Julia Exklusiv Band 288

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ENTSCHEIDUNG IM PALAST DES PRINZEN von RAYE HARRIS, LYNN
Wie gerne würde sie an Alexejs Seite in seinem Palast leben - nur: liebt der Prinz sie wirklich? Oder will er sie nur, weil sie den Thronfolger unter dem Herzen trägt? Paige muss sich entscheiden: Entweder sie vertraut Alexej - oder sie kehrt ihm für immer den Rücken ...

MIT DIR IST ALLES ANDERS von BROOKS, HELEN
"Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?" Mit dieser harmlosen Frage beginnt ihr Vorstellungsgespräch bei Steel Landry, doch so harmlos bleibt es nicht. Denn als Tonis zukünftiger Boss sie überraschend in die Arme zieht und heiß küsst, ist es um sie geschehen …

HEIßE RHYTHMEN, FEURIGE KÜSSE von RICE, HEIDI
Breite Schultern, schmale Hüften und ein spöttisches Funkeln in den Augen: Callum Westmores herausforderndes Auftreten raubt Ruby den Atem. Dabei ist der erfolgreiche Anwalt überhaupt nicht ihr Typ! Ob sie im Salsa-Club seinen erotischen Zauber brechen kann?


  • Erscheinungstag 18.08.2017
  • Bandnummer 0288
  • ISBN / Artikelnummer 9783733709280
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lynn Raye Harris, Helen Brooks, Heidi Rice

JULIA EXKLUSIV, Band 288

1. KAPITEL

Als Alexej Woronow den Schrei hörte, der die nächtliche Stille durchbrach, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter, und er war sofort in Alarmbereitschaft. Währenddessen rieselte leise der Schnee und bedeckte das Kopfsteinpflaster des Roten Platzes mit einer feinen Puderschicht. Rechts von ihm erhob sich die Kremlmauer. An deren Ende ragte der Erlösertum mit seinem riesigen Ziffernblatt in den Himmel und erinnerte ein wenig an „Big Ben“ in London. Daneben sah man die Basiliuskathedrale mit ihren farbenprächtigen Zwiebeltürmen.

Es war schon nach Mitternacht, und nichts ließ darauf schließen, dass außer Alexej noch jemand auf dem Platz wäre.

Bis er wieder einen Schrei hörte.

Alexej fluchte. Er wartete auf seinen Kontaktmann, konnte aber nicht länger so tun, als hätte er nichts gehört. Wahrscheinlich handelte es sich nur um einen Streit vor einem der vielen Clubs, bei dem sich eine Frau die Seele aus dem Leib schrie, während ihr Partner ihre Ehre verteidigte. Trotzdem musste Alexej etwas tun, auch wenn er damit den Verlust wichtiger Informationen riskierte, weil er den vereinbarten Treffpunkt verließ.

Andererseits wartete er selbst schon seit einer halben Stunde im Schatten des Lenin-Mausoleums. Der Kontaktmann war seit fünfzehn Minuten überfällig. Vielleicht hat er es sich anders überlegt?

Wenn Alexejs Gegenspieler Wind von der Sache bekommen hatte, bezahlte er dem Informanten vielleicht noch mehr. Alexej selbst war bereit, ein kleines Vermögen für die Insider-Information auszugeben. Trotzdem konnte er nicht länger hier herumstehen, während eine Frau Hilfe benötigte. Es war sein Schicksal, dass er mit einem ausgeprägten Ehrbarkeitsgen auf die Welt gekommen war, das ihn manchmal sogar gegen seine eigenen Interessen handeln ließ.

Das Kaufhaus GUM gegenüber war hell erleuchtet, und Alexej wollte gerade darauf zugehen, als er ein Geräusch hörte. Schritte! Das Echo auf dem leeren Platz machte es schwierig, sie zu orten. Gleich darauf stürzte eine Frau aus der Dunkelheit direkt auf ihn zu. Er hatte keine Zeit mehr, ihr auszuweichen, und sie wären beinahe beide hingefallen.

Alexej hielt die Frau fest, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Das dauerte eine Weile, da sie sich gebärdete wie eine Wilde. Sie gab keinen Laut von sich, versuchte aber mit aller Kraft, sich von ihm loszumachen. Dabei kam ihr Ellbogen seinem Gesicht gefährlich nahe. Instinktiv wehrte Alexej den Schlag ab, dann drehte er die Frau mit dem Rücken zu sich und hielt ihr den Mund zu. Er spürte, wie sich in ihrer Kehle ein Schrei formte. Wenn er sie jetzt losließ, würden wahrscheinlich seine Trommelfelle platzen.

„Wenn Sie noch einmal schreien“, flüsterte er ihr ins Ohr, „wird Ihr Verfolger Sie finden. Und ich werde mich bestimmt nicht in das Handgemenge zwischen ihm und Ihrem Liebhaber mischen.“

Es wäre sowieso besser, er würde sich da raushalten. Womöglich kam sein Informant doch noch. Ein bedeutender Geschäftsabschluss stand auf dem Spiel, ganz zu schweigen von dem Ziel, auf das er schon seit Jahren hinarbeitete und das nun endlich in greifbarer Nähe lag. Dieses wichtige Treffen zu verpassen, weil zwei Männer im Alkoholrausch aneinandergeraten waren, gehörte nicht zu seinem Plan. Noch konnte er sich umdrehen und wäre mit wenigen Schritten wieder beim Mausoleum.

Unter seiner Hand versuchte die Frau, den Kopf zu schütteln und etwas zu sagen. Es klang ausländisch. Ist sie eine Touristin? Seit der Perestroika gab es sehr viele Ausländer in Moskau. Darum wiederholte Alexej noch einmal auf Englisch, was er ihr zuvor ins Ohr geflüstert hatte.

Die Frau hielt den Atem an, und Alexej wusste, dass er mit seiner Vermutung richtiggelegen hatte. Er sprach auch Deutsch, Französisch und Polnisch, aber mit Englisch kam man in der Regel am weitesten.

„Ich tue Ihnen nichts“, sagte er, „wenn Sie allerdings noch einmal schreien, überlasse ich Sie Ihrem Verfolger, verstanden?“

Sie nickte rasch, und Alexej drehte sie wieder zu sich um, bevor er sie losließ. Ihre rauchgrauen Augen glänzten im Widerschein der Schaufensterbeleuchtung. Ihre Kapuze war heruntergerutscht. Sie hatte dunkles Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Die Frau besaß feine Züge und wirkte zerbrechlich, obwohl sie sich in der Auseinandersetzung mit ihm alles andere als schwach erwiesen hatte.

Unschlüssig sah sie ihn an. „Bitte helfen Sie mir“, platzte sie dann heraus und schützte sich mit den Armen gegen die Kälte der Moskauer Aprilnacht. „Die dürfen mich nicht kriegen.“

Eine Amerikanerin, dachte Alexej. Das überraschte ihn nicht weiter, aber irgendetwas an ihr war ungewöhnlich. Zum Beispiel, dass sie sich mitten in der Nacht allein auf dem Roten Platz aufhielt.

Lass dich da nicht hineinziehen, riet ihm seine innere Stimme. Doch er überhörte die Warnung und erkundigte sich bei der Frau, wen sie damit meinte. „Die Behörden? Wenn Sie etwas Illegales getan haben, kann ich Ihnen nicht helfen.“

„Nein“, sagte sie und warf einen prüfenden Blick über ihre Schulter. „Ich suche nur meine Schwester und …“

Ärgerliches Rufen scholl über den Platz, und die Frau stürzte wieder in die Nacht. Nach drei Schritten hatte Alexej sie eingeholt, ergriff ihren Arm und wirbelte sie herum. „Hier entlang!“ Er zog sie zum Kaufhaus.

„Da ist es viel zu hell. Sie werden uns sehen“, protestierte sie.

„Eben.“

Der Hall schwerer Stiefel kam donnernd auf sie zu. Es blieben nur Sekunden, bis die Verfolger bei ihnen wären. Das vom Schnee glatte Kopfsteinpflaster würde sie ein wenig aufhalten, aber nicht lange. Alexej schob die junge Frau gegen eines der Arkadenschaufenster.

Sie wehrte sich.

„Legen Sie Ihre Beine um meine Hüften.“

Entsetzt sah sie ihn an. „Lassen Sie mich los! Sie wollen mir überhaupt nicht helfen …“

„Wie Sie meinen, meine Schöne.“ Er trat einen Schritt zurück. „Viel Glück.“

„Nein, warten Sie!“

Alexej blieb stehen, und die Frau atmete tief durch. „Okay, was soll ich tun?“, fragte sie.

„Wir spielen ein Liebespaar!“ Ungerührt lächelnd drückte er sie wieder gegen die Schaufensterscheibe und löste ihren Pferdeschwanz. „Legen Sie Ihre Beine um meine Hüften.“ Sie umarmte ihn. Alexej umfasste ihre Oberschenkel, hob sie hoch und presste sich gegen sie. Sein langer Mantel verhüllte sie beide. Wenn sie es richtig anstellten, würde es so aussehen, als hätten sie Sex. Also drängte er sich noch stärker gegen ihre intimste Stelle, und die Amerikanerin unterdrückte ein leises Stöhnen. Der Laut ging ihm durch und durch wie ein Schluck Wodka, und seine körperliche Reaktion kam unmittelbar, sosehr er sich auch dagegen wehrte. Mist!

Die Amerikanerin war zierlich, fühlte sich gut an und roch wie der Sommer im Ural – nach Blumen, Sonnenschein und kühlem Wasser. Ihr Duft weckte Erinnerungen, Gefühle … Die kann ich mir nicht leisten, dachte Alexej ärgerlich. Sie machten schwach, und man konnte an ihnen zerbrechen.

Der Hall der donnernden Stiefel kam näher.

„Küssen Sie mich“, stieß er hervor, „und zwar richtig, damit es echt aussieht.“

Paige Barnes sah erstaunt zu dem dunkelhaarigen Fremden hoch, der sie so vertraut an sich drückte. Du liebes bisschen, wie war sie nur in diesen Schlamassel geraten? Sie hätte sofort zu Chad gehen sollen, als Emma nicht aufgetaucht war. Aber zuerst hatte sie gedacht, ihre Schwester habe sich nur in der Zeit vertan. Außerdem wollte Paige ihren Chef nicht belästigen, nachdem er ihr netterweise erlaubt hatte, Emma mit auf diese Geschäftsreise zu nehmen.

Attraktiv, reich und charmant – Chad Russell war einer der begehrtesten Junggesellen in Dallas, und Paige war seine Sekretärin, zumindest während dieser Reise. Seine Chefsekretärin durfte wegen eines erhöhten Thromboserisikos nicht fliegen. Also musste sie jemand vertreten, und obwohl es Kolleginnen mit mehr Berufserfahrung gegeben hätte, war seine Wahl auf Paige gefallen. Sie war begeistert gewesen und wild entschlossen, ihr Bestes zu geben.

Seitdem sie vor zwei Jahren bei „Russell Tech“ angefangen hatte, schwärmte sie für ihren Chef. Er musste sie nur einmal anlächeln, und sie bekam weiche Knie. Bisher hatte sie allerdings geglaubt, keine Chancen bei ihm zu haben. Doch seit Kurzem sah es beinahe so aus, als ginge sein Interesse an ihr über das Berufliche hinaus. Er hatte sie zweimal zum Mittagessen eingeladen und sich nach ihrem Privatleben erkundigt – nach ihrer Schwester und vielen anderen Dingen gefragt, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten.

Paige bemühte sich zwar, nicht zu viel in sein Verhalten hineinzuinterpretieren, doch heute Abend hatte sie es zugelassen, dass ihre Gefühle ihren gesunden Menschenverstand ausschalteten. Sie hätte ihrem ersten Impuls folgen und Chad um Hilfe bitten sollen. Aber sie war so sehr daran gewöhnt, ihre Probleme selbst zu lösen, dass sie ihr mulmiges Gefühl ignorierte und beschloss, Emma auf eigene Faust zu suchen. Jetzt, in dieser intimen Umarmung mit dem Fremden, hätte sie sich dafür ohrfeigen können.

„Wir haben keine Zeit zu verlieren“, sagte der Mann mit tiefer, volltönender Stimme. Sein Akzent war nicht stark, aber eindeutig russisch.

Als er sie jetzt noch fester an sich drückte, kehrte Paige mit ihren Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Sie musste Emma finden. Aber vorher musste sie diese Situation meistern und wohl oder übel tun, was der Fremde von ihr verlangte. Ein zweites Mal würde sie ihren Verfolgern sicher nicht entkommen.

Nicht, dass sie gewusst hätte, was die Männer von ihr wollten. Nach dem Verlassen des Hotels hatte sie sich verlaufen und war dann auf diese Gruppe Betrunkener gestoßen, die nicht besonders hilfsbereit waren. Zumindest nicht ohne Gegenleistung. Paige erschauerte, wenn sie daran dachte, wie der blonde Riese mit den fleischigen Händen gelallt hatte, dass er ihr helfen würde, wenn sie ihn küsste.

Dabei hatte er gelacht, und die anderen waren mit eingefallen. Es klang furchtbar. Aber erst als der Mann sie gepackt hatte, hatte sie geschrien. Sie hatte ihm zwischen die Beine getreten und war davongelaufen, als die anderen ihm zur Hilfe geeilt waren.

Warum sie jetzt glaubte, dass dieser Fremde ihr mit seiner intimen Umarmung tatsächlich helfen würde, konnte sie nicht sagen. Zumindest war ihre Reaktion auf ihn positiv. Ihr Herz schlug wie verrückt, und ihre Nervenenden prickelten.

Paige wollte ihn näher kennenlernen, seinen Namen erfahren, fragen, warum er ihr half, aber es blieb keine Zeit dafür. Der Hall der schweren Stiefel kam näher. Mit seinen eisgrauen Augen sah der Fremde sie an und wartete darauf, dass sie seiner Aufforderung nachkam. Rasch schloss Paige die Augen und küsste ihn auf die Lippen. Im selben Moment verspürte sie den unbändigen Wunsch, mit ihm zu verschmelzen. Dazu gab es absolut keinen Grund. Um diese Typen zu täuschen, musste es nur so aussehen, als ob sie sich innig küssten.

Aber der Fremde strich mit der Zunge über ihre Lippen, bis sie den Mund bereitwillig öffnete. Während er sie küsste, schlug Paiges Herz wie wild. Ihre Knie hätten mit Sicherheit nachgegeben, wenn er sie nicht längst hochgehoben und gegen die Schaufensterscheibe gedrückt hätte. Er schmeckte nach Brandy und Minze und war so männlich und stark, dass sie sich förmlich nach ihm verzehrte.

Paige war entsetzt: Seit zwei Jahren beherrschte Chad ihre sexuellen Fantasien. Trotzdem hätte sie sich jetzt am liebsten in der Umarmung des Fremden verloren, um herauszufinden, welchen Zauber er auf sie wirken lassen konnte, wenn sie allein wären. Dabei wusste sie von körperlicher Liebe, Lust und Begehren nicht viel. In den vergangenen acht Jahren hatte sie genau ein sexuelles Erlebnis gehabt – und das war nicht der Rede wert gewesen. Wenn man mit achtzehn Erziehungsberechtigte einer Elfjährigen wird, die Ausbildung beenden und irgendwie Geld zum Lebensunterhalt beschaffen muss, blieb nicht viel Zeit für Rendezvous oder gar Beziehungen.

Trotzdem war Paige in ihrem Leben ein paar Mal geküsst worden, aber kein Kuss war auch nur annähernd so gewesen wie dieser. Er rief unglaubliche Reaktionen in ihr hervor. In ihrem Bauch wurde es ganz warm, und sie entbrannte lichterloh für diesen Mann und hätte am liebsten sofort mit ihm geschlafen. Gleich darauf überlegte sie erschrocken, wie sie ausgerechnet in diesem Moment an so etwas denken konnte.

Da stöhnte er und drückte sie noch fester an sich, und dann geriet ihr Kuss völlig außer Kontrolle, und die Fantasie ging mit ihr durch. Paige war nicht mehr sie selbst, nicht mehr die langweilige Sekretärin, die für einen Mann schwärmte, den sie ohnehin nicht haben konnte. Sie war auch nicht mehr die verantwortungsbewusste große Schwester, die sich um alles kümmerte. Sie war sinnlich, verführerisch und heiß auf Sex. Sie nahm ihr Schicksal selbst in die Hand und lebte in einem internationalen Umfeld, in dem Intrigen und die Gefahr für Leib und Leben an der Tagesordnung waren. Sie führte ein aufregendes Leben voller Leidenschaft, schlief mit russischen Männern, die küssen konnten, dass einem Hören und Sehen verging und …

Plötzlich waren ganz in der Nähe Stimmen zu hören, und Paiges aufregender Traum zerplatzte wie eine Seifenblase. Jemand stieß einen anerkennenden Pfiff aus, und ihr blieb vor Schreck beinahe das Herz stehen.

„Keine Angst“, flüsterte der Fremde Wange an Wange mit ihrer, damit die Verfolger ihr Gesicht nicht sahen. „Sie werden gleich verschwinden.“

Gleich darauf liebkoste er ihr Ohrläppchen mit seinen Lippen, und Paige erschauerte – diesmal vor Lust.

„Wie heißen Sie?“, fragte er. Sie dachte: Was für eine Frage! Er war ihr so unendlich nah. Seine Lippen strichen über ihre Haut. Zwischen ihren Beinen spürte sie seine Erregung, und er wusste nicht einmal, wie sie hieß? Wäre die Situation nicht so verrückt gewesen, hätte Paige gelacht.

Jetzt bewegte er die Hüften. Die Berührung ging ihr durch und durch. Wenn er so weitermachte, dann …

„Wie heißen Sie?“, wiederholte er.

„Paige“, konnte sie gerade noch flüstern, bevor er sie wieder küsste.

Das Pfeifen wurde lauter. Jemand sagte etwas im Befehlston, und die Männer blieben stehen. Wieder ertönte die Stimme, diesmal noch lauter und strenger und am Ende des Satzes fragend erhoben. Paige spürte, wie der Fremde erstarrte. Entsetzt begriff sie, was das bedeutete: Der Kerl sprach mit ihnen und wartete auf eine Antwort. Unwillkürlich hielt sie den Atem an.

„Stöhnen!“, raunte ihr der Fremde zu.

Mit seinem Akzent klang die Aufforderung noch eindringlicher, wurde die Bedeutung des Wortes noch sinnlicher. Doch Paige wusste nicht, wie man vor Lust stöhnte.

Als der Fremde ihre Schenkel umklammerte, begriff sie, dass auch er die Situation als gefährlich einschätzte. Dadurch kam ihr die Gefahr noch größer, noch realer vor. Wenn die Männer sie erkannten, hätte er als Einzelner keine Chance gegen sie. Also drückte sie ihr Gesicht an seinen Hals und stöhnte, so gut sie konnte. Doch es klang wenig überzeugend.

„Lauter“, flüsterte er ihr ins Ohr und drängte sich noch mehr an sie. Sie spürte ihn zwischen ihren Beinen, und als sie jetzt stöhnte, klang es verdammt echt. Während er mit einer Hand ihre Wange streichelte, küsste der Fremde sie wieder. Sein Kuss war warm, fest und fordernd. Paige spielte mit dem Pelzbesatz seiner Mütze im Nacken, bevor sie ihm die Finger ins Haar schob.

Der Mann presste sich wieder gegen ihre empfindsamste Stelle und löste damit einen Gefühlsrausch in Paige aus, der ihr völlig neu war. Sie waren nicht einmal nackt, und trotzdem war sie kurz vor dem Höhepunkt.

Wieder stöhnte sie, und als er seine Hand auf ihre Brust legte, hielt sie erwartungsvoll den Atem an. Mit dem Daumen strich er über eine ihrer Brustwarzen, die längst fest und hart war. Er gab einen anerkennenden Laut von sich, der Paige durch und durch ging. Wenn er so weitermachte, würde sie jeden Moment den Gipfel der Lust erreichen. Das sollte eigentlich nicht passieren, nicht so, und doch …

Unvermittelt beendete der Fremde den Kuss und rückte ein wenig von ihr ab. Er hielt sie immer noch fest, schmiegte sich aber nicht mehr an sie. Paige wurde heiß und kalt, aber der Mann schien völlig unbeeindruckt von dem, was gerade zwischen ihnen passiert war.

Dann fiel ihr wieder ein, weshalb sie einander so nah gekommen waren, und in ihre Verwirrung über die plötzliche Unterbrechung mischte sich Panik. Wollte er sie doch ihren Verfolgern überlassen? Rasch warf sie einen Blick über seine Schulter.

„Sie sind weg.“ Er löste sich von ihr.

Ohne seine Umarmung war ihr plötzlich furchtbar kalt, und sie zitterte so sehr, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.

„Danke“, sagte sie merkwürdig enttäuscht, weil sie den Höhepunkt so kurz vor dem Ziel doch nicht erreicht hatte. Immer noch spürte sie die Nachwehen dieser ungewöhnlichen Situation: zu viel Adrenalin und unerfülltes Verlangen.

„Wir müssen jetzt gehen.“

Paige blickte erstaunt zu ihm hoch und sah ihn das erste Mal richtig an. Vorher war sie so darauf konzentriert gewesen, ihren Verfolgern zu entkommen, dass sie von dem Fremden kaum etwas wahrgenommen hatte. Dafür nahm sie seinen Anblick jetzt umso intensiver in sich auf: jeden Gesichtszug, jedes noch so kleine Fältchen. Er sah überraschend gut aus. In Hollywood hätte man ihn mit der Rolle des Playboys und bösen Jungen besetzt. Nur dass er überhaupt nichts Jungenhaftes an sich hatte.

Unter der Mütze sah sein Haar hervor, das wahrscheinlich braun war, aber bei den Lichtverhältnissen schwarz wirkte. Seine Gesichtszüge waren klassisch, so wie Künstler sie schon seit Jahrhunderten in Marmor bannten. Seine Lippen waren voll und sinnlich, das Kinn ausgeprägt, der Blick eiskalt: Diesem Mann entging nichts.

Und gerade hatte er gesagt, dass sie jetzt gehen müssten. Zusammen.

Verwirrt und unschlüssig wich Paige einen Schritt zurück. Sie hatte schon zu viele Fehler gemacht. Ohne zu überlegen, hatte sie das Hotel verlassen und wäre beinah vergewaltigt worden.

„Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar und würde mich freuen, wenn Sie dafür eine Belohnung annehmen würden. Aber wenn Sie glauben, dass ich mit Ihnen irgendwohin gehe, um da weiterzumachen, wo wir aufgehört …“

„Sie bilden sich zu viel ein, Paige“, sagte er mit versteinerter Miene. „Sie kommen jetzt besser mit mir mit, wenn Sie Ihren Verfolgern nicht doch noch in die Hände fallen wollen. In fünf Minuten sind die nämlich wieder da, sobald sie festgestellt haben, dass Sie nicht in der Metro oder in irgendeinem Club sind, der noch offen hat.“

„Ich gehe zurück in mein Hotel. Das ist gleich die Straße runter.“

„Da sind Sie auch nicht sicher.“

„Mein Chef ist da, und er kann mir helfen.“

„Nein, es ist sicherer, wenn Sie jetzt mit mir mitkommen.“

Langsam wurde Paige ärgerlich. Was fiel dem Kerl ein? Und was meinte er damit, dass sie in ihrem Hotel nicht sicher wäre? Dort war es garantiert sicherer als in seiner Nähe – zumindest für sie. „Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, aber meine Schwester ist weg, und ich glaube, Chad ist der Einzige, der mir da weiterhelfen kann.“

„Chad?“ Er kam einen Schritt auf sie zu und wirkte plötzlich sehr angespannt. „Chad Russell ist Ihr Chef?“

Erstaunt sah Paige ihn an. „Sie kennen Chad?“

Sein Lachen klang nicht freundlich. „Und ob ich Chad Russell kenne, meine Schöne. Und jetzt begleiten Sie mich besser, wenn Sie diese Nacht überleben wollen.“

Wieder zitterte Paige. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“

Er sah sie an, als würde er sie jeden Moment packen, damit sie ihn begleitete – wohin auch immer. Aber dann zuckte er nur die Schultern. „Es ist Ihr Leben. Tun Sie, was Sie wollen.“

„Aber warum bin ich allein nicht sicher?“, fragte sie mit klopfendem Herzen.

Der Fremde verzog verächtlich den Mund. „Nachts ist es in keiner Großstadt sicher, und schon gar nicht in Moskau. Aber das wissen Sie ja inzwischen aus eigener Erfahrung.“

Damit hatte er natürlich recht. In Dallas würde sie um diese Uhrzeit bestimmt nicht mehr allein herumlaufen. „Ich kann Sie dafür bezahlen, wenn Sie mich zum Hotel zurückbringen.“

Über diesen Vorschlag lachte er so laut, dass Paige errötete. Hatte sie ihn irgendwie beleidigt? Was für eine merkwürdige Nacht!

„Kommen Sie mit mir, oder lassen Sie es. Das liegt ganz bei Ihnen.“ Er drehte sich um und ging. Unschlüssig stand Paige da und überlegte angestrengt, was sie tun sollte.

Vielleicht würde sie es allein zurück zum Hotel schaffen. Dazu müsste sie den Roten Platz überqueren und die Straße entlanggehen, die parallel zur Moskwa verlief. Es war ein langer, dunkler Weg, und es war kalt.

Sie würde einfach rennen. Dabei würde ihr warm werden, und sie wäre in zehn Minuten da. Vielleicht war Emma inzwischen zurück. Und wenn nicht, würde Chad ihr helfen.

Da drangen durch die Dunkelheit Männerstimmen an ihr Ohr. Sie sprachen ziemlich laut Russisch, und hin und wieder lachte einer. Paige wusste nicht, ob es die Männer von vorhin waren. Aber wollte sie sich tatsächlich noch einmal dieser Gefahr aussetzen?

Sie drückte die Fingerspitzen gegen die Schläfen, um besser nachdenken zu können. Was tat sie hier überhaupt? Warum hatte sie gedacht, sie könnte Emma auf eigene Faust wiederfinden? Sie sprach kein Russisch, und manchmal verstand sie es nicht einmal, wenn jemand mit einem starken Akzent Englisch mit ihr sprach. Blinzelnd hielt sie Ausschau nach ihrem Retter. Aber auch er war ein Fremder. Wie konnte sie einem Mann vertrauen, den sie nicht kannte?

Die Stimmen wurden lauter. Paige stand immer noch vor dem Kaufhaus. Bei der Frage, ob sie auf diese Männer treffen oder lieber den Fremden begleiten wollte, wurde ihr etwas klar: Sie hatte keine Wahl.

Also rannte sie los.

2. KAPITEL

Alexej goss Scotch in ein Glas und reichte es der Fremden, die niedergeschlagen auf seinem Sofa saß. Er musste unbedingt herausfinden, warum sie sich exakt zur selben Zeit auf dem Roten Platz befunden hatte, zu der er seinen Informanten treffen wollte. Da er nun wusste, dass sie für Chad Russell arbeitete, konnte es kein Zufall gewesen sein. Daran glaubte er ohnehin nicht. Wenn er sich in seinem Leben auf glückliche Zufälle verlassen hätte, würde er jetzt auch in der Familiengruft liegen – zusammen mit dem Rest seiner Familie.

Beinah apathisch nahm die Fremde das Glas entgegen, trank einen großen Schluck und hustete. „Das schmeckt ja furchtbar!“

Alexej nippte an seinem Glas und genoss die Karamell- und Eichenholznoten. Der fünfzig Jahre alte schottische Whisky war einfach perfekt. Genau wie das Theater, das ihm diese Paige vorspielte. Sie wusste, wie man das Unschuldslamm mimte.

Verächtlich verzog er den Mund. Chad Russell dachte, genau wie dessen Vater, er könnte „Woronow Exploration“ in den Ruin treiben, wenn er nur genug Geld an die richtigen Leute verteilte. Doch bisher war ihm das nicht gelungen, und das sollte auch in Zukunft so bleiben. Bevor ich diesen Kampf verliere, sterbe ich lieber, dachte Alexej. Wenn es mir bloß gelingen würde, Pjotr Walischnikow davon zu überzeugen, seine baltischen und sibirischen Ländereien an Woronow Exploration zu verkaufen und nicht an Russell Tech. Mit einem Federstrich könnte Walischnikow es ihm ermöglichen, Russell Tech ein für alle Mal zu zermalmen.

Und Katherina wäre gerächt. Das war alles, was zählte.

Alexej musterte die Frau auf seiner Couch. Wenn sie ihn tatsächlich um den Finger wickeln sollte, damit er aus dem Nähkästchen plauderte, machte sie einen verdammt schlechten Job. Sie war schön, und zwar auf ganz natürliche Weise, war sich dessen aber offenbar nicht bewusst. Außerdem schien sie unter Schock zu stehen, deshalb hatte er ihr den Scotch gegeben.

Jetzt griff sie in eine Tasche ihres denkbar unmodernen Mantels, zog eine Brille heraus und setzte sie auf. Schulterzuckend sah sie zu ihm hoch. „Ich sehe auch ohne ziemlich gut, aber mit der Zeit bekomme ich Kopfschmerzen“, erklärte sie, senkte den Blick und betrachtete das Glas in ihrer Hand. „Aber wenn es draußen kalt ist, beschlägt die Brille immer beim Reingehen.“

„Weshalb waren Sie allein auf dem Roten Platz?“

Sie sah ihn an. Die Brille ließ ihre dunklen Augen noch größer wirken. Wieder spürte er dieses Ziehen im Bauch, das er schon empfunden hatte, als er sie im Arm gehalten und ihr Duft ihn an seine Sommer in der Ukraine erinnert hatte. Die Augen seiner Schwester waren genauso dunkel gewesen. Katherinas Blick verfolgte ihn, egal, wie sehr er sich bemühte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

„Ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen“, sagte Paige.

„Alexej“, antwortete er, obwohl sie seinen Namen bestimmt genau kannte. Doch wenn sie ihn tatsächlich ausspionieren sollte, warum hatte sie ihm dann erzählt, dass sie für Chad Russell arbeitete? Ich werde ihr Spiel mitspielen, dachte Alexej, zumindest fürs Erste.

Sie wiederholte seinen Namen.

„Genau“, bestätigte er. „Jetzt erzählen Sie mir von Ihrer Schwester.“

Angst und Sorge traten in ihre rauchgrauen Augen. Sie trank noch einen Schluck Scotch und hustete wieder. „Emma ist gestern einundzwanzig geworden. Sie sieht ganz anders aus als ich, ist groß und blond, amüsiert sich gern und geht gern shoppen. Heute Nachmittag hat sie an einer Stadtführung teilgenommen, während ich Unterlagen für Chads morgiges Meeting vorbereiten musste. Ich habe bei ihm in der Suite zu Abend gegessen und anschließend weitergemacht.“

„Hm“, meinte Alexej und bezweifelte stark, dass die beiden nur miteinander gearbeitet hatten. Erstaunt stellte er fest, dass ihm der Gedanke an Paige und Chad Russell einen Stich versetzte.

„Gegen acht hat mir Emma eine SMS geschickt“, fuhr Paige fort, „darin stand, dass sie in die Hotelbar gehen wollte. Als ich um halb neun in unser Zimmer kam, war sie noch nicht da, aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Erst als sie um elf immer noch nicht wieder zurück war, habe ich mir Sorgen gemacht und mehrmals versucht, sie auf dem Handy zu erreichen. Aber sie ist nicht rangegangen.“

Paige stand auf, anscheinend ein bisschen zu schnell, denn sie wurde blass und musste sich wieder setzen. Eine Hand hielt sie an den Kopf. Dass jemand von zwei Schluck Scotch betrunken wurde, hatte Alexej noch nie gesehen.

„Normalerweise trinke ich keinen Alkohol“, sagte sie mehr zu sich selbst, und ihre Augen wirkten ein wenig glasig. „Ich muss Emma suchen.“

„Das mache ich für Sie.“ Sollte Chads Spionin ruhig glauben, dass ihr Plan aufging. „Wo ist Ihr Handy?“

Sie tastete ihre Manteltaschen ab. „Oh nein! Ich glaube, ich habe es verloren, als ich vor den Männern geflohen bin.“

„Gut, dann sagen Sie mir die Nummer Ihrer Schwester.“

Alexej tippte die Ziffern in sein Handy. Als es klingelte, reichte er es Paige. Sie wirkte sehr konzentriert, als ob sie ihre Schwester – wenn es denn eine gab – auf telepathischem Wege dazu bringen wollte abzuheben. Doch es funktionierte nicht, und wenige Momente später reichte sie ihm enttäuscht das Telefon zurück. Daraufhin rief Alexej seinen Sicherheitschef an und erteilte ihm einige Anweisungen. Anschließend wandte er sich wieder an Paige.

„Geben Sie mir Ihren Mantel! Ich mache Feuer im Kamin, dann wird Ihnen gleich wärmer.“

„Ich sollte jetzt besser gehen.“ Sie biss sich unschlüssig auf die Unterlippe, sodass Alexejs Aufmerksamkeit unwillkürlich auf ihren schön geschwungenen Mund gelenkt wurde. Sofort verspürte er ein Ziehen in den Lenden, dem er mit aller Macht entgegenzuwirken versuchte.

Vorhin war sie während ihrer gespielten Zärtlichkeiten ziemlich aus sich herausgegangen, nachdem sie anfangs unsicher und unerfahren gewirkt hatte. Am Ende hatte er sie regelrecht von sich stoßen müssen, da er sie sonst sofort mit nach Hause genommen hätte, um festzustellen, ob das Feuer ihrer Berührungen sich im Bett fortsetzen würde. Und jetzt war diese Regung wieder da …

Merkwürdig, denn diese Paige war gar nicht sein Typ. Normalerweise mochte er glamouröse Frauen, die sich ihrer Weiblichkeit bewusst waren und ihre Wirkung auf Männer kannten. Paige war weder glamourös noch selbstbewusst, dafür wirkte sie ehrlich und aufrichtig. Aber das konnte sie nicht sein, wenn sie für Chad Russell arbeitete. Bestimmt war sie nur eine gute Schauspielerin, die auch jetzt noch so aussah, als wollte sie gehen.

„Es ist sicherer, hierzubleiben“, sagte er deshalb.

„Aber ich muss meine Schwester finden.“

„Das erledige ich für Sie, versprochen.“

„Glauben Sie wirklich, dass Sie sie finden?“, fragte sie hoffnungsvoll.

Er nickte. „Ich bin hier zu Hause, meine Schöne, und ich garantiere Ihnen, dass ich Ihre Schwester schneller finde als Ihr Chad.“

In Paiges Augen trat echte Zuversicht, und Alexej überlegte, ob er sich vielleicht doch in ihr täuschte. Unwillkürlich dachte er an Katherina, die ihn genauso hoffnungsvoll angesehen hatte. Katherina, es tut mir leid …

Eine kalte Hand legte sich auf seine, und die überraschende Berührung holte ihn in die Gegenwart zurück. Er erschauerte, aber nicht, weil sich Paiges Hand kühl anfühlte. Offenbar hatte es auch sie bei der Berührung durchzuckt, denn sie zog die Hand schnell wieder zurück.

„Danke, Alexej“, sagte sie mit ihrer dunklen, rauchigen Stimme, die ihn an die Filmstars der 1940er-Jahre erinnerte. „Das vorhin war sehr nett von Ihnen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn Sie nicht da gewesen wären.“ Sie setzte sich aufs Sofa und schloss die Augen. Kurz darauf war sie eingeschlafen.

Einen Augenblick beobachtete Alexej sie ungläubig. Dann leerte er sein Glas, machte das Licht aus und ließ Paige auf der Couch zurück. Wenn sie hier war, um ihn auszuspionieren, wäre sie bald wieder wach. Er brauchte nur zu warten.

Paige war schön warm, und sie fühlte sich geborgen. Als sie sich bewegte, spürte sie etwas Weiches an der Wange. Das Hotelbett war bequem, aber irgendwie anders als sonst. Fester. Und warum trug sie immer noch ihre Kleidung?

Irgendetwas stimmte nicht. Paige öffnete die Augen und sah sich im Zimmer um, aber es kam ihr nicht bekannt vor. Mit einem Ruck setzte sie sich auf.

Wo bin ich?

Das Zimmer war luxuriös eingerichtet und die Couch, auf der sie gelegen hatte, mit Seidenbrokat bezogen. Ölgemälde schmückten die Wände, und die Decke, die sie wärmte, war aus Fell. Im Kamin brannte ein kleines Feuer. Bis auf dessen Knistern war nichts zu hören. Paige stand auf, legte sich die Decke um und hielt nach einer Uhr Ausschau. Sonst sah sie immer auf ihrem Handy nach, aber das hatte sie ja verloren, genau wie ihr Zeitgefühl. Ob Emma inzwischen wieder aufgetaucht war? Wie hatte sie überhaupt einschlafen können? Und wo war dieser Alexej?

Der Gedanke an ihren Retter ließ sie wohlig erschauern. Anfangs war sie nur widerwillig mit ihm mitgegangen, aber sobald sie sein Apartment betreten hatte, hatte sie gewusst, dass sie sich um ihre Sicherheit keine Sorgen machen musste. Seine Wohnung lag in einem der alten Barockgebäude, die mehrere Kriege und eine Revolution überdauert hatten. Sie war mit kostspieligen Antiquitäten, Ölbildern und Teppichen eingerichtet. Er hatte es nicht nötig, sich an einer Touristin zu vergreifen. Außerdem kannte er Chad, obwohl sie immer noch nicht wusste, woher. Und Alexej hatte sie tatsächlich nur geküsst, um sie vor ihren Verfolgern zu schützen, und nicht, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte.

Und ich fühle mich auch nicht zu ihm hingezogen, dachte sie trotzig. Keine Frage, er sah gut aus, aber er war nicht wie Chad. Chad war groß, blond und kam aus Texas – wie sie –, er war genauso, wie sie sich ihren Traummann immer vorgestellt hatte. Dass er sie unter all seinen Sekretärinnen für diese Reise ausgewählt und in Russland zweimal mit zum Essen genommen hatte, war vielleicht Zufall. Aber man durfte schließlich noch träumen … Zumindest gab es zurzeit keine andere Frau in seinem Leben.

Das wusste Paige, weil sie üblicherweise die Blumensträuße bestellte und die Restauranttische buchte. Seit einem Monat hatte sie in diese Richtung nicht mehr aktiv werden müssen.

Vom Salon aus konnte sie den Flur einsehen und bemerkte jetzt, dass aus einem der angrenzenden Zimmer Licht fiel. „Alexej?“, rief sie leise.

Keine Antwort. Vielleicht war er eingeschlafen. Sie ging in das Zimmer, doch es war ein Büro. Als sie es wieder verlassen wollte, stand Alexej auf der Schwelle.

„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“

Paige fuhr sich erschrocken mit einer Hand an den Hals. „Ich habe Sie gar nicht kommen hören!“

„Scheint so.“

Nur in Jeans und mit offenem Hemd stand er vor ihr. Seine Füße waren nackt, und sein Haar war zerzaust. Entschlossen hielt Paige den Blick auf sein Gesicht gerichtet und versuchte, den nur halb bedeckten Oberkörper mit dem wunderbar durchtrainierten Bauch zu ignorieren.

„Es tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe. Aber ich weiß nicht, wie spät es ist. Wenn Emma inzwischen in unser Zimmer zurückgekehrt ist, macht sie sich bestimmt Sorgen, wo ich bleibe. Ich sollte jetzt wirklich gehen und …“ Sie verstummte, als ihr bewusst wurde, dass sie vor allem redete, um ihre Verlegenheit zu überspielen.

„Ihre Schwester ist nicht in Ihrem Zimmer.“

Paige fühlte einen Stich im Herzen und zog die Decke fester um sich. „Woher wollen Sie das wissen? Wissen Sie, wo sie ist?“

„Ja, und es geht ihr gut. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“

Dass erleichterte Paige so, dass ihre Knie nachzugeben drohten.

Alexej umfasste ihren Arm, führte sie in den Salon zurück und bedeutete ihr, sich zu setzen. „Sie können das ziemlich gut“, sagte er dabei mehr zu sich selbst.

„Was meinen Sie?“

Ohne auf ihre Frage zu antworten, ging er zu einer Anrichte und kam mit einem Glas zurück.

„Bitte nicht schon wieder Alkohol!“, wehrte sie ab.

„Das ist Wasser.“

Dankbar nahm sie es entgegen und trank einen großen Schluck. Irgendwie war ihre Kehle plötzlich wie ausgedörrt. Auch ihr Kopf fühlte sich merkwürdig an, und ihr Herz schlug wie wild. „Wo ist Emma?“, fragte sie.

„Bei Chad Russell. Aber das wissen Sie doch.“

Paige überlegte, warum Alexej das dachte. Doch bevor sie ihn danach fragen konnte, durchbohrte sein Blick sie förmlich.

„Warum sind Sie hier, Paige?“

„Weil ich Sie gesucht habe.“

„Ich meine nicht in meinem Salon oder Büro, ich meine, warum sind Sie mit zu mir gekommen?“

„Weil Sie gesagt haben, es wäre besser für mich, Sie zu begleiten.“

„Aber warum haben Sie überhaupt den Kontakt zu mir gesucht? Was glaubten Sie, hier zu finden? Ist Russell so verzweifelt, dass er jetzt schon seine Sekretärin schicken muss, um mich auszuspionieren?“

Zuerst reagierte Paige nur verwundert, dann wurde sie ärgerlich.

„Warum sollte ich Sie ausspionieren? Ich kenne Sie ja nicht einmal!“ Sie stellte das Glas weg und stand bebend auf. Trotzdem reckte sie das Kinn herausfordernd. Schon als Kind hatte sie gelernt, den Wahlspruch ihrer Mutter zu befolgen: Lass die anderen niemals sehen, dass du Angst hast. In den letzten Jahren hatte sie oft Gelegenheit gehabt, diesen Leitsatz zu erproben – immer wenn das Jugendamt gekommen war, um festzustellen, ob sie sich auch ordentlich um ihre Schwester kümmerte.

„Hören Sie auf, so zu tun, als wüssten Sie nicht, wer ich bin!“, rief Alexej.

Wütend stampfte Paige mit dem Fuß auf. „Sie heißen Alexej und haben mir geholfen, als ich in Schwierigkeiten war. Offensichtlich besitzen Sie Geld, und Sie wussten, von wem ich spreche, als ich Chad erwähnte. Aber ich habe keine Ahnung, wer Sie sind.“

Er kam ganz nah zu ihr, legte einen Arm um ihre Taille und strich ihr mit der anderen Hand über die Wange. „Sie sind eine faszinierende Frau, Paige. Kein Wunder, dass Russell Sie für diese Aufgabe ausgewählt hat. Oder haben Sie sich freiwillig gemeldet?“ Mit einem Ruck zog er sie an sich.

Sie stemmte die Hände gegen seinen Oberkörper – und schloss unwillkürlich die Augen. Bei der Berührung mit seiner Haut kribbelte es unter ihren Händen. Alexej fühlte sich warm und muskulös an, und am liebsten hätte sie ihm das Hemd von den Schultern gezogen und ihn überall gestreichelt. Wie kann ich ihn bloß in so einem Moment sexy finden? Sie musste zur Vernunft kommen, hauchte aber nur schwach: „Lassen Sie mich los!“

„Wollen Sie nicht erst Ihren Auftrag ausführen?“

„Was denn für einen Auftrag?“

„Was hat Russell Ihnen dafür geboten?“

„Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.“

„Sollten Sie mich nicht verführen? Damit ich zufrieden und erschöpft einschlafe und Sie in aller Ruhe meine Unterlagen durchsuchen können?“ Er beugte sich zu ihr. „Wobei ich sagen muss, dass ich über Ihre bisherige Vorstellung enttäuscht bin. Trotzdem würde ich mich freuen, wenn Sie Ihre Mission zu Ende führen.“

Als seine Lippen ihre berührten, hätte Paige sich ihm entziehen müssen, aber das war schlichtweg unmöglich. Nicht weil Alexej sie so fest gehalten hätte, sondern weil die Berührung in ihr ein wahres Feuerwerk entzündete, das sie nicht beenden wollte.

Es dauerte nicht lange, und aus dem Kuss wurde ein Zungenkuss, den Paige mit viel zu viel Leidenschaft erwiderte. Alexej roch so gut nach Gewürzen und einer kalten Winternacht, dabei war er gleichzeitig so heiß wie ein Vulkan.

Jetzt ließ er von ihren Lippen ab, liebkoste ihr Kinn, strich ihr Haar zurück und küsste ihren Hals. Sie neigte den Kopf zurück, und er quittierte ihre Einladung mit einem kehligen Laut der Zustimmung.

Als Paige die Augen öffnete, sah sie sich und Alexej in einem Spiegel, der ihr eine wunderbar erotische Szene zeigte: Wie auf dem Cover eines Liebesromans küsste ein atemberaubender Mann stürmisch eine Frau, deren Augen vor Leidenschaft glänzten. Dabei war alles nur eine Farce! Alexej mochte sie gar nicht und dachte, Chad habe sie geschickt, um ihn zu verführen. Und sie wusste immer noch nicht, wer Alexej wirklich war. Die Ernüchterung traf Paige wie ein Schlag. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schlug gegen seine muskulöse Brust.

„Aufhören! Bitte hören Sie auf!“

Erstaunlicherweise tat er es. Seine Augen glitzerten, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und zu ihr hinuntersah. Er war sogar noch größer als Chad, hatte breitere Schultern und rief Reaktionen in ihr hervor …

Nicht daran denken!

Paige wich einen Schritt zurück. „Ich will jetzt in mein Hotel und zu meiner Schwester. Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten.“

„Ihre Schwester ist beschäftigt, Paige. Ich glaube nicht, dass sie jetzt gestört werden möchte. Aber vielleicht wussten Sie noch gar nicht, dass Sie sich Ihren Liebhaber mit Ihrer Schwester teilen.“

Emma und Chad sollten ein Paar sein? Sie hatten sich höchstens ein-, zweimal gesehen, wenn Emma sie im Büro besucht hatte. Aber bei diesen Begegnungen hatte Chad kein besonderes Interesse an ihrer Schwester gezeigt.

Oder doch?

Jetzt fiel Paige wieder ein, wie Emma bei Chads Lächeln gekichert hatte, und dass sie später an jenem Tag erklärt hatte, dass Chad wahrscheinlich super im Bett wäre. Dasselbe dachte Paige auch, aber sie hätte nie damit gerechnet, dass Emma es ausprobieren würde.

Als Paige Chad gesagt hatte, dass sie wegen der Russlandreise Emmas einundzwanzigsten Geburtstag verpassen würde, hatte er vorgeschlagen, Emma mitzunehmen. Paige hatte gedacht, er wollte nur nett sein, und abgelehnt. Doch er bestand darauf, ihre Schwester mitzunehmen. Damit sie beide Emmas Geburtstag gemeinsam verbringen konnten, hatte Paige gedacht … Und jetzt das: Chad und Emma waren ein Paar! Während ich panisch Moskaus Straßen absuche und von einem Haufen Betrunkener beinahe vergewaltigt werde, schläft meine Schwester mit dem Mann, den ich will, seitdem ich ihn das erste Mal gesehen habe.

Tränen traten ihr in die Augen. Doch sie wollte nicht weinen, nicht vor Alexej.

„Paige, es tut mir leid, wenn diese Neuigkeit Sie traurig macht.“

Wütend sah sie ihn an. „Es ist Ihnen doch egal, was ich empfinde. Also hören Sie mit dieser Heuchelei auf! Woher weiß ich überhaupt, dass Sie die Wahrheit sagen?“

„Juri, mein Sicherheitschef, hat früher für den KGB gearbeitet. Er kennt viele Leute und weiß, wie man Dinge in Erfahrung bringt. Aber ich kann Ihnen natürlich auch einen handfesten Beweis dafür liefern, dass Ihre Schwester bei Russell ist. Meine Männer haben Gespräche und einiges andere zwischen den beiden mitgeschnitten und …“

„Aufhören!“ Auf keinen Fall wollte sie Chads und Emmas Liebesgeflüster hören. Zitternd vor Wut und Schmerz wandte sie sich ab.

Doch Alexej zog sie wieder in seine Arme und drückte ihren Kopf sanft gegen seinen Oberkörper. Paige dachte daran, sich zu wehren, verwarf den Gedanken aber wieder, als Alexej ihr beruhigend über den Rücken strich. Sie war schon lange nicht mehr getröstet worden und normalerweise diejenige, die tröstete und alles für ihre kleine Schwester gab.

Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und rann über ihre Wange, dann noch eine, bis sich Paige schließlich an Alexej klammerte und herzzerreißend zu weinen begann. Seit der Beerdigung ihrer Mutter hatte sie sich das nicht mehr erlaubt, weil sie glaubte, Tränen machten schwach. Dabei tat es unendlich gut, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Die ganze Zeit über hielt sie sich an Alexej fest und beweinte all die verlorenen Jahre. Währenddessen strich er ihr weiter tröstend über den Rücken und machte keinerlei Anstalten, sich zurückzuziehen oder sie allein zu lassen.

Noch während sie weinte, fasste Paige einen Entschluss. Von nun an würde sie ihr eigenes Glück nicht länger zum Wohl anderer vernachlässigen. Sie hatte genug davon, sich Dinge zu versagen.

Heute fängt für mich ein neues Leben an. Und sie wusste auch schon, womit sie es beginnen wollte.

3. KAPITEL

Alexej spürte Paiges Sinneswandel, noch bevor sie ihr Verhalten änderte. In einer Minute weinte sie sich noch an seiner Brust die Augen aus, und in der nächsten stellte sie sich auf die Zehenspitzen und umarmte ihn.

Als ihre Lippen seine berührten, war er geneigt, der Versuchung nachzugeben, und ließ den Kuss zu. Paige schmeckte nach Tränen, und er hätte sie so gern von ihrem Kummer befreit. Schwächere zu beschützen und zu trösten war sein Schicksal. Jahrelang hatte er für seine Familie gekämpft, so etwas prägte.

Doch es gab nichts, das er für diese Frau tun konnte. Dabei wäre es so einfach gewesen, ihr Angebot anzunehmen, sie in die Arme zu schließen und in sein Zimmer zu tragen. Aber die Reaktion, die ihre Tränen in ihm hervorgerufen hatten, gefiel ihm nicht, genauso wenig wie die Tatsache, dass ihre süße Verletzlichkeit, der zaghafte Kuss und der Anklang von Verzweiflung ihn berührten. Das weckte Erinnerungen, die er am liebsten verdrängt hätte, Erinnerungen an eine blasse, junge Frau in einem Krankenhausbett, die mit rauen, aufgesprungenen Lippen flüsterte, wie sehr sie ihn liebte, während ihr eine Träne über die Wange lief.

Sie war der letzte Mensch auf dieser Welt gewesen, der ihm dieses tiefe Gefühl entgegengebracht hatte, und sie war gestorben, weil er sie nicht retten konnte. Er war ein Prinz, hatte damals aber nicht die finanziellen Mittel besessen, um ihre Leukämie mit den neuesten medizinischen Behandlungsmethoden zu bekämpfen. Also hatte er die letzten Rubel zusammengekratzt, um bei Tim Russell in Dallas sozusagen um das Leben seiner Schwester zu bitten. Dort war er aber nur auf Hohn und Verachtung gestoßen. Als wäre es gestern gewesen, so deutlich erinnerte sich Alexej an den Moment, in dem er in Russells Büro gestanden hatte, hoch über der Skyline von Dallas, gleichzeitig beeindruckt und angeekelt von all dem zur Schau gestellten Reichtum. Ein bisschen davon hätte er sich auch für seine Familie gewünscht, und es machte ihn krank, wenn er daran dachte, dass Tim Russell sie bestohlen hatte.

Mit den erschlichenen Rechten an ihrem Land war er nach Amerika zurückgekehrt. Doch obwohl es nur einen Bruchteil des Vermögens gekostet hätte, das Russell mit den Erdöl- und Erdgasvorkommen aus dem Woronowschen Besitz angehäuft hatte, weigerte er sich, Katherina zu helfen. An ihrem Grab hatte Alexej sich geschworen, ihren Tod zu rächen und dem kaltherzigen Mann, der ihm alles genommen hatte, die Stirn zu bieten. Mit wenig mehr als dem Mut der Verzweiflung und seinem Abschluss als Diplom-Geologe gründete er seine Firma Woronow Exploration und brannte regelrecht darauf, sich zurückzuholen, was seine Familie verloren hatte, und die Russells in den Ruin zu treiben.

So weit zu kommen hatte Jahre gedauert, aber nun war er auf dem Gipfel seines Erfolgs – und der Sieg über das Russell-Imperium war zum Greifen nah. Doch in dieser Sekunde umfasste er erst einmal Paiges Arme und schob sie sanft von sich. Sie schluckte, und einen Augenblick dachte Alexej, sie würde wieder anfangen zu weinen. Stattdessen schlang sie die Arme schützend um sich und sah ihn mit großen Augen und schmerzerfülltem Blick an.

Ihre Tränen waren echt gewesen, ganz egal, warum sie ursprünglich mit in sein Apartment gekommen war. Vielleicht gelang es ihm sogar, ihren Zorn und ihre Traurigkeit wegen Chads Verhalten zu seinem Vorteil zu nutzen. Paige war Russells Sekretärin und kannte sicher Interna, die ihm nützlich sein konnten.

„Du willst doch gar nicht mich“, sagte er leise. „Du bist verletzt und traurig und möchtest dieses Gefühl loswerden. Das verstehe ich. Aber wenn du dich jetzt mit mir einlässt, wird es dir morgen leidtun.“

„Sch…Schon okay, wenn du nicht mit mir schlafen willst.“ Beschämt sah Paige zu Boden, wobei sich Alexej fragte, warum ausgerechnet dieses Zeichen ihrer Unschuld sein Verlangen schürte.

„Paige“, sagte er und wartete, bis sie ihn wieder ansah. „Ich denke, du solltest jetzt ein bisschen schlafen. Morgen sieht alles schon ganz anders aus.“

Wie oft hatte er das zu Katherina gesagt? Sie hatten beide gewusst, dass es nicht besser werden würde, aber mit dieser Notlüge kamen sie leichter durch die schweren Zeiten.

„Ich muss spätestens um acht Uhr wieder im Hotel sein“, antwortete Paige wie benommen. „Cha… mein Chef hat morgen früh ein wichtiges Meeting.“

„Ich weiß“, sagte Alexej und konnte nicht umhin, ihr eine Strähne hinters Ohr zu streichen.

„Ich wünschte wirklich, du würdest mir sagen, woher du all diese Sachen weißt“, sagte Paige stirnrunzelnd.

Er lächelte und sah sie dabei so freundlich wie möglich an. Es war ein Risiko, aber wenn er nicht ehrlich zu ihr war, würde sie ihm ihr Vertrauen nicht schenken, nachdem Russell es bereits missbraucht hatte. Dass sie ihm vertraute, war eine Grundvoraussetzung, wenn sein neuer Schachzug gelingen sollte.

„Weil er dieses Treffen mit mir hat.“

Vor Erstaunen wurden ihre Augen ganz groß. Nun war Alexej restlos überzeugt, dass sie nicht wusste, wer er war. Das bestärkte ihn noch darin, seinen neuen Plan in die Tat umzusetzen. Und dann gäbe es bald kein Russell Tech mehr – dank dieser Frau.

„Bist du Walischnikow?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, aber mein Nachname fängt auch mit W an.“

Wenn es überhaupt möglich war, wurden ihre Augen noch größer. Gleichzeitig schlug sie sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Ach, du meine Güte“, wisperte sie, „du bist Prinz Woronow.“

Es schneite, als die Limousine durch Moskau fuhr. Dicke Flocken wirbelten zu Boden und blieben liegen. Fasziniert sah Paige zum Fenster hinaus. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so viel Schnee gesehen, und dabei war bereits April! In Dallas war es zu dieser Jahreszeit angenehm warm, und in ihrer Heimatstadt Atkinsville herrschten das ganze Jahr über gemäßigte Temperaturen.

Paige hätte sich gern dem Mann neben sich zugewandt, um ihm dafür zu danken, dass er sie so früh zum Hotel zurückbrachte. Aber sie konnte ihn nicht ansehen, denn neben ihr saß Alexej Woronow, den sie versucht hatte zu verführen, nachdem Chad ihre Gefühle verletzt hatte. Natürlich musste Alexej ihr einen Korb geben. Er war schließlich nicht nur ein Prinz, sondern sah auch noch umwerfend aus. So ein Mann interessierte sich nicht für sie.

Als Paige daran dachte, wie er sie auf dem Roten Platz geküsst und sich an sie gedrängt hatte, errötete sie unwillkürlich. Beinahe wäre sie gekommen, nur weil sie diesen herrlichen Druck verspürt hatte.

Alexej hat das alles nur gespielt, rief sie sich in Erinnerung, es war eine notwendige Show, um sie vor ihren Verfolgern zu retten.

Aber ihr Retter war nicht nur irgendein Prinz, sondern Prinz Woronow – Chads Widersacher. Wenn sie Chad glauben durfte, war Alexej entschlossen, Russell Tech in sein Firmenimperium zu integrieren. Das wäre relativ problemlos möglich, wenn er in den Besitz von Walischnikows Ländereien gelangte. Hätte Alexej mit seinem Vorhaben Erfolg, würde es Russell Tech schon bald nicht mehr geben und die Angestellten würden entlassen – sie eingeschlossen. Bei der derzeitigen Wirtschaftslage könnte es eine Weile dauern, bis sie einen neuen Job bekäme. Wie soll ich bis dahin die Miete zahlen und den anderen Verpflichtungen nachkommen? Und könnte ich dann überhaupt noch Emmas Studiengebühren aufbringen?

Letzte Nacht hatte Paige viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Dabei war sie zu dem Schluss gekommen, dass Emma keine Schuld traf. Ich habe ihr nie gesagt, dass ich für Chad schwärme. Also gibt es keinen Grund, wütend auf sie zu sein. Und schließlich konnte Emma nichts dafür, dass sie schön und lebensfroh war. Natürlich fühlte sich Chad zu ihr hingezogen!

„Du bist so still, Paige.“

„Ich denke nach.“ Langsam wandte sie sich ihm zu. „Bei uns zu Hause schneit es im April nicht.“

Sein Lächeln ließ ihr Herz höher schlagen.

„Stimmt, da, wo du lebst, ist es schon fast tropisch.“

„So würde ich es nicht nennen.“

„Nicht mal im Vergleich zu Moskau?“

Paige schluckte. Alexej sah so gut aus und war überhaupt nicht von sich eingenommen. Unwillkürlich fragte sie sich, wie es wohl gewesen wäre, wenn er sie vergangene Nacht nicht abgewiesen hätte. Zweifellos überwältigend.

„Du solltest aber erst einmal mein Zuhause bei Sankt Petersburg sehen. Es ist ein altes Anwesen und, abgesehen von einer vergleichsweise kurzen Unterbrechung, schon seit Jahrhunderten im Besitz meiner Familie. Der Schnee ist dort herrlich unberührt. Nachts heulen die Wölfe, und die Sterne leuchten unglaublich hell. Es ist perfekt für eine Schlittenfahrt.“

„Das klingt sehr schön.“

„Vielleicht zeige ich es dir eines Tages.“

Ihr Herz schlug schneller. Flirtet er etwa mit mir? Unmöglich. Ein Mann wie Alexej traf sich mit Filmstars und Models, nicht mit einfachen Sekretärinnen.

„Ich wüsste nicht, wie das gehen sollte“, erwiderte sie schließlich, „wir reisen in einigen Tagen wieder ab, und Sankt Petersburg liegt nicht auf unserer Route. Aber es ist ein netter Gedanke.“

„Willst du deinen Liebhaber etwa zurücknehmen – nach dem, was er dir angetan hat?“, fragte er unvermittelt, und seine Augen funkelten dabei merkwürdig.

„Chad Russell ist mein Chef, nicht mein Liebhaber!“, rief Paige empört.

„Ist das so?“

„Ja.“ Herausfordernd hob sie das Kinn.

„Dann hat er leider Pech gehabt, aber für mich ist es gut.“ Er nahm ihre Hand und küsste sie. Paige war zu erstaunt, um sie zurückzuziehen. Als er sie wieder freigab, kribbelte ihre Haut von seiner Berührung. Sicherheitshalber faltete Paige die Hände im Schoß.

„Wie meinst du das?“, fragte sie, während ihr das Blut in den Ohren rauschte. „Du hattest letzte Nacht doch deine Chance und hast sie nicht ergriffen.“ Sie überlegte noch, ob sie das wirklich gesagt hatte, als Alexej unerwartet lachte.

„Wenn ich mit dir schlafe, meine Schöne, dann nicht, um dich über einen anderen Mann hinwegzutrösten.“

„Ich habe nicht wegen Chad geweint“, widersprach sie mit glühenden Wangen.

Doch Alexej glaubte ihr nicht, und Paige wandte sich ab und starrte angestrengt zum Fenster hinaus. Zum Teufel mit ihm! Warum nur konnte er in ihr lesen wie in einem Buch? Aber alles wusste er nicht, und sie würde diesem Mann niemals auch noch ihre letzten Geheimnisse anvertrauen, selbst wenn sie sich wahnsinnig zu ihm hingezogen fühlte.

„Ich glaube, dass du vielleicht in Chad Russell verliebt bist“, hörte sie ihn jetzt sagen, „auch wenn er nicht dein Liebhaber ist. Und ich glaube, dass du bitter enttäuscht bist, weil er deine Schwester dir vorgezogen hat.“

Ruckartig drehte sie sich zu ihm. „Du weißt ja gar nicht, wovon du sprichst!“

„Ich bin nicht blind, Paige.“

„Lass mich in Ruhe, Alexej! Ich weiß deine Hilfe wirklich zu schätzen, aber das gibt dir nicht das Recht, nur so zum Spaß mein Leben zu analysieren. Du weißt gar nichts über mich, also spar dir die wilden Spekulationen.“

Daraufhin sah Alexej sie so durchdringend an, dass sie den Blick einfach nicht von ihm wenden konnte. Seine eisgrauen Augen blickten aber nicht kalt, wie man es nach ihrem Ausbruch hätte vermuten können, sondern sinnlich, weshalb sein Blick ihr regelrecht unter die Haut ging.

„Dann entschuldige ich mich“, erwiderte er nach einer halben Ewigkeit. „Ich wollte dir auf keinen Fall wehtun.“

Die Tür ging auf, und Paige stellte fest, dass der Wagen vor dem Hotel stand und ein Hotelbediensteter darauf wartete, ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Die ganze Situation kam ihr völlig unwirklich vor. Wenn sie Alexej in ein paar Stunden wiedersehen würde, wäre das auf einem Meeting zweier wichtiger Wirtschaftsgrößen. Er würde sie gar nicht beachten, und das wäre auch besser so. Denn wenn Chad erfuhr, dass sie seinen Widersacher kannte, würde er bestimmt an die Decke gehen – und sie wäre arbeitslos.

Sie rang sich ein Lächeln ab. „Das heißt dann wohl Abschied nehmen.“

„Aber wir sehen uns doch wieder, Paige Barnes“, meinte Alexej mit einem herausfordernden Lächeln. „Und wir beide werden noch viel voneinander sehen, das verspreche ich dir.“

Ohne sich umzusehen, sprang Paige aus dem Wangen und rannte in die Lobby. Trotz des nasskalten Wetters war ihr heiß, und bereits im Aufzug zog sie den Mantel aus.

Warum bringt Alexej Woronow mich so aus der Fassung? Sicher, bei unserer ersten Begegnung auf dem Roten Platz haben wir ein paar Schritte übersprungen, aber ein Kuss bleibt ein Kuss, oder nicht?

Nein, dieser Kuss vor dem Kaufhaus GUM war glühend heiß und zum Dahinschmelzen gewesen, genau wie die Küsse in seinem Apartment. Das machte ihn aber noch nicht zu etwas Besonderem. Und wie sollte sie das überhaupt beurteilen? Sie hatte ja kaum Vergleichsmöglichkeiten.

Paige nahm ihren Schlüssel aus dem Mantel und öffnete die Tür des Zimmers, das sie sich mit Emma teilte. Bei dem Gedanken an ihre Schwester überkam sie ein beklemmendes Gefühl, aber sie schob es energisch zur Seite. Dann war Emma eben mit Chad zusammen, na und?

„Du meine Güte, wo bist du gewesen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“

Paige blieb wie angewurzelt stehen. Sie hatte sich hineinschleichen wollen, falls Emma noch schlief.

Emma mit ihrem hübschen Gesicht sah wirklich besorgt aus, und Paige war gerührt.

„Es tut mir leid, Emma. Ich konnte nicht schlafen, und da bin ich noch ein bisschen spazieren gegangen.“ Die Ausflucht kam Paige mit Leichtigkeit über die Lippen, aber gleich darauf hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie mochte ihre Schwester nicht anlügen, doch es war leichter, als ihr zu erklären, was wirklich passiert war.

Und auch sicherer, weil Emma nichts für sich behalten konnte. Ganz ohne Hintergedanken würde ihr irgendwann herausrutschen, dass ihre Schwester bei dem bösen Firmenchef von Woronow Exploration gewesen war, und das wäre das Ende von Paige Barnes’ Karriere bei Russell Tech. Im Handumdrehen säße sie im nächsten Flieger nach Hause, mit hängendem Kopf und ohne Referenzen für einen neuen Job. An die möglichen Folgen für Emma und ihre sich gerade entwickelnde Romanze durfte sie gar nicht denken.

„Du hättest mir wenigstens eine Nachricht hinterlassen können.“ Emma warf ihr wunderbares blondes Haar zurück und schob schmollend die Unterlippe vor – eine Geste, die Paige nur zu gut kannte.

„Du bist doch letzte Nacht auch nicht nach Hause gekommen!“

Daraufhin strahlte Emma übers ganze Gesicht. „Ich war mit jemandem zusammen, und ich glaube, ich habe mich verliebt.“

„Das ging aber schnell.“ Paige zwang sich, ruhig zu bleiben.

„Oh Paige“, rief Emma glücklich, „ich wollte es dir eigentlich noch gar nicht erzählen, weil ich wusste, dass du dir Sorgen machen würdest, aber es ist Chad.“

„Aber du kennst ihn doch kaum!“

„Wir treffen uns schon seit einem Monat.“

Paige sank auf den nächstbesten Stuhl. Seit einem Monat? Ein ganzer Monat voller Lügen, Heimlichtuereien und Verabredungen hinter ihrem Rücken! Kein Wunder, dass Chad nicht auf sie zugekommen war, um Blumen zu verschicken oder Tische in Restaurants reservieren zu lassen.

„Ich arbeite seit zwei Jahren für Chad Russell, Emma, er trifft sich mit vielen Frauen.“

„Das weiß ich. Aber mich liebt er. Er will mich heiraten.“

Bis zu diesem Moment war Paige gar nicht bewusst gewesen, dass sie nur für Emma lebte. Was würde sie tun, wenn ihre Schwester nicht mehr bei ihr war?

Und was sollte sie jetzt sagen? Emma sah sie so hoffnungsvoll an, aber Paige machte sich tatsächlich Sorgen. Meinte Chad es wirklich ernst? Und selbst wenn – er bewegte sich in ganz anderen sozialen Kreisen als Emma. Konnte er es überhaupt ernst meinen, oder war ihre Schwester nur eine weitere Affäre für ihn?

„Habt ihr schon einen Termin?“

Emma schüttelte den Kopf und stand auf. „Sobald wir wieder in Dallas sind, wollen wir uns Gedanken darüber machen. Im Augenblick macht er sich einfach zu große Sorgen wegen des bevorstehenden Geschäftsabschlusses.“

„Hm.“ Paige hatte ein mulmiges Gefühl. Ob es daran lag, dass sie Chads ehrliche Absichten bezweifelte oder dass von dem Geschäftsabschluss die Zukunft von Russell Tech abhing, wusste sie nicht. Doch wenn sie an diesen Abschluss dachte, dann dachte sie auch an Alexej. Er hatte ihr in der Not geholfen, sie im Arm gehalten und getröstet und so unglaublich geküsst, dass sie ihn beinah angefleht hätte, mit ihr zu schlafen. Aber er war nicht irgendein Mann, sondern Prinz Woronow und wollte Russell Tech vernichten. Wenn ihm das gelänge, würde er auch Chads und Emmas Möglichkeit für eine gemeinsame Zukunft zerstören.

Auch Paige stand wieder auf und nahm ihre Schwester in die Arme. „Ich bin froh, dass du so glücklich bist, und ich hoffe, dass Chad weiß, wie glücklich er sich schätzen kann, mit dir zusammen zu sein. Wenn er das nicht tut“, fuhr sie fort und hielt Emma ein wenig von sich ab, „kann er was erleben!“

Lachend drückte Emma sich an ihre Schwester. „Darum würde ich mich dann schon selbst kümmern.“

„Davon bin ich überzeugt. Jetzt muss ich mich aber für das Meeting fertig machen.“

Auf dem Weg ins Badezimmer befiel Paige wieder dieses komische Gefühl. Sie war noch immer aufgewühlt von Emmas Neuigkeit, und der Gedanke, dass ihre Schwester womöglich bald nicht mehr bei ihr wohnen würde, machte sie traurig. Aber das war nicht der Grund für ihre Unruhe.

Nein, es lag an Prinz Woronow. Als er heute früh in der Limousine hinter ihre Fassade geblickt hatte, war Paige klar geworden, dass er sehr gefährlich war. Und nicht nur für Russell Tech, sondern auch für sie. Allein bei dem Gedanken, ihn gleich wiederzusehen, rauschte ihr das Blut in den Ohren. Am besten wäre es, wenn er sie ignorierte. Aber das würde er natürlich nicht tun.

Warum macht mich diese Vorstellung glücklich?

4. KAPITEL

Die angespannte Atmosphäre im Konferenzraum war nicht verwunderlich. Dass aber auch Paige Barnes angespannt wirkte, erstaunte Alexej. Er beobachtete sie, während Chad Russell in beinah perfektem Russisch einen Vortrag hielt. Paige sah nur einmal auf, als Chad sie auf Englisch anwies, etwas zu notieren. Ansonsten hielt sie den Blick die ganze Zeit über auf ihren Schoß gerichtet. Da konnte Alexej sich so sehr wünschen, wie er wollte, sie möge zu ihm herübersehen …

Sie war eine ungewöhnliche Frau, schön und unschuldig zugleich. Das faszinierte ihn, außerdem erinnerte sie ihn an Katherina. Bei dem Gedanken an seine Schwester wandte Alexej sich automatisch wieder Chad Russell zu. Katherina war seit fünfzehn Jahren tot, und er konnte Chad keinen Vorwurf für das gefühllose Verhalten seines Vaters machen. Aber Chad schien die Familie Woronow genauso wenig zu mögen wie sein Vater. Warum Tim Russell ihn hasste, hatte Alexej schon damals nicht verstanden. Dass sein Sohn es ihm jetzt gleichtat, konnte er noch weniger nachvollziehen. Schließlich war Chad selbst ein halber Woronow.

Andererseits erleichterte diese feindselige Haltung es ihm, Russell Tech den Garaus zu machen. Wieder sah Alexej zu Paige. Bedauerlich, dass er sie dabei benutzen musste. Aber er würde sie am Ende fürstlich belohnen. Energisch blendete er den Anflug von schlechtem Gewissen aus und konzentrierte sich auf die Ausführungen seines Cousins.

Wild gestikulierend versuchte Chad, Walischnikow für seine Pläne mit den Ländereien in Sibirien und den baltischen Ölquellen zu begeistern. Chad mochte ein Halbrusse sein, aber das reichte nicht, um den alten Mann zu überzeugen, der mit stoischem Gesichtsausdruck auf der anderen Seite des Tisches saß. Zwar hatte Chad von seiner Mutter fließend Russisch gelernt, aber sein Vater hatte dafür gesorgt, dass er wie ein hundertprozentiger Amerikaner auftrat. Und Pjotr Walischnikow hatte in seiner Jugend gelernt, die Amerikaner als Feinde zu betrachten und ihnen grundsätzlich zu misstrauen. Das schüttelte man auch nach Jahren der Perestroika nicht einfach so ab. Außerdem sah Chad auch noch genauso aus, wie man sich einen texanischen Ölmagnaten vorstellte. Zu seinem schwarzen Anzug trug er Cowboy-Stiefel und einen weißen Stetson, der jetzt neben ihm auf dem Tisch lag. Mit diesem Outfit wäre er Walischnikow besser nicht gegenübergetreten. Dieser hob plötzlich eine Hand, um Chads Redefluss zu stoppen.

„Ich werde Ihren Vorschlag überdenken“, erklärte er, „und Ihren auch“, fügte er zu Alexej gewandt hinzu. „Wenn Sie mich nun entschuldigen, ich muss noch zu einem anderen Meeting.“

Er wuchtete seinen Bauch aus dem Stuhl und verließ, gefolgt von seiner Entourage aus Führungskräften und Finanzspezialisten, den Raum.

Interessiert beobachtete Alexej Chads Reaktion auf dieses Verhalten. Zunächst schien er in sich zusammenzusinken, aber nur für einen Moment, dann warf er ihm einen bösen Blick zu und schob kämpferisch das Kinn vor.

„Offenbar musst du noch ein bisschen länger in unserem schönen Land bleiben“, sagte Alexej auf Englisch, sodass auch Paige es verstand und nicht auffiel, dass er Chad duzte. „Vielleicht solltest du die Zeit nutzen, um Sankt Petersburg zu besuchen, das zu dieser Jahreszeit besonders hübsch ist.“

Wie er gehofft hatte, sah Paige ruckartig auf. Dabei verrutschte ihr die Brille, und sie rückte sie wieder zurecht. Gern hätte er ihre süße Nasenspitze geküsst. Das erschreckte ihn. Er konnte es sich nicht leisten, so einen romantischen Unsinn zu empfinden.

„Ich gehe bestimmt nicht nach Sankt Petersburg, Prinz Woronow“, stieß Chad hervor, „sondern bleibe in Moskau, bis dieser Deal unter Dach und Fach ist.“

„Du wirst das Rennen nicht machen!“

„Sei dir da nur nicht zu sicher.“ Chad warf Alexej einen hasserfüllten Blick zu, dann wandte er sich an Paige. „Pack alles zusammen, und komm anschließend zu mir in die Lobby. Ich muss noch telefonieren.“

„Endlich allein“, sagte Alexej zu Paige, nachdem Chad aus dem Raum gestürmt war.

„Du solltest nicht mit mir sprechen“, erwiderte sie, als sie mit bebenden Fingern, die Unterlagen sortierte.

„Wieso nicht? Ich spreche gern mit dir.“

Sie errötete, und auch das gefiel Alexej. Ihr Outfit dagegen mochte er weniger. Das lange dunkle Haar hatte sie wieder zu einem Pferdeschwanz zusammengenommen, und sie trug einen konservativ geschnittenen schwarzen Hosenanzug mit weißer Stehkragenbluse. Der Anzug saß tadellos, aber sie sah darin aus wie ein Oberkellner, viel zu steif. Dass sie eigentlich eine sinnliche Frau war, hatte er gestern Nacht auf dem Roten Platz erfahren, und wie gestern hätte er sie auch jetzt am liebsten ausgezogen.

„Ich arbeite für Chad Russell“, erklärte sie, „und ich würde meinen Job gern behalten, wenn du nichts dagegen hast. Also rede bitte nicht mit mir.“

„Warum ist es schlecht, wenn ich mit dir rede?“, fragte er und kam um den Tisch herum, bis er neben ihr stand und ihren Duft nach Sommer roch.

Paige schluckte und hielt mit der Sortiererei inne. Doch ihre Hände bebten sogar noch, während sie auf einem Papierstapel ruhten. „Weil ich meinen Boss nicht anlügen möchte“, antwortete sie, „und weil ich nicht will, dass er mich irgendetwas über dich fragt. Ich kann nämlich nicht besonders gut lügen.“

Erneut schob Alexej den Anflug eines Schuldgefühls von sich. Er musste diese Frau einfach umgarnen, um ihr wichtige Informationen zu entlocken. „Geh heute Abend mit mir essen“, schlug er ihr dann vor.

„Bist du verrückt geworden? Hast du mir denn nicht zugehört? Ich kann nicht mit dir essen gehen!“

„Chad braucht doch nichts davon zu erfahren.“ Alexej nahm Paige bei der Hand und zog sie an sich. Sie sollte sich wieder an ihn schmiegen, damit er in ihrem Duft versinken und ihre zarte Haut fühlen konnte. Als sie sich ihm entziehen wollte, verstärkte er den Druck seiner Umarmung.

„Lass mich los!“

Er tat ihr den Gefallen, auch wenn er sie lieber geküsst hätte.

Sofort wich sie von ihm ab.

„Ich bewundere deine Treue zu deinem Boss. Darf er auch bestimmen, mit wem du ausgehst?“

„Natürlich nicht.“ Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. „In diesem Fall ist es allerdings nicht so einfach: Du bist der Feind.“

Alexej musste lachen.

„Doch, das bist du“, beharrte sie. „Zumindest für Chad, und ich arbeite für ihn. Abgesehen davon, hat er meine Schwester gebeten, sie zu heiraten.“

Sofort hörte Alexej auf zu lachen, und Paige wandte sich seufzend wieder ihren Unterlagen zu.

„Das tut mir leid, Paige.“

Sie zuckte die Schultern. „Emma ist schön und beeindruckend, und sie verdient einen Mann wie Chad.“

„Und wen verdienst du?“

„Ich wünschte, du würdest das nicht tun.“

„Was denn? Ich habe dich doch nur etwas gefragt, was dich jeder Freund fragen würde.“

„Wir sind aber nicht befreundet.“

„Noch nicht, aber das kann ja noch werden.“

„Dass wir Freunde werden, Prinz Woronow, ist unmöglich, und das weißt du auch.“

„Ich heiße Alexej, und ich kann dir sagen, was du verdienst.“

Gegen ihren Willen sah Paige ihn erwartungsvoll an.

„Du verdienst es, zu lachen und einmal etwas für dich zu tun. Du verdienst es, glücklich zu sein und aufzuhören, dir ständig über alles Sorgen zu machen. Du verdienst es, jeden Tag Blumen zu bekommen und abends bei Kerzenschein mit einem Mann zu essen, der dich begehrt. Du verdienst alles, was deine Schwester hat, und noch mehr.“

Als ihre Augen feucht schimmerten, wusste Alexej, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Wieder meldete sich sein schlechtes Gewissen, aber das konnte er sich nicht leisten, ebenso wenig wie echte Empfindungen für Paige.

„Warum glaubst du, dass mir das alles fehlt, Alexej? Wir kennen uns doch erst seit ein paar Stunden.“

„Weil man in dir lesen kann wie in einem Buch.“

„Ich … Ich …“ Paige wirkte verletzt, aber was auch immer sie sagen wollte, blieb ein Geheimnis. Rasch wandte sie sich von ihm ab und stopfte die Unterlagen völlig wahllos in ihre Aktentasche. „Ich muss gehen. Chad wartet auf mich.“

Und bevor Alexej sie aufhalten konnte, hatte sie das Konferenzzimmer verlassen. Zum zweiten Mal an diesem Tag war Paige Barnes vor ihm davongelaufen.

Paige warf ihren Stift hin. Wie sollte sie sich auf die Arbeit konzentrieren, wenn sie die ganz Zeit daran denken musste, was Alexej gesagt hatte? Dass sie es verdiente, geliebt zu werden und glücklich zu sein. Das beschrieb ziemlich genau ihre geheimsten Wünsche. Als er dann noch hinzugefügt hatte, man könne in ihr lesen wie in einem Buch, hatte sie das Gefühl gehabt, augenblicklich fliehen zu müssen, bevor sie ihm noch ihr Herz ausschüttete. Aber warum verwandelte sie sich in Gegenwart dieses Mannes immer in ein Häufchen Elend? Warum fühlte sie sich bei ihm so verletzlich?

Es war schon fast vier Uhr nachmittags. Die Lichtverhältnisse draußen täuschten. Es war inzwischen einfach schon länger hell, obwohl man bei dem Schnee überall nicht an Frühling dachte. Wie auch immer, ihr Magen knurrte, da sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie könnte sich etwas aufs Zimmer bringen lassen, beschloss aber, lieber unter Menschen zu gehen. Vielleich würde sie dann nicht länger über einen gewissen Prinzen nachdenken.

Emma brauchte sie gar nicht erst zu fragen, ob sie mitkam. Sie war bei Chad, und die beiden genossen die gemeinsame freie Zeit. Jetzt, da Paige von ihrer Beziehung wusste, gab es keinen Grund mehr für Heimlichkeiten. Auf dem Weg zum Meeting hatte sich Chad bei ihr dafür entschuldigt und erklärt, dass er es ihr eigentlich hatte sagen wollen, aber nicht sicher gewesen war, wie sie darauf reagieren würde. Auch auf die Gefahr hin, ihren Job zu verlieren, hatte Paige erklärt, dass er etwas erleben könnte, wenn er ihrer Schwester wehtat. Er versicherte, Emma zu lieben und ihr niemals wehzutun.

Während des Meetings war Emma in Chads Suite gezogen.

Das Alleinsein machte Paige mehr zu schaffen, als sie gedacht hatte. Noch ein Grund, unter Leute zu gehen. Sie trug nach wie vor ihre Bluse und die Anzughose und nahm nur das Jackett mit. Eine Viertelstunde später saß sie im hoteleigenen Restaurant an einem Ecktisch, der nur schwer einzusehen war, und studierte die englischsprachige Speisekarte.

„Auf keinen Fall Borschtsch bestellen“, riet ihr eine volltönende Stimme. Erschrocken hob sie den Kopf. Alexej mit seinen eisgrauen Augen erwiderte ihren Blick, woraufhin Paiges Puls in die Höhe schnellte.

„Die russische Küche hat viel Besseres zu bieten als Kohlgerichte“, erklärte er und setzte sich zu ihr an den Tisch.

„Was machst du denn hier, Alexej? Bitte geh, bevor du mich in Schwierigkeiten bringst.“

„Keine Sorge, Paige. Keiner kann sehen, dass du mit mir sprichst.“

„Und wenn Chad Hunger bekommt?“

Alexej zuckte mit den Schultern, und Paige ärgerte sich, dass er ihre Bedenken einfach so abtat. Alexej war reich und brauchte sich keine Sorgen darüber zu machen, ob er seine Arbeit verlor. Bei ihr stand nicht nur ihr Job auf dem Spiel, sondern womöglich auch das Glück ihrer Schwester.

„Du hättest mit mir zum Essen gehen sollen. Dann wären wir nicht hier.“

„Geh! Bitte!“

„Nur, wenn du mich begleitest.“ Er lehnte sich zurück und lächelte verführerisch, woraufhin Paiges Pulsschlag noch einmal Höchstleistungen vollbrachte.

„Ich gehe nicht mit dir zum Essen.“

„Dann bleibe ich hier bei dir.“ Er streckte die Hand nach der Speisekarte aus, doch Paige hielt sie fest.

„Das ist ein nettes Hotel“, sagte er, „aber es bewirtet vor allem Touristen. Möchtest du nicht einmal richtig russisch essen gehen? Und mehr von meinem Land sehen als nur dein Hotelzimmer und den Flughafen?“

„Ich war schon auf dem Roten Platz.“

„Daran habe ich wunderbare Erinnerungen“, meinte er mit einem Lächeln, das Eisberge zum Schmelzen gebracht hätte.

Paige versuchte, ihre Verlegenheit zu überspielen, spürte aber, wie sie errötete. „Du bist doch nicht extra hergekommen, um mit mir essen zu gehen.“

„Nein, ich habe mich hier mit jemandem getroffen. Und als ich dich ins Restaurant gehen sah, wollte ich die Gelegenheit nutzen, um dich wiederzusehen.“

„Hör auf, solche Dinge zu sagen.“

„Warum? Du bist eine schöne Frau, und ich wollte dich wirklich wiedersehen.“

Dass sie schön war, hatte ihr noch niemand gesagt.

„Wie ich sehe, glaubst du mir nicht, Paige.“

„Ich traue dir nicht, Alexej.“ Sie hielt die Speisekarte noch fester. „Du führst etwas im Schilde.“

„Wie gut du mich schon kennst …“ Lächelnd beugte er sich zu ihr und nahm eine ihrer Hände in seine. „Ich will dich dazu bringen, mich zu begleiten. Chad wagt sich bestimmt nicht über die trendigen Lokale hinaus.“

Paige entzog ihm die Hand. „Soll ich jetzt beleidigt sein, weil du nicht mit mir in einen trendigen Laden gehen willst, oder soll ich mich geehrt fühlen, weil du mich nicht für eine typische Touristin hältst?“ Oje, dachte sie, ich flirte mit ihm. Und ich tue es gern. Wenn sie mit ihm sprach, fühlte sie sich nicht mehr einsam, und es kribbelte dabei so schön in ihrem Bauch. Außerdem gab er ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Wäre es wirklich ein Fehler, mit ihm essen zu gehen? Chad und Emma würden sich das Essen wahrscheinlich aufs Zimmer bringen lassen und den Rest des Abends miteinander schlafen. Warum sollte sie sich da nicht Moskau ansehen und auch ein bisschen Spaß haben?

„Ich kann nicht mit dir essen gehen“, sagte sie trotzdem.

„Da höre ich Chad Russell durch. Ich will wissen, was Paige Barnes möchte“, entgegnete Alexej.

Sie schloss die Augen. Ich will die Stadt sehen und mit einem gut aussehenden Mann, der mir Komplimente macht, essen gehen. „Aber ich sollte es nicht tun“, dachte sie laut, „es würde alles verkomplizieren.“

„Wir gehen doch nur gemeinsam essen, reden ein bisschen und lachen!“

Warum eigentlich nicht? überlegte Paige. Immerhin hatte sie schon eine Nacht mit ihm verbracht. Schlimmer konnte es nicht kommen. Abgesehen davon hatte sie sich vorgenommen, zur Abwechslung mal etwas für sich zu tun.

„Ja“, hauchte sie darum schnell, bevor sie ihre Meinung wieder änderte. „Ich gehe mit dir essen.“

„Wunderbar!“ Alexej nahm ihre Hand und zog Paige mit sich Richtung Ausgang.

„Warte, ich muss noch meinen Mantel holen.“

„Ich kaufe dir einen.“

„Das kann ich nicht annehmen.“

„Natürlich kannst du.“ Er schob sie in einen der Läden in der Lobby, wählte einen weißen Mantel aus feinstem Kaschmir und hüllte sie darin ein, während die Verkäuferinnen anerkennend „Ah!“ und „Oh!“ riefen.

„Alexej …“

„Nichts sagen, Paige.“ Er legte noch eine Fellmütze, einen schneeweißen Schal und passende Handschuhe dazu. Dann reichte er einer Verkäuferin seine Kreditkarte, bevor Paige darauf bestehen konnte, selbst zu zahlen. Einen Moment später bugsierte er sie regelrecht durch die Türen der Lobby und in seine schwarze Limousine.

„Ich möchte dir das alles zurückzahlen“, sagte Paige, als der Wagen anfuhr.

„Ich nehme kein Geld von dir. Betrachte die Sachen als Geschenk.“

„Ich bestehe darauf.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn streng an. Sie durfte nicht in seiner Schuld stehen. Abendessen war eine Sache, aber so ein Kaschmirmantel kostete doch mindestens fünfhundert Dollar!

„Wie du willst“, erwiderte er leichthin. „Dann stellen wir einen Ratenplan auf: Ich würde sagen, du zahlst mir die kommenden sechzig Monaten jeweils hundert Dollar …“

Autor

Heidi Rice
<p>Heidi Rice wurde in London geboren, wo sie auch heute lebt – mit ihren beiden Söhnen, die sich gern mal streiten, und ihrem glücklicherweise sehr geduldigen Ehemann, der sie unterstützt, wo er kann. Heidi liebt zwar England, verbringt aber auch alle zwei Jahre ein paar Wochen in den Staaten: Sie...
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