Julia Exklusiv Band 313

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INSEL MEINER SEHNSUCHT von ASH, ROSALIE
Drei Wochen Urlaub auf der malerischen griechischen Insel Skiathos. Annie genießt die Zeit ungetrübten Liebesglücks mit dem erfolgreichen Journalisten Josh Issac. Bis er ihr plötzlich vorwirft, sie würde ihn betrügen, und sie Hals über Kopf verlässt …

EINMAL - UND NIE WIEDER? von ANDERSON, NATALIE
Reisen, frei sein und einmal heißen Sex mit einem Fremden haben: Siennas erster Stopp ist Sydney, wo ihr ein toller Mann über den Weg läuft. Viel zu wenig weiß sie von Rhys, als sie die Nacht mit ihm verbringt. Erst am nächsten Tag erfährt sie, wer ihr Traumlover ist …

LEIDENSCHAFTLICHE RACHE IN MONTE CARLO von POWER, ELIZABETH
"Sind wir uns schon mal begegnet?" Lorrayne stockt der Atem bei Kingsley Claybornes Frage. Hat ihr attraktiver Jugendschwarm sie erkannt? Doch obwohl sein intensiver Blick Interesse verrät, scheint er zum Glück nicht zu ahnen, wer sie ist. Denn sie hat einen geheimen Racheplan …


  • Erscheinungstag 19.07.2019
  • Bandnummer 0313
  • ISBN / Artikelnummer 9783733713256
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rosalie Ash, Natalie Anderson, Elizabeth Power

JULIA EXKLUSIV BAND 313

1. KAPITEL

Anoushka Trevellick kam zu spät zur Hochzeit.

Ihre Gedanken kreisten nur noch darum, bereits die kirchliche Trauung und die Hälfte des Empfangs verpasst zu haben. So bemerkte sie kaum wie schön es war, im Sommer nach Cornwall zurückzukehren. Auch der vertraute Anblick des blaugrauen Atlantiks, der an diesem leicht diesigen Junitag jenseits der rosa Strandnelken und Tamarisken in der Sonne glitzerte, drang nicht zu ihr durch.

Während sie über die abschüssige Rasenfläche auf das Festzelt zulief, lösten sich lange blonde Strähnen aus ihrer Haarspange und wehten über ihre Schultern. Das kurze rosafarbene Kleid mit dem dazu passenden Blazer bedeckten dabei kaum ihre schlanken, gebräunten Oberschenkel. Vor dem Zelt angelangt versuchte Annie, wieder zu Atem zu kommen.

Das hier war zwar eine Familienhochzeit, doch immerhin war sie auch die Besitzerin von Party Cooks & Co., der für das Catering zuständigen Firma. Und schon deshalb musste sie gelassen und professionell auftreten.

Annie blieb im Eingang des Festzeltes stehen und ließ den Blick über die fröhlichen Gäste gleiten. Ihre Angestellten bahnten sich mit Getränken und großen Tellern voller Essen geschickt den Weg durch die Anwesenden. In einiger Entfernung erblickte sie ihre kleine Schwester Liv, die in der Zeit bis zum Beginn ihres Studiums bei Party Cooks arbeitete. Sie unterhielt sich lachend mit Miles und Alison, dem frisch verheirateten Paar. Sämtliche Gäste wirkten zufrieden und waren mit Champagner sowie mit hausgemachten Kanapees versorgt. Alles in allem schien also keine Katastrophe zu drohen, sodass Annies Panik ein wenig nachließ.

Ob ich wohl so entnervt aussehe, wie ich mich fühle?, fragte sie sich, zog einen kleinen Spiegel aus ihrer Tasche und betrachtete ihr gerötetes Gesicht. Sie hatte auf der Autobahn Probleme mit dem Wagen gehabt und auf den Pannendienst warten müssen, der das Fahrzeug notdürftig repariert hatte. Dann war auch noch der Akku ihres Handys leer – und schließlich war sie viel zu spät zu Alisons und Miles’ Hochzeit gekommen. Angesichts dieser Umstände fand Annie es überraschend, dass sie immerhin halbwegs präsentabel aussah.

Vergeblich versuchte sie die Ponysträhnen zu glätten, die ihr links und rechts ihrer sanften, honigbraunen Augen auf die hohen Wangenknochen fielen. Als sie den Spiegel wieder in die Tasche geschoben hatte, wurde ihr plötzlich schwindelig. Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken, sodass sie sich schnell an der nächsten Stuhllehne festhielt.

„Alles in Ordnung, Annie?“

Beim Klang der tiefen, gelassenen Männerstimme mit dem unverkennbaren amerikanischen Akzent begann ihr Herz, heftig zu schlagen.

Es war Josh Isaac.

Annie hatte ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, und ihre letzte Begegnung war nicht gerade erfreulich verlaufen. Dennoch hatte sie seine Stimme erkannt, ohne ihn überhaupt anzusehen.

Schnell richtete Annie ihren einen Meter dreiundsechzig großen Körper auf – fest entschlossen, genauso gelassen wie er zu wirken. Doch als sie es wagte, ihm in die tiefblauen Augen zu blicken, mit denen er sie unter seinem etwas zu langen schwarzen Haar hervor durchdringend ansah, wurde sie nervös.

„Ja, mir geht es gut, danke. Und dir, Josh?“ Schnell ließ Annie den Blick über den einen Meter achtzig großen, schlanken und durchtrainierten Mann gleiten. Ich hätte damit rechnen müssen, ihm hier zu begegnen, dachte sie. Immerhin waren er und ihr Cousin Miles eng befreundet.

Das letzte Mal hatte sie Josh auf einer griechischen Insel gesehen. Damals hatte er ein T-Shirt und ausgefranste Jeansshorts an. Heute dagegen trug er einen eleganten grauen Cutaway. Bei diesem Anblick zog sich Annie die Kehle zusammen, denn er sah einfach atemberaubend aus.

„Ziemlich gut, danke.“ Joshs besorgter Gesichtsausdruck erstaunte sie. „Du wirkst, als würdest du jeden Moment in Ohnmacht fallen. Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Ja.“ Annie lächelte strahlend. „Die Fahrt von London hierher war nur ziemlich stressig, und ich hatte kein Mittagessen …“

„Das ist ja geradezu absurd, wo du doch jetzt Köchin bist“, sagte Josh ein wenig spöttisch. „Setz dich, ich hole dir etwas zu essen …“

„Nicht nötig.“ Sein unerwartet fürsorgliches Verhalten verwirrte Annie. „Aber gut, dass du hier am Eingang stehst und bestens darauf vorbereitet bist, den barmherzigen Samariter zu spielen.“

„Als Trauzeuge gehört es zu meinen Aufgaben, die verspäteten Gäste zu begrüßen.“

Natürlich, dachte Annie. Wen sonst hätte Miles denn zu seinem Trauzeugen erklären sollen? Josh und Miles waren beide Journalisten, und der ältere, erfahrenere Josh war für ihren Cousin so etwas wie ein Vorbild: ein furchtloser, heldenhafter Korrespondent aus Krisenregionen, der sich im Auftrag einer großen Nachrichtenagentur in Kriegsgebiete wagte und erschütternde Informationen lieferte, bei denen den Menschen der Atem stockte.

Annie hatte Josh zwei Jahre zuvor während eines Familienurlaubs auf den griechischen Inseln kennengelernt und sofort insgeheim für ihn geschwärmt. Er hatte damals nebenan, in der Villa seiner Schwester, gewohnt. Ein Blick auf den schlanken, sonnengebräunten Mann mit breiten Schultern und schmalen Hüften, der so geschickt auf dem kristallklaren Wasser der Ägäis surfte – sofort war Annie von dem intensiven, verwirrenden Gefühl erfasst worden, Josh schon lange zu kennen, obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte.

Es folgte eine unvergessliche Zeit, in der sie ihn immer besser kennenlernte: Sie mieteten ein Auto und erkundeten die kleine Insel, tranken Ouzo am Meeresufer, aßen Souvlaki und Moussaka unter dem dunklen Sternenhimmel … Natürlich waren sie dabei nicht immer allein, doch wie zufällig saß sie immer neben Josh und redete sich gern ein, dass er fast ausschließlich mit ihr sprach. Sie hatten gelacht – und geredet und geredet… Und Annie hatte sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen gefühlt.

Doch als sie drei Wochen später nach England zurückgekehrt war, hatte Annie auf schmerzliche Art erfahren müssen, dass Miles’ Idol auf tönernen Füßen stand.

Mit der Erinnerung wurden nun auch Schmerz und Empörung wieder in ihr wach. Eine kurze, wundervolle Zeit lang hatte sie sich eingebildet, dass Josh ihre Gefühle erwiderte. Doch dann hatte er sie beschuldigt, den Verlobten seiner Schwester verführen zu wollen – wie ein männermordender Vamp.

Ob er mich immer noch so sieht?, fragte Annie sich. Wenn ja, dann kann ich mich ja ruhig entsprechend verhalten.

„Wenn es zu deinen Aufgaben gehört, die Spätankömmlinge zu begrüßen, dann solltest du das auch bei mir angemessen tun, stimmt’s, Darling?“, fragte sie ihn neckend und bot ihm ihre samtige Wange zum Kuss an.

Einige Sekunden lang stand Josh reglos da und blickte ihr in die Augen. Sie sah etwas darin aufblitzen und wusste genau, dass er an die Zeit in Griechenland dachte. Langsam ließ er den Blick zu ihrem Ausschnitt gleiten, wo sich der sanft geschwungene Ansatz ihrer Brüste abzeichnete. Als er sich dann endlich langsam hinunterneigte, um ihr einen flüchtigen Kuss zu geben, bebte sie innerlich.

„Hältst du es wirklich für klug, dich so aufzuspielen?“ Josh hob den Kopf und betrachtete sie mit forschend. „Ich habe doch schon vor zwei Jahren gesehen, was für einen Schaden du damit angerichtet hast.“

Annie hatte das Gefühl, plötzlich keine Luft mehr zu bekommen. Doch es gelang ihr, weiterhin zu lächeln. „Wenn du noch nicht einmal zu den üblichen Höflichkeiten in der Lage bist, solltest du dich darauf beschränken, in Kriegsgebieten Gewehrkugeln auszuweichen. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich möchte mit jemandem sprechen …“ Sie hatte ihre Schwester wieder in der Menge entdeckt.

Doch Josh hielt sie fest. Mit seinen langen, sonnengebräunten Fingern umfasste er ihren schlanken Oberarm, ohne ihr jedoch wehzutun.

Annie schluckte nervös, denn trotz allem hatte Josh noch immer eine beängstigend starke Wirkung auf sie. Eine leichte Berührung reichte aus, um sie erzittern zu lassen wie Sommerblumen im Wind.

„Du kannst es einfach nicht lassen, stimmt’s?“, fragte er spöttisch. „Du musst mit allem flirten, was Hosen trägt. Aber wie ich höre, hast du inzwischen deine Berufung gefunden: Abendessen in den gehobenen Londoner Kreisen. Jede Menge Männer, die dir ihre Aufmerksamkeit schenken können. Und wen interessiert es schon, ob sie bereits vergeben sind?“

Annie war wie vor den Kopf gestoßen. Dann wurde sie von Empörung erfüllt. Sie spürte, wie eine heiße Röte vom Brustansatz bis zum Haar in ihr aufstieg.

„Was willst du damit sagen?“, rief sie aufgebracht und scherte sich nicht darum, dass einige Gäste neugierig zu ihr hinüber blickten. „Wenn du damit andeuten willst …“

„Annie, beruhig dich. Du machst ja eine richtige Szene.“

„Nein, ich werde mich nicht beruhigen! Weißt du was? Du tust mir leid!“, erwiderte sie heftig. „Du musst wirklich ein freudloser Zyniker sein. Was hast du für verzerrte Vorstellung von der Moral anderer Menschen! Und wer gibt dir eigentlich das Recht, über mich zu urteilen?“

„He, was ist denn hier los?“

Plötzlich stand Miles vor ihnen, mit einem amüsierten Ausdruck in seinen braunen Augen. Seine fröhliche Frage löste die die angespannte Stimmung ein wenig auf.

„Ich kenne mich zwar mit den Gepflogenheiten bei Hochzeiten nicht gut aus, bin mir aber ziemlich sicher, dass die Chefin des Catering-Service sich nicht mit dem Trauzeugen streiten sollte. Das ist auch nicht gut fürs Geschäft!“

Annies Empörung machte einem schlechten Gewissen Platz. Vom Geschäftlichen einmal ganz abgesehen, wollte sie um keinen Preis der Welt auf Miles’ und Alisons Hochzeit für schlechte Stimmung sorgen. „Entschuldige, Miles …“

„Alles in Ordnung, Josh? Ich weiß noch aus unserer Kindheit, dass Annies Verbalattacken genauso schmerzhaft sein können wie Faustschläge …“, neckte Miles sie beide gutmütig.

„Wir waren beide nicht sehr freundlich zueinander“, erwiderte Josh. „Aber wie du sagst: Annie kann ziemlich heftig werden, wenn sie aufgebracht ist.“

Die junge Frau ballte die Hände zu Fäusten. Doch dann blickte Josh sie mit seinem durchdringenden, fast brennenden Blick an und fügte betont sanft hinzu: „Aber vielleicht habe ich dich auch unterschätzt. Wenn du dich so heftig verteidigst, bist du ja vielleicht doch nicht ganz gewissenlos.“

Er nickte Miles kurz zu, wandte sich um und verschwand in dem Moment zwischen den anderen Gästen, als ihre übrigen Verwandten auftauchten, um Annie abwechselnd zu umarmen und zu küssen. Dann beglückwünschten alle sie zu dem tollen Essen und der großartigen Hochzeitstorte. Über ihrer Wiedersehensfreude vergaß Annie die Wut auf Josh Isaac ein wenig.

„Was war denn da vorhin mit Josh los?“, fragte ihre Schwester Liv später, nachdem Annie sich vergewissert hatte, dass mit dem Catering alles nach Plan lief. Nun saß sie mit Liv zusammen in einer ruhigeren Ecke, um sich bei Räucherlachspasteten und Champagner in Ruhe zu unterhalten.

„Ach, eigentlich nichts …“

„Hör schon auf, Annie!“ Liv lächelte und blickte Annie skeptisch an. „Eine lautstarke Auseinandersetzung mit Miles’ Trauzeugen kann man ja wohl kaum als ‚eigentlich nichts‘ bezeichnen!“

„Wir hatten lediglich eine … kleine Meinungsverschiedenheit“, sagte Annie. Als sie Livs aufmerksamen, geduldigen Blick bemerkte, seufzte sie. „Also gut: Ich habe einfach die Beherrschung verloren und schäme mich dafür. Denn eigentlich hat er etwas so Lächerliches gesagt, dass ich darüber hätte lachen müssen. Bleibt nur zu hoffen, dass die Sache sich nicht zu sehr herumspricht und ich von den Anwesenden keine Aufträge bekomme …“

„Vielleicht hat es ja auch die entgegengesetzte Wirkung“, sagte Liv fröhlich. „Ich persönlich fand das Ganze jedenfalls sehr unterhaltsam. Was hat er denn gesagt?“

„Er hat mir unterstellt, meine Berufung gefunden zu haben, weil ich nun nach Herzenslust mit meinen männlichen Kunden flirten kann und mir keine Gedanken darüber mache, ob sie schon vergeben sind!“

Was? Warum, um alles in der Welt, sagt er denn so etwas?“

„Josh Isaac und ich sind uns nicht sonderlich grün“, begann Annie langsam und zerkrümelte tief in Gedanken eine Blätterteigpastete zwischen den Fingern. „In seinen Augen bin ich ein Vamp, der anderen Frauen vorsätzlich die Männer ausspannt.“

Liv blickte sie erst entrüstet, dann verwirrt an. „Und wie kommt er auf so etwas?“

„Weißt du noch, als wir vor zwei Jahren in der Villa Kalimaki Urlaub gemacht haben?“ Annie schob ihren Teller von sich, denn der Appetit war ihr vergangen.

„Was genau meinst du?“, fragte Liv ein wenig verständnislos.

„Erinnerst du dich noch an den amerikanischen Verlobten von Joshs jüngerer Schwester? Immer, wenn Camilla gerade einmal nicht hinsah, hat er sich auf mich gestürzt. Als ich wieder nach Hause gefahren bin, ließ er Camilla fallen und reiste mir nach.“

„Aber dafür konntest du doch nichts!“, rief Liv. „Wenn du mich fragst – für die arme Camilla war es das Beste, dass die Verlobung geplatzt ist!“

„Josh gibt aber mir die Schuld. Er ist der Ansicht, ich hätte ihr den elenden Kerl vorsätzlich ausgespannt.“

„Dann hattest du wirklich allen Grund, ihn anzuschreien, Annie. Du kannst doch nichts dafür, wie gut du im Bikini aussiehst!“

Annie blickte in Livs vor Übermut blitzende Augen und musste lachen. „Du bist wirklich klug, obwohl du fünf Jahre jünger bist als ich.“

„Dann war das damals also für uns beide kein gutes Jahr“, stellte Liv nachdenklich fest. „Ich hatte mich ja im Herbst unglücklich in diesen fiesen Franzosen verliebt, weißt du noch?“ Sie seufzte resigniert. „Mann, war ich naiv! Ich habe mich wochenlang in den Schlaf geweint. Aber von der Sache mit Josh hast du mir nie etwas gesagt.“

„Du hattest ja selbst schon genug Probleme.“ Annie dachte an die zwei Jahre zurückliegenden Ereignisse und schluckte. Die intelligente, selbstbewusste Liv so verzweifelt zu erleben war fast so schmerzlich gewesen wie ihr eigenes Erlebnis. Annie war zu dem traurigen Schluss gekommen, dass es ein sehr riskantes Unterfangen war, sich zu verlieben.

„Männer!“ Sie zog eine Augenbraue hoch und blickte ihre Schwester an. „Eine sehr zweifelhafte Spezies, wenn du mich fragst.“

„Die frisch gebackene Braut ist da sicher anderer Ansicht.“ Liv klang ein wenig wehmütig, als sie mit dem Kinn auf Alison mit ihren blonden Locken und dem strahlenden Lächeln wies. „Sind Hochzeiten nicht toll?“

„Die von anderen Leuten schon.“ Annie lächelte schelmisch. „Besonders, wenn sie Party Cooks fürs Catering engagieren!“

„Du denkst wohl nur ans Geschäft!“ Liv kicherte und blickte ihre ältere Schwester gespielt vorwurfsvoll an. „Träumst du denn nie davon, einmal zu heiraten?“

Annie verzog das Gesicht. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, einem Mann so weit zu vertrauen, dass ich ihm meine tiefsten Gefühle offenbare …“

Sie unterbrach sich, als ihre jüngste Schwester Megan sich zu ihnen gesellte.

„Hallo Meggie. Du siehst aber hübsch aus!“

„Nein, tu ich nicht. Ich sehe aus wie irgend so ein doofes Milchmädchen!“ Megan ließ sich am Rand des Festzeltes ins Gras plumpsen. „Das hat Peter Voss aus dem Dorf gerade gesagt!“

„Du drückst dich aber nicht gerade damenhaft aus, Meggie“, schalt Annie sie liebevoll und betrachtete mitfühlend das Brautjungfernkleid: Mehrere Unterröcke, blassblauer Taft und eine weiße Latzschürze aus Seide. Miles’ Braut hatte auf das altmodische Outfit im Stil einer kleinen Schäferin bestanden – und bei der folgenden Auseinandersetzung mit der äußerst selbstbewussten, zwölfjährigen Megan offenbar gewonnen.

Trotzig streifte Megan die Schürze ab und ließ sie ins Gras fallen. Dann öffnete sie die oberen Knöpfe ihres Kleides und fächelte sich demonstrativ Luft zu. „Alison ist ja wirklich nett, aber die Arme hat …“

„Psst, Megan“, warnte Liv.

Vorsichtig blickte Annie sich um. An einem Tisch in der Nähe saß die strahlende Alison in ihrem duftig-weißen Kleid mit Reifrock und vielen Rüschen. Sie unterhielt sich mit Verwandten, und ihr hübsches Gesicht glühte vor Glück.

„Nicht so laut, Meggie. Und jetzt geh bitte zu Miles, um ihm zu gratulieren“, sagte Annie und strich Megan eine feuchte honigblonde Strähne aus dem erhitzten Gesicht. „Alison und Miles sind total verliebt und …“

„Ach, hör schon auf. Du glaubst doch selbst nicht an diesen schnulzigen Quatsch!“ Megan sprang auf und marschierte so energisch los, dass sie mit Josh zusammenprallte, der sich gerade mit einem Tablett voller Drinks den Weg durch die Menge bahnte. Die Gläser fielen zu Boden, und eine Portion gut gekühlter Champagner entleerte sich in den Ausschnitt der als äußerst humorlos bekannten Tante Dorothy. Liv stöhnte leise. „Gleich wird sie explodieren …“, flüsterte sie Annie ins Ohr.

Mit einem Schrei sprang die Tante auf und rief wütend: „Megan, was um alles in der Welt tust du eigentlich? Du hast mein Kostüm ruiniert, du dummes Kind!“

„Es tut mir leid …“ Megan brach in Tränen aus. Annie wollte zu ihr eilen, doch Liv hielt sie zurück.

„Warte. Der Trauzeuge eilt ihr schon zur Hilfe.“

Josh legte tröstend den Arm um Megan und reichte ihr ein blendend weißes Taschentuch. Leise sagte er etwas zu Tante Dorothy, die sich daraufhin zu beruhigen schien. Und als er sich zu Megan hinunterbeugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, lächelte sie zaghaft. Bei seinen nächsten Worten, die Annie nicht hören konnte, lachten alle Gäste in der Nähe erleichtert und wandten sich wieder ihren Tischen zu.

„Katastrophe erfolgreich abgewehrt“, stellte Liv leise fest. „Dein Josh kann ziemlich nett sein.“

Mein Josh?“ Annie warf ihrer Schwester einen aufgebrachten Blick zu. „Sehr witzig.“

„Damals in der Villa Kalimaki habt ihr beiden doch kaum einmal den Blick voneinander gewandt. Ich weiß noch genau, wie Josh dich immer angesehen hat: irgendwie sehnsüchtig, beschützend und … und so, als würdest du zu ihm gehören!“

„Liv, bitte!“ Annie fühlte, wie sie errötete. „Deine Fantasie scheint mit dir durchzugehen …“

Die widersprüchlichen Eindrücke, die sie von Josh hatte, verwirrten sie. Er konnte, wie eben bei Meggie, wirklich nett und herzlich sein. Diesen Charakterzug hatte sie auch während des Urlaubs in Griechenland bemerkt, bevor der Verlobte seiner Schwester alles verdorben und Josh sie, Annie, als männermordenden Vamp verurteilt hatte.

Anfangs hatte Josh sie genauso neckend behandelt wie seine beiden Schwestern. Doch dann hatte er sich zunehmend so verhalten, als wäre sie ihm ebenbürtig, hatte ihr von seiner Arbeit erzählt und sie nach ihren Plänen für die Zeit nach ihrem Abschluss in Englisch gefragt …

Stimmte Livs Beobachtung dazu, wie Josh sie, Annie, in jenem Sommer angesehen hatte? Bei diesem Gedanken wurde ihr ganz heiß. Sie war damals so damit beschäftigt gewesen, ihre eigenen heftigen Gefühle unter Kontrolle zu halten, dass sie es wohl gar nicht bemerkt hätte. Doch die körperliche Anziehung zwischen ihnen war immer stärker geworden.

Vor Eintreffen des treulosen Verlobten gab Josh ihr und Camilla Unterricht im Surfen. Annie stellte sich nicht sehr geschickt an, doch Josh hatte bewundernswerte Geduld mit ihr. Einmal fiel sie vom Surfbrett und verletzte sich an einem scharfkantigen Stein den Fuß. Josh half ihr, zu der steilen Treppe zu humpeln, die zur Villa führte. Dort hatte er sie hochgehoben und die letzten wenigen hundert Meter getragen – ein atemberaubendes Erlebnis, das sie nie vergessen würde.

Annie erinnerte sich noch genau an die Szene: Joshs ausgewaschene blaue Schwimmshorts, sein sonnengebräunter, muskulöser Oberkörper, das dichte schwarze Haar windzerzaust … sie selbst im knappen gelben Bikini und mit blutendem Zeh.

Als Josh sie in der kühlen Eingangshalle der Villa absetzte, war die Luft zwischen ihnen erotisch aufgeladen. Einige Sekunden lang, die ihr wie eine kleine Ewigkeit erschienen, ließ Josh den Blick auf ihr ruhen. Annie war überzeugt, dass er sie jeden Moment küssen würde. Scheu und vor Aufregung zitternd, hielt sie den Atem an. Josh neigte den Kopf und blickte sie aus halb geschlossenen Augen an. Als er ihr über das feuchte Haar strich, erschauerte Annie am ganzen Körper. Doch dann ging plötzlich die Tür auf, und ihre Mutter und Liv kamen herein. Der magische Moment war zu Ende, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte.

Am nächsten Tag war Josh wegen eines unerwarteten Auftrags weggefahren. Und bei seiner Rückkehr war Camillas Verlobter bereits auf der Insel und hatte damit begonnen Annie, unablässig nachzustellen. Und damit hatte sich alles geändert …

Zum Glück ist das alles lange vorbei, redete Annie sich ein. Mit ein wenig Glück konnten sie und Josh sich bis zum Ende des Hochzeitsempfangs aus dem Weg gehen. Und sie würde darauf achten, dass das auch in Zukunft so blieb.

„Das Problem an Hochzeitsempfängen ist, dass niemand so genau weiß, wann sie zu Ende sind.“ Josh hatte sich zu Annie an die Bar gesellt.

Als sie ihn auf sich zukommen sah, hatte sich ihr Magen zusammengezogen. Das war es dann also mit der guten Idee, einander aus dem Weg zu gehen. Im Laufe des Abends hatte Josh Schlips und Jackett abgelegt, und von mehreren Ausflügen auf die Tanzfläche im Festzelt – mit einer ganzen Reihe weiblicher Gäste – war sein glänzend schwarzes Haar ein wenig zerzaust.

Offenbar wollte er ihr nun ein Friedensangebot machen. Annie brachte ein leichtes, gelassenes Lächeln zustande.

„Ja, das ist wahr“, stimmte sie ihm zu, schon ein wenig heiser, weil sie die ganze Zeit gegen laute Discomusik anreden musste. „Sollte ich jemals heiraten, werde ich die Reden abwarten, mich danach ganz diskret davonstehlen und mit dem nächsten Flieger in die Sonne fliegen.“

„Nach Griechenland?“ Joshs Miene war undurchdringlich.

„Wahrscheinlich.“ Sie zuckte die Schultern. „Mit Alexia als Mutter würde wohl jeder zum Griechenlandfan werden.“

„Deine Mutter ist Spezialistin für alte Sprachen, stimmt’s?“

Endlich war es Annie gelungen, die Aufmerksamkeit des Barkeepers auf sich zu ziehen. Sie bat um einen Orangensaft mit Eis. Josh nutzte die Gelegenheit, um ein Bier zu bestellen.

„Ja. Sie unterrichtet jetzt Latein und Griechisch in Teilzeit. Vor ihrer Heirat ist sie durch ganz Griechenland gereist.“ Wir betreiben höflichen Smalltalk, um unsere Befangenheit zu überspielen, stellte Annie leicht amüsiert fest.

Die Musik war inzwischen so laut, dass sie das Gefühl hatte, halb taub zu sein. Bunte Lichter zuckten über die tanzenden Gäste.

Als Joshs Blick ihren traf, ließ sein jungenhaftes Lächeln ihr Herz schneller schlagen. Erschrocken versuchte Annie, ihre heftige Reaktion zu unterdrücken. Auf keinen Fall durfte sie sich von der fatalen Mischung aus Spott und Charme aus der Reserve locken lassen.

„Komm …“ Er umfasste leicht ihren Arm und führte sie aus dem Festzelt in den kühlen englischen Sommerabend.

Annie war so überrascht, dass sie sich nicht widersetzte. Als sie sich so weit vom Zelt entfernt hatten, dass die laute Discomusik zu einem reinen Hintergrundgeräusch wurde und man stattdessen das Rauschen des Meers am Fuße des felsigen Abhangs hörte, herrschte eine Weile Schweigen.

„Hast du vielleicht zu viel getrunken?“, fragte Annie dann und löste sich aus seinem Griff.

„Nein, nur paar Gläser Champagner und ebenso viel Wasser. Das hier ist mein erstes Bier.“ Er schenkte ihr ein gefährliches Lächeln. „Warum fragst du – lalle ich etwa?“

„Nein, ich verstehe nur nicht, warum du dich plötzlich so benimmst, als wären wir alte Freunde. Wenn ich mich recht erinnere, hast du noch vor wenigen Stunden meine Moral infrage gestellt.“

„Und wenn ich mich recht erinnere, hast du auch kein Blatt vor den Mund genommen.“ Als er sie ansah, wirkte seine Miene vorsichtig. „Also gut: Ich versuche, es wieder gutzumachen.“

„Du entschuldigst dich dafür, mich beleidigt zu haben?“

„Genau.“ Josh klang leicht ironisch.

„Na gut, dann entschuldige ich mich ebenfalls …“ Auch Annie sprach mit leicht spöttischer Stimme. „… aber vor allem, weil ich mich schäme, die Beherrschung verloren zu haben. Woher kommt dein plötzlicher Sinneswandel?“

„Mir hat eine deiner Verwandten, die dir offenbar sehr zugetan ist, das halbe Ohr abgekaut“, erwiderte Josh trocken.

„Liv?“ Annie musste lachen.

„Offenbar ist sie der Meinung, dass ich dich völlig falsch eingeschätzt habe.“

„Tatsächlich? Und was glaubst du?“

Als Josh mit den Schultern zuckte, betrachtete sie unwillkürlich seine Muskeln, deren Bewegungen sich unter dem feinen Stoff seines weißen Hemdes abzeichneten.

„Schwer zu sagen, solange ich dich nicht besser kenne“, erwiderte er ausdruckslos und ließ den Blick langsam über ihre schlanke Figur in dem rosa Leinenkleid gleiten. Als er einen Moment lang ihr Dekolleté betrachtete, fiel Annie das Atmen schwer.

„Den Aufwand kannst du dir sparen“, sagte sie kurz angebunden, wandte sich um und wollte gehen.

„Warte, Annie.“ Josh stellte sich ihr in den Weg. Wegen des schwachen Lichts lagen seine Augen im Schatten, doch ihr strahlendes Blau war deutlich erkennbar. Als er zu sprechen begann, war sein Spott verflogen. „Ich gebe zu, dass ich nach dem Sommer in Skiathos einen recht … unvorteilhaften Eindruck von dir hatte. Aber deine Schwester …“

„Meine Schwester ist sehr lieb und hält immer zu mir, aber ich stehe lieber für mich selbst ein.“ Annies Augen funkelten kämpferisch. Sie hob das Kinn und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, unter dem sie ihren Stolz und ihre Empörung gekonnt verbarg. „Ich suche keinesfalls so verzweifelt Freunde, dass ich auf dein Wohlwollen angewiesen bin.“

„Da bin ich mir sicher.“ Josh klang ein wenig heiser und auch amüsiert. „Vielleicht liegen die Dinge heute Abend ja auch genau umgekehrt.“

Annie lachte ungläubig auf. Es machte sie nervös, so nahe bei Josh zu sein. Also wich sie einen Schritt zurück, atmete langsam aus und versuchte, ruhig zu bleiben. „Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass du so ein Außenseiter bist!“

„Discos zumindest sind nicht mehr mein Fall“, erwiderte er trocken. „Ich werde dieses Jahr dreißig.“

Wie war es nur möglich, dass er einerseits wie ein kleiner Junge wirkte, der sich verlaufen hatte, andererseits aber eine sinnliche Ausstrahlung besaß, die Annie erschauern ließ?

„Nach allem, was ich gesehen habe, schienst du dich auf der Tanzfläche aber ganz wohlzufühlen.“

„Das ist das Vermächtnis einer vergeudeten Jugend“, gestand Josh. „Bis Anfang Zwanzig bin ich einer ganzen Reihe sinnloser Beschäftigungen nachgegangen. Sollen wir uns auf die Bank dort hinten setzen?“

Er schlenderte bereits gelassen zu dem Weg hinüber, der an der Steilküste entlangführte, wobei er leicht ihren Ellenbogen umfasst hielt. Da es nun wirklich sehr kindisch gewirkt hätte, wenn sie weggelaufen wäre, folgte Annie ihm widerspruchslos. Doch dort, wo Josh ihren Arm berührte, schien ihre Haut zu brennen.

Die Holzbank war so aufgestellt worden, dass man einen sehr schönen Blick auf die Küste hatte und durch dicht stehende Tamarisken vor dem Seewind geschützt war. Die zarten rosa Blüten verströmten ihren betörenden Duft.

Nachdem Josh sich auf das eine Ende der Bank gesetzt hatte, nahm Annie vorsichtig auf dem anderen Platz. Er warf ihr einen anerkennenden Blick zu.

„Die Tamarisken passen zu deinem Kleid“, stellte er wie beiläufig fest. Dann wandte er sich um und blickte ruhig aufs Meer.

„Was waren denn diese ‚sinnlosen Beschäftigungen‘, denen du in deiner vergeudeten Jugend nachgegangen bist?“, fragte Annie, als sich das Schweigen in die Länge zog.

Schulterzuckend erwiderte Josh: „Bei den meisten herrschte ohrenbetäubender Lärm. Und wenn man von lauter Musik zu betäubt ist, um sich zu unterhalten, kann man meist auch weder denken noch etwas empfinden.“ Langsam trank er einen Schluck Bier und überlegte eine Weile. „Das hat mich wohl angesprochen.“

Annie nippte an ihrem Saft. Sie war misstrauisch, zugleich aber auch neugierig. „Warum?“

„So sind Teenager eben.“ Ironisch verzog er das Gesicht. „Du musst das doch noch wissen, so lange liegen deine Teenager-Jahre ja noch nicht zurück. Wie alt bist du jetzt? Dreiundzwanzig?“

Sie nickte. „Dir scheinst ja als Teenager so ziemlicher alles egal gewesen zu sein. Aber vielleicht ist das ja immer noch so?“, fragte sie scherzend.

„Wie kommst du darauf?“

Als Annie den Ausdruck in seinen Augen bemerkte, wünschte sie, weniger schnippisch gewesen zu sein.

„Ich habe an deine Arbeit gedacht“, gestand sie. „Du musst zugeben, dass es ein bisschen … selbstzerstörerisch ist, sich so in die Schusslinie zu begeben …“

„Wir gehen keine unnötigen Risiken ein“, entgegnete Josh abweisend. „Außerdem hatten wir doch über dich gesprochen. Deinem verständnislosen Gesichtsausdruck entnehme ich, dass bei dir der Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein harmonisch verlief?“

„Ja, das stimmt. Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit, eine relativ ereignislose Jugend und eine Familie, die mich liebevoll unterstützt hat …“

„Geradezu idyllisch also.“

„Und selbst, wenn es nicht so gewesen wäre, würde ich es dir wohl kaum erzählen.“

„Warum denn nicht? Wenn ich mich recht erinnere, haben wir uns während des Sommers auf Skiathos ziemlich viel unterhalten.“

„Ich verstehe einfach nicht, warum wir jetzt dieses Gespräch führen. Wir haben uns seit zwei Jahren nicht gesehen und sind füreinander praktisch Fremde …“ Annie bemerkte, dass sie sich viel zu sehr aufregte. Denn obwohl sie versuchte, sich erwachsen und rational zu verhalten, hatte ihre alte Schwärmerei für Josh Isaac erneut von ihr Besitz ergriffen – gegen ihre Vernunft und ihren Willen.

„Wir können einander nicht völlig fremd sein, Annie, ich habe dir schließlich beigebracht, wie man surft. Wir sind alte Bekannte.“

Erneut wandte sie ihm den Kopf zu und bemerkte seinen amüsierten Blick. „Vielleicht. Aber seien wir doch ehrlich: Besonders sympathisch sind wir uns nicht“, erwiderte sie kühl, denn sie fühlte sich plötzlich sehr angespannt.

„Stimmt. Komisch, oder?“, neckte er sie unbarmherzig. „Und trotzdem möchte ich die ganze Zeit den Kuss einfordern, den du mir vorhin so großzügig angeboten hast …“ Langsam streckte er den Arm aus, umfasste Annies Schulter und zog sie näher zu sich.

„Damit meinte ich nur eine höfliche Begrüßung, Josh.“ Annie war erstaunt, dass sie überhaupt sprechen konnte, denn ihre Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet. So nahe bei Josh zu sein war die reinste Folter. Wenn er sie berührte, und sei es noch so unpersönlich, fühlte sich das an wie eine zärtliche Liebkosung. Es war emotionaler Selbstmord. Josh behauptete zwar, völlig nüchtern zu sein, aber wahrscheinlich hatte er doch zuviel Champagner getrunken. Sie, Annie, war für ihn sicher nur eine willkommene Herausforderung, um sich an diesem Abend zu amüsieren.

„Eine höfliche Begrüßung? Etwa so?“ Er ließ die Lippen über ihre erhitzte Wange gleiten, und dann über die andere.

„Ja, also … nein, so nicht …“ Annie erbebte, denn Joshs Nähe brachte sie völlig aus der Fassung. Mit aller Macht wich sie seinem Blick aus. Doch dann umfasste er ihr Gesicht und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.

Wer hat noch einmal gesagt, die Augen seien die Fenster zur Seele?, fragte Annie sich wie benommen, als sie den leidenschaftlichen Ausdruck seiner halb geschlossenen Augen bemerkte. Etwas tief in ihrem Innern regte sich und erbebte.

Josh Isaac machte sie wütend und brachte sie durcheinander. Doch auf einer tieferen Ebene, die nichts damit zu tun hatte, ob sie ihn mochte oder ihm vertraute, wünschte sie sich sehnlichst, er möge sie küssen. Im Bruchteil einer Sekunde schienen die letzten zwei Jahre wie weggewischt zu sein. Annie war wieder in der griechischen Villa und wartete atemlos vor Sehnsucht auf den Kuss, zu dem es nie gekommen war.

„Dann vielleicht so?“, fragte Josh leise. Seine Stimme klang tiefer und ein wenig heiser. Mit seinen Händen, die leicht zu beben schienen, schob er ihr die blonden Ponysträhnen aus dem Gesicht. Annie holte erschrocken Atem, als er ihr über die Wange strich und mit einem Finger den Umriss ihres Munds nachfuhr.

Dann zog er sie so eng an sich, dass seine Körperwärme ihre Brüste zu verbrennen schien, und öffnete seine Lippen, um sie heftig und leidenschaftlich zu küssen …

2. KAPITEL

Annie war völlig überwältigt von den heftigen Empfindungen, die sie erfüllten. Von Josh Isaac geküsst zu werden – das war ein alter Traum von ihr. Unzählige Male hatte sie nachts wach gelegen und in Gedanken jenen unschuldigen Moment in der Villa Kalimaki noch einmal durchgespielt …

Jetzt, zwei Jahre älter und klüger, hatte sie die Augen fest geschlossen, während sie sich ganz dem Genuss hingab. Ihre Fantasie wurde von der Wirklichkeit noch weit übertroffen.

Mit einem unwillkürlichen Seufzer öffnete sie den Mund ein wenig weiter, denn die Sehnsucht nach seinen Liebkosungen ließ sie ihre Vorsicht vergessen. Josh hob den Kopf, und angespannt schweigend blickten sie einander in die Augen.

„Annie …?“

Das, was nun schier unweigerlich geschehen würde, verschlug ihr die Sprache. „Ja?“, konnte sie schließlich mit bebender Stimme flüstern.

„Nichts.“ Joshs Stimme klang heiser, und seine Augen funkelten. Er neigte den Kopf wieder, küsste sie noch fordernder und zog sie an sich, sodass sie eng aneinander geschmiegt auf der Bank lagen.

Als Annie sanft seine Schultern berührte und ihm durch das dichte dunkle Haar im Nacken strich, bemerkte sie, wie stark sie zitterte. Und auf Josh hatten ihre schüchternen Liebkosungen anscheinend sogar eine noch heftigere Wirkung. Als er erschauerte, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Wie benommen nahm sie seine warme, glatte Haut, seine maskuline Stärke und seinen frischen, betörenden Duft nach Seife und Sandelholz-Aftershave wahr, der sie ganz einzuhüllen schien.

Josh zog sie noch enger an sich und strich ihr mit der Hand über die Wange und den Hals, bis er schließlich die zarte Haut an ihrem Dekolleté berührte, wo der Ausschnitt ihres Kleids den Blick auf ihren Brustansatz freigab.

Diese zärtliche Berührung erfüllte Annie mit heißem Begehren, das sie hilflos erbeben ließ. Als Joshs leicht zitternde Hand in ihren Ausschnitt glitt und über ihre Brustspitze strich, gab sie unwillkürlich einen leisen Laut von sich. Heftige Leidenschaft durchfuhr ihren ganzen Körper, von der Brust bis hinunter zu jener verborgenen, vor Sehnsucht pochenden Stelle …

„Josh“, flüsterte sie mit zitternder Stimme und umfasste seinen Kopf mit beiden Händen. Sie hatte das Gefühl, von seinen Küssen, den Berührungen seines Munds und seiner Zunge nicht genug bekommen zu können.

Mit einer Hand streichelte er sanft ihren flachen Bauch, während er ihr mit der anderen die Haarspange öffnete. Gleichzeitig wurden seine Liebkosungen immer intensiver.

Inmitten der heftigen Gefühle, die sie erfüllten, hörte Annie eine warnende Stimme, die sie daran erinnerte, wie gefährlich das alles war. Der Verstand gebot ihr, aufzuhören, doch ihr Körper flehte nach mehr. Ihre Hände schienen sich wie von selbst über Joshs Schultern zu bewegen, und sie konnte seine ausgeprägten Muskeln und die feinen schwarzen Härchen auf seiner Brust durch den dünnen Stoff spüren. Joshs Herz schlug kräftig und regelmäßig unter ihren Fingern. Annie stockte der Atem, als eine heiße Welle der Leidenschaft ihren Körper durchflutete.

Mit einer einzigen geschmeidigen, sinnlichen Bewegung ließ Josh die Hand an Annies sonnengebräunten Beinen entlanggleiten und schob sie dann unter ihren kurzen rosa Rock, wo er die verborgene, vor sehnsüchtiger Lust pochende Stelle zwischen ihren Beinen berührte.

Als eine plötzliche Panik sie ergriff, öffnete Annie erschrocken die Augen. Sie war nicht bereit hierfür und fand schließlich die Kraft, sich zu retten. Als sie erstarrte und sich dann zurückzog, hielt auch Josh inne und ließ sie abrupt los.

Aufgebracht und empört sah Annie ihn an. Joshs Augen waren so dunkel vor Verlangen, dass sie fast schwarz wirkten. Sein Atem ging schnell und stoßweise. Befangen rutschte sie zum Ende der Bank, um etwas Abstand zwischen sich und ihm zu schaffen.

„Vielleicht war es doch keine so gute Idee, den Kuss einzufordern“, sagte Josh mit rauer Stimme.

Annie konnte den Blick nicht abwenden, sosehr sie es auch versuchte. Joshs elektrisierender Blick schien sie gefangen zu halten.

„Da hast du recht. Offenbar hast du eine ziemlich geringe Meinung von mir, wenn du eine so billige Verführungstechnik anwendest …“ Ihre Stimme schien von weither zu kommen.

Sie fasste ihr Haar wieder mit der Spange zusammen und stand unsicher auf. Die Arme um sich geschlungen und Josh den Rücken zuwendend, ging sie zum Rand des Abhangs. Die Dämmerung brach über den Juniabend herein, der Himmel hatte die unheimliche, verwaschene Klarheit nordischer Sommerhimmel, und das Meer lag ganz ruhig und seidenglatt da.

„Annie, es tut mir wirklich leid …“ Joshs Stimme klang heiser und selbstironisch.

Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu und stellte fest, dass er benommen, aber auch amüsiert wirkte. Wie konnte er es wagen, die Situation auch nur im Geringsten lustig zu finden?

„Hast du geglaubt, ich sei leichte Beute? Das meintest du wohl mit ‚besser kennenlernen‘. Du hältst mich also für eine Frau, die nichts dabei findet, in aller Öffentlichkeit …“

„Bitte reg dich nicht so auf“, sagte Josh ruhig, und seine Stimme klang kühler. „Ich nehme die Schuld ja auf mich. Trotzdem sollten wir ein paar Dinge klarstellen: Ich wende keine ‚billige Verführungstechnik‘ an. Es ist keine Masche von mir, mich so zu verhalten wie eben mit dir …“

„Dasselbe trifft auch auf mich zu!“

„Gut.“ Josh schien die Situation in Gedanken zu analysieren. „Wir sind also nicht ganz sicher, was da eben passiert ist. Sagen wir doch einfach, dass ich, als ich dich geküsst habe, nicht mit so einem … Großbrand rechnete.“

Annie zuckte innerlich zusammen. Wie hatte sie nur so … so begeistert reagieren können? Fast hätte sie geweint, doch das wollte sie vor Josh um keinen Preis tun. Sie rang um Fassung und sah ihn mit funkelnden Augen an. „Was ist eigentlich dein Problem, Josh?“, fragte sie mit bebender Stimme. „Du hast doch damit angefangen. Und jetzt machst du es mir zum Vorwurf, dass ich reagiert habe? Du hasst Frauen, stimmt’s? Hat deine Mutter dich etwa als kleinen Jungen verlassen oder so etwas?“

„Ja, das hat sie tatsächlich“, bestätigte Josh nach kurzem Schweigen und sah sie ausdruckslos an. „Aber dass ich deswegen Frauen grundsätzlich hasse, wäre stark übertrieben. Außerdem langweilt mich diese Art Küchenpsychologie.“

„Es tut mir leid“, sagte Annie ein wenig steif, und ihr Gesicht schien zu brennen. „Ich wollte mich nicht hämisch über etwas so Persönliches äußern. Und es tut mir leid, dass ich dich gelangweilt habe. Dann hasst du also nur mich …“

„Wenn nur wiederholt vorgebrachte Entschuldigungen nötig wären, dann wären wir jetzt beste Freunde.“ Josh stand langsam auf und blickte sie eindringlich an. „Vielleicht steht unser Verhältnis einfach unter keinem guten Stern?“ Er lächelte kurz, und seine gepflegten Zähne hoben sich deutlich von seinem sonnengebräunten Gesicht ab. „Die Kommunikation zwischen uns funktioniert einfach nicht …“

„Genau. Und deshalb hat es auch keinen Sinn, dass wir uns weiter unterhalten.“ Als Annie sich umwandte und wegzugehen begann, war sie aufgebracht darüber, wie schwach sich ihre Beine anfühlten. Wieder hielt Josh sie auf, indem er ihr die Hände auf die Schultern legte.

„Annie, hör mir bitte zu …“ Seine leicht heisere, gebieterisch klingende Stimme brachte aller Verwirrung und allem verletzten Stolz zum Trotz eine Saite in ihr zum Schwingen.

„Lass mich los!“

„Nein. Hör mir bitte zu.“ Joshs Augen funkelten, spiegelten jedoch auch Besorgnis wider. „Ich hasse dich nicht, ich finde dich nicht langweilig, und ganz sicher hatte ich nicht geplant mich – wie hast du es doch gleich so charmant ausgedrückt? – in aller Öffentlichkeit … mit dir auf einer Bank zu vergnügen. Als Entschuldigung kann ich lediglich vorbringen, dass du meine Selbstbeherrschung völlig außer Kraft setzt. Verzeihst du mir das?“

„Offenbar gibt es nichts zu verzeihen.“ Annie machte sich von Josh frei und blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. „Aber wenn ich tatsächlich eine solche Wirkung auf dich habe, dann sollten wir uns künftig wohl besser aus dem Weg gehen, findest du nicht?“

„Nein“, erwiderte Josh rau. Sein breiter, sinnlicher Mund zuckte leicht, dann breitete sich jenes entwaffnende Lächeln auf seinem Gesicht aus, das Annies Herz stocken ließ. „Und angesichts deiner Reaktion muss ich bezweifeln, dass du ganz ehrlich zu mir bist.“

Aufgewühlt und verärgert, errötete Annie heftig. Es fiel ihr schwer, Josh so weit zu vertrauen, dass sie ihm glauben konnte. Noch vor wenigen Stunden hatte er ihr unterstellt, keinerlei Moral zu haben. Und offenbar hatte er ihr die gesamten letzten zwei Jahre lang die Schuld an dem katastrophalen Ereignis auf Skiathos gegeben.

„Warum sagst du nichts?“ Mit leicht spöttischer Miene betrachtete er ihr gerötetes Gesicht, ließ die Hände an ihren Armen hinuntergleiten und zog sie an sich. „Immerhin sind wir beide erwachsen. Merkst du wirklich nicht, welche Wirkung du auf mich hast?“

Sanft strich er ihr mit den Fingern über den Rücken, legte dann die Arme um sie und zog Annie eng an sich, sodass sie seine heftige Erregung durch die Kleidung hindurch deutlich spüren konnte.

„Josh, bitte nicht …“ Plötzlich war ihr Ärger verflogen. Sie zitterte vor Anspannung und unterdrückter Gefühle. „Das ist nicht fair …“

„Alles ist gut, Annie“, versicherte Josh leise, den Mund dicht an ihrem Haar.

Einen Moment lang, in dem fast ihr Herz stehen geblieben wäre, hielt er sie sanft fest, bevor er seine Umarmung ein wenig lockerte. Als er ihre angespannte, verwirrte Miene betrachtete, strahlten seine blauen Augen einen solchen Charme aus, dass Annie schlucken musste und ihr Herz heftig zu schlagen begann.

„Ich möchte mehr von dir sehen“, stellte Josh fest und lächelte flüchtig. „Und bevor du gleich wieder auf Abwehr gehst – ich meine das nicht zweideutig. Wann fährst du wieder nach London?“

„Nun … morgen. Mit dem Zug …“ Hilflos stellte Annie fest, dass sie sich von Josh völlig überrumpelt fühlte. Er schien diese plötzlich aufflackernde Leidenschaft zwischen ihnen als Waffe zu nutzen. Eigentlich sollte ich ihn zum Teufel jagen und ihm sagen, dass ich ihn nie wieder sehen möchte, dachte sie, brachte die Worte aber nicht heraus. Wenn sie erst einmal wieder außerhalb seines Kraftfeldes wäre, würde sie hoffentlich ihr emotionales Gleichgewicht zurückerlangen. Aber jetzt schien es einfach unmöglich zu sein, sich aus seinem Bann zu befreien. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und entzog Josh ihre Arme.

Stirnrunzelnd blickte er sie an. „Mit dem Zug? Bist du nicht mit dem Auto hergekommen?“

Seufzend berichtete sie von ihrer Autopanne.

„Eigentlich wollte ich Liv mit zurücknehmen. Jetzt bleibt sie etwas länger und fährt meinen Wagen dann nach London. Ich muss morgen schon zurück, weil ich eine hektische Woche mit vielen Catering-Aufträgen vor mir habe …“

„Das Problem lässt sich ganz einfach lösen“, erwiderte Josh gelassen. „Ich fahre morgen früh nach London zurück und nehme dich mit.“

„Aber das ist wirklich nicht nötig, es gibt eine sehr gute Zugverbindung.“

„Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, dass du lieber mit dem Zug fährst als bequem mit meinem Wagen? Ich rase nicht, falls du das befürchtest.“

„Nein, ich …“

„Und ich werde versuchen, nicht auf einer einsamen Landstraße über dich herzufallen.“

„Josh, bitte …“ Wider Willen musste Annie lächeln. Inzwischen war der Mond aufgegangen und warf einen dünnen Streifen weißes Licht aufs Wasser. Der Wind hatte zugenommen, sodass sie zitternd die Arme um sich schlang.

„Ist dir kalt?“ Josh legte den Arm um sie und führte sie sanft wieder den Weg entlang. „Möchtest du zurück zur Feier?“

„Ehrlich gesagt, nein“, gestand Annie, die langsam neben ihm durch die Juninacht ging und sich wünschte, das würde sich nicht so perfekt anfühlen. Beim Gedanken daran, wie verletzlich sie in diesem Moment war, schienen Schmetterlinge in ihrem Bauch zu tanzen. Und noch schlimmer: Ihr wurde wieder schwindelig, weil sie während der gesamten Feier nur eine kleine Blätterteigpastete gegessen hatte.

„Dann geh doch einfach ins Bett. Ich werde dich bei denjenigen entschuldigen, die noch nüchtern genug sind, um deine Abwesenheit überhaupt zu bemerken.“

Annie lachte unsicher. „Die Versuchung ist wirklich groß. Es war ein langer Tag nach einer sehr harten Woche, und ich bin ziemlich müde. Aber ich muss nachher beim Aufräumen helfen und darauf achten, dass alles seine Ordnung hat …“

„Du siehst erschöpft aus.“ Josh betrachtete prüfend ihr Gesicht, während sie sich dem Zelt näherten, aus dem Musik und Gelächter ertönten. „Du solltest besser auf dich achtgeben, Annie. Ein eigenes Unternehmen ist eine große Verantwortung. Überfordere dich nicht.“

„Danke für den Rat“, erwiderte Annie betont gelassen. „Aber du brauchst mir nicht zu sagen, wie ich mein Unternehmen zu leiten habe.“

„Ich wollte dich nur rechtzeitig warnen.“ Josh klang ruhig, doch seine Augen blickten ernst. „Eine Freundin von mir hat eine PR-Agentur gegründet, es aber nicht geschafft, die richtige Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu finden.“

„Und was hat das mit mir zu tun?“, fuhr Annie ihn an. Sie ärgerte sich darüber, dass seine Worte über diese unbekannte Frau ihrem Herzen vor Eifersucht einen Stich versetzten.

Ironisch lächelnd zuckte Josh die Schultern. „Sie hat sich durch zuviel Arbeit überfordert, hatte einen Nervenzusammenbruch und ist pleite gegangen.“

„Vielen Dank für diese positiven Gedankenanregungen!“ Annie lächelte zuckersüß. „Ich finde allerdings nicht, dass ein Kuss und … eine etwas engere Umarmung dir das Recht geben, meinen Lebensstil …“ Sie blieb abrupt stehen, als der Boden unter ihren Füßen plötzlich wieder zu schwanken schien.

Sanft hielt Josh sie fest. „Ist dir wieder schwindelig, Annie?“

„Nein, ich … mir geht es gut.“ Sie musste all ihre Willenskraft zusammennehmen, um sich aus seinem beschützerischen Griff zu befreien. Als sie Joshs besorgten Gesichtsausdruck bemerkte, wandte sie schnell den Blick ab. Um keinen Preis wollte sie ihm gegenüber zugeben, wie wenig sie heute erst gegessen hatte. Ebenso wenig wollte sie ihm von den Finanzproblemen ihrer Firma erzählen, die der Grund dafür waren, warum sie praktisch rund um die Uhr arbeitete.

Zum Glück benahm sich der Boden inzwischen wieder anständig. Annie atmete tief ein und eilte schnurstracks auf den Eingang des Zeltes zu. Dabei ignorierte sie bewusst, dass Josh neben ihr ging, nahm seine Gegenwart jedoch mit fast schmerzlicher Deutlichkeit wahr.

„Wenn du möchtest, habe ich nachher beim Aufräumen ein Auge auf alles“, schlug er höflich vor.

„Schon gut, Josh, vielen Dank. Ich bin selbst in der Lage, mich um mein Unternehmen zu kümmern. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe einiges zu erledigen.“

„Natürlich.“ Er lächelte ironisch. „Ich will dich auf gar keinen Fall von deinem dynamischen, leistungsorientierten Lebensstil abhalten.“

Während Annie noch über eine geistreiche Entgegnung nachdachte, wandte Josh sich um und schlenderte zu einem Bekannten. Aufgebracht und verärgert blieb sie zurück.

Ihr Ärger richtete sich ebenso sehr gegen sie selbst wie gegen Josh. Er brauchte sie nicht darauf hinzuweisen, dass sie ihr Leben nicht im Griff hatte. Eigentlich sollte sie beim Arbeiten keine Mahlzeiten ausfallen lassen, keine weit entfernten Catering-Aufträge von Familienmitgliedern mehr annehmen – zumindest nicht, bis sie genug Geld für ein neues Auto übrig hätte – und vor allem sollte sie nicht allein mit Männern spazieren gehen, in die sie seit Jahren hoffnungslos verliebt war …

Zumindest würde sie konsequent bleiben, was Joshs Angebot betraf, sie mit nach London zu nehmen. Annie beschloss, gleich früh am Morgen ein Taxi zu bestellen und falls nötig am Bahnhof zu frühstücken. Alles war besser, als die lange Fahrt nach London im selben Wagen wie Josh Isaac zu verbringen.

Annie wachte von dem leisen und sehr angenehmen Klirren einer Tasse Tee auf, die auf ihren Nachttisch gestellt wurde. Sie öffnete ihre vor Müdigkeit noch schweren Augen und sah ihre Mutter, die lächelnd auf sie hinunterblickte. Alexia Trevellicks, deren dunkelbraune Augen Annie geerbt hatte, freute sich über die seltene Gelegenheit, ihre älteste Tochter ein wenig zu verwöhnen.

„Guten Morgen, Darling.“

„Guten Morgen, Mum …“ Annie setzte sich auf und sah sich blinzelnd um. Die Familie Trevellick wohnte in einem großen Pfarrhaus, das nicht weit entfernt vom Ort des Hochzeitsempfanges stand. Am Vorabend war Annie so erschöpft gewesen, dass Josh darauf bestanden hatte, sie die wenigen hundert Meter bis nach Hause zu begleiten.

Abrupt setzte Annie sich auf. „Wie spät ist es?“

„Halb zehn.“

„Aber ich hatte doch den Wecker gestellt … ich verpasse meinen Zug!“ Sie wollte aufstehen, doch ihre Mutter schob sie sanft zurück ins Bett.

„Darling, ich gebe es zu: Ich habe mich gestern heimlich in dein Zimmer geschlichen und deinen Wecker ausgestellt.“ Als Alexia lächelte, zeigten sich auf ihren Wangen dieselben Grübchen wie bei ihrer Tochter. „Sei bitte nicht böse. Es war Joshs Idee. Ihm fiel ein, dass er dich doch einfach nach London mitnehmen könnte. Ist das nicht nett von ihm? Und auch viel angenehmer, als in zugigen Bahnhöfen zu warten.“

Annie rang sich ein dankbares Lächeln ab. Am Vorabend war sie von einer Sekunde auf die andere eingeschlafen, während Josh offenbar zur Feier zurück gegangen war. Und dann hatte er hinter ihrem Rücken eine kleine Verschwörung mit ihrer Mutter angezettelt. Wie konnte man nur so bevormundend und überheblich sein?

„Verstehe. Vielen Dank für den Tee, Mum.“

„Gern geschehen.“ Alexia ließ sich auf der Bettkante nieder und betrachtete das angespannte Gesicht ihrer Tochter. „Du bist ja nicht oft zu Hause, und da genieße ich es, mich einmal um dich kümmern zu können. Aber du siehst ein bisschen dünn aus, Darling – du übernimmst dich doch nicht?“

„Natürlich nicht. Wie kommst du denn darauf?“

„Wegen irgendetwas, das Josh gesagt hat. Dein Vater und ich haben gestern noch einen Schlummertrunk mit ihm genommen, als alle sich müde getanzt hatten und ins Bett gegangen waren. Er hat auch hier übernachtet, da es bei Edward und Perdita keine freien Zimmer mehr gab.“

„Ach wirklich?“, fragte Annie ironisch, denn das Haus von Edward und Perdita, Miles’ Eltern, war wirklich riesig.

„Deswegen habe ich ihm vorgeschlagen, hier im Pfarrhaus zu übernachten“, sagte Alexia abschließend mit einem bedeutsamen kleinen Lächeln, das Annie gar nicht gefiel. „Kannst du in einer halben Stunde zum Frühstück kommen?“

„Ja, danke, Mum.“ Nachdem ihre Mutter gegangen war, trank Annie ihren Tee und stellte sich vor, wie sie Josh Isaac eigenhändig erwürgte.

Sie hatte keine andere Wahl, als sich tatsächlich von ihm mit nach London nehmen zu lassen. Als sie eineinhalb Stunden später auf den weich gepolsterten Beifahrersitz sank, musste sie jedoch zugeben, dass es in Joshs Wagen deutlich bequemer war als in jedem Zug. Ihre Empörung über sein Verhalten wurde dadurch jedoch nicht gemindert. Nachdem sie ihren Eltern, Meggie und Liv zum Abschied zugewinkt hatten, verfiel sie in aufgebrachtes Schweigen.

„Sitzt du bequem, Annie?“, erkundigte sich Josh.

Wie sollte sie nicht – in seinem eleganten, modernen Mercedes-Sportwagen mit Sitzen aus taubengrauem Leder, die geschmackvoll auf die Karosserie abgestimmt waren.

Es war ein milder, bewölkter Morgen, und im Westen zogen sich Regenwolken zusammen. Annie schob sich die blonden Ponysträhnen aus den Augen, schlug ein Bein über das andere und verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust. Sie trug Jeans, ein weißes T-Shirt und einen dunkelblauen Strickpulli um die Schultern. Starr blickte sie geradeaus, während sie über die gewundenen Straßen Cornwalls fuhren.

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte Josh schließlich. „Du bist so still.“

Sein leicht ironischer Tonfall zeigte ihr, dass er genau wusste, was in ihr vorging.

„Was sollte denn nicht in Ordnung sein?“, fragte sie betont freundlich. „Meinst du etwa, ich habe etwas dagegen, dass du dich gestern Abend bei meinen Eltern eingeschlichen, als Übernachtungsgast selbst eingeladen und dann schließlich meine Mutter überredet hast, heimlich meinen Wecker auszustellen?“

„Ach so, das.“ Josh lächelte. „Ich wollte doch nur helfen. Aber offenbar bist du nicht gerade dankbar dafür. Willst du eigentlich die ganze Fahrt über schmollen?“

Annie sah ihn kühl an. „Ich bin kein Kind, Josh, und ich schmolle nicht“, sagte sie viel ruhiger, als sie sich fühlte. „Und natürlich bin ich dankbar, dass du mich mitnimmst. Mir gefällt einfach dein anmaßendes Verhalten nicht.“

„Ich wollte nur nicht, dass du unter den Folgen deines Stolzes zu leiden hast.“ Josh klang fröhlich und keinesfalls zerknirscht.

Annie konnte nur mit Mühe weiter Gelassenheit vorschützen. „Schon wieder! Du behandelst mich von oben herab wie … wie einen aufmüpfigen Teenager! Ich bin dreiundzwanzig, leite ein eigenes Unternehmen und versichere dir als älteste Tochter der Familie, dass ich keinesfalls unreif bin.“

„Warum wolltest du dann mein durchaus vernünftiges Angebot nicht annehmen?“

Annie blickte wieder starr geradeaus und ballte die Hände zu Fäusten. „Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass ich heute vielleicht einfach lieber allein gereist wäre?“

„Fühlst du dich in meiner Gegenwart denn unwohl?“

„Wenn du es unbedingt wissen möchtest – ja“, gab sie ohne Umschweife zu.

„Das ist mir aber unangenehm.“ Josh warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Was kann ich tun, damit du dich wohlfühlst?“

Was auch immer Josh Isaac tat, sie würde sich in seiner Gegenwart nie entspannen können. Um das zu erreichen, müsste er die Zeit zurückdrehen und die verletzenden Dinge zurücknehmen, die er gesagt hat, dachte sie bitter. Dass Josh sie zwei Jahre zuvor so verurteilt hatte, tat ihr noch genauso weh wie seine Kränkungen vom Vortag.

Nie würde Annie vergessen, wie er sie an jenem Vormittag auf Skiathos als „gewissenlose Heuchlerin“ bezeichnet hatte. Denn sie hatte Josh angebetet – während er ihr die schlimmsten Motive unterstellt hatte! Und eigentlich zeigte sein Verhalten vom Vortag nur, dass Josh sie noch immer verachtete – was er auch im Nachhinein gesagt haben mochte. Er hatte praktisch versucht, sie in aller Öffentlichkeit zu verführen!

„Also?“, hakte er jetzt gelassen nach. „Kann ich meine Schuld nicht wieder gutmachen?“

„Was erwartest du, Josh?“, fragte Annie kühl. „Du hast doch nie einen Hehl daraus gemacht, wie schlecht du von mir denkst. Und ehrlich gesagt, ist mir das völlig gleichgültig. Aber sei bitte nicht so arrogant zu erwarten, dass ich mich in deiner Gegenwart wohlfühle.“

Daraufhin schwieg Josh so lange, dass Annie ihm schließlich fast gegen ihren Willen einen Seitenblick zuwarf. Sein dunkles, scharf geschnittenes Profil war wie aus Granit gemeißelt, den man in Cornwall so häufig fand. Von der Nase zogen sich deutliche Linien zum hart wirkenden Mund.

Aus einer spontanen, übermütigen Laune heraus fragte sie: „Willst du jetzt die ganze Fahrt über schmollen?“

Grüblerisch blickte Josh sie an, doch seine Augen blitzten amüsiert. „Nein, ich möchte dir ja kein schlechtes Vorbild sein.“

Trotz allem musste Annie lachen. „Na gut. Wollen wir uns dann zumindest bis zum Ende der Fahrt auf einen Waffenstillstand einigen?“

Josh lächelte. „Okay, aber mit einem Änderungsvorschlag: Wie wäre es, wenn wir den Waffenstillstand bis Mitternacht ausdehnen?“ Sein beiläufiger Ton stand im Widerspruch zu seinem Blick, der Annie völlig durcheinanderbrachte.

„Warum?“

„Damit wir uns wie zivilisierte Menschen unterhalten können, wenn ich dich zum Abendessen einlade.“

„Das ist nicht nötig – weil ich nicht mit dir essen gehen werde“, antwortete Annie langsam.

Josh sah sie nicht an, und sie wandte langsam den Kopf, um seine schlanken, wohlgeformten Hände zu betrachten, mit denen er den Mercedes so sicher durch den dichten Verkehr lenkte.

„Morgen muss ich beruflich für einige Zeit ins Ausland. Und ich möchte dich wirklich gern besser kennenlernen, Annie. Also: Gehst du heute Abend mit mir essen?“

Als sie gerade Nein sagen wollte, blickte Josh sie mit einem unwiderstehlichen Ausdruck in seinen blauen Augen an und sagte: „Bitte.“

Seine Einladung anzunehmen war das Unvernünftigste, das sie tun konnte. Doch wie konnte sie ablehnen, wenn er sie so ansah?

3. KAPITEL

„Das Essen ist hier wirklich sehr gut.“ Über den Rand der in grünes Leder gebundenen Speisekarte blickte Josh zu Annie hinüber. „Aber bestimmt bist du ein ziemlich anspruchsvoller Gast.“

„Weil Kochen mein Beruf ist?“ Leise lachend ließ sie den Blick über die aufwendigen Gerichte gleiten. Das Restaurant, in das Josh sie eingeladen hatte, lag etwas versteckt in Chelsea. Es war klein und sehr exklusiv, mit weißen Damasttischdecken, dicken cremefarbenen Kerzen, großen Palmen und riesigen, sich rankenden Efeupflanzen, die die einzelnen Tische voneinander abschirmten. Im Hintergrund war leise klassische Musik zu hören. „Nein, ganz im Gegenteil: Ich bin immer heilfroh, wenn einmal jemand anders das Kochen übernimmt. Normalerweise esse ich so gut wie alles.“

„Macht dir deine Arbeit denn keinen Spaß?“, fragte Josh interessiert.

„Doch, sogar großen Spaß“, versicherte sie, trank einen Schluck trockenen Martini und legte die Speisekarte auf das gestärkte Tischtuch. „Aber ich esse auch gern einmal, was jemand anders kreiert hat.“

„Ich koche ganz passable Spaghetti Carbonara. Du kannst gern einmal vorbeikommen und ein professionelles Urteil über sie fällen.“

Annie musste lachen, als Josh sie jungenhaft anlächelte. Es war wirklich nicht fair, wie gut er wieder einmal aussah. Er trug eine perfekt sitzende dunkelblaue Hose, ein kragenloses, am Hals leicht geöffnetes Hemd aus weißer Seide und dazu ein graues Leinen-Jackett. Krawatten konnte er nicht ausstehen, doch der Besitzer des Restaurants drückte immer ein Auge zu.

Wahrscheinlich würde Josh in jedem Outfit gut aussehen, dachte Annie. Denn er gehörte zu jenen Männern, die sogar mit ausgebeulten Jogginghosen und Sweatshirt elegant wirken konnten.

„Das klingt sehr verlockend, ich liebe nämlich italienisches Essen. Sind Spaghetti Carbonara die moderne Variante der Briefmarkensammlung?“

Sofort wünschte Annie, das nicht gesagt zu haben, denn sie musste unwillkürlich an den vergangenen Abend denken.

Josh beobachtete sie interessiert. „Es gibt auch Leute, die nicht immer nur an das eine denken“, neckte er sie.

Das amüsierte Funkeln in seinen Augen verschwand, als Annie errötend zusammenzuckte.

„Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht kränken.“

„Was denn dann?“, fragte sie und sah ihn direkt an. „Schmeichelhaft war deine Bemerkung jedenfalls nicht. Du hältst mich immer noch für eine Art männerbesessenes Flittchen, stimmt’s?“

Josh schloss einen Moment lang die Augen. Als er sie wieder öffnete, war seine Miene plötzlich undurchdringlich.

„Annie, es war nur ein Scherz“, sagte er. „Ich hatte einfach nicht daran gedacht, dass körperliche Nähe zwischen uns so ein heikles Thema ist.“

„Wegen dem, was in Griechenland passiert ist?“ Und weil ich gestern so naiv und überschwänglich reagiert habe?, fügte Annie in Gedanken hinzu, traute sich aber nicht, das auszusprechen.

„Ich kann nicht leugnen, dass ich auch an Skiathos dachte, als dich gestern wiedergesehen habe“, sagte Josh nach einer Weile und sah ihr in die Augen. „Was auch immer damals passiert ist – ich hatte kein Recht, dich so zu beleidigen. Aber ich habe mich dafür entschuldigt“, fuhr er fort, den Blick nicht von ihr wendend. „Und ich dachte, wir hätten einen Waffenstillstand beschlossen?“

„Ja, das stimmt. Aber offenbar trauen wir einander nicht.“ Sie lächelte freudlos. „Tief in deinem Innern glaubst du noch immer, ich hätte Camilla ganz bewusst den Verlobten ausgespannt. Und sicher ist es verzeihlich, wenn ich deine Beweggründe dafür anzweifele, mich heute Abend zum Essen einzuladen.“

„Möchtest du das vielleicht genauer erläutern?“

„Angesichts deiner Meinung über mich könnte man vermuten, dass du mich eingeladen hast, weil du mich für die perfekte Kandidatin für eine lockere Affäre hältst, bevor du ins nächste Krisengebiet aufbrichst“, erklärte sie übertrieben höflich.

Joshs Gesichtszüge wurden hart. „Ich bin noch nie einem so kratzbürstigen Menschen begegnet wie dir, Miss Anoushka Trevellick“, sagte er nach einer Weile.

Und wessen Schuld ist das?, wäre sie fast herausgeplatzt. Aber wenn Josh erfuhr, wie sehr sein Urteil sie in den vergangenen zwei Jahren geschmerzt hatte, wurde sie ihm gegenüber viel zu verletzlich.

Wie konnte ich nur so dumm sein, heute Abend hierher zu kommen?, dachte Annie. Sie hatte sogar extra mit ihrer Assistentin eine Sondervereinbarung getroffen, damit sie nicht arbeiten musste!

Beschämt dachte sie daran, wie sie sich in ihrem Apartment in Hampstead für den Abend schön gemacht hatte: Sie hatte sich das Haar gewaschen, eine teure Bodylotion benutzt und sich mit Frisur und Make-up besondere Mühe gegeben. Dann hatte sie ein Outfit nach dem anderen anprobiert und sich schließlich für ein kurzes osterglockengelbes Etuikleid und einen cremefarbenen Seidenblazer entschieden …

Alte Schwärmereien legt man eben nur schwer ab, dachte sie, nahm die Speisekarte wieder zur Hand und vertiefte sich in die angebotenen Gerichte. Aber irgendwann würde es hoffentlich vorbei sein. Vielleicht sollte sie sich einfach die Zeit nehmen, Josh Isaac besser kennenzulernen, dann würde er sich bestimmt als der unangenehmen, chauvinistische Zyniker erweisen, der er ja unzweifelhaft war.

„Ich hätte gerne den Hummer und das Huhn mit Kurkuma und Brunnenkressesoße“, sagte sie ruhig.

„Gut. Dann können wir ja bestellen.“ Josh klang ebenso höflich wie distanziert. Mit einer knappen Handbewegung winkte er den Ober herbei. Für sich selbst bestellte er eine Wildmuschelsuppe, außerdem eine Flasche weißen Bordeaux und Mineralwasser.

Als der Kellner gegangen war, lehnte Josh sich zurück und sagte: „Auf die Gefahr hin, dass ich deinen Ärger noch mehr anfache: Was genau ist denn damals mit Camillas Verlobtem passiert?“

Annie lachte ein wenig erstickt. „Wozu fragst du mich das? Du glaubst doch ohnehin nur, was du glauben möchtest!“

„Wenn nicht glücklicherweise einer von uns Kritik und Beleidigungen einstecken könnte, dann wäre die Kommunikation zwischen uns inzwischen fast unmöglich“, stellte Josh ironisch lächelnd fest.

„Wäre das denn so schlimm?“

In diesem Moment erschien der Weinkellner. Angespannt schweigend warteten sie, bis er ihre Gläser gefüllt hatte und dann wieder gegangen war.

„Ich wollte dich vor allem deshalb zum Essen einladen, weil ich dich besser kennenlernen möchte“, sagte Josh dann vorsichtig.

„Und warum?“

Er sah Annie amüsiert an. „Ich habe keine dunklen Hintergedanken. Es ist doch kein Verbrechen, dass ich dich attraktiv finde, oder? Blonde Frauen mit braunen Augen, eine Mischung aus Meg Ryan und Julia Roberts, gefallen mir einfach. Aber das Aussehen ist schließlich nicht alles.“

„Allerdings nicht“, erwiderte Annie errötend. „Und ich möchte nicht wie eine Puppe in so eine Schublade einsortiert werden!“

„Meine Güte, Annie! Wenn man jemanden noch nicht kennt, kann man doch nur nach oberflächlicher Anziehung gehen! Und wenn du nicht immer sofort beleidigt wärst, würde ich nicht jedes Mal, sobald ich den Mund aufmache, in ein Fettnäpfchen treten – und vielleicht könnten wir dann beide den Abend genießen.“

Annie zuckte die Schultern, schenkte Josh ein vorsichtiges Lächeln und atmete tief ein. „Weißt du noch, was du an jenem Vormittag auf Skiathos zu mir gesagt hast?“

Josh schien sich nicht zu erinnern, besaß jedoch den Anstand, leicht zusammenzuzucken. „Was auch immer das war, ich habe es im Eifer des Gefechts gesagt.“ Er lächelte entschuldigend, aber auch ein wenig neckend. „War es sehr schlimm?“

„Du hast mich als gewissenlose Heuchlerin bezeichnet“, erinnerte sie ihn betont freundlich.

Josh schluckte. Er wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht, während er einen Schluck Wein trank. „Wie gesagt, ich war an diesem Vormittag ziemlich aufgebracht, Annie. Mir ist schon klar, dass ich überreagiert habe.“

„Das ist stark untertrieben.“

„Was ich zu dir gesagt habe, war unverzeihlich“, gab Josh zu. „Die ganze Situation hat mich wütend gemacht, um Camillas willen, und ich habe meinen Ärger an dir ausgelassen. Das tut mir leid, Annie.“

Sie verzog das Gesicht. „Die ganze Angelegenheit war ziemlich peinlich. Ich weiß nicht einmal mehr, wie er hieß, nur noch, dass er einen ziemlich hochtrabenden oder ausgefallenen Namen hatte. So etwas wie Pharao oder Pharisäer …“

„Phoenix. Er war so ein Möchtegernschauspieler.“ Josh lächelte spöttisch. „Von denen wimmelt es in Kalifornien nur so.“

„Wenn ich mich recht erinnere, trug er Ohren- und Nasenring, hatte blondiertes Haar und benutzte literweise Make-up. Und er schien sich für ein Geschenk der Schöpfung an die Frauen zu halten. Camilla kann froh sein, dass sie ihn los ist. Ein Mann, der eine Frau ins Bett zu bekommen versucht, sobald seine Verlobte ihm kurz den Rücken zuwendet, wäre als Ehemann das Letzte.“ Annie hielt einen Moment inne.

„Und als ich gesehen habe, wie er durchs Fenster in dein Schlafzimmer stieg, da …?“, fragte Josh mit ausdruckloser Stimme.

Ihre Augen funkelten vor Empörung. „Ich hatte kein Stelldichein um Mitternacht mit ihm vereinbart, wie du mir unterstellt hast. Er hat mich furchtbar erschreckt: Ich wachte auf, und da war er plötzlich in meinem Bett!“

„Hat er dich vergewaltigt?“ Josh presste die Lippen zusammen und wirkte plötzlich sehr grimmig.

Annie schüttelte den Kopf. „Möglicherweise war das seine Absicht. Aber eigentlich war er eher wie ein verzogener kleiner Junge. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass er irgendwelche Drogen genommen hatte.“ Sie lachte kurz. „Anders konnte ich mir sein Verhalten nicht erklären. Normalerweise muss ich mir nicht die Verlobten anderer Frauen vom Leib halten …“

„Er nahm Kokain“, sagte Josh gelassen.

Fassungslos blickte Annie ihn an. „Dann verstehe ich noch weniger, warum du so aufgebracht warst, als er aus dem Leben deiner Schwester verschwand.“

„Eigentlich war ich sehr froh darüber. Mein Vater und meine ältere Schwester waren beide ziemlich entsetzt über die Verlobung, und sogar meine Mutter hatte ihre Zweifel.“

„Warum dann dieses Theater?“, fragte Annie empört. „Du wusstest, was Phoenix für ein Typ war, du wolltest ihn loswerden – und trotzdem hast du mich behandelt, als wäre ich das übelste Flittchen …“

Als sie Josh durch den Kerzenschein hindurch aufgebracht ansah, bemerkte sie, dass sein Gesicht an den hohen Wangenknochen leicht gerötet war.

„Ich weiß, ich habe mich nicht richtig verhalten“, sagte er ein wenig heiser. „Dass ich so aufgebracht über den Zwischenfall war, lag weder an brüderlichem Mitgefühl mit Camilla noch an Phoenix’ widerwärtigem Benehmen.“

Als Annie mit klopfendem Herzen überlegte, was Josh ihr damit sagen wollte, fiel ihr wieder ein, wie Liv Joshs Verhalten in jenem Sommer beschrieben hatte: irgendwie sehnsüchtig, beschützend und so, als würde sie zu ihm gehören. War sie ihm denn damals vielleicht so wichtig gewesen, dass ihn die Vorstellung, sie hätte mit einem Mann wie Phoenix ins Bett gehen wollen, verletzt und enttäuscht hatte? War er eifersüchtig gewesen?

Erschüttert dachte Annie über diese Möglichkeit nach. Um ihre Verwirrung zu überspielen, begann sie, viel zu schnell weiterzureden.

„Camilla tat mir so leid, dass ich am nächsten Tag viel zu wenig Krawall geschlagen habe. Aber genau wegen dieser Sache bin ich früher zurück nach Hause gefahren …“

„Ist er dir nicht gefolgt?“

„Ja, er tauchte plötzlich am Flughafen auf und ist mit demselben Flug nach Athen gekommen. In Athen, als er nicht mehr in Camillas Nähe war und auch nicht mehr euer Gast, fiel es mir leichter, Phoenix ganz deutlich zu sagen, was ich von ihm hielt. Und endlich hat er es dann auch begriffen. Soweit ich weiß, ist er zurück nach Los Angeles geflogen. Ich habe ihn jedenfalls nie mehr gesehen.“

Schweigend und mit gesenkten Lidern drehte Josh den Stiel seines Weinglases zwischen den Fingern.

„Du glaubst immer noch, ich hätte ihn dazu ermuntert, stimmt’s?“, fragte Annie bitter.

„Dazu möchte ich lieber nichts sagen.“ Josh hob den Kopf und ließ prüfend den Blick über sie gleiten: vom blonden Haarknoten über das gerötete Gesicht mit den hohen Wangenknochen bis zum sanft gerundeten Ansatz ihrer Brust, der im Ausschnitt des gelben Kleides zu sehen war. „Je mehr ich von dir sehe, umso besser kann ich verstehen, warum dieser kleine Widerling dir einfach nicht widerstehen konnte …“

Beim Klang seiner leicht heiseren Stimme wurde ihr heiß. Sie blickte ihn an, und eine Weile herrschte angespanntes Schweigen.

„Was genau willst du damit sagen?“, fragte sie schließlich.

„Ich bin bereit zu glauben, dass es an ihm lag und nicht an dir, was damals passiert ist.“

„Du meinst also, ich … hätte eine solche erotische Anziehungskraft, dass Männer nicht für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können? Das ist ja zum Lachen!“ Ärger und Frustration erfüllten Annie. Offenbar ging Josh zwar noch immer davon aus, dass sie mit Phoenix geschlafen hätte, konnte aber damit umgehen. Dabei hätte sie niemals etwas mit Camillas Verlobtem angefangen – oder mit einem anderen Mann, den sie erst seit so kurzer Zeit kannte.

„Nun, du warst niemandem verpflichtet und konntest tun und lassen, was du wolltest“, stellte Josh ruhig fest. „Er dagegen hat ein Versprechen gebrochen.“

„Du glaubst also immer noch, ich hätte mit ihm geschlafen! Und was ist mit meiner Loyalität gegenüber Camilla?“

Eine Weile sah er sie schweigend an. „Ich unterstelle dir nicht, das Ganze geplant zu haben“, sagte er dann, und seine Stimme klang jetzt härter. „Ich akzeptiere deine Erklärung dazu, wie Phoenix zu dir ins Zimmer geklettert ist und in deinem Bett landete. Was mich betrifft, ist die Angelegenheit damit abgeschlossen.“

Annie schluckte, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. „Du sprichst mich also nicht von meinem Vergehen frei, sondern erteilst mir edelmütig Absolution?“, fasste sie dann zusammen, trank einen großzügigen Schluck Wein und sah ihn an. „Wie gut, dass wir das geklärt hätten! Die Vergangenheit ist also vergeben und vergessen. Sollen wir darauf nicht anstoßen, Josh?“

Sie sahen einander schweigend an, goldbraune Augen blickten in tiefblaue. Als Josh gerade etwas sagen wollte, wurden sie unterbrochen.

„Ach, hallo!“ Über die leisen Gespräche der anderen Restaurantgäste hinweg war eine sehr feminine Stimme zu hören.

Ihre Besitzerin war Mitte zwanzig und eine der schönsten Frauen, die Annie je gesehen hatte: ebenmäßiger Teint, große grüne Augen und langes, glattes, fuchsrotes Haar. Die kurvige Figur der hochgewachsenen Frau wurde durch ein kurzes, enges Kleid aus schwarzem Seidenjersey betont.

„Dass ich dich hier treffen würde, hätte ich nicht gedacht, Josh“, sagte sie gelassen, doch ihre Augen sprachen eine ganz andere Sprache: Sie betrachtete Josh mit einem heißen, sehnsüchtigen Blick.

„Dasselbe könnte ich über dich sagen“, erwiderte Josh ruhig. „Das hier ist doch nicht dein übliches Revier, oder?“

„Du meinst, dass ich mich eigentlich in eine verräucherte Journalistenkneipe quetschen sollte? Ich führe heute eine wichtige Kontaktperson zum Essen aus“, erwiderte sie mit leicht heiserer Stimme und einem, wie Annie dachte, sorgfältig einstudierten Heben der Augenbrauen. „Eigentlich dachte ich, du wärst schon wieder mit kugelsicherer Weste an vorderster Front unterwegs.“

„Wie du siehst, bin ich das nicht.“ Josh lächelte jungenhaft und ließ mit undurchdringlicher Miene den Blick über sie gleiten. „Wie geht es dir, Veronica?“

„Ach, ich bin wie immer unterbezahlt und überarbeitet“, gurrte sie nicht sonderlich originell. „Heutzutage ist Journalismus so ein schrecklicher Konkurrenzkampf.“

„Stimmt. Und vielleicht steige ich demnächst aus diesem Kampf aus“, sagte Josh und blickte zu Annie hinüber. „Annie, darf ich vorstellen: Das ist Veronica Whitton, Chef-Klatschmaul bei der Daily Post. Ronnie, dies ist Anoushka Trevellick.“

„Hallo …“ Veronica warf ihr einen flüchtigen Blick zu, und ihre offensichtliche Abneigung bestätigte Annies Vermutung: Diese Frau hegte starke Gefühle für Josh.

Waren sie wohl bis vor Kurzem noch ein Paar gewesen? Bei ihren Überlegungen ging Annies Fantasie fast mit ihr durch. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Veronica sie etwas gefragt hatte.

„Bei welcher Zeitung arbeiten Sie?“, wiederholte sie.

Josh lachte. „Nicht jeder in London ist Journalist, Ronnie.“

Veronica kniff ihre wunderschönen, von langen Wimpern umrahmten Augen zusammen. „Was machen Sie dann beruflich? Nein, verraten Sie es nicht – arbeiten Sie als Model?“ In ihrer Stimme schwang ganz eindeutig Gehässigkeit mit.

„Ich bin Köchin“, sagte Annie ausdruckslos.

„Oh, wie interessant. In einem Hotel? Oder etwa einer Schule?“

„Nein, ich habe eine Catering-Firma …“ Einer plötzlichen Eingebung folgend, zog sie eine Visitenkarte von Party Cooks aus der Handtasche und reichte sie Veronica. „Ich übernehme Aufträge für Partys, Hochzeiten oder das Auffüllen von Gefriertruhen – einfach alles.“

„Danke“, sagte Veronica äußerst ungnädig und sah die Karte an, als wäre diese vergiftet, „aber ich habe schon einen fantastischen Catering-Service, der all meine Cocktailpartys und so weiter ausrichtet. Dabei fällt mir ein, Josh, ich mache demnächst einen kleinen Umtrunk und rufe dich noch einmal deswegen an.“

„Mit Party Cooks könnten Sie vermutlich Geld sparen, und sie würden bestimmt interessanteres Essen bekommen.“ Annie schenkte Veronica ihr strahlendstes Lächeln.

Veronica ignorierte sie ganz bewusst.

„Du wirst doch zu meiner Feier kommen, oder, Josh?“ Ihre Hartnäckigkeit verlieh der eigentlich belanglosen Frage Bedeutungsschwere.

„Klar, sofern ich in der Stadt bin. Bis dann, Ronnie.“

Als Veronica verschwunden war, warf Josh Annie einen langen, anerkennenden Blick zu. „Tut mir leid. Eins zu Null für dich, würde ich sagen.“ Er lächelte jungenhaft. „Die meisten anderen Frauen macht Veronica fertig.“

Annie konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern, obwohl sie ein sehr unangenehmes Gefühl im Magen hatte. Die Vorstellung, auf eine von Joshs Freundinnen eifersüchtig zu sein, erfüllte sie mit Panik. Nein, ich bin nicht eifersüchtig, redete sie sich ein. Veronica Whitton dagegen war es auf jeden Fall. Wenn Blicke töten könnten, dann würde ich jetzt reglos unter dem Tisch liegen, dachte Annie.

Autor

Natalie Anderson
<p>Natalie Anderson nahm die endgültigen Korrekturen ihres ersten Buches ans Bett gefesselt im Krankenhaus vor. Direkt nach einem Notfall-Kaiserschnitt, bei dem gesunde Zwillinge das Licht der Welt erblickten, brachte ihr ihr Ehemann die E-Mail von ihrem Redakteur. Dem Verleger gefielen ihre früheren Korrekturen und da es gerade einen Mangel an...
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