Julia Exklusiv Band 341

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VERTRAU AUF DEIN HERZ von MAGGIE COX
Endlich frei! Nachdem Megan sich von ihrem untreuen Freund getrennt hat, ist ihr Selbstbewusstsein auf dem Nullpunkt. Kyle Hytner will ihr den Glauben an die Liebe wiedergeben. In seinen Armen erlebt sie zauberhafte Stunden der Leidenschaft, bis Kyle von einer gemeinsamen Zukunft spricht. Plötzlich erwachen in Megan die alten Ängste: Kann sie ihm wirklich vertrauen, oder wird auch Kyle sie eines Tages hintergehen?

HEIMLICHE LIEBE von CATHERINE SPENCER
Obwohl sie sich acht Jahre nicht gesehen haben, kommt es Sally und Jake so vor, als wären sie keinen Tag getrennt gewesen. Erneut brennen ihre Herzen lichterloh! Dabei steht ihre Liebe unter keinem guten Stern. Die Eltern von Sallys bester Freundin Penelope sind nämlich der Überzeugung, dass Sally für deren Tod verantwortlich ist. Und Jake war Penelopes Mann!

SCHON BEIM ERSTEN RENDEZVOUS von NICOLA MARSH
Kara und Matt sind füreinander bestimmt! Der Computer der Partnervermittlung hat es sofort erkannt. Doch bei ihrem ersten Rendezvous macht der gut aussehende Rechtsanwalt Kara ein Angebot, das nichts mit Liebe zu tun hat: Er bietet ihr viel Geld, wenn sie ein halbes Jahr lang seine Freundin spielt. Kara lässt sich auf den Deal ein, obwohl sie mehr will: sein Herz!


  • Erscheinungstag 10.09.2021
  • Bandnummer 341
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501316
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Maggie Cox, Catherine Spencer, Nicola Marsh

JULIA EXKLUSIV BAND 341

1. KAPITEL

Megan Brand saß auf einer der schmiedeeisernen Parkbänke im Hyde Park und knabberte lustlos an ihrem Käse-Schinken-Sandwich, als es zu regnen begann. Eine Weile ignorierte sie es einfach, doch schließlich sah sie ein, dass es keinen Sinn hatte, hier sitzen zu bleiben, bis sie völlig durchnässt und ausgekühlt war.

Fröstelnd stand sie auf, zerkrümelte die Reste ihres Sandwichs und warf sie den kleinen grauen Spatzen hin, die ihr bei ihrer einsamen Mahlzeit Gesellschaft geleistet hatten. Sie strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht und ging so zielstrebig, wie ihr krankes Bein es zuließ, auf den Parkausgang zu.

Als sie in die Bayswater Road einbog, sah sie, dass dort wieder wie an jedem Sonntag alle möglichen Künstler ihre Arbeiten ausgestellt hatten. Unwillkürlich blieb sie vor einem Bild mit einer Meereslandschaft stehen, das sie seltsam anzog. Während sie es betrachtete, stieg ein unerwartet heftiges Gefühl von Sehnsucht in ihr auf …

Fast zehn Jahre war es jetzt her, dass es ihr gelungen war, einen Studienplatz an einer der renommiertesten Kunstschulen Londons zu erhalten. Eine aufregende Zukunft voller unbegrenzter Möglichkeiten hatte vor ihr gelegen.

Dann war Nick in ihr Leben getreten.

Der selbstbewusste, gut aussehende Banker hatte nicht lange gebraucht, um die schüchterne, unerfahrene Kunststudentin mit seinem geübten Charme einzuwickeln. Zuerst wurde sie seine Geliebte, kurz darauf seine Ehefrau, und schließlich gelang Nick sein Meisterstück. Er brachte Megan dazu, ihren kostbaren Studienplatz aufzugeben.

Damals war sie fest davon überzeugt gewesen, dass zur Liebe auch die Bereitschaft gehörte, Opfer zu bringen, das Glück des Partners über die eigenen Bedürfnisse zu stellen. Doch schon kurz nach der Hochzeit hatte sie feststellen müssen, dass Nick überhaupt nicht daran dachte, auch nur das Geringste an seinem lockeren Lebenswandel zu ändern.

Was für ein Dummkopf war sie doch gewesen!

„Ich habe es letzten Winter in Cornwall gemalt.“

Erschrocken fuhr Megan zusammen. Sie war mit ihren Gedanken so weit weg gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie die junge Frau neben sie getreten war. Sie trug einen sternförmigen Nasenstecker und war offenbar die Besitzerin des Standes. „Der Ort heißt Rock“, fügte sie hinzu. „Eine fantastische Ecke zum Surfen.“

Die unerwartete Aufmerksamkeit war Megan unangenehm, und prompt spürte sie, wie sie errötete. Ihr wurde plötzlich peinlich bewusst, in welchem Zustand sie sich befand. Mit ihrem triefenden Haar und der durchnässten Kleidung musste sie aussehen wie eine streunende Katze. „Was soll es denn kosten?“ erkundigte sie sich schnell.

Als das Mädchen ihr einen vernünftigen Preis nannte, öffnete Megan ihre Umhängetasche und holte ihr Scheckbuch heraus.

„Wollen Sie es verschenken?“ erkundigte sich das Mädchen, das sich sichtlich über das Geschäft freute.

Scheu erwiderte Megan ihr Lächeln. „Nein, es ist für mich“, erwiderte sie und unterdrückte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Noch immer fiel es ihr schwer, Geld für sich auszugeben, ohne sich dabei schuldig zu fühlen.

Penny Hallet rührte die Pasta noch einmal kräftig durch, dann deutete sie mit dem Kochlöffel auf die Postkarte, die auf der Arbeitsplatte lag. „Ich finde, du solltest wenigstens anrufen. Wer weiß, vielleicht ist es ja genau das Richtige für dich.“

Misstrauisch nahm Megan die schlichte weiße Karte, drehte sie um und las den Text auf der Rückseite.

„Woher hast du sie?“

In Pennys blauen Augen blitzte es übermütig auf. „Ich habe sie mir vom Schwarzen Brett in Mrs. Kureshis Zeitschriftenladen geliehen.“ Sie zuckte die Schultern und machte ein unschuldiges Gesicht. „Was hätte ich tun sollen? Ich hatte nichts zum Schreiben dabei.“

Megan warf ihrer Freundin einen vorwurfsvollen Blick zu. „Und wie soll der arme Mensch, der sie dort aufgehängt hat, etwas verdienen, wenn du einfach seine Anzeige klaust?“

Penny verdrehte die Augen. „Ach, komm schon, Megan! Hältst du dich etwa immer an die Regeln? – Nein!“ unterbrach sie sich schnell. „Sag nichts. Ich kenne die Antwort bereits.“

Megan unterzog die Karte einer prüfenden Musterung. „Hm, kein Name. Nur die Initialen KH. Könnte auch eine Frau sein.“

„Schon möglich“, räumte Penny ein. „Meine Intuition sagt mir allerdings, dass es ein Mann ist. Aber egal, Hauptsache, er oder sie hält, was die Karte verspricht.“

„Aber … es ist schon so lange her, dass ich gemalt habe“, gab Megan zu bedenken. „Und überhaupt: Malen. Ein Weg zu Heilung und innerem Frieden. Verstehst du, was damit gemeint ist?“

„Am besten, du rufst an und findest es selbst heraus. Na los, Meg! Was kann so ein kleiner Anruf schon schaden? Du musst endlich wieder anfangen zu leben! Außerdem wissen wir beide, wie sehr du dich danach sehnst, wieder zu malen.“

Penny dachte überhaupt nicht daran, sich von Megans abwehrendem Gesichtsausdruck aus dem Konzept bringen zu lassen. Ganz im Gegenteil, jetzt kam sie erst richtig in Fahrt. „Schau dich doch an!“ fuhr sie unerbittlich fort. „Den ganzen Tag sitzt du in dieser öden Bank und machst einen Job, den du hasst. Dann kommst du nach Hause, isst zu Abend und gehst mit einem Buch ins Bett. Weißt du eigentlich, dass es Neunzigjährige gibt, die sich besser amüsieren? Und du bist erst achtundzwanzig!“

Megan presste die weichen Lippen zusammen. „Ich gehe die Dinge eben auf meine Art an, Pen.“

„Blödsinn!“ Penny knallte temperamentvoll den Kochlöffel neben den Topf mit der Pasta. „Alles, was ich in den letzten sechs Monaten von dir höre, sind Ausflüchte, warum du dies oder jenes nicht tun kannst. Und während du dich langsam, aber sicher in einen Zombie verwandelst, feiert dein Exmann mit diesem Flittchen rauschende Partys. Ich will dir bestimmt nicht wehtun, Meg, aber siehst du denn nicht, dass du dich nur selbst bestrafst, wenn du jede Möglichkeit abblockst, aus diesem trostlosen Trott herauszukommen? Gib dir doch wenigstens eine Chance!“

Megan blickte starr auf die Karte in ihrer Hand. Plötzlich verschwammen die Buchstaben hinter einem Tränenschleier. Natürlich hatte Penny recht. Doch wie, um alles in der Welt, sollte sie sich spontan auf ein solches Abenteuer einlassen, wenn schon die Frage, was sie morgens frühstücken sollte, sie überforderte? Niemand wusste besser als sie, dass sie ihrem Leben dringend eine neue Richtung geben musste, aber diese ständigen Schmerzen zermürbten sie allmählich, raubten ihr jede Kraft zum Handeln. Sie hatte schon alle möglichen Behandlungsmethoden ausprobiert, aber keine von ihnen hatte nennenswert angeschlagen.

Es war zum Verrücktwerden!

Und wenn dieser mysteriöse KH tatsächlich die Antwort auf ihr Dilemma war? Ja, sicher, Megan, meldete sich eine höhnische Stimme in ihrem Innern. Träum schön weiter.

Schniefend wischte sie sich mit dem zu langen Ärmel ihres dunkelroten Sweatshirts die Tränen ab und durchquerte entschlossen Pennys blitzsaubere, moderne Küche. Doch bevor sie die Karte in den Mülleimer werfen konnte, schnappte Penny sich diese blitzschnell.

„Was fällt dir ein!“, rief sie empört, während sie die Karte sorgfältig im Ausschnitt ihrer taubenblauen Bluse verstaute. „Ich habe sie besorgt, und ich werde auch entscheiden, wann und wie ich mich wieder von ihr trenne.“

Nun musste Megan doch lächeln. „Okay, ist ja schon gut“, beschwichtigte sie ihre Freundin, die sich demonstrativ wieder ihren Töpfen zugewandt hatte.

Penny war eine große, schlanke Blondine. Mit ihrer eleganten Bluse, den Designerjeans und den handgearbeiteten italienischen Schuhen sah sie aus wie ein Model. Für Megan war sie zurzeit der einzige Halt in ihrem Leben. Sie hätte nicht gewusst, wie sie die letzten anderthalb Jahre ohne sie durchgestanden hätte.

„Eins sage ich dir, Megan Brand“, fügte Penny hinzu und begann wieder, heftig in der kochenden Pasta herumzurühren. „Wenn du diese verdammte Nummer nicht anrufst, werde ich es tun, darauf kannst du dich verlassen!“

Kaum hatte Megan geklingelt, wäre sie am liebsten gleich wieder umgekehrt. Was, wenn dieser KH sich als durchgeknallter Spinner entpuppte? Zum Glück hatte sie Penny sicherheitshalber die Adresse und Telefonnummer hinterlassen.

Als sie hinter der großen schwarzen Tür mit dem vergoldeten Türknauf energische Schritte hörte, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück und spähte die bezaubernde kleine Straße hinunter, die sich in einem ruhigen, gepflegten Teil von Notting Hill befand. Der Anblick beruhigte sie ein wenig. Keine Frage, diese noble Gegend konnten sich nur gut situierte Leute leisten. Andererseits – wer sagte, dass es nicht auch unter denen Spinner gab …

In diesem Moment wurde die Tür schwungvoll geöffnet, und Megan blickte in die sinnlichsten goldbraunen Augen, die sie je gesehen hatte.

Wie gebannt stand sie vor dem Mann, dessen unglaublich direkter Blick ein beunruhigendes Kribbeln in ihrem Magen auslöste.

„Hallo“, sagte sie leicht atemlos. Ihr Herz schlug viel zu schnell. „Megan Brand. Wir haben eine Verabredung. Ich meine … das heißt, falls sie KH sind. Auf der Karte stand ja kein Name …“

Zur Antwort lächelte er unergründlich und trat einen Schritt zurück, um sie einzulassen, was Megan nur noch mehr verunsicherte.

„Kommen Sie, ich habe Sie schon erwartet.“

Der rauchige Klang seiner Stimme ging Megan durch und durch. Aber es war nicht nur die Stimme – der ganze Mann war geradezu gefährlich attraktiv. Schlank und sonnengebräunt. Dichtes, kastanienbraunes Haar, das eigenwillig in alle Richtungen stand. Hohe Wangenknochen. Ein markantes Kinn, auf dem der dunkle Schatten von Bartstoppeln zu erkennen war. Er war genau der Typ, der Frauen wünschen ließ, sie würden eines Tages in seinem Bett aufwachen.

Megans Kehle war wie ausgetrocknet. Sie räusperte sich und fragte leicht irritiert: „Geben Sie den Malunterricht?“ Möglicherweise hatte sie ja irgendetwas falsch verstanden.

Der Mann fuhr sich mit der Hand durchs widerspenstige Haar, und Megan sah, wie es kurz in seinen Augen aufblitzte.

„Ich bin Kyle“, teilte er ihr lakonisch mit, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Und nachdem wir nun die Förmlichkeiten hinter uns gebracht haben, würde ich vorschlagen, dass Sie erst einmal hereinkommen.“

Megan drückte ihre Tasche fester an sich und lächelte nervös. „Okay“, erwiderte sie, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Nach einer Weile räusperte sich Kyle und öffnete die Tür noch ein Stück weiter.

Brennende Röte stieg Megan in die Wangen, und sie zwang sich, an ihm vorbeizugehen. Als sie in die Diele trat, umfing sie ein sinnlicher, exotischer Duft nach Sandelholz und Patschuli, und plötzlich hatte sie das überwältigende Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Eine faszinierende Welt voller unbekannter Dinge …

Was sie vorerst jedoch am meisten faszinierte, war der Mann, der ihr lässig und selbstsicher voranging. Er trug eine Hose aus weichem Leder, die sich eng an seine langen, muskulösen Beine schmiegte. Seine Bewegungen waren geschmeidig und elegant wie die einer Raubkatze. Ein seltsam erwartungsvolles Prickeln durchströmte Megan.

Aus dem dämmrigen Flur traten sie in ein lichtdurchflutetes, in warmen Farben gehaltenes Wohnzimmer. Die weit geöffneten Flügeltüren gaben den Blick auf einen üppig blühenden Garten frei, den Megan am liebsten sofort erkundet hätte. Wenn er Pflanzen mag, kann er nicht so übel sein, ging es ihr durch den Kopf. Irgendwann einmal würde sie auch einen Garten haben, und sei er auch noch so winzig.

„Wollen Sie sich nicht setzen?“

„Doch … Ja, natürlich.“ Mit bebenden Fingern knöpfte Megan ihre cremefarbene Leinenjacke auf und nahm vorsichtig auf dem breiten Sofa Platz, auf dem eine wunderschöne marokkanische Decke lag. Bei dem Versuch, eine halbwegs bequeme Sitzposition zu finden, schoss ihr ein heißer, pochender Schmerz in den Oberschenkel. In Gegenwart dieses Adonis fühlte sie sich schrecklich unbeholfen, und sie schämte sich ihrer linkischen Bewegungen.

In der Zwischenzeit hatte Kyle einen gelben Sitzsack zum Sofa gezogen und ließ sich lässig ihr gegenüber hineinfallen. „Also gut“, begann er und ließ den durchdringenden Blick prüfend über ihr Gesicht gleiten, wobei er beunruhigend lange auf ihrem Mund verweilte, bevor er in aller Ruhe zu ihren dunklen, verschreckten Augen zurückkehrte. „Wie war Ihr Tag heute?“

Die Frage war ganz beiläufig gestellt, dennoch brachte sie Megan völlig aus dem Konzept. „Wie mein Tag war?“, echote sie schwach.

Um Kyles Mundwinkel zuckte es. „Eigentlich sollte das keine besonders komplizierte Frage sein.“

Errötend wich Megan seinem Blick aus und betrachtete stattdessen den bezaubernden Garten. „Tja, also … ich habe bis heute Nachmittag gearbeitet. Danach bin ich nach Hause gegangen, habe mir einen Tee gemacht, und dann bin ich hierher gekommen. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst noch sagen könnte …“

„Zum Beispiel, wie es Ihnen mit der Arbeit gegangen ist. Hatten Sie Spaß? Hat die Arbeit Sie befriedigt?“

„Es ist ein Job“, erwiderte Megan und versuchte krampfhaft, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. „Ich weiß nicht, was Sie erwarten … was ich …“

„Meine Erwartungen sind völlig unwichtig“, stellte Kyle sachlich fest. „Wichtig ist nur, dass Sie ehrlich mit sich sind. Also, Megan, wie war Ihr Tag?“

Mit Unbehagen nahm Megan zur Kenntnis, dass er mühelos ihren schwachen Punkt entdeckt hatte. Aber okay, sie würde versuchen, die Herausforderung anzunehmen.

Sie ließ den vergangenen Arbeitstag an ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Schließlich musste sie sich beschämt eingestehen, dass sie die meiste Zeit damit verbracht hatte, auf den Computerbildschirm zu starren und wie ein Roboter zu funktionieren. „Nichts Besonderes“, erwiderte sie nach einer Weile. Mehr traute sie sich nicht zu sagen, sonst hätte sie womöglich noch angefangen zu weinen.

„Tatsächlich?“ Kyle kniff skeptisch die Augen zusammen. „Ein berühmter Dichter hat mal gesagt, es gebe nicht Kostbareres als den Augenblick. Gab es da wirklich nichts Besonderes?“

Megan kam sich plötzlich vor wie ein dummes Schulmädchen und wünschte verzweifelt, der ganzen Situation entfliehen zu können. „Ich habe es nicht so gemeint, wie … wie es vielleicht klang. Hören Sie, im Grunde weiß ich nicht einmal, warum ich überhaupt gekommen bin. Ich habe nicht die geringste Vorstellung, was mich hier erwartet …“

„Vor allen Dingen sollten Sie sich erst einmal entspannen. Dies hier ist keine Prüfung, und ich verteile auch keine Noten. Wir unterhalten uns einfach eine Weile, und dann entscheiden Sie selbst, ob Ihnen das hier etwas bringt oder nicht.“

Zu Megans Entsetzen streifte Kyle ihr geschickt die Sandalen von den Füßen, als wäre es das Normalste auf der Welt. Dann stellte er sie ordentlich nebeneinander auf den polierten Eichenholzboden. Megans Kehle war wie zugeschnürt. Die unerwartete Berührung brannte auf ihrer Haut wie Feuer.

„Nackte Füße machen verletzlicher“, erklärte Kyle ihr locker. „Sie fördern die Offenheit, über das zu reden, was wirklich Sache ist.“

„Was wirklich Sache ist?“ Megans Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Warum haben Sie mich angerufen und sich mit mir verabredet, Megan?“

„Ich …“ Megan verstummte und errötete schuldbewusst. Nach einer kurzen Pause bekannte sie: „Meine Freundin hat Ihre Anzeige gesehen und gedacht, es könnte mich vielleicht interessieren. Um ganz ehrlich zu sein, hat sie mich regelrecht überredet, Sie anzurufen.“

Kyle verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln. „Mit anderen Worten, Sie wollten gar nicht kommen?“

„Das habe ich nicht gesagt …“

„Okay, vergessen wir das für den Moment. Können Sie mir etwas über Ihre Beziehung zur Kunst erzählen?“

Der skeptische Unterton in seiner Stimme entging Megan nicht. Kein Wunder, dachte sie. Vermutlich erlebte dieser Traummann es immer wieder, dass Frauen urplötzlich ihre leidenschaftliche Liebe zu den schönen Künsten entdeckten in der Hoffnung, ihn damit zu beeindrucken. Unwillkürlich straffte sie sich. Wenigstens in dem Punkt war sie sich ihrer sicher.

„Kunst ist mein Leben“, sagte sie schlicht. „Vor etwa zehn Jahren hatte ich einen Studienplatz am Slade College of Art. Ich war fest entschlossen, Malerin zu werden. Aber dann haben die Dinge sich leider … ganz anders entwickelt.“

„Können Sie mir sagen, was passiert ist?“

Megan befeuchtete sich mit der Zungenspitze die trockenen Lippen. Dieser Mann verwirrte sie, und es fiel ihr außerordentlich schwer, in seiner Gegenwart einen klaren Gedanken zu fassen. „Ich war sechs Monate auf der Kunstschule, als … als ich jemanden kennen lernte. Nick arbeitete für eine amerikanische Bank in der Stadt. Er war zehn Jahre älter als ich und unglaublich selbstbewusst …“ Sie zuckte leicht die Schultern, als würde sie eine uralte Platte abspielen, die niemand mehr hören wollte. „Wir haben geheiratet. Nick meinte, es sei reine Zeitverschwendung, wenn ich weiter aufs College ginge …“

Sekundenlang flammte Schmerz in Megans dunklen Augen auf, dann hob sie das Kinn und fuhr mit fester Stimme fort: „Um es kurz zu machen: Er hat mich schließlich dazu gebracht, mein Studium aufzugeben und den Job in der Bank anzunehmen. Seitdem stecke ich fest.“

Kyle zog die Beine an und verschränkte die Arme über den Knien. „Was genau hält Sie fest, Megan?“

Es folgte eine längere Pause. Megan spürte, dass Kyle sie beobachtete, und hatte das ungute Gefühl, dass er ihr bis auf den Grund ihrer Seele schauen konnte. Verlegen strich sie sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ich selbst, denke ich. Meine Ängste.“

„Wovor haben Sie Angst?“

„Nicht gut genug zu sein, um etwas anderes zu tun.“

„Nur weil Sie glauben, nicht gut genug zu sein, muss es nicht stimmen. Es ist nur Ihre subjektive Wahrnehmung und keineswegs eine Tatsache. Womit haben Sie sich beschäftigt? Malen? Zeichnen? Design?“

Unter dem Beschuss seiner Fragen wurde Megan ganz schwindlig. Einerseits fühlte sie sich dadurch in die Enge getrieben, andererseits spürte sie, dass Kyle wirklich interessiert daran war, ihrem Problem auf den Grund zu kommen. „Ich kann zeichnen“, erwiderte sie. „Und malen. Das heißt, ein bisschen.“

„Ein bisschen?“ Um Kyles Mundwinkel zuckte es. „Selbstdarstellung ist nicht gerade Ihre Stärke, stimmt’s?“

Megan erwiderte nichts.

„Ich nehme an, es war ziemlich schmerzhaft für Sie, Ihr Studium aufzugeben und Ihren Traum zu begraben?“

Megan seufzte gequält. „Ja“, sagte sie leise. „Nick behauptete, mein Studium sei nur eine Ausrede, um einer ernsthaften Arbeit aus dem Weg zu gehen. Er meinte, ich müsse endlich lernen, in der Realität zu leben.“

„Und wie denkt Ihr geschätzter Gatte heute darüber?“ erkundigte Kyle sich grimmig.

„Wir sind geschieden. Er hat mich wegen einer meiner engsten Freundinnen verlassen. Woran Sie auch gleich sehen können, wie es um meine Menschenkenntnis bestellt ist“, fügte Megan bitter hinzu und presste die nackten Zehen gegen den glatten Holzboden. Nach einer Weile riskierte sie einen vorsichtigen Blick in Kyles Richtung. Sie wartete auf irgendein Zeichen von ihm, wie es nun weitergehen sollte.

„Sind Sie auch Maler?“, fragte sie schließlich, nur um die spannungsgeladene Stille zu unterbrechen. Im selben Moment hätte sie sich wegen ihrer idiotischen Frage auf die Zunge beißen können. Weswegen war sie wohl sonst hierher gekommen?

Kyle streckte genüsslich die langen Beine aus. Offenbar fühlte er sich ausgesprochen wohl in seiner Haut. „Ja“, bestätigte er. „Wie bei Ihnen ist Kunst mein Leben.“

„Und? Sind Sie gut?“, platzte Megan heraus und errötete heftig. Doch zu ihrer Erleichterung schien Kyle ihr die taktlose Frage nicht übel zu nehmen. Er lachte leise, wobei sich winzige Fältchen um seine Augen bildeten. Alles an diesem dynamischen Mann vibrierte förmlich vor Lebendigkeit. Neben ihm kam Megan sich vor wie eine langsam verlöschende Kerze.

Während Kyle die bezaubernde Frau betrachtete, die ihm gegenübersaß, grübelte er darüber nach, was er ihr antworten sollte. Trotz ihrer Schönheit war ihr Selbstwertgefühl offenbar ziemlich angeschlagen. Wenn er ihr jetzt erzählte, dass sein Name in der internationalen Kunstwelt ein fester Begriff war, würde er sie damit nur noch mehr einschüchtern. Womöglich würde sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden, und das wäre das Letzte, was er wollte. Zumal ihm eine innere Stimme sagte, dass er einen Weg finden würde, ihr zu helfen.

„Sagen wir, ich kann davon leben“, erwiderte er diplomatisch. „In dieser Hinsicht habe ich Glück gehabt. Aber reden wir nicht von mir. Sie sind es, um die es hier geht.“

Als Kyle aufstand, fiel Megan zum ersten Mal auf, dass er ebenfalls barfuß war. Leder und nackte Haut. Die Kombination hatte eine unerwartet erotische Wirkung auf sie.

„Ich hole uns etwas zu trinken. Was möchten Sie? Ich habe fast alles da.“

„Kaffee bitte. Mit Milch und ohne Zucker.“

Megan kam die kleine Atempause mehr als gelegen. Sobald Kyle in der Küche verschwunden war, atmete sie tief durch und ließ den Blick durch den Raum gleiten.

Zuerst bemerkte sie das beeindruckende Porträt eines alten Indianerhäuptlings im vollen Federschmuck. Er wirkte so lebendig, als könnte er jeden Augenblick aus dem Bilderrahmen steigen. Dann entdeckte sie zu ihrer Freude einige erstklassige Drucke von Degas, Matisse, da Vinci, die auch zu ihren Lieblingsmalern gehörten.

Auf dem schönen Eichenboden lag ein Kelim mit einem erlesenen Muster. Die warmen Braun-, Terrakotta- und Gelbtöne wiederholten sich in den Kissen, die auf dem Sofa lagen. Insgesamt strahlte der Raum eine verführerische Behaglichkeit aus.

Aus der Küche hörte Megan das beruhigende Klappern von Porzellan und Besteck. Plötzlich spürte sie, wie ein Gefühl tiefer Erschöpfung sie übermannte, und für ein paar Minuten fielen ihr die Augen zu.

Als sie eine leichte Berührung am Knie spürte, fuhr sie erschrocken hoch und blickte in Kyles goldbraune Augen. Der frische männliche Duft seines After Shaves umfing sie, und völlig unerwartet durchflutete sie ein so starkes Verlangen, dass sie innerlich erbebte.

„Ihr Kaffee“, sagte Kyle. Er reichte ihr einen der beiden Becher, die er in den Händen hielt, und warf ihr dabei einen nachdenklichen, beinah distanzierten Blick zu. Dann setzte er sich wieder vorsichtig in seinen Sitzsack.

Eine Weile tranken sie schweigend den heißen, dampfenden Kaffee.

„Wie ist es zu Ihrer Gehbehinderung gekommen?“, fragte Kyle sie unvermittelt.

Um ein Haar hätte Megan den Inhalt ihres Bechers verschüttet. Noch nie hatte jemand sie so direkt danach gefragt. An so viel ungeschminkte Offenheit würde sie sich erst noch gewöhnen müssen.

Kyle sah die Bestürzung in ihrem schönen Gesicht und wartete geduldig auf ihre Antwort.

„Ich … ich hatte vor etwa anderthalb Jahren einen Unfall.“

„Was ist passiert?“ Aufmerksam beugte Kyle sich vor. An seiner Wange zuckte kaum merklich ein Muskel.

„Ich bin gestürzt.“

„Und wie ist es dazu gekommen?“

„Ich finde, Sie stellen zu viele Fragen.“

„Hier geht es um Ehrlichkeit, Megan, schon vergessen?“ erinnerte er sie sanft. „Glauben Sie, ich sehe nicht, wie schwer es Ihnen fällt, darüber zu reden? Aber auf Dauer ist es noch viel schmerzlicher, seinen Kummer in sich zu verschließen, als sich jemandem anzuvertrauen, der möglicherweise helfen kann.“

„Mag sein“, fuhr heftig Megan auf, „aber im Moment komme ich mir eher vor wie bei der spanischen Inquisition.“

„Ja, ich weiß“, lenkte er reumütig ein. „Manchmal kann ich unglaublich hartnäckig sein. Trotzdem sollten Sie bedenken, dass Sie keinen Schritt weiterkommen, solange Sie sich Ihren Problemen nicht stellen.“

Eine Weile schwiegen sie beide. Schließlich sah Megan auf und begegnete seinem Blick. Der sanfte, beinah zärtliche Ausdruck in seinen Augen traf sie mitten ins Herz. In seinem Gesicht spiegelten sich Stärke und Aufrichtigkeit, und auf einmal wusste sie, dass sie ihm vertrauen konnte.

„Eines Nachts hatten Nick und ich … einen Streit“, begann sie stockend. „Er … er hatte getrunken und schrie mich wegen irgendetwas an. Ich war viel zu aufgeregt, um darauf zu reagieren, also habe ich wortlos die Wohnung verlassen. Aber das hat ihn nur noch mehr gereizt, denn Nick hasst es, wenn man ihn ignoriert. Er kam mir hinterher und erwischte mich am oberen Treppenabsatz. Ich weiß noch, wie … wie ich einen Stoß im Rücken spürte, und dann … dann bin ich kopfüber die Treppe hinuntergestürzt …“ Sie schüttelte den Kopf, unfähig weiterzusprechen. Nach einer Weile fügte sie leise hinzu: „Es … es war kein Unfall. Er hat es … absichtlich getan.“

Die Erinnerung an den offenen Hass in Nicks Augen schnürte Megan die Kehle zu. Sie zwang sich, tief durchzuatmen, und rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Bei dem Sturz habe ich mir einen sehr komplizierten Beinbruch zugezogen, und leider verläuft der Heilungsprozess nicht besonders gut. Ich habe bereits zwei Operationen hinter mir und muss damit rechnen, dass noch weitere auf mich zukommen. Normalerweise sprechen mich die Leute nicht auf meine Behinderung an. Jedenfalls nicht so direkt. Ich nehme an, aus Höflichkeit. Vielleicht aber auch aus Angst.“

Kyles Mund war wie ausgetrocknet. Vorsichtig stellte er seinen Kaffeebecher auf den Boden. „Nun, wie Sie ja schon gemerkt haben, bin ich weder höflich noch ängstlich“, sagte er heiser. „Meine Güte, Megan, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut, was Ihnen geschehen ist. Einfach unfassbar, wie ein Mann seiner Frau so etwas antun kann. Haben Sie schon einmal versucht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen?“

„Sie meinen, einen Therapeuten?“ Megan schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Ich konnte nicht. Ich … ich habe mich so geschämt.“

„Geschämt?“ hakte Kyle behutsam nach.

„Ich … ich dachte, es wäre mein Fehler gewesen“, gestand sie ihm verzweifelt.

Frigide, verklemmte Zicke hatte Nick sie verächtlich genannt. Immer wieder hatte er ihr vorgeworfen, eine Niete im Bett zu sein, hatte behauptet, dass sie ihn mit ihrem Mangel an Experimentierfreude in die Arme anderer Frauen treibe. Doch das konnte sie Kyle unmöglich erzählen. Sie hatte sowieso schon das Gefühl, viel zu viel von sich preisgegeben zu haben.

„Darauf kann es nur eine Antwort geben, Megan“, erklärte Kyle mit finsterer Miene. „Niemand verdient es, eine Treppe hinuntergestoßen zu werden und dabei bleibende Verletzungen zu erleiden. Es war nicht Ihre Schuld, auch wenn Sie noch so überzeugt davon sind. Das Problem liegt bei Ihrem Mann, nicht bei Ihnen.“

„Exmann“, korrigierte Megan ihn eilig. „Zum Glück.“

„Natürlich. Ich bitte vielmals um Verzeihung“, sagte er und schenkte ihr ein betörendes Lächeln.

Erdbeeren und Schokolade. Ein Regenbogen nach einem Gewitter. Ein einsamer Strandspaziergang. Bei voller Lautstärke klassische Musik hören. Alles, was Megan liebte, schien sich in diesem Lächeln widerzuspiegeln.

„Sollten wir nicht lieber zum Thema Kunst zurückkehren?“ schlug sie nervös vor.

Kyle zuckte die Schultern und betrachtete sie mit amüsierter Nachsicht. „Es gibt keine festen Regeln, Megan. Wir können reden, worüber Sie wollen.“

„Ich möchte …“ Megans Kehle brannte. Sie konnte kaum schlucken. „Ich möchte malen. Werden Sie mir dabei helfen?“

In ihrer Stimme lag ein so anrührender Appell, dass sich Kyles Herz schmerzhaft zusammenzog. In ihren dunklen Augen schimmerten Hoffnung, Sehnsucht und noch viel mehr …

Und ob ich dir helfen werde, mein Engel! dachte er mit grimmiger Entschlossenheit. Und das ist ein Versprechen!

2. KAPITEL

„Nur noch eine Ausstellung, Kyle. Ist das denn zu viel verlangt?“

„Demi, ich habe das jetzt fünf Jahre lang gemacht. Wie kann ich dir nur begreiflich machen, dass ich einfach nicht mehr will?“

Kyle nahm sich eine Hand voll Erdnüsse aus der kleinen Schale, die auf dem Tischchen vor ihnen stand, und schalt sich im Stillen einen Narren. Warum hatte er sich bloß auf dieses Treffen eingelassen? Er hätte besser in seinem Atelier bleiben und malen sollen.

Doch stattdessen saß er jetzt mit dem schwerreichen Griechen im eleganten Armani-Anzug im luxuriösen Foyer des Hotel Intercontinental. Keine Frage, Demitri Papandreou war eine überaus charismatische Persönlichkeit. Mit seinen legendären Überzeugungskräften und den einflussreichen Verbindungen hätte er selbst den Saudis Öl verkaufen können, wenn er es gewollt hätte. Er war der geborene Geschäftsmann und nicht zuletzt auch ein beeindruckender Selbstdarsteller. Und – Ehre, wem Ehre gebührt – ihm hatte Kyle es zu verdanken, dass er in den vergangenen Jahren eine beispiellose Karriere gemacht hatte.

Doch als Kyle jetzt das tief gebräunte, markante Gesicht mit den unergründlichen Augen betrachtete, die ihn immer an schwarze Oliven erinnerten, wusste er, dass kein Angebot ihn verlocken konnte, so lukrativ es auch sein mochte.

„Wir hätten deine Bilder zehnmal verkaufen können, verstehst du? Zehnmal! Und ich weiß genau, dass sich in deinem Studio noch jede Menge Schätze befinden, die ich nicht einmal zu Gesicht bekommen habe.“ Demis feiste Wangen bebten vor Erregung, aber Kyle schüttelte bereits den Kopf.

„Und wenn schon. Ich bin nicht an noch mehr Geld interessiert.“

„Bist du verrückt?“ Demi war fassungslos. „Wer, um alles in der Welt, ist nicht an Geld interessiert? Was ist los mit dir? Ich habe dich zu einem reichen Mann gemacht, und jetzt willst du mir nicht einmal diesen kleinen Gefallen tun? So viele Leute interessieren sich für deine Arbeit, Kyle. Malen ist dein Leben. Wie kannst du sagen, dass du nicht mehr malen willst?“

„Das habe ich nicht gesagt“, stellte Kyle richtig. „Ich habe gesagt, dass ich diese Vernissagen und all diesen Rummel satt habe. Ich will zu den wesentlichen Dingen des Lebens zurückkehren. Diese letzte Party in Skiathos hat mir endgültig die Augen geöffnet, mein Freund.“

In Demis schwarzen Augen blitzte es vergnügt auf. „Aber es war verdammt gut, nicht wahr?“

Kyle trank einen Schluck Bier, dann stellte er bedächtig das Glas ab. „Nein“, widersprach er entschieden. „Es war überhaupt nicht gut.“

Ihm stand noch lebhaft das beinah surrealistische Gespräch vor Augen, das er auf jener bewussten Party mit irgendeiner hohlköpfigen Blondine geführt hatte, die einen Degas nicht von einem da Vinci unterscheiden konnte.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte ihn plötzlich die Erkenntnis getroffen, wie grauenhaft oberflächlich das Leben war, das er führte. Mit einem Schlag war ihm klar geworden, dass er bereits viel zu viel Zeit mit Leuten vertan hatte, die ihn nicht interessierten. Die horrende Preise für Kunst bezahlten und doch nie in der Lage sein würden, wahre Schönheit wahrzunehmen. Die sich an einen Lebensstil verkauft hatten, anstatt zu leben.

Nach all der Zeit hatte er immer noch nicht das Versprechen eingelöst, das er seiner Schwester Yvette gegeben hatte. Vor dem Autounfall, bei dem sie ums Leben gekommen war, hatte sie ihn oft angefleht: „Du darfst dein Talent nicht wegwerfen, Kyle. Tu etwas Außergewöhnliches damit. Du bist ein guter Mann. Du weißt, wie du die Menschen erreichen kannst. Versprich mir, dass du versuchst, einen Weg zu finden, ihnen mit deiner Arbeit zu helfen.“

Vor Jahren hatte er geglaubt, die Antwort gefunden zu haben. Er hatte angefangen zu unterrichten und dabei entdeckt, dass die Kunst einen geschützten Raum bot, verdrängte Gefühle und tief sitzenden Schmerz auszudrücken und dadurch selbst die schlimmsten seelischen Verletzungen zu heilen.

Die Erfahrungen, die er während seiner Lehrtätigkeit an der Kunsthochschule gemacht hatte, hatten ihn davon überzeugt, endlich den Weg gefunden zu haben, nach dem er so lange gesucht hatte. Es war etwas, worauf Yvette stolz gewesen wäre.

Doch dann war Demi Papandreou aufgetaucht, der ständig auf der Jagd nach neuen Talenten war, und Kyle hatte sich von den überschwänglichen Lobeshymnen des Griechen auf sein Talent den Kopf verdrehen lassen, hatte sich von dem schönen Schein von Ruhm und Glanz mitreißen lassen.

Vielleicht hatte Yvette ja eine zu hohe Meinung von ihm gehabt? Auch wenn seine Arbeiten mittlerweile fantastische Preise erzielten, blieb doch die Tatsache bestehen, dass er kurz davor gewesen war, seine Seele zu verkaufen. Eine Welle von Scham überrollte ihn. Vermutlich hatte seine schöne Schwester nicht einen einzigen Tag in ihrem Leben an oberflächliche Dinge vergeudet. Sie hatte die Fähigkeit besessen, jeden einzelnen Moment als Wunder zu betrachten …

„Komm schon, Kyle“, riss Demi ihn jäh aus seinen Gedanken. „Dieses ganze Gerede vom Sinn des Lebens kaufe ich dir nicht ab. Wenn es nicht das Geld war, weshalb du so überstürzt in dieses kalte, ungemütliche England zurückgekehrt bist, dann muss es eine Frau gewesen sein.“

Kyle lächelte und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss, mein Freund“, teilte er ihm mit. Gleichzeitig tauchte vor seinem inneren Auge das Bild einer schwarzhaarigen Schönheit mit dunklen Samtaugen und einer unglaublich aufregenden Figur auf …

„Komm schon, Kyle, ich kenne dich inzwischen gut genug, um zu sehen, wenn du lügst. Wer ist sie? Kenne ich sie?“

Kyle wusste genau, was dieses spezielle Glitzern in Demis Augen zu bedeuten hatte. Der exzentrische Grieche war berüchtigt für seine zahlreichen Frauengeschichten.

„Lass uns noch einen Drink bestellen“, wechselte Kyle geschickt das Thema und machte der vorbeigehenden Kellnerin ein Zeichen. Die hübsche Rothaarige, die einen engen schwarzen Rock und eine weiße Bluse trug, zückte ihren Block und warf Kyle aus ihren blauen Augen einen interessierten Blick zu. Dabei öffneten sich ihre glänzenden aprikosenfarbenen Lippen zu einem Lächeln, das eine unmissverständliche Einladung enthielt.

Ohne zu zögern, riss Demi die Zügel an sich. „Bringen Sie uns eine Flasche Champagner. Den besten, den Sie dahaben. Und noch etwas“, fügte er lebhaft gestikulierend hinzu. „Ignorieren Sie meinen Freund. Der hat anscheinend vergessen, wie man sich amüsiert. Aber Sie, mein Engel …“ Er machte eine Pause und musterte das Mädchen durchdringend mit seinen schwarzen Augen. „Irgendetwas sagt mir, dass das bei Ihnen durchaus nicht der Fall ist. Habe ich recht?“

Verärgert knüllte Megan die elegante Bluse zusammen, die sie heute bei der Arbeit getragen hatte, und warf sie achtlos in den Wäschekorb. Sie war wütend auf sich selbst. Wieder einmal hatte sie sich einverstanden erklärt, Überstunden zu machen, obwohl ihr Bein den ganzen Tag über höllisch geschmerzt hatte. Warum hatte sie nicht einmal hart bleiben und Nein sagen können?

Jetzt war es schon Viertel nach acht. Um acht Uhr wäre ihre zweite Verabredung mit Kyle gewesen. Selbst wenn sie sofort ein Taxi erwischte, würde sie es niemals vor halb neun bis Notting Hill schaffen.

„Mist!“ Megan stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete freudlos ihr Spiegelbild in dem goldgerahmten Badezimmerspiegel. Die schwarze Unterwäsche, die sie trug, war zwar hübsch, aber ziemlich konservativ. Dennoch sah sie mit ihrer schlanken, aufregend weiblichen Figur ungemein verführerisch aus. Doch Megan bemerkte es nicht einmal. Alles, was sie sah, war eine blasse junge Frau mit glanzlosen Augen und einem resignierten Zug um den Mund. Der traurige Schatten des leidenschaftlichen, lebenshungrigen Mädchens, das sie einmal gewesen war.

Gedankenverloren berührte sie ihr Gesicht mit den Händen. Nick hatte sie dazu gebracht, beinah alles an sich zu verachten. Es hatte nicht viel gefehlt, und er hätte ihr auch noch das Herz und ihren Willen gebrochen …

„Was machst du denn hier?“ Verwundert steckte Penny den Kopf durch die geöffnete Badezimmertür und biss herzhaft in eine Selleriestange. „Hast du nicht eine Verabredung mit diesem Wie-hieß-er-noch-gleich?“

„Ich gehe nicht hin.“

„Was soll das heißen, du gehst nicht hin?“ Mit gerunzelter Stirn sah sie zu, wie Megan sich gereizt ein schwarzes Sweatshirt über den Kopf zog und es über ihre Jeans zerrte. Im Stillen stellte sie bewundernd fest, dass ihre Freundin selbst dann noch umwerfend aussah, wenn sie schlechte Laune hatte.

Megan besaß jene Art von Schönheit, die für sich sprach. Mit ihrem schönen, ausdrucksvollen Gesicht konnte sie leicht auf Make-up verzichten. Dazu dieses himmlische schwarze Haar und eine Figur, bei der einfach alles am richtigen Platz zu sitzen schien. Unverständlich, dass Nick überhaupt andere Frauen wahrgenommen hatte, dachte Penny und seufzte. Nie würde sie die Männer verstehen, und wenn sie hundert Jahre alt würde.

„Ich bin viel zu spät dran. Um diese Zeit werde ich nie ein Taxi bekommen. Ich werde ihn anrufen und absagen. Höchstwahrscheinlich wird er mir sagen, dass ich gar nicht mehr wiederzukommen brauche.“ Megan griff nach ihrer Haarbürste und drängte sich an ihrer verblüfften Freundin vorbei ins Wohnzimmer.

Der gemütliche Raum wurde von zwei Stehleuchten erhellt. In einer Ecke lief leise der Fernseher. Mit grimmiger Miene blieb Megan davor stehen und betrachtete die beiden Frauen auf dem Bildschirm, die sich über irgendetwas stritten.

„Ich kann dich doch fahren, du Dummkopf!“ Sofort griff Penny nach ihrer eleganten italienischen Schultertasche und begann, nach den Autoschlüsseln zu kramen.

„Aber du bist doch selbst gerade erst nach Hause gekommen. Außerdem hasse ich es, ständig von deinen Fahrdiensten abhängig zu sein.“

Angesichts Pennys spontaner Hilfsbereitschaft bereute Megan ihre gereizten Worte sofort. Womit hatte sie nur eine so wundervolle Freundin wie Penny Hallet verdient? Sie war mit ihr durch dick und dünn gegangen, hatte alles für sie getan. Sie war es auch gewesen, die sie in jener schrecklichen Nacht ins Krankenhaus gebracht hatte. Schon lange vor diesem Vorfall hatte Penny kommen sehen, dass die Situation eines Tages eskalieren würde, und Megan immer wieder angefleht, ihren labilen Ehemann zu verlassen.

Hätte sie doch nur auf sie gehört! Dann wäre ihr Bein jetzt nicht von diesen hässlichen Operationsnarben entstellt, sie würde nicht hinken, und sie hätte auch nicht … Nein! Daran, an das Schrecklichste von allem, wollte sie nicht einmal denken. Nicht heute.

„O nein, nicht schon wieder diese Abhängigkeitsnummer“, stöhnte Penny gespielt verzweifelt. „Hör zu, Schätzchen, ich würde dich mit Vergnügen bis nach Australien und wieder zurück kutschieren, wenn ich dich damit aus deiner verdammten Trübsal reißen könnte. Und du kannst sagen, was du willst, dieses Treffen mit KH hat dir gut getan. Wie war noch sein Name? Kyle? Wenn du heute Abend zurückkommst, will ich alles über ihn wissen.“

Bei der Vorstellung, Penny zu berichten, wie sie Kyle gleich am ersten Abend all diese intimen Details aus ihrem Leben erzählt hatte, krampfte sich ihr Magen zusammen.

Die ganze letzte Woche hatte sie sich deswegen Vorwürfe gemacht. Was mochte er jetzt wohl von ihr denken? Sie wollte es sich lieber nicht vorstellen. Nein, es wäre Wahnsinn, sich noch einmal mit ihm zu treffen. Sie musste erst einmal lernen, wieder mit sich selbst zurechtzukommen, und sie bezweifelte stark, dass dieser unverschämt gut aussehende Herzensbrecher mit seiner coolen Gelassenheit und seiner provozierend direkten Art der Richtige war, ihr dabei zu helfen.

Andererseits war es zumindest ein Hoffnungsschimmer, und davon gab es in ihrem derzeit so trostlosen Leben nicht allzu viele. Mit Schaudern dachte sie an ihren morgigen Termin beim Physiotherapeuten. Diese Sitzungen waren jedes Mal eine Tortur, und hinterher schmerzte ihr Bein noch viel mehr als vorher. Aber der Therapeut hielt ihr immer wieder vor Augen, wie wichtig diese Behandlungen für sie seien.

„Fertig?“ Penny stand an der geöffneten Wohnungstür und klimperte mit den Autoschlüsseln.

Entschlossen riss Megan sich aus ihren Gedanken, nahm ihre Wildlederjacke vom Sofa und folgte ihrer Freundin nach draußen.

„Ein Glas Wein?“

„Nein, danke.“

Megan blickte sich befangen in der großen, hochmodernen Küche um. Der Boden war mit extravaganten Fliesen ausgelegt, über dem Herd aus Edelstahl hingen glänzende Kupferpfannen, penibel nach Größe sortiert. Kaum vorstellbar, dass in diesem Raum jemals gekocht wurde. Es gab weder Essensgerüche noch benutzte Töpfe auf dem Herd. Alles glänzte vor Sauberkeit. Auf der marmornen Arbeitsfläche standen eine Flasche Chardonnay und zwei langstielige Weingläser.

Sie beobachtete Kyle, wie er sich jetzt zu ihr umdrehte und sich lässig gegen die Spüle lehnte. Während er sie nachdenklich mit seinen goldbraunen Augen musterte, fragte sie sich beklommen, was ihm wohl gerade durch den Kopf gehen mochte. Hoffentlich bereute er nicht, sich auf ein weiteres Treffen mit ihr eingelassen zu haben. Erst in diesem Moment erkannte Megan, wie sehr sie sich gewünscht hatte, ihn wiederzusehen. Sie wollte herausfinden, wohin diese seltsamen Treffen führen würden und ob das Ergebnis ihr gefallen würde.

Heute Abend erschienen seine Wangenknochen ihr noch ausgeprägter, als sie es in Erinnerung hatte. Seine ganze Erscheinung war eine unwiderstehliche Kombination aus ausgeprägt männlicher Schönheit, gepaart mit kühler Intelligenz, die aus seinen klugen braunen Augen sprach. Wie ein Leuchtfeuer, das ihr den Heimweg zeigte … Megan fuhr leicht zusammen, als wäre sie aus Versehen einem Feuer zu nahe gekommen. Unwillkürlich drückte sie ihre Tasche enger an sich.

„Tut mir leid, dass ich so spät komme“, entschuldigte sie sich. „Ich musste länger arbeiten.“

Von wegen müssen! Sie hätte es ablehnen können. Lindsay, ihre Chefin, wäre zwar pikiert gewesen, aber sie hätte es akzeptiert, wenn – ja, wenn Megan nur endlich einmal für ihre Interessen eingetreten wäre.

„Sie sind gekommen, das ist die Hauptsache“, sagte Kyle und lächelte wieder dieses unwiderstehliche Lächeln.

Megan schluckte nervös. „Werden wir heute malen?“ erkundigte sie sich vorsichtig.

„Möchten Sie das denn gern?“

„Ich weiß ja nicht, was Sie geplant haben. Ich meine … ich …“

„Ich habe nichts geplant“, erklärte Kyle lakonisch und hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner engen schwarzen Jeans. Megans Blick glitt zu seinen schmalen Hüften und seinen langen Beinen in dem weichen, abgetragenen Stoff. „Ich fürchte, ich plane grundsätzlich nicht sehr viel.“

„Oh“, entfuhr es Megan. Ein beklommenes Gefühl machte sich in ihr breit. Noch immer hatte Kyle sich nicht darüber ausgelassen, worum es in ihren Stunden gehen würde, und als sie ihm beim letzten Mal Geld geben wollte, hatte er das rundheraus abgelehnt. „Warten wir ab, wie die Dinge sich in den nächsten Wochen entwickeln“, hatte er gemeint und ihr versichert, dass sie sich schon irgendwie einigen würden. Was immer das heißen mochte. Jedenfalls musste er ziemlich gut situiert sein, wenn er es nicht nötig hatte, seine Klienten sofort zur Kasse zu bitten.

„Haben Sie ein Problem damit?“ erkundigte Kyle sich in lockerem Tonfall.

Und ob sie das hatte. Bis zu ihrer Scheidung hatte Nick dafür gesorgt, dass ihr Leben nach einem streng durchorganisierten Tagesplan ablief. Mit der Zeit hatte Megan sich ebenso daran gewöhnt wie ein Gefangener an die Wände seiner Zelle.

„Es ist okay“, schwindelte sie und zuckte betont gleichgültig die Schultern. Auf keinen Fall wollte sie Kyle zeigen, wie sehr diese völlig offene Situation sie verunsicherte.

„Nein, ist es nicht.“

„Wie bitte?“

„Noch einmal, Megan. Ich habe keinen Lehrplan, an den ich mich halte. Vorerst versuche ich herauszufinden, was genau Sie an Unterstützung und Anleitung brauchen und wie ich Ihnen am besten dabei helfen kann. Macht das die Dinge ein bisschen klarer für Sie?“

Während er sprach, war er ein Stück näher an sie herangetreten. Sein erotischer männlicher Duft umfing sie, und Megan wünschte, ihr dummes Herz würde endlich aufhören, so wild zu schlagen.

„Geben Sie mir Ihre Tasche“, forderte er sie sanft auf.

Der weiche Klang seiner Stimme ließ Megan erschauern, und unwillkürlich tat sie, was er ihr sagte.

Kyle legte die Tasche beiseite, dann stellte er sich dicht vor sie hin, sodass sie direkt auf sein Kinn blickte. Sie sah die leichte Einkerbung in der Mitte, den Schatten der nachwachsenden Bartstoppeln, seine sinnlichen Lippen … Plötzlich fühlte sie sich seltsam benommen, unfähig, sich von der Stelle zu rühren.

„Und jetzt geben Sie mir Ihre Hand.“

Wie hypnotisiert gehorchte Megan. Kyle nahm ihre Hand und legte sie auf seine warme, breite Brust. Unter dem weißen T-Shirt spürte sie einen starken, gleichmäßigen Herzschlag. Megan wusste nicht, wie sie reagieren sollte. All ihre Sinne schienen plötzlich verrückt zu spielen.

„Beim Malen geht es nicht nur darum, eine physische Form wahrzunehmen. Geist und Seele spielen dabei eine ebenso große Rolle. Wenn man das versteht, kann jeder Pinselstrich zu einer Offenbarung werden. Sagen Sie mir, was Sie fühlen.“

Panik stieg in Megan auf. Angst und Erwartung überwältigten sie in gleichem Maße. Mit jeder Faser ihres Körpers war sie sich der Gegenwart dieses starken, vitalen Mannes bewusst, der ihre Hand an seine Brust drückte, als wollte er sie für immer dort festhalten. Kleine, erregende Schauer jagten durch ihren Körper. Ihre Zunge war wie gelähmt.

„Megan?“

„Ihr Herz.“ War das ihre Stimme? In Megans Ohren klang sie mehr wie ein Krächzen, und eine brennende Röte stieg ihr in die Wangen. „Ich … ich fühle Ihren Herzschlag.“

„Gut. Also weiß ich, dass ich lebe.“ Kyle hätte schwören können, noch nie so wunderschöne braune Augen, so hinreißend sinnliche Lippen gesehen zu haben. Ihr leichter Duft nach Vanille und Moschus ließ ihn an Samt und Seide denken, und augenblicklich spürte er, wie sein Körper auf sie reagierte. Nur mit großer Mühe gelang es ihm, sein Begehren niederzukämpfen. Sie blickte mit kindlichem Vertrauen zu ihm auf, in ihren Augen lag eine faszinierende Mischung aus Unschuld und Leidenschaft, Staunen und Angst …

Plötzlich entzog Megan ihm ihre Hand. Sie wich einen Schritt zurück und strich sich mit bebenden Fingern das Haar hinters Ohr.

Kyle begriff sofort, was diese Geste bedeutete: Bitte, tu das nicht. Ich bin noch nicht so weit.

Er nickte langsam, als wollte er auf ihren stummen Appell antworten. Nach einer Weile fragte er: „In welcher Farbe würden Sie meinen Herzschlag malen, Megan? Was haben Sie gefühlt, als Ihre Hand auf meinem Herzen lag?“

Verlegen wandte sie den Blick ab und richtete ihn starr auf ihre Schuhe. „Leidenschaft“, flüsterte sie. „Stärke …“

Leidenschaft! Warum, um Himmels willen, hatte sie nicht irgendetwas Unverfänglicheres gesagt? Aber hätte ihr das etwas genützt? Kyle war nicht der Typ, der sich mit Halbwahrheiten zufrieden gab. Offenbar war er fest entschlossen, der wahren Megan Brand auf die Spur zu kommen. Doch wer die wahre Megan Brand war, wusste nicht einmal sie selbst.

Dennoch, sie hatte Leidenschaft gespürt, als ihre Hand auf seinem Herzen gelegen hatte, und zwar jede Menge. Mit diesem Mann zu schlafen musste sein, wie den Wind zu reiten … Bei dem Gedanken wurden ihr die Knie weich.

„In welchen Farben würden Sie Leidenschaft und Stärke malen? Welche Form würden Sie ihnen geben? Kommen Sie mit, und versuchen Sie es einfach.“

Kyle nahm Megan bei der Hand und führte sie zu seinem Atelier, das sich in einem kleinen weißen Sommerhaus am Ende des Gartens befand. Es war im Stil einer Pagode gebaut, mit verschlungenem Gitterwerk auf den Kranzsimsen und Buntglasscheiben, die im abendlichen Zwielicht wie verzaubert wirkten.

Megan hielt vor Entzücken den Atem an. Sie traten ein, und als Kyle Licht machte, fühlte Megan sich unvermittelt in ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht versetzt. Unwillkürlich entfuhr ihr ein kleiner, begeisterter Aufschrei.

Hier gab es alles, wovon ein Künstlerherz nur träumen konnte. Staffeleien, Farbkästen, Leinwände. Die Luft roch nach Terpentin, Ölfarbe und Holz.

An einer Wand waren Bilder in verschiedenen Größen aufgestapelt. Vergeblich versuchte Megan, einen Blick darauf zu erhaschen. Sie hätte zu gern ein paar von Kyles Arbeiten gesehen. Vielleicht würde er sie ihr später einmal zeigen, wenn sie einander etwas besser kannten.

Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie Kyle eine Staffelei und eine bereits aufgezogene Leinwand vor einem der weit geöffneten Fenster aufstellte. Dabei nahm er sich viel Zeit. Als er die gewünschte Position gefunden hatte, blickte er zu ihr herüber und lächelte ihr aufmunternd zu. Nach der Hitze des Tages wehte eine angenehm kühle Brise herein und strich sanft über die jungfräuliche Leinwand.

„Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht“, bemerkte er in lockerem Plauderton, „aber ich kann wesentlich besser arbeiten, wenn frische Luft hereinkommt.“

Vor Aufregung konnte Megan kaum atmen. Es ist schon so lange her, dachte sie beklommen. Wer weiß, ob ich überhaupt noch etwas zustande bringe? Und wie würde Kyle auf ihre Bemühungen reagieren? Was, wenn sein Urteil vernichtend ausfiel?

Plötzlich wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie sich noch genauso verhielt wie in ihrer Ehe mit Nick. Immer schön darauf bedacht, mit allem, was sie tat, seine Zustimmung zu finden. Dabei hatte sie sich geschworen, sich nie wieder den Vorstellungen eines Mannes unterzuordnen. Doch dazu musste sie sich erst einmal selbst etwas mehr Freiraum zugestehen.

Die Frage war nur: Wie?

„Kommen Sie zurecht, oder soll ich Ihnen noch etwas erklären?“ Kyle hatte in der Zwischenzeit einen kleinen Wagen herangerollt. Auf einer Glasplatte stand ein geöffneter Farbkasten. Daneben lagen mehrere Pinsel in verschiedenen Stärken.

„Ich denke, ich komme klar.“ Megan lächelte ihm unsicher zu, und als er ihr Lächeln erwiderte, übermannte sie eine seltsame Schwäche.

„Dann überlasse ich das Feld jetzt Ihnen. Malen Sie die Leidenschaft, über die wir gesprochen haben. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Und noch etwas, Megan: Ich werde hinterher keine Noten verteilen. Drücken Sie einfach aus, was Sie fühlen, okay? Ich mache erst mal einen Kaffee.“

„Kyle?“

Die Hand schon am Türgriff, verharrte er mitten in der Bewegung und drehte sich noch einmal zu ihr um. „Ja?“

„Danke.“

„Nein“, erwiderte er ruhig. „Ich danke Ihnen.“ Dann war er verschwunden.

3. KAPITEL

„Holen Sie mir einen Kaffe, Megan.“

Megan blickte von ihrem PC auf und betrachtete die Blondine im dunkelblauen Businesskostüm. Der kirschrote Lippenstift, den Lindsay aufgelegt hatte, bildete einen merkwürdigen Gegensatz zu ihrer sauertöpfischen Miene.

Kein Bitte, kein Wären Sie wohl so nett? Megan presste die Lippen zusammen und zwang sich, ruhig zu bleiben.

Lindsay Harris war eine überaus ehrgeizige Bankerin in den Dreißigern, die selbst dem größten Druck kühl und emotionslos standzuhalten schien.

In all den Jahren, die Megan jetzt für sie arbeitete, hatte sie nicht den kleinsten Riss in der beeindruckenden Fassade dieser Frau entdecken können. Karriere war das Einzige, was für sie zählte, und jeder, der nicht genauso dachte, verdiente in Lindsays Augen keinen Respekt.

Als Megan wegen ihres Beinbruchs im Krankenhaus gelegen hatte, hatten sämtliche Kolleginnen sie besucht, um sie zu trösten und ihrem Mitgefühl Ausdruck zu verleihen. Nicht so Lindsay. Sie hatte es als unglaubliche Zumutung empfunden, so lange auf ihre Assistentin verzichten zu müssen, und das hatte sie Megan von der Minute an spüren lassen, da sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war.

„Geben Sie mir zwei Minuten, um diesen Bericht fertig zu machen, Lindsay, dann hole ich Ihnen einen.“

„Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen mir einen Kaffee holen, dann meine ich damit nicht in ein paar Minuten, sondern gleich!“ zischte Lindsay.

Megan sah sie schockiert an und überlegte krampfhaft, wie sie reagieren sollte. Eins war klar: Sie müsste verrückt sein, wenn sie jetzt demütig den Kopf senken und klein beigeben würde.

„Tut mir leid, Lindsay“, erwiderte sie beherrscht, „aber dieser Bericht muss dringend in unser New Yorker Büro gefaxt werden. Bis dahin wird Ihr Kaffe leider warten müssen.“

Megan konnte selbst kaum glauben, dass sie das gesagt hatte, und dem Ausdruck in Lindsays blassblauen Augen nach zu schließen, ging es ihrer Chefin ganz genauso. Dies war das erste Mal, dass ihre sanfte, arbeitsame Assistentin es wagte, sich ihr zu widersetzen.

Megan ignorierte das Druckgefühl in ihrem Magen und ordnete einige Papiere auf ihrem Schreibtisch zu einem sauberen Stapel. Dann konzentrierte sie sich demonstrativ wieder auf ihren Bildschirm.

Ausgerechnet in diesem Moment platzte Barbara, eine Kollegin von Megan, zur Tür herein.

„Hi, Meg“, begrüßte sie sie gut gelaunt. „Ich wollte dich nur daran erinnern, dass wir heute nach der Arbeit alle etwas trinken gehen. Du weißt ja, Sue hat Geburtstag.“

Lindsay fuhr herum und funkelte die junge Frau mit dem roten Lockenschopf aufgebracht an. „Kein Wunder, dass hier alles liegen bleibt, wenn ihr euch die Hälfte der Zeit um euer Privatleben kümmert.“

Barbara blieb völlig unbeeindruckt. „Entschuldigung, dass ich atme“, erwiderte sie schnippisch und rauschte hoch erhobenen Hauptes aus dem Zimmer.

Eilig wandte Megan sich wieder ihrem PC zu und begann, verbissen auf die Tastatur einzuhämmern. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, aber um keinen Preis wollte sie ihrer Chefin zeigen, wie aufgewühlt sie war.

„Also gut, Megan. Sobald Sie dieses verdammte Fax abgeschickt haben, will ich Sie in meinem Büro sehen, und zwar umgehend.“

Wenig später hörte Megan, wie die Tür zu Lindsays Büro krachend zuschlug. Sie unterbrach ihre hektische Tipperei und gönnte sich erst einmal ein paar tiefe Atemzüge. Irgendetwas musste in den oberen Etagen vorgefallen sein, denn normalerweise gab ihre Chefin sich stets kühl und gelassen.

Was für ein Pech, dass die gute alte Megan ausgerechnet heute keine Lust hatte, den Fußabtreter zu spielen.

Was mochte wohl diese ungewöhnlich rebellische Stimmung in ihr ausgelöst haben? Vielleicht hatte es ja etwas mit Kyle zu tun, mit der erregenden Erfahrung, mit ihm zusammen zu sein. Oder lag es daran, dass sie gestern Abend ihre Vision von Leidenschaft auf der Leinwand dargestellt hatte? Wie auch immer – langsam, aber sicher erwachte eine Kraft, die bisher unbemerkt in ihr geschlummert hatte. Eine Kraft, die nicht länger zuließ, dass sie die ängstliche Megan blieb, die sich widerspruchslos ausnutzen ließ. Die sie eines Tages dazu bringen würde, für sich selbst einzustehen und sich endlich zu wehren …

Wohl zum tausendsten Mal an diesem Tag wanderte Kyles Blick zu Megans Bild.

Sie solle Leidenschaft malen, hatte er ihr gesagt, und genau das hatte diese Frau getan! Zwei Stunden lang hatte sie all ihre ungestümen Gefühle auf der Leinwand ausgelebt. Ihre Sehnsüchte, ihre Enttäuschung, ihre Qualen, ihre aufgestaute Wut. Das Ergebnis war eine grelle Offenbarung heißer Farben, die Kyle mitten in die Seele drang und ihn mit der Frage zurückließ, ob er wohl imstande wäre, etwas so Kraftvolles zu schaffen. Selbst für einen Laien war zu erkennen, dass dem Bild etwas Magisches anhaftete, etwas absolut Einzigartiges.

Es zeigte eine sitzende Frau in einem leuchtend roten Kleid, die den Kopf in die Hände stützte. Das lange Haar verbarg dem Betrachter ihr Gesicht. Rings um sie her lagen weiße Rosenblüten, blutbefleckt und gewaltsam abgerissen. Über der beklemmenden Szene wölbte sich ein blassblauer Himmel, an dem sich grauschwarze Wolken zusammenzogen. Die Füße der Frau waren nackt, in einen von ihnen steckte der Dorn einer Rose, der sich tief in das blasse Fleisch bohrte. Erst jetzt bemerkte Kyle den kleinen goldenen Gegenstand, der – fast völlig versteckt unter einer der Rosenblüten – auf dem Boden aufblitzte. Er ging ihn die Hocke, um ihn aus der Nähe zu studieren. Es war ein Ehering.

„Meine Güte!“, murmelte Kyle und stieß hörbar die Luft aus.

Megans Bild erzählte ihm mehr, als Worte es je vermocht hätten. Jeder, der Augen im Kopf und ein lebendiges Herz im Leib hatte, musste sehen, wie tief diese Frau verletzt worden war. Heißer Zorn stieg in ihm auf, und er schwor sich, diesen Mistkerl von Exmann zu Hackfleisch zu verarbeiten, sollte er ihn je in die Finger bekommen …

Kyle zwang sich, tief durchzuatmen, und kam wieder auf die Füße.

Megan!

Plötzlich packte ihn ein überwältigendes Verlangen, sie zu sehen. So zwingend, dass sein Herz dumpf zu hämmern begann. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz nach zwölf. Wahrscheinlich ging sie um diese Zeit in die Mittagspause. Er könnte sie zum Essen einladen und – ja, und dann?

Megan war seine Klientin und könnte es als unprofessionell empfinden, wenn er plötzlich unangemeldet an ihrem Arbeitsplatz auftauchte.

Ach, zum Teufel! sagte er sich und fegte seine Bedenken beiseite. Er hatte sich noch nie um irgendwelche Regeln geschert, und er wollte verdammt sein, wenn er jetzt damit anfinge …

„Wer hätte das von dir gedacht, Megan Brand? Aber ich sage ja immer, stille Wasser sind tief.“

Megan saß an ihrem Schreibtisch und blickte auf. Mit einem Pappbecher, in dem heißer Kaffee dampfte, und einem viel sagenden Lächeln auf den Lippen betrat Barbara ihr Büro. Im ersten Moment glaubte Megan, dass sie auf die kleine Episode mit Lindsay anspielte, doch dann wurde sie umgehend eines Besseren belehrt.

„Da unten steht ein unverschämt gut aussehender Typ und verlangt nach dir“, platzte Barbara heraus. Ihre Augen glitzerten vor Neid und Bewunderung. „Stell dir vor, ich komme gerade von der Pause zurück, da sehe ich ihn am Empfangstresen stehen und mit dieser mannstollen Lucy Draper reden. Zufällig musste ich ebenfalls dort vorbeigehen, und bei der Gelegenheit habe ich mich erkundigt, ob ich ihm irgendwie helfen könne. Ich nehme an, du kannst dir meine Reaktion vorstellen, als er nach dir gefragt hat. Kein Wunder, dass du den Kerl vor uns geheim gehalten hast!“

„Und hat er … hat er gesagt, wie er heißt?“ Megan kannte nur einen Mann, auf den Barbaras Beschreibung passen könnte, aber der konnte es auf keinen Fall sein.

„Kyle. Ist das sein Vor- oder sein Zuname?“

Megan hörte die Frage kaum. Die Nachricht, dass ihr attraktiver Lehrer unten in der Lobby auf sie wartete, löste augenblicklich einen Adrenalinschub in ihrem Körper aus. Plötzlich überfiel sie Panik. Was, wenn ihm ihr Bild nicht gefallen hatte? Wenn er gekommen war, um ihr zu sagen, dass es keinen Zweck hätte, wenn sie weiter zu ihm käme?

Reiß dich zusammen, Megan! befahl sie sich und stand mit zitternden Knien auf. Sie strich sich den Rock glatt, nahm ihre Kostümjacke vom Garderobenständer und zog sie an. Nach einem prüfenden Griff in ihr Haar sah sie Barbara an und zog unsicher die Schultern hoch. „Wie sehe ich aus?“

„Als würdest du dem armen Mann gleich das Herz brechen“, versicherte Barbara ihr trocken.

Trotz ihrer Anspannung musste Megan lachen. „Mein Ego fühlt sich geschmeichelt, aber ich glaube dir kein Wort.“

Barbara zuckte die Schultern. „Ich sage nur, was ich denke. Und jetzt verschwinde, und lass deinen Verehrer nicht länger warten …“

Als die Lifttür sich öffnete, musste Kyle zweimal hinschauen. Aus dem Aufzug trat eine coole Schönheit im eleganten anthrazitfarbenen Leinenkostüm, unter dem ein weißes Seidentop schimmerte. Das üppige schwarze Haar hatte sie im Nacken zu einem klassischen Pferdeschwanz zusammengenommen. Sie sah unglaublich aus. Wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die gerade auf dem Weg zu einer Konferenz war.

In diesem Moment entdeckte Megan ihn. Zu seiner stillen Freude bemerkte Kyle, wie ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg.

Er sah, wie sie sich bemühte, ihr Bein nicht allzu sehr nachzuziehen. Der Anblick schnitt ihm ins Herz, und plötzlich empfand er eine unbeschreibliche Zärtlichkeit für sie. Gleichzeitig packte ihn die kalte Wut, wenn er daran dachte, wie sie zu ihrer Verletzung gekommen war.

Als Megan schließlich vor ihm stand, blickte er lächelnd in ihre dunklen, fragenden Augen und berührte unwillkürlich ihre Wangen mit den Fingerspitzen. „Ich wollte Sie sehen.“

„Wenn ein Lehrer seine Schülerin sehen will, hat das meist nichts Gutes zu bedeuten.“ Megan versuchte, dabei möglichst locker zu klingen, doch in Wahrheit war sie völlig durcheinander. Sie konnte nur hoffen, dass er es ihr nicht allzu sehr anmerkte.

Kyle lachte. Der dunkle, sinnliche Klang seiner Stimme ließ Megan an Dinge denken, die sie noch nie zuvor getan hatte. Ihr Mund wurde trocken.

„Können Sie jetzt eine Pause machen?“ erkundigte er sich und fügte drängend hinzu: „Wir müssen reden.“ Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ergriff er ihre Hand und zog Megan ein Stück dichter an sich heran.

Der herbe Duft seines After Shaves und die Nähe seines muskulösen männlichen Körpers schalteten jeden vernünftigen Gedanken in Megan aus. Einige Sekunden lang spürte sie nur noch seine dynamische Gegenwart, sah nur noch die goldenen Funken in seinen hellbraunen Augen …

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie mitten auf dem Präsentierteller standen. Verlegen machte sie sich von ihm los und blickte sich nervös in der großen, luxuriösen Eingangshalle um. Lucy, die Empfangsdame, verschlang Kyle beinah mit den Blicken. Zwei Sekretärinnen aus der vierten Etage warfen ihm verstohlen begehrliche Blicke zu.

„Was ist denn so wichtig, dass Sie sich extra die Mühe gemacht haben, mich bei der Arbeit aufzusuchen? Es ist doch hoffentlich nichts Schlimmes?“

„Nein, ist es nicht, Megan. Sie müssen wirklich damit aufhören, immer gleich mit einer Katastrophe zu rechnen. So etwas kann zur Gewohnheit werden.“

Unwillkürlich musste Megan lächeln. Es tat gut, ihn zu sehen, und außerdem gewann sie allmählich den Eindruck, dass ihm tatsächlich etwas an ihr lag.

„Ich wollte mit Ihnen über Ihr Bild sprechen.“

Sein Kommen hatte also keine persönlichen Gründe. Megan versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Hat es Ihnen nicht gefallen?“, fragte sie steif.

„Sehen Sie, Sie haben es schon wieder getan.“ Kyle sah sie ernst an. „Es geht nicht darum, ob es mir gefällt oder nicht. Ich hatte Sie gebeten, ihre Vision von Leidenschaft auf die Leinwand zu bringen, und das haben Sie getan. Kommen Sie, lassen Sie uns von hier verschwinden und irgendwohin gehen, wo wir etwas essen und reden können.“

Er berührte leicht ihren Arm und führte sie aus dem unpersönlichen Glaspalast hinaus, in den sie seiner Meinung nach ebenso wenig passte wie er selbst.

„Sie haben da etwas an Ihrem Kinn.“

Bevor Megan reagieren konnte, hatte Kyle schon die Hand über den kleinen Tisch gestreckt. Mit dem Zipfel seiner Serviette entfernte er behutsam einen winzigen Tropfen Sahnesauce von ihrem Kinn.

Seit sie das gemütliche italienische Restaurant betreten hatten, das in einer kleinen Seitenstraße von Soho lag, hatte Megan ständig das Gefühl, sich gefährlich nah am Rand eines Abgrunds zu bewegen.

„Leider habe ich noch keine elegante Methode herausgefunden, Spaghetti Carbonara zu essen“, entschuldigte sie sich mit einem verlegenen Lächeln.

Elegant oder nicht, Kyle fand es ausgesprochen erotisch, ihr beim Essen zuzusehen. „Sie machen das großartig“, versicherte er ihr und trank einen Schluck Rotwein. Nach einer Weile fragte er sie: „Wie lange arbeiten Sie schon bei dieser Bank?“

„Seit zehn Jahren.“

„Eine ziemlich lange Zeit für einen Job, den Sie nicht einmal mögen.“

Megan senkte den Blick und legte ihre Gabel auf den Teller. „Zu lange“, erwiderte sie leise und strich sich das Haar zurück.

Die unerfreuliche Auseinandersetzung mit ihrer Chefin heute Morgen hatte ihr endgültig klar gemacht, wie fehl am Platz sie sich dort fühlte.

„Und was hält Sie dort?“

„Von irgendetwas muss ich ja schließlich leben.“

„Haben Sie nie daran gedacht, es mit einer Arbeit zu versuchen, die Ihnen Freude macht?“

„Natürlich habe ich das. Aber was bleiben mir schon für Alternativen?“ Sie umschloss mit den Fingern den schlanken Stiel ihres Weinglases und versank in Schweigen. Schließlich blickte sie auf und sah, wie Kyle sie stirnrunzelnd betrachtete.

„Sie sind eine schöne, intelligente Frau. Sie könnten alles erreichen, wenn Sie es sich nur fest genug vornehmen.“

Megan lachte bitter auf. „Ach wirklich? Wie wär’s, wenn ich mich dafür entscheide, den nächsten Londoner Marathonlauf zu gewinnen?“ Ihr Sarkasmus erschreckte sie selbst, und gleichzeitig wusste sie, wie ungerecht sie war. Schließlich war offensichtlich, dass Kyle ihr nur helfen wollte.

Abgesehen von einem kurzen Aufflackern in seinen Augen, verriet seine Miene nichts. „Alle möglichen Leute nehmen am Marathon teil“, entgegnete er sachlich. „Selbst Behinderte.“

Heiße Tränen stiegen Megan in die Augen. „So sehen Sie mich also. Als Behinderte.“ Verstört knüllte sie die Serviette auf ihrem Schoß zusammen.

„Sie verstehen mich nicht“, widersprach er ihr ruhig. „Ich wollte Ihnen damit lediglich klarmachen, dass sich jeder seine Grenzen selbst setzt. Letztendlich kommt es allein auf das Bild an, das Sie von sich selbst haben, und nicht auf die Meinung anderer. Wenn Sie zum Beispiel an einer Arbeit festhalten, die Sie hassen, weil Sie überzeugt davon sind, keine Alternative zu haben, dann ist das so, als würden Sie sich selbst in ein Gefängnis sperren und anschließend den Schlüssel wegwerfen.“

Megan wusste, dass er recht hatte. Dennoch bezweifelte sie, dass es so einfach war, ihre Situation zu verändern.

„Ihr Bild hat mich umgehauen.“

Die unerwartete Bemerkung traf Megan wie ein Blitzschlag.

„Ich kenne professionelle Maler, die ihre Seele verkaufen würden, um eine Arbeit zu Stande zu bringen, wie sie ihnen gestern Abend gelungen ist. Glauben Sie mir, Megan, ich bin lange genug im Geschäft, um echtes Talent zu erkennen, und Sie besitzen es. Sie müssen es nur zum Vorschein bringen.“

Megan sah ihn fassungslos an. „Sie glauben, ich könnte … ich meine …“

„Ich bin definitiv davon überzeugt, dass Sie das Zeug haben, sich als Malerin durchzusetzen.“

Vor fünf Jahren hatte Kyle das Rauchen aufgegeben, doch bei Megans Anblick, wie sie ihm atemlos und mit glühenden Wangen zuhörte, überkam ihn ein starkes Bedürfnis nach einer Zigarette. Er brauchte dringend etwas, um seinen Adrenalinspiegel unter Kontrolle zu bringen.

Instinktiv spürte er, dass in dieser Frau dieselbe ungezügelte Leidenschaft brannte wie in ihm. Sie muss eine atemberaubende Geliebte sein, ging es ihm durch den Kopf. Der Gedanke erregte ihn augenblicklich. Er betrachtete ihre dunklen, dicht bewimperten Augen, die zierliche, gerade Nase, den sinnlichen Mund. Ihre volle Unterlippe glänzte feucht vom Rotwein …

Jeder anderen Frau hätte er jetzt klar zu verstehen gegeben, dass er sie wollte, aber Megan Brand war nicht irgendeine Frau. Außerdem wollte er ihr bei ihrer künstlerischen Entwicklung helfen, und damit war es ihm wirklich ernst. Nein, es wäre gar nicht gut für sie, wenn er jetzt versuchte, ihr näher zu kommen.

„Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, was das für mich bedeutet.“ Megan war so aufgeregt, dass die Worte nur so aus ihr heraussprudelten. „Natürlich ist mir klar, dass ich hart an mir arbeiten muss und all das, aber jetzt, da ich weiß, dass ich eine Chance habe, werde ich niemals aufgeben. Halten Sie es für möglich … ich meine, könnten Sie sich vorstellen, mir weiter Stunden zu geben? Ich werde Sie natürlich dafür bezahlen, das ist selbstverständlich …“

Verlegen verstummte sie und blickte starr auf den Tisch. Dieser Mann hatte sicher Besseres zu tun, als sich mit einer blutigen Anfängerin abzugeben, die noch dazu ein seelisches Trauma mit sich herumschleppte. Was hatte sie nur dazu getrieben, eine so anmaßende Bitte an ihn zu richten?

Kyle presste die Lippen zusammen, und der weiche Ausdruck in seinen Augen verschwand. „Geld interessiert mich nicht“, erwiderte er schroff. „Das Einzige, was mich interessiert, ist die Befriedigung, ein viel versprechendes Talent, wie Sie es sind, zu fördern. Erst wenn Sie das akzeptieren können, bin ich bereit, meine Zeit und meine Erfahrungen zu investieren. Habe ich mich klar ausgedrückt, Miss Brand?“

Seine Worte lösten die verschiedensten Empfindungen in Megan aus. Euphorie. Angst. Außerdem fürchtete sie, ihn mit ihrem Zahlungsangebot beleidigt zu haben. „Ich wollte nicht …“ begann sie hilflos und unterbrach sich gleich wieder. „Also gut“, erklärte sie schließlich widerstrebend. „Ich danke Ihnen und akzeptiere Ihr Angebot.“

Die Art, wie Kyle sie ansah, war wie eine körperliche Berührung.

„Ich hoffe nur, es wird sich für Sie lohnen“, sagte er leise.

Du kennst die Kunstszene nicht, dachte er im Stillen. Heute heben sie dich in den Himmel, und morgen lassen sie dich eiskalt wieder fallen. Im Laufe der Jahre hatte er immer wieder festgestellt, wie bedeutungslos Ruhm und Erfolg letztendlich waren. Doch eins wusste er genau: Selbst wenn ihn eines Tages niemand mehr kennen sollte und er ohne einen Cent in der Tasche in einer Garage hausen müsste – er würde immer noch malen. Und es war ein gutes Gefühl, das zu wissen.

4. KAPITEL

Mitten in der Nacht wachte Megan plötzlich auf. Sie war schweißgebadet und hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Heftig stieß sie die zerwühlte Bettdecke weg und drehte sich auf die Seite. Doch als sie versuchte, sich auf die Bettkante zu setzen, schoss ein so unerträglicher Schmerz durch ihr Bein, dass sie hilflos aufschrie.

„O nein, bitte!“

Sie drängte die aufsteigenden Tränen zurück und massierte sich mit beiden Händen das Bein, um sich Erleichterung zu verschaffen. Der Anblick der noch frischen roten Operationsnarben an Knie und Oberschenkel gab Megan den Rest. Verzweifelt schloss sie die Augen und ließ den Kopf nach vorn fallen.

Schließlich richtete sie sich wieder auf und schaute auf die grüne Digitalanzeige ihres Weckers. Es war drei Uhr nachts. Ihre schlimmste Zeit. Um diese Zeit erwachten ihre inneren Dämonen, um sie zu jagen. Einer nach dem anderen würden sie hervorkriechen, um sie zu quälen und langsam, aber sicher von ihrem Verstand Besitz zu ergreifen.

O verdammt! Diese Schmerzen machten sie noch wahnsinnig.

Megan schleppte sich in die Küche, wo sie die Schachtel mit den Schmerztabletten aufbewahrte. Mit zitternden Händen nahm sie zwei weiße Kapseln heraus und spülte sie mit einem Glas Wasser herunter. Das Medikament war so stark, dass es sie jedes Mal ganz benommen machte. Sie verabscheute diese Nebenwirkung, aber in ihrem jetzigen Zustand war sie beinah froh darüber.

Außer dem Geräusch gelegentlich vorbeifahrender Autos war es ganz still in der Wohnung. Zu still. Megan blickte starr auf das Wasserglas in ihren Händen. Ihre Augen brannten vor Erschöpfung, während ihr tausend Gedanken durch den Kopf jagten.

Ausgerechnet heute übernachtete Penny bei ihrem Freund Ryan. Normalerweise hatte Megan kein Problem damit, allein zu sein, doch jetzt, da ihre Aussichten auf Schlaf gleich Null waren, hätte sie die aufmunternde Gesellschaft ihrer Freundin gut brauchen können.

Tiefe Niedergeschlagenheit übermannte sie. Quälende Erinnerungen fielen über sie her wie böse Geister. Nick. Der Mann, in den sie so verliebt gewesen war, dass sie ihm ihren kostbaren Studienplatz geopfert hatte. Der sich in wenigen Wochen von einem zärtlichen, aufmerksamen Liebhaber in einen unberechenbaren, rücksichtslosen Schürzenjäger verwandelt hatte. Wie hatte sie nur je in Betracht ziehen können, Kinder mit ihm zu haben?

Kinder!

Es verging kaum ein Tag, an dem Megan nicht an das Baby dachte, das sie verloren hatte. Als sie erfuhr, dass sie schwanger war, war ihre Ehe schon nicht mehr zu retten gewesen. Zuerst war es ein Schock für sie gewesen, doch dann wurde das neue Leben, das in ihr heranwuchs, zur geheimen Quelle ihres Glücks.

Noch heute schämte sie sich, wenn sie an die Nacht dachte, in der es passiert war. Nick war wieder einmal betrunken gewesen, und sie hatte sich an einem solchen Tiefpunkt befunden, dass sie nicht die Kraft gefunden hatte, ihn abzuweisen.

Der Gedanke, ihr Kind allein aufzuziehen, hatte ihr zwar Angst gemacht, dennoch war sie fest dazu entschlossen gewesen. Es war immer noch besser, es bei einem liebenden Elternteil aufwachsen zu lassen, als ihm einen brutalen Egozentriker als Vater zuzumuten. Sie hatte Nick bewusst nichts von dem Kind gesagt, aus Angst, er würde einen Weg finden, es ihr wegzunehmen, wenn es auf der Welt war.

Aber so lange hatte er gar nicht gewartet …

Verzweifelt barg Megan das Gesicht in den Händen. Der Gedanke an den erlittenen Verlust zerriss ihr fast das Herz. Es tat so unerträglich weh, dass sich ihr ein hilfloser Schmerzenslaut entrang. Ihr kostbares Baby zu verlieren hatte ihr den Rest gegeben. Im Vergleich dazu war die Sache mit dem Bein fast bedeutungslos.

Hör auf, darüber nachzugrübeln, Megan! befahl sie sich. Du musst es endlich vergessen, und zwar für immer.

Als sie unbeabsichtigt das verletzte Bein belastete, durchfuhr sie wieder ein heißer Schmerz. Im letzten Moment konnte sie sich noch am Küchentresen festklammern und verhindern, dass sie zu Boden stürzte. Sie atmete mehrmals tief durch, um ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen.

Du solltest jetzt wirklich jemanden anrufen, sagte sie sich. Wo hatte sie nur den Zettel gelassen, auf dem Penny ihr Ryans Nummer aufgeschrieben hatte? Dann fiel ihr ein, dass sie ihn an die Pinnwand neben dem Küchentelefon geheftet hatte.

Sie blickte über den schwarz-weiß gefliesten Küchenboden. Plötzlich schien der Raum die Ausmaße eines Ballsaales anzunehmen. Wie sollte sie es jemals schaffen, auf die andere Seite zu gelangen? Sie wagte nicht, das kranke Bein erneut zu belasten. Wenn sie dabei stürzte, würde sie womöglich nicht mehr in der Lage sein, wieder aufzustehen, und was dann?

Autor

Nicola Marsh
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