Rücken jagte.

Lissa gab nach. Ihr würde schon nichts passieren. Ein Mann mit einem hohen Posten in einer prestigeträchtigen internationalen Firma riskierte sicher keinen Skandal.

Sie nannte ihre Adresse und lehnte sich zurück in den Sitz. Der Wagen fuhr die Victoria Street entlang auf den Parliament Square zu. Gleich würden sie die Themse überqueren.

Draußen flackerten in regelmäßigen Abständen die Straßenlaternen an ihnen vorbei. Lissa schloss die Augen. Sie war so müde. Sie hätte Tausend Jahre schlafen können.

Die Wärme im Inneren des Wagens hüllte sie ein. Ihr Atem wurde ruhiger.

Sie schlief ein.

Auf der anderen Seite der Rückbank unterbrach Xavier sein Gespräch mit dem für die Westküste verantwortlichen Filialdirektor. Sein Blick ruhte auf der jungen Frau, was sehr widersprüchliche Gedanken in ihm auslöste.

Durch die scharfen Schatten der Straßenlaternen traten ihre Wangenknochen deutlicher hervor. Lange Wimpern lagen auf blasser Haut. Ihre Müdigkeit hatte offenbar gesiegt, was zu der Frage führte, warum Lissa Stephens überhaupt so müde aussah, wenn sie den ganzen Tag schlafen konnte.

Und warum betonte die Erschöpfung ihre außergewöhnliche Schönheit noch zusätzlich?

Xavier wollte sie einfach nur anschauen.

Der Direktor nannte die nächsten Verkaufszahlen. Mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung setzte er das Gespräch fort. Und zwang sich, den Blick von der schlafenden Frau abzuwenden.

Gegen die Emotionen in seinem Inneren jedoch war er machtlos.

„Wir sind da.“

Die Worte weckten Lissa. Sie fühlte sich ein wenig benommen. Dann schüttelte sie den Schlaf ab und setzte sich auf.

Der Wagen parkte vor einem heruntergekommenen Apartmenthaus – im neunzehnten Jahrhundert erbaut, um Sozialwohnungen für Arbeiter zu schaffen. Im Gegensatz zu anderen Teilen im südlichen London war diese Gegend in keiner Weise modernisiert, was den Vorteil günstiger Wohnungen bot.

Sie blinzelte. „Danke. Das war wirklich sehr freundlich von Ihnen.“

Dabei zwang sie sich, den Mann neben ihr anzusehen. Als er den Kopf hob, und ihre Blicke sich trafen, stockte ihr, wie schon beim ersten Mal, der Atem.

„Mademoiselle?“

Erst der kalte Luftstrom und die höfliche Stimme des Fahrers brachten ihr zu Bewusstsein, dass die Wagentür offen stand. Der Chauffeur und der Franzose warteten darauf, dass sie endlich ausstieg.

Sie brach den Blickkontakt ab und stieg aus dem Wagen. „Danke“, wiederholte sie. Während sie in ihrer Handtasche nach den Wohnungsschlüsseln kramte, erlaubte sie sich noch einen Blick auf den Wagen. Elegant, dunkel und teuer. So wie der Mann in seinem Inneren.

Lissa konnte ihn nicht mehr erkennen – und verspürte einen Stich. Das war es also. Hastig wandte sie sich ab, schloss die Haustür auf und betrat das Gebäude.

Hinter sich hörte sie, wie der Wagen davonfuhr.

Ohne wirklich etwas wahrzunehmen, starrte Xavier vor sich. Die Straße sah ungepflegt und vernachlässigt aus. Der Wind wirbelte Müll vor sich her. Wahrlich kein guter Ort zum Leben. Kein Wunder, dass Lissa Stephens von hier fortwollte.

Seine Miene verfinsterte sich. Aber nicht auf Kosten seines Bruders.

Er erwartete Wutgefühle, doch stattdessen empfand er nur wieder dieselbe Verwunderung wie vorhin, als er die junge Frau kurz vor der Bushaltestelle beinahe nicht wiedererkannt hätte. Wie konnte sie nur so verschieden aussehen? Und wieder fand er keine rationale Erklärung dafür, warum das einen Unterschied machte.

Ein weiterer Gedanke durchfuhr ihn. Wenn sie, ohne dass sie sich Mühe gab, so gut aussah, wie sähe sie dann erst in den richtigen Kleidern und perfekt geschminkt aus?

Sofort tauchten Bilder vor seinem inneren Auge auf. Das lange blonde Haar locker aus dem Gesicht gekämmt, dezentes Make-up, um ihre natürliche Schönheit zu betonen, der schlanke Körper in ein wundervolles Kleid gehüllt.

Nein. Er beschäftigte sich nur mit Lissa Stephens, um herauszufinden, ob sie sich als Braut für seinen Bruder eignete. Im Kasino hatte die Antwort scheinbar auf der Hand gelegen. Sie nach Hause zu fahren, sollte den ersten Eindruck nur bestätigen. Sie hätte sich freuen müssen, dass jemand sie mitnahm.

Stattdessen zögerte sie sehr lange, bevor sie in seinen Wagen stieg, und schlief dann auch noch ein.

Xavier runzelte die Stirn. Das ergab keinen Sinn. Die Lissa Stephens in dem Kasino und die schlafende Lissa Stephens in seinem Wagen wirkten wie zwei verschiedene Personen – sowohl dem Aussehen als auch dem Verhalten nach.

Während der Wagen durch das hell erleuchtete West End fuhr, wusste Xavier nur eine Sache ganz genau: Dass er sich über Lissa Stephens nicht sicher war.

Seine Nachforschungen mussten noch weitergehen.

Aber wie sollte der nächste Schritt aussehen?

Nun … er bewegte die Schultern, als wolle er eine unangenehme Spannung abschütteln. Ihm blieb der Rest der Nacht, um darüber nachzudenken.

Vor ihrer Wohnungstür blieb Lissa stehen. Die seltsamen Gedanken in ihrem Kopf gaben keine Ruhe.

Warum hatte der Fremde sie nach Hause gefahren?

Ihre Befürchtungen, er könne keine ehrenwerten Absichten verfolgen, erwiesen sich im Nachhinein als unbegründet. Er hatte nicht einmal den kleinsten Versuch in diese Richtung unternommen.

Sie runzelte die Stirn. Warum also dann diese Autofahrt? Französische Galanterie, weil sie seinetwegen den Bus verpasst hatte? Doch warum fuhr er sie dann bis zur Haustür, anstatt sie am Trafalgar Square abzusetzen?

Ungeduldig verscheuchte sie die Fragen. Sie würde sowieso nie eine Antwort bekommen. Und selbst wenn, spielte das keine Rolle.

Schließlich würde sie Xavier Lauran in diesem Leben nie wiedersehen.

Während sie den Schlüssel ins Schloss steckte, verspürte sie einen leisen Stich. Er war in ihr Leben getreten … und schon wieder daraus verschwunden. Der faszinierendste Mann, der ihr je begegnet war. Ein Mann, der ihr den Atem raubte, ihren Puls beschleunigte und ein flaues Gefühl in ihren Magen zauberte.

Schon wieder fort.

Noch ein Stich. Dann öffnete sie resolut die Wohnungstür.

In ihrem Leben gab es keinen Platz für ihn. Gar keinen.

Keinen Platz für niemanden, außer …

„Lissy, du bist zu Hause.“ Die Stimme, die aus der Dunkelheit des Schlafzimmers zu ihr drang, war leise und ein wenig undeutlich.

Lissa betrat das Zimmer. Ihr Leben hatte sie wieder. Vertraut und geliebt, aber auch grausam und leer.

Xavier stand am Fenster seiner Hotelsuite, schwenkte langsam ein Cognacglas in der Hand und betrachtete die ausgestorbenen Straßen unter sich.

Er sollte ins Bett gehen und schlafen. Aber er war nicht müde. Stattdessen empfand er eine seltsame Ruhelosigkeit. Fragen schwirrten durch seinen Kopf.

Was sollte er wegen Lissa Stephens unternehmen?

Er war sich so sicher gewesen, dass eine Kasinohostess unmöglich die richtige Frau für seinen Bruder abgab. Aber entgegen seinen Erwartungen entsprach sie nicht seinem vorgefassten Bild.

Die zynische Erklärung lautete, dass eine Frau, die intelligent genug war, um eine Fremdsprache zu lernen, ihre Beziehung zu seinem reichen Bruder nicht für ein kurzes Zwischenspiel riskierte. Vielleicht hatte sie deshalb nicht mit ihm geflirtet.

Aber vielleicht gab es auch einen anderen Grund. Die Logik verlangte, dass er auch diese Möglichkeit in Betracht zog. Möglicherweise war Lissa Stephens nicht die Frau, nach der sie – oberflächlich betrachtet – aussah.

Er musste es herausfinden.

Und dafür gab es nur einen Weg: Er musste mehr Zeit mit ihr verbringen.

Mit einer abrupten Handbewegung hob er das Glas an seine Lippen und trank einen Schluck Cognac. Im Grunde konnte er es sich ebenso gut eingestehen: Er wollte die Frau wiedersehen.

Aber nicht, um sie für seinen Bruder auf Herz und Niere zu prüfen.

Eine Vorahnung von Gefahr lief kribbelnd über seine Haut.

Er sollte das nicht tun.

Die kühle analytische Stimme der Vernunft meldete sich. Eine Stimme, auf die er stets hörte. Diese Stimme führte XeL und sein Leben. Mit ihr hatte er die bisherigen Frauen in seinem Leben ausgewählt. Passende und angemessene Frauen, die sich in seiner Welt bewegten und die Regeln kannten, nach denen er seine Affären gestaltete. Ganz andere Frauen als Lissa Stephens mit ihrer verwirrenden widersprüchlichen Persönlichkeit.

Er nahm noch einen Schluck Cognac.

War sie, entgegen aller offenkundigen Informationen, eine schickliche Braut für seinen Bruder?

Mehr brauchte er nicht herauszufinden, mehr musste er über Lissa Stephens nicht wissen.

Abrupt wandte Xavier sich ab und stellte das Glas heftiger als notwendig auf den Tisch. Während er ins Schlafzimmer eilte, formte sich ein einziges Wort in seinem Kopf.

Menteur.

Lügner.

4. KAPITEL

„Lissa, der Manager will dich sehen. In seinem Büro, pronto!“

Gerade erst angekommen und damit beschäftigt, Make-up aufzulegen, quittierte Lissa die Worte ihrer Kollegin mit einem Stirnrunzeln. Dann stand sie seufzend auf und machte sich auf den Weg. Die anderen Hostessen warfen ihr neugierige Blicke zu.

„Sie wollten mich sehen?“, fragte Lissa, als sie das Büro des Managers betrat. Von hier aus konnte man das erst spärlich besuchte Kasino überblicken.

Es kam nur selten vor, dass eine Hostess ins Büro musste. Normalerweise erfolgte dann ein Tadel, weil sie nicht genug Gäste zum Geldausgeben verleitet hatte.

Der Manager, ein kleiner rundlicher und unangenehmer Mann, musterte sie eingehend. Lissa hielt seinem Blick stand.

„Privates Engagement“, erklärte er. „Du gehst sofort. Ein Wagen wartet draußen.“

Einen Moment stand sie ganz still da.

„Ich stehe für private Engagements nicht zur Verfügung“, murmelte sie leise. „Das habe ich Ihnen auch beim Einstellungsgespräch gesagt.“

Die Augen des Managers verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Du kannst von Glück reden, dass ich gute Laune habe. Und dass du gestern Nacht einen Volltreffer gelandet hast. Der Kerl, von dem ich rede, ist dieser komische Franzose, dem gestern an den Tischen das Glück so wenig hold war. Er bezahlt einen erstklassigen Preis für dich. Also enttäusche ihn nicht, alles klar?“

Lissa schluckte. „Vielleicht würde Tanya gern …“, setzte sie an.

„Er will dich, klar? Entweder du machst den Job, oder du bist gefeuert, verstanden?“

Lissas Gesicht erstarrte zu einer Maske, und sie nickte. Als sie das Büro verließ, kämpfte sie gegen brennende Übelkeit an.

Irgendwie schaffte sie es die Treppe hinunter, sammelte ihre Sachen ein und verließ das Kasino.

Genau wie gestern regnete es in Strömen. Und wie gestern, zitterte sie, aber nicht wegen der Nässe. Gerade hatte sie ihren Job verloren. Sobald der Manager herausfand, dass sie nicht plante, das private Engagement anzunehmen, würde er sie feuern.

Wütend und niedergeschlagen lenkte sie ihre Schritte Richtung Hauptstraße. Zumindest fuhren die Busse und die U-Bahn um diese Uhrzeit noch regelmäßig.

Ein Wagen hielt vor ihr am Straßenrand. Sie erkannte ihn sofort. Schleunigst wich sie zur Seite aus.

„Was tun Sie denn da?“, fragte eine Stimme.

Lissa sah sich nicht einmal um.

Als sie die Straße überqueren wollte, eilte Xavier auf sie zu und griff nach ihrem Arm.

„Wollen Sie sich umbringen?“

„Lassen Sie mich los, Sie fieser Kerl.“

„Comment?“

Die Überraschung in seiner Stimme brachte etwas in ihr zum Überlaufen. Wie eine Furie wirbelte sie zu ihm herum. „Ich sagte, Sie sollen mich loslassen, Sie fieser Kerl! Wie können Sie es wagen, mich kaufen zu wollen? Ich mag zwar in einer schmierigen Spelunke arbeiten, aber mein einziger Job besteht darin, Widerlingen wie Ihnen überteuerte Drinks aufzuschwatzen. Sie haben kein Recht, irgendetwas anderes zu denken. Also nehmen sie Ihr verdammtes ‚privates Engagement‘ und …“

Er murmelte etwas auf Französisch. Sehr kurz. Sehr knapp.

„Ich weiß nicht, was man Ihnen gesagt hat, aber ganz offensichtlich sind Sie falsch unterrichtet.“ Seine Stimme klang hart wie Eis.

Lissa starrte ihn durchdringend an, selbst immer noch lodernd vor Wut.

Ihn anzusehen, war ein Fehler. Wieder verspürte sie jenes intensive Kribbeln, das sie schon von gestern kannte. Das Licht der Straßenlaternen erhellte seine Gesichtszüge. Die Härte in seinen Augen jagte einen Schauer über ihren Rücken.

„Ach, bitte“, herrschte sie ihn verächtlich an. „Ich bin nicht von gestern. Als mir der Manager sagte, Sie hätten einen ‚erstklassigen Preis‘“, sie betonte die Worte überdeutlich, „für ein ‚privates Engagement‘ bezahlt, musste er mir nicht extra aufschreiben, was das bedeutet. Und der widerliche Kerl muss mir auch nicht erklären, dass ich diesen Job entweder annehme oder gefeuert werde.“

Der eisige Ausdruck in seinen Augen veränderte sich. Xaviers Griff um ihren Arm lockerte sich, auch wenn er Lissa nicht losließ. Stattdessen geleitete er sie auf den Bürgersteig zurück.

„Sie sehen eine Beleidigung, wo keine beabsichtigt war. Zumindest nicht von mir.“ Er ließ ihren Arm los. Sie hätte weglaufen können, aber das tat sie nicht. Stattdessen blieb sie einfach stehen. Der Regen strömte auf sie herab, während sie seinen Blick stumm und ohne zu wissen, warum, erwiderte.

„Ich wollte Sie wiedersehen“, sagte er.

Zwar änderte sich ihre Miene nicht, aber dafür regte sich etwas tief in ihrem Inneren.

„Ich wollte Sie wiedersehen“, wiederholte er, als müsse er es auch sich selbst bestätigen.

„Warum?“, fragte sie unverblümt.

„Weil …“ Er hielt inne. „Gestern im Auto habe ich …“ Wieder schwieg er einen Moment. „Sie waren anders“, sagte er dann unvermittelt. „Ganz anders als die Frau, die ich im Kasino kennengelernt habe. Eine Frau, die ich gern wiedersehen wollte.“

„Weshalb? Ein privates Engagement zu Ihrem privaten Vergnügen?“

„Für ein Abendessen“, erwiderte er schlicht.

Lissa blinzelte.

„Ich möchte Sie zum Dinner einladen“, erklärte Xavier. „Ich wusste nicht, wann Sie freihaben, und bleibe nur kurz in London, deshalb wollte ich keine Zeit verschwenden. Also habe ich im Kasino angerufen und gefragt, ob es möglich wäre, ein – wie nannten Sie es? – privates Engagement zu arrangieren. Damit meinte ich, ich zahle dem Kasino Ihre Arbeitszeit, sodass kein Verlust entsteht und Sie meine Einladung annehmen können.“

„Dinner“, sagte sie leise.

„Nur Dinner.“ Seine Stimme klang noch leiser.

„Warum?“, fragte sie noch einmal.

Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Ein kleines Lächeln, aber immerhin ein Lächeln. Ein wenig spöttisch. Ein wenig schief. Ein wenig belustigt. Ein wenig nachdenklich. Ein wenig nachsichtig.

„Sehen Sie sich nie im Spiegel an, Lissa? Ich meine nicht im Kasino, sondern zu Hause? Falls ja, haben Sie Ihre Antwort. Deshalb lade ich Sie zum Dinner ein. Nehmen Sie meine Einladung an?“

„Sie meinen wirklich nur ein Abendessen?“

Er nickte ernst. „Und obwohl es mir wirklich fernliegt, Sie in irgendeiner Weise zu bedrängen, würde ich es, peut-être, sehr zu schätzen wissen, wenn Sie mir sofort antworten. Wegen, Sie verstehen …“, ein schelmisches Funkeln trat in seine Augen, „… des unfreundlichen britischen Wetters, das gerade herrscht.“

Lissa sah ihn immer noch an. Sein schwarzes glänzendes Haar war völlig durchnässt, ebenso die Schultern des Kaschmirmantels. Auf seinen Wimpern schimmerten Regentropfen. Sie sind unglaublich lang, ging es ihr durch den Kopf. Viel zu lang für einen Mann. Damit sollte er feminin aussehen, aber … Wieder machte ihr Magen einen Satz, wie er es immer tat, wenn sie über diesen Mann nachdachte, der nichts mit ihrem Leben zu tun hatte. Mit den langen Wimpern wirkte er …

Sexy.

Dieses schreckliche billige Wort. Abgenutzt, kitschig, trivial.

Und wahr.

Im Regen glänzte sein schwarzes Haar wie Rabenflügel. Am liebsten hätte sie ihn immer weiter angesehen, nur angesehen.

Er führte sie in Richtung des Wagens, was sie kaum bemerkte. Der Chauffeur öffnete ihr die Tür, dann saß sie. Geradezu willenlos lehnte sie sich in die weichen Ledersitze.

Was mache ich hier eigentlich?

Die Frage hallte in ihrem Kopf, aber sie schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Einen Moment später setzte Xavier sich zu ihr.

„Warum sind Sie gestern ins Kasino gekommen?“

„Wieso fragen Sie?“

„Es entspricht wohl kaum Ihrem gewohnten Umfeld.“

Er versuchte nicht, ihr zu widersprechen.

„Ich war gelangweilt und kam gerade vorbei. Von einem Theaterstück in der Shaftesbury Avenue, das mir nicht gefallen hat. Deshalb bin ich vorzeitig gegangen, wollte aber noch nicht zurück in mein Hotel. Das Kasino habe ich aus einem Impuls heraus betreten, nur, um mir ein wenig die Zeit zu vertreiben.“

Seine Stimme klang desinteressiert, dann änderte sie sich – genauso wie der Ausdruck in seinen Augen. „Doch ich bin froh darüber, denn sonst hätte ich Sie nicht getroffen. Und ich sage Ihnen ganz offen und ehrlich, dass ich Sie, bevor ich Sie an der Bushaltestelle gesehen habe, absolut nicht interessant fand. Aber dann …“ Er hielt inne. „Es kam so unerwartet.“

Wieder wanderte sein Blick über ihr Gesicht und brachte ihren Panzer zum Schmelzen. Das hätte sie nie zulassen dürfen, aber jetzt war es zu spät.

„Ich wollte Sie wiedersehen.“

Einfache Worte.

Die extrem komplizierte Dinge in Lissa auslösten.

Immer noch sah er sie mit dieser entwaffnenden Offenheit an. „Wäre es so schlimm, mit mir zu Abend zu essen?“ Jetzt lag ein spöttisches, amüsiertes Funkeln in seinen Augen.

Sie sollte ablehnen, ihn bitten, den Wagen anzuhalten, aussteigen und nach Hause gehen. Zurück in ihre reale Welt. Und sich nicht von einem Mann mitreißen lassen, der Unglaubliches in ihrem Inneren anrichtete, sodass sie nicht mehr klar denken konnte.

In ihre Überlegungen schlich sich ein weiterer Gedanke. Wenn sie nicht ausstieg, behielt sie ihren Job im Kasino.

Aber meinte er wirklich nur ein Abendessen?

„Dinner? Mehr nicht?“, fragte sie noch einmal scharf.

Exactement. Im Restaurant meines Hotels. Es wird sehr comme il faut sein, je vous assure.“

Sie ignorierte den leisen Unterton und konzentrierte sich stattdessen auf die Worte. Heute benutzte er vous und verhielt sich damit weitaus höflicher als gestern.

Trotzdem sollte sie nach Hause gehen. Wenn sie nicht arbeitete, sollte sie dort sein.

Aber die wundervolle Erinnerung war es wert.

Lissa atmete tief ein … und traf eine Entscheidung. Sie sah ihm in die Augen.

„Vielen Dank“, sagte sie. „Il me fait un grand plaisir de vous accepter, m’sieu“, brachte sie vorsichtig über die Lippen. Dann stahl sich ein unsicherer Ausdruck in ihre Augen. „War das richtig?“

Er lächelte. Jegliche Anspannung wich aus seiner Miene.

„Perfekt“, entgegnete er. „Wo haben Sie Französisch gelernt?“

„In der Schule“, entgegnete sie. „Wie jeder andere auch. Ich komme gerade so zurecht, das ist aber auch alles. Einem richtigen Gespräch kann ich nicht folgen und auch keine Bücher lesen oder fernsehen. Ich fand es immer ein wenig schade, dass die Briten – und die Amerikaner – so problemlos durch die Welt kommen, ohne eine andere Sprache fließend zu sprechen.“

Sicher, sie plapperte Belanglosigkeiten, doch aus irgendeinem Grund legte Lissa Wert darauf, eine harmlose Unterhaltung zu führen – eine, die weder etwas mit ihrem Arbeitsplatz noch mit ihrer ursprünglichen Annahme bezüglich seiner Absichten zu tun hatten. Eine Unterhaltung, wie sie sie mit jedem führen konnte.

„Englisch ist natürlich eine Weltsprache. Aber ich spreche auch Italienisch, Spanisch und Deutsch.“

Die langen Wimpern senkten sich über seine dunklen Augen. Die Regentropfen waren verschwunden, aber seine Haare schimmerten immer noch feucht. Ihr erging es nicht anders. Sie spürte, wie einzelne Tropfen über ihren Rücken liefen.

Auf einmal fiel ihr etwas ein. So pudelnass konnte sie wohl kaum in einem feinen Hotelrestaurant speisen. Vielleicht gab es in der Damentoilette einen starken Handtrockner, um zumindest die Haare ein wenig zu föhnen. Dort könnte sie auch Make-up auflegen – schließlich trug sie genug davon in ihrer Handtasche mit sich. Das Hauptproblem blieben die Kleider. Sie trug Jeans und Pullover – reichte das? Andererseits schien es ihn nicht zu stören, sonst hätte er sie wohl kaum eingeladen.

Aber warum dann?

Die Frage beschäftigte sie nach wie vor. Siehst du nie in den Spiegel? kamen ihr seine Worte wieder in den Sinn.

War sie wirklich eine Frau, für die ein Mann wie er sich interessierte? Sie konnte gut aussehen, und viele Frauen beneideten sie um ihr Gesicht und ihre Figur, das wusste Lissa. Aber ein Mann wie Xavier Lauran, ein reicher, weltgewandter Franzose, bewegte sich in Kreisen, in denen jede Frau nicht nur wunderschön aussah, sondern auch elegante Designerkleider trug.

Wieder befielen sie Zweifel, die sie abermals beiseiteschob. Wenn er sie für hübsch genug hielt, dann war es eben so. Schließlich gab es für ihn keinen anderen Grund, Zeit mit ihr zu verbringen.

Ein warmes Leuchten breitete sich in ihr aus. Auch wenn es nur um ein Essen ging, sie würde den Abend bis zur Neige genießen.

Auch wenn sie es in Jeans und Pullover tun müsste.

Fünfzehn Minuten später erkannte Lissa, dass sie diesen Teil ebenso falsch verstanden hatte wie bislang alles andere. Im Hotel führte Xavier sie durch die große, mit Marmor ausgelegte Lobby nach links.

„Die Hotelboutique ist noch geöffnet. Ich bin sicher, dort gibt es etwas Passendes für Sie.“

Wie erstarrt blieb sie stehen. „Wie bitte?“

„Ich möchte nicht überkritisch erscheinen, aber Sie sind völlig durchnässt und ich auch. Und ich glaube, es gibt einen Dresscode für das Restaurant, der Jeans verbietet.“

Lissa schluckte. „Ich fürchte, ich kann es mir nicht leisten, dort einzukaufen.“

„Aber ich schon …“

Sie schüttelte den Kopf. Eine schnelle entschiedene Geste. „Monsieur Lauran, ich lasse nicht zu, dass Sie mir Kleider kaufen.“

„Betrachten Sie es als Leihgabe. Am Ende des Abends können Sie wieder in Ihre Jeans schlüpfen.“

„Wir könnten woanders essen, wo es keinen Dresscode gibt“, schlug sie vor.

„Ich habe bereits einen Tisch reserviert. Der Koch ist ausgezeichnet. Auch ein Franzose, wissen Sie. Ich habe es mir zur Regel gemacht, nur in Londoner Restaurants mit französischen Köchen zu essen. Damit gelingt es mir, meinen Magen zu schützen“, erklärte er amüsiert.

„Ich kann mir eine Menge prominenter britischer Köche vorstellen, die Sie für diesen Kommentar umbringen würden“, entgegnete Lissa. Doch das kleine Wortgefecht lockerte die Stimmung.

„Dann verstehen Sie auch, warum ich in Sicherheit zu speisen wünsche. Kann ich Sie wirklich nicht überzeugen, meinem Vorschlag, sich in der Hotelboutique zu bedienen, zuzustimmen?“

Lissa hob die Hände in die Luft. „Okay … aber ich fühle mich sehr unbehaglich dabei.“

Etwas blitzte kurz in seinen Augen auf.

„Bon“, sagte er entschieden. „Alors.“ Er führte sie in die Boutique. „Warum suchen Sie nicht ein Kleid aus und treffen mich in, sagen wir …“, er schob den Ärmel des Jacketts mit den goldenen Manschettenknöpfen zurück und sah auf seine Armbanduhr, „… zwanzig Minuten in der Cocktaillounge?“ Dann bedachte er sie mit einem schiefen Blick. „Auch ich muss mich abtrocknen und umziehen.“

Bevor er ging, wandte er sich an die Verkäuferin. „Es gibt hier doch bestimmt die Möglichkeit, sich umzuziehen, oder?“

„Sicherlich, Sir“, sagte die Frau und warf ihm ein warmes Lächeln zu. „Wenn ich Madam unsere Kollektion zeigen darf?“ Ihr Blick wanderte zu Lissas Füßen. „Und vielleicht auch unsere Auswahl an Schuhen?“

„Was immer notwendig ist. Setzen Sie die Rechnung auf mein Zimmer.“ Er nannte ihr die Nummer und sah wieder Lissa an. „A bientôt“, meinte er und verließ die Boutique.

Danach fuhr Xavier im Aufzug zu der Etage, in der seine Suite lag. Er musste die feuchten Sachen ausziehen, duschen und sich umziehen. Außerdem brauchte er Zeit, um nachzudenken.

Zeit, um vernünftig über Lissa Stephens nachzudenken, denn sie hatte sich schon wieder anders verhalten, als er erwartet hatte.

Weil sie dachte, er engagiere sie wie ein Callgirl, lief sie Amok. Warum? Und wieso wehrte sie sich so dagegen, ein Kleid von ihm anzunehmen?

Was für ein Spiel spielte Lissa Stephens?

Spielte sie überhaupt eines?

Und wenn ja, spielte sie es mit allen Männern?

Oder nur mit ihm?

Xavier kannte seine eigene Attraktivität und wusste, dass er Frauen leicht beeindruckte. Schließlich verfügte er über gutes Aussehen, ein beträchtliches Vermögen und eine hohe gesellschaftliche Stellung. Auch wenn Lissa Stephens Letzteres nicht bewusst war, musste sie die anderen beiden Punkte bemerkt haben. Verbrachte sie nur deshalb Zeit mit ihm?

Sein Blick wurde düster. Und wenn er nur die zweite Eigenschaft, seinen Reichtum, besäße? Würde sie sich auch dann für ihn zurechtmachen?

Und lag darin die Hauptanziehungskraft seines Bruders?

Er musste sie testen. Unbedingt.

Dann, wie ein Schlag in die Magengrube, realisierte er, dass er die Antwort bereits kannte. Warum sollte eine Frau, die Armand liebte, heute Nacht hier bei ihm sein – es sei denn, Armand bedeutete ihr nichts? Zumindest nicht genug, um nicht mit einem anderen zu Abend zu essen.

Aber war ein Dinner schon ein Betrug? Und noch etwas fiel ihm ein. Was hatte sie ihm gesagt, als er sie im strömenden Regen aufhielt? Dass sie ihren Job verlor, wenn sie dieses private Engagement nicht annahm? Akzeptierte sie deshalb seine Einladung? Um ihren Arbeitsplatz zu behalten?

Verdammt! Er konnte sie immer noch nicht einschätzen. Jedes Mal, wenn er versuchte, sie auf irgendetwas festzunageln, entschlüpfte sie ihm wieder. Mit einer Verwünschung auf den Lippen zog er sich um.

5. KAPITEL

Lissa saß ganz vorn, auf der Kante des Ledersessels. Ihr Puls raste, ihr Atem ging heftig. Nervös versuchte sie den Saum des Kleides über ihre Knie zu ziehen, aber es ging nicht. Sie hielt sich sehr gerade. Wenn sie den Kopf bewegte, um den Eingang zur Cocktaillounge im Auge zu behalten, streiften ihre Haare ihren Rücken.

Sie schaute sich nicht um, um nicht den Blicken der anderen Männer zu begegnen. Seit sie die Lounge vor zehn Minuten betreten hatte, war sie diesen Blicken ausgesetzt. Auch Frauen musterten sie, schätzten sie ein und beurteilten sie.

Was sie sahen, wusste Lissa: Eine Frau wie alle anderen hier, die genauso aussah, wie eine Frau es an einem eleganten Ort wie diesem tun sollte. Sanftes Licht, sanfte Musik von einem Klavier in einer Ecke, eine im Retrostil gehaltene Bar, die sich über eine ganze Wand erstreckte und hinter der mehrere Barmänner auf Bestellungen warteten.

An einem solchen Ort war sie noch nie zuvor gewesen. Wenn sie sich früher schick gemacht hatte, war sie stets in Bars gegangen, die ihrem Budget entsprachen – oder dem der Männer, die sie eingeladen hatten. Keiner von ihnen hätte sie in ein Fünf-Sterne-Hotel eingeladen.

Ein Kellner kam zu ihr und fragte sie aufmerksam, was sie zu trinken wünsche.

„Ein Mineralwasser, bitte“, antwortete Lissa und hoffte schweigend, Xavier Lauran würde bald auftauchen. Sie wollte nicht daran denken, was selbst ein Mineralwasser in dieser Bar kostete.

Kurz darauf kehrte der Kellner mit einem silbernen Tablett zurück, darauf standen eine Wasserflasche und ein hohes Glas, gefüllt mit Eiswürfeln und mit einer Zitronenscheibe dekoriert. Dazu stellte er ein kleines Schälchen Nüsse auf den Tisch.

Nervös trank sie einen Schluck und heftete den Blick erneut auf die Eingangstür. Die zwanzig Minuten waren längst um. Um rechtzeitig hier zu sein, hatte sie sich beeilt und den ersten Vorschlag der Verkäuferin akzeptiert, dazu die passenden Strumpfhosen und Schuhe. In der großzügigen Damentoilette des Hotels hatte sie anschließend Make-up aufgelegt und die feuchten Haare mit dem Föhn getrocknet, den eine Bedienstete hervorgezaubert hatte.

Lissas Nerven flatterten. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Nur wenn sie heute Abend hier mit Xavier Lauran aß, behielt sie ihren Job.

Autor

Jacqueline Baird
Wenn Jacqueline Baird nicht gerade an einer Romance schreibt, dann liest sie viel und spielt gern Karten. Falls das Wetter es erlaubt, schwimmt sie häufig im Meer und bedauert, dass sie seit einer schweren Knieverletzung nicht mehr Segeln kann. Zwar ist sie dadurch zu einem „Leben an Land“ verurteilt, aber...
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Julia James
<p>Julia James lebt in England. Als Teenager las sie die Bücher von Mills &amp; Boon und kam zum ersten Mal in Berührung mit Georgette Heyer und Daphne du Maurier. Seitdem ist sie ihnen verfallen. Sie liebt die englische Countryside mit ihren Cottages und altehrwürdigen Schlössern aus den unterschiedlichsten historischen Perioden...
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Sara Craven
Sara Craven war bis zu ihrem Tod im November 2017 als Autorin für Harlequin / Mills & Boon tätig. In über 40 Jahren hat sie knapp hundert Romane verfasst. Mit mehr als 30 Millionen verkauften Büchern rund um den Globus hinterlässt sie ein fantastisches Vermächtnis. In ihren Romanen entführt sie...
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