Julia Exklusiv Band 344

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

EHEMANN GESUCHT von RENEE ROSZEL
Dank künstlicher Befruchtung wird für Sally ihr größter Wunsch wahr: ein Baby! Einen Vater soll es nicht geben, denn von Männern hat sie die Nase voll. Doch dann kündigen ihre konservativen Großeltern einen Besuch an. Ein Ehemann muss her! Wird der smarte Arzt Noah Barrett Sally aus der Patsche helfen und ihren Ehemann spielen?

AUF ROSAROTEN WOLKEN von PENNY JORDAN
Ein Traum geht für Imogen in Erfüllung: Der erfolgreiche Dracco Barrington bittet sie, seine Frau zu werden. Doch am Morgen der Trauung nimmt ihre Schwiegermutter sie zur Seite und teilt ihr kühl mit, dass Dracco eine andere liebt ...

ZU LANG ALLEIN? von CAROLINE ANDERSON
Ein Baby! Nichts wünschen Laurie und Rob sich mehr. Doch die Monate vergehen – Laurie wird nicht schwanger! Gleichzeitig nimmt Robs berufliches Engagement ungeahnte Dimensionen an, sodass sie einander kaum noch sehen. Laurie glaubt, vor den Scherben ihrer Ehe zu stehen, und flüchtet in ein kleines Cottage in Schottland …


  • Erscheinungstag 03.12.2021
  • Bandnummer 344
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501347
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Renee Roszel, Penny Jordan, Caroline Anderson

JULIA EXKLUSIV BAND 344

1. KAPITEL

Sally rang sich ein Lächeln ab, während sie die beiden Menschen ansah, die sie auf der Welt am heftigsten ablehnte. Leider waren es ihre einzigen nahen Verwandten. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie ihnen keine Erklärungen schuldete, ihr Gefühl veranlasste sie jedoch, zu einer Vorspiegelung falscher Tatsachen Zuflucht zu nehmen.

Als sie ein Auto vors Haus fahren hörte, atmete sie auf. Sam schickte ihr tatsächlich jemand, der bereit war, für kurze Zeit ihren Ehemann zu spielen. Ja, auf meinen großen Bruder kann ich mich verlassen, dachte sie dankbar.

„Grandpa, Grandma – entschuldigt mich einen Moment“, bat Sally und eilte aus dem Wohnzimmer.

„Eilen“, war vielleicht nicht das richtige Wort, da sie im achten Monat schwanger war und sich nicht mehr schnell bewegen konnte. Ihr Herz pochte rascher, als sie die Haustür öffnete und die Verandatreppe hinunterging, wobei sie sich mit einer Hand an dem abgegriffenen Geländer festhielt. Die andere hatte sie in einer unbewusst schützenden Geste auf den Bauch gelegt.

„Genau im richtigen Moment“, sagte Sally halblaut nach einem Blick auf die Armbanduhr und stellte dann erfreut fest, dass der Mann, der gerade aus dem Auto stieg, besser aussah, als sie zu hoffen gewagt hatte.

Er war fast einen Meter neunzig groß und hatte breite Schultern. Sein kurzes dunkles Haar glänzte im Märzsonnenschein, seine Augen waren strahlend blau und von dichten dunklen Wimpern gesäumt. Er trug ein helles Polohemd, Jeans und Cowboystiefel.

Während Sally ihm in die Augen sah, wurde sie völlig unerwartet von Verlangen durchflutet, wie sie es seit Langem nicht mehr empfunden hatte. Ausgerechnet jetzt, da ich rund wie eine Tonne bin und keinem Mann gefalle, dachte sie selbstkritisch und ermahnte sich sofort, nicht so unsinnige Gedanken zu hegen.

Offensichtlich hatte Sam ihr den attraktivsten Pfleger geschickt, den er im Krankenhaus, in dem er als Arzt arbeitete, hatte ausfindig machen können. Und sie hatte befürchtet, dass nur ein kümmerliches Exemplar von Mann sich bereit erklären würde, bei ihrer Komödie mitzumachen! Aber auf Sam konnte sie sich in jeder Hinsicht verlassen.

Unwillkürlich lächelte sie beim Gedanken an ihren Bruder, und der gut aussehende Pfleger erwiderte das Lächeln so strahlend, dass sie unwillkürlich erschauerte.

Mach dich nicht lächerlich, sondern den Mann mit seiner Aufgabe vertraut, ermahnte Sally sich streng.

Er kam näher und hielt ihr die Hand hin. „Hallo! Sam hat mich geschickt, damit ich …“

„Ich weiß!“ Sie nahm seine Hand und zog ihn ins Haus. „Richten Sie sich einfach nach mir. Sie stellen übrigens einen Arzt dar!“, flüsterte sie eindringlich.

Plötzlich erinnerte sie sich – gerade noch rechtzeitig – an den Ehering und blieb stehen. Sie nahm ihn aus der Tasche und schob ihn dem Unbekannten auf den Finger. Wie durch ein Wunder passte der Ring perfekt.

„Das wäre beinah schief gegangen“, bemerkte sie und warf dem Mann einen verschwörerischen Blick zu.

Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen forschend an.

„Es ist in unserer Familie üblich, einen Ehering zu tragen“, erklärte sie. Dann nahm sie seinen rechten Arm und platzierte ihn auf ihrer Schulter, während sie den linken um seine Taille legte. „Und jetzt lächeln Sie bitte! Wir beide sind nämlich wahnsinnig glücklich miteinander.“

Trotz des Lampenfiebers – schließlich wollte sie ihren Großeltern ja etwas vorspielen – registrierte Sally, wie muskulös ihr angeblicher Ehemann war und dass er ein angenehm duftendes After Shave verwendete.

Sie führte ihn geradewegs ins Wohnzimmer, das behaglich mit leicht angestoßenen Möbeln, dick gepolsterten Sesseln, einem Sofa sowie einer Chaiselongue eingerichtet war, deren ehemals leuchtend bunte Bezüge ein bisschen verblasst waren. Ihr war das Zimmer bisher nie schäbig vorgekommen – erst als ihr der unverhohlene Widerwillen im Blick ihrer Großeltern aufgefallen war, hatte sich das geändert.

Wie können sie es wagen, in mir Minderwertigkeitsgefühle zu wecken, ohne auch nur ein Wort zu sagen? dachte Sally feindselig. Sie waren ja nur gekommen, um zu demonstrieren, wie sehr sie als Angehörige der Bostoner Oberschicht ihrer Enkelin überlegen waren, die nur die Tochter eines einfachen texanischen Feuerwehrmanns war!

Rasch verdrängte sie ihren Missmut und begann: „Schatz, ich möchte dich meinen Großeltern Abigail und Hubert Vanderkellen aus Boston vorstellen.“ Sie lächelte ihren Pseudoehemann an, vermied es jedoch, ihm in die Augen zu sehen. „Du erinnerst dich doch, dass ich dir gesagt habe, sie würden uns einen kurzen Besuch abstatten, bevor sie sich auf Kreuzfahrt begeben?“

Forschend betrachtete er zuerst sie, dann die beiden alten Leute, die kerzengerade auf dem Sofa mit dem rot-gelb geblümten Bezug saßen. Besorgt fragte Sally sich, woran er jetzt denken mochte, denn er wirkte, als hätte er ein Gespenst gesehen.

Als er weiterhin nichts sagte, wurde sie panisch. Hatte Sam dem Mann denn nicht erklärt, wie wichtig ihr die Angelegenheit war? Und dass sie niemals vorgeben würde, verheiratet zu sein, wenn es nicht unumgänglich wäre?

Sie rang sich ein Lächeln ab. „Mein Liebster ist ein wunderbarer Arzt, aber ein bisschen vergesslich.“ Verzweifelt blickte sie ihm nun in die Augen und flehte ihn im Stillen an, seine Rolle als ihr Ehemann zu spielen. „Granddad, Grandma! Darf ich euch offiziell meinen Mann vorstellen: Dr. Thomas … Step.“

O nein, warum war ihr kein eindrucksvollerer Name eingefallen, einer wie Banister zum Beispiel? Aber was machte es schon aus? In einer Stunde würden ihre Großeltern sie schon wieder verlassen haben.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte Abigail Vanderkellen und verschränkte die Hände im Schoß. „Wir wussten bis heute nicht, dass unsere Enkeltochter verheiratet ist. Weder sie noch ihr Bruder hat uns darüber informiert, was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass das Verhältnis zu unseren einzigen Enkeln ein bisschen gespannt ist.“

Ein bisschen gespannt? Das ist ja so, als würde man den Untergang der Titanic als ein kleines Missgeschick bezeichnen, lästerte Sally im Stillen.

Kühl sah Abigail zuerst ihre Enkelin an, dann den Mann an deren Seite. „Das wissen Sie natürlich … Tom. Stimmt’s?“

„Nein, ganz so verhält es sich nicht.“ Er ließ Sally los und ging zum Sofa.

Wieso hatte er das jetzt gesagt? Was hatte er vor?

„Sie hat mir nichts über die Beziehung zu Ihnen erzählt – und meine Freunde nennen mich übrigens nicht Tom, sondern Noah.“ Er hielt Abigail Vanderkellen die Hand hin und wartete, bis die alte Dame sich endlich bequemte, sie zu ergreifen, dann wandte er sich Sallys Großvater zu. „Thomas Noah Step“, stellte er sich vor und gab ihm ebenfalls die Hand.

Sallys Herz pochte mittlerweile so laut, dass sie sich fragte, ob sie richtig gehört hatte. Thomas Noah Step? Dann spielte er glücklicherweise mit!

Hubert Vanderkellen betrachtete Noah kritisch. „Sie kommen mir irgendwie bekannt vor, junger Mann.“

„Das überrascht mich nicht, denn das höre ich öfter. Ich habe anscheinend ein sogenanntes Dutzendgesicht“, erklärte Noah. „Wenn wir uns jemals begegnet wären, Mr. Vanderkellen, hätte ich Sie bestimmt nicht vergessen. Ihre Frau natürlich auch nicht.“

Missmutig sah Sally zu ihrem Pseudoehemann. Warum bestand er unnötigerweise darauf, Noah genannt zu werden, und hatte sich nicht mit „Tom“ zufriedengegeben?

Überraschenderweise stellte „Thomas“ Noah sich nun wieder neben sie und legte ihr auch erneut den Arm um die Schultern. Ja, er presste sie sogar scheinbar liebevoll an sich!

„Ich hatte tatsächlich vergessen, dass Sie uns besuchen“, gestand er und sah Sally fragend an. „Schätzchen, wie lange, hast du gesagt, wollen deine Großeltern bleiben?“

„Oh … Ungefähr eine Stunde.“

Er sah kurz auf die Armbanduhr. „Ach ja.“

Was sollte das schon wieder? Hatte Sam ihm denn gar keine Einzelheiten verraten? Warum runzelte Noah die Stirn, während er auf die Uhr sah? Vielleicht musste er einen Zug erreichen, oder er hatte – was bei seinem umwerfend attraktiven Aussehen wahrscheinlicher war –, gleich ein Rendezvous.

„Bereitet Ihnen das irgendwelche Unannehmlichkeiten, Dr. Step?“, erkundigte sich Hubert Vanderkellen.

„Nein, gar nicht! Und nennen Sie mich doch bitte Noah.“ Lächelnd blickte er Sally an. „Warum setzt du dich nicht hin, Liebes?“ Er führte sie zur Chaiselongue, deren Bezug mit Narzissen bedruckt war. „Es ist besser, du legst die Füße hoch. Du weißt doch, wie deine Beine anschwellen, wenn du längere Zeit stehst.“

Unwillkürlich betrachtete Sally ihre Beine, die keineswegs dick aussahen und noch an keinem einzigen Tag ihrer Schwangerschaft geschwollen gewesen waren. Der Blick, den sie Noah zuwarf, war nicht besonders liebevoll.

„Meinen Beinen geht es ausgezeichnet … Liebster!“

Er lächelte breit, und man sah, dass er blendend weiße Zähne hatte.

Sally setzte sich, weil ihr plötzlich die Knie weich wurden. Das musste sie diesem Noah lassen: Sein Lächeln war umwerfend. Besorgt beobachtete sie, wie er zum Sofa ging und sich neben ihre überheblichen Großeltern setzte. Sagen Sie nichts, was den ganzen Schwindel auffliegen lässt, versuchte sie ihm durch einen Blick zu signalisieren und hoffte, dass er vielleicht auf Telepathie reagierte, wenn er sich schon nicht an die Anweisungen hielt.

Noah lehnte sich entspannt zurück. „Sie sind also die Großeltern meiner bezaubernden Frau. Mütterlicherseits?“

„Ja, natürlich!“ Abigail Vanderkellen klang pikiert. „Das wissen Sie doch bestimmt.“

„Nein, woher denn? Schauen Sie sich meine Frau an: Sieht sie so aus, als würden wir uns die Zeit mit gepflegter Unterhaltung vertreiben?“

Dass er es wagte, eine so anzügliche Bemerkung zu machen! Errötend legte sich Sally die Hände auf den Bauch, denn das Baby bewegte sich. „Schatz!“ Sie versuchte, amüsiert zu klingen. „Bitte, benimm dich.“

Er zwinkerte ihr schalkhaft zu. „Tut mir leid, Liebste, aber du weißt ja, dass du auf mich eine enthemmende Wirkung ausübst.“ Nun wandte er sich wieder den entgeisterten Vanderkellens zu. „Sie sind, wie ich gehört habe, aus Boston.“

Die beiden sind nicht nur aus Boston, sondern zählen dort zu den oberen zehntausend und sind sichtlich stolz darauf, dachte Sally abschätzig. Wie konnte man nur so viel Wert auf seine gesellschaftliche Stellung legen?

„Waren Sie jemals in Boston?“, erkundigte sich Abigail Vanderkellen, deren Finger mit mehreren protzigen Ringen geschmückt waren, und berührte kurz ihren mit Brillanten besetzten Ohrring.

„Ich will ja nicht prahlen, aber wir zählen zu den wirklich alteingesessenen Familien der Stadt“, fügte ihr Mann hinzu und zupfte das Einstecktuch in seiner Brusttasche zurecht.

„Ich komme nicht oft nach Neuengland“, antwortete Noah ausweichend.

„Wie schade!“ Abigail Vanderkellen sah aus, als würde sie ihn tatsächlich aufrichtig bedauern. „Boston ist eine der historisch bedeutsamsten Städte Amerikas.“

„Houston hat auch Geschichte“, konterte er.

„O ja, da bin ich mir sicher.“ Ihr Ton klang so herablassend, dass sie genauso gut hätte sagen können: Reden Sie keinen Unsinn, junger Mann!

Sally fuhr sich durchs Haar und wünschte, die Zeit möge schneller vergehen. Der Zeiger der Uhr auf dem Kaminsims war jedoch erst fünfzehn Minuten weitergerückt, seit ihr attraktiver „Komplize“ erschienen war. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie einen Zauberspruch gemurmelt, um ihre Großeltern – diese verknöcherten, engstirnigen Snobs – einfach verschwinden zu lassen.

Ihre Großmutter saß steif auf der äußersten Kante des Sofas, wahrscheinlich um ihr teures cremefarbenes Kaschmirkostüm so wenig wie möglich mit dem Bezug in Berührung bringen, und ihr Großvater schien sich auch nicht behaglich zu fühlen. Als er mit dem Schuh – einem offensichtlich nach Maß und von Hand gefertigten Schuh – zufällig gegen den Couchtisch stieß, zog er sofort ein blütenweißes Taschentuch hervor und wischte den Schuh ab.

Sally hätte am liebsten wütend gerufen: Was macht es schon aus, dass deine Schuhe womöglich mehr als meine gesamte Einrichtung gekostet haben? Ihr Haus, in dem sie seit ihrer Kindheit lebte, war vielleicht ein bisschen zu voll gestellt, aber es war keineswegs schmutzig! Und ihre Großeltern saßen da, als würden sie befürchten, dass es hier von Ratten, Küchenschaben und anderem Ungeziefer nur so wimmelte.

Plötzlich strichen sie sich gleichzeitig übers silbergraue, perfekt frisierte Haar.

Sie wirken wie zwei identisch programmierte Roboter, dachte Sally boshaft. Ob die beiden sich schon immer so ähnlich gesehen hatten? Oder hatten sie im Verlauf von fünfzig Jahren Ehe diese Ähnlichkeit in der Gestik und im Mienenspiel entwickelt? Diesen überheblichen Blick, das missbilligende Zusammenpressen der schmalen Lippen?

„Wenn Sie einmal länger hier sind, machen wir eine Besichtigungstour“, schlug Noah vor, als das Schweigen zu bedrückend wurde.

„Wie bitte?“, fragte Hubert Vanderkellen.

„Durch Houston“, erläuterte Noah, ganz im Ton eines aufmerksamen Gastgebers. „Wir würden Ihnen die Stadt und die Umgebung mit Vergnügen zeigen. Stimmt’s, Liebling?“

Sally bemerkte, wie seine Augen funkelten. Es schien ihm viel Spaß zu machen, den „wahnsinnig glücklichen“ Ehemann zu mimen, aber er übertrieb sein Rollenspiel. Sie zahlte ihm zwar fünfzig Dollar für die Vorstellung, aber er brauchte nicht zu hoffen, dass sein Engagement wegen guter Leistungen verlängert wurde, da sie nicht beabsichtigte, auch nur eine Sekunde länger als eine Stunde mit ihren unerträglichen Großeltern zu verbringen.

Statt zu antworten, nickte sie nur, denn sie befürchtete, dass ihre Stimme ihre wahren Gefühle verraten würde.

„Weißt du was, Liebes? Wir könnten jetzt alle ein kühles Getränk brauchen.“

„Ja, natürlich. Im Kühlschrank habe ich Eistee. Ich hole ihn.“

Rasch stand Noah auf und kam zu ihr. „Du brauchst dir nicht die Mühe zu machen, Liebling, ich erledige das.“ Er neigte sich zu ihr und küsste sie auf die Lippen.

Obwohl es nur eine flüchtige Berührung war, erschauerte sie unwillkürlich und errötete, was ihren Großeltern glücklicherweise entging, da Noah zwischen ihnen und ihr stand. Amüsiert sah er ihr kurz in die Augen. „Wo ist die Küche?“, flüsterte er.

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite.

Noah richtete sich auf und fragte: „Wer möchte Zucker?“

„Ich“, antwortete sie und hätte sich wegen ihrer Dummheit auf die Zunge beißen können. Ihr Ehemann musste doch wissen, wie sie ihren Tee trank!

„Als könnte ich das jemals vergessen, Liebes!“ Er lachte herzlich.

„Ich glaube, wir haben nicht mehr genug Zeit, um Tee zu trinken“, bemerkte Hubert Vanderkellen.

„Aber ja!“, widersprach Noah. „Es dauert nur eine Minute, ihn zu holen.“

Erst als er in der Küche war, wurde Sally bewusst, wie sehr er ihr bisher geholfen hatte, das Gespräch in Gang zu halten. Genau genommen hatte er es beinah allein bestritten! Sie verschränkte die Hände über dem Bauch und räusperte sich.

„Wohin geht denn die Kreuzfahrt?“

„In der ersten Woche machen wir eine Wanderung zu den Pyramiden von Cozumel in Mexiko, danach geht es weiter in die Karibik zu den üblichen Zielen“, erklärte ihre Großmutter.

„Ach so.“ Wieder war Sally um Worte verlegen, denn über diese Pyramiden wusste sie ungefähr so viel wie über den Mars – und das war so gut wie gar nichts. Sie war nur ein Semester lang aufs College gegangen und hatte das Studieren dann aufgegeben, um sich ganz der Arbeit an ihren Metallskulpturen widmen zu können.

Nachdem Sam im Vorjahr von einem Besuch bei den Großeltern aus Boston zurückgekommen war, hatte er ihr amüsiert erzählt, dass diese sie als „Schweißerin“ bezeichneten – und auch das nur im Flüsterton. Sam hatte es zum Lachen gefunden. Ihr war es hingegen nicht gleichgültig, und immer, wenn sie daran dachte, litt ihr Selbstwertgefühl. Sie konnte sich gut vorstellen, wie die beiden alten Leute schockiert bemerkten: „Sie ist mütterlicherseits eine Vanderkellen – und arbeitet als Schweißerin!“

„Soviel ich gehört habe, fährt Sam heute Nachmittag auch in den Urlaub.“

Die Bemerkung ihrer Großmutter riss Sally aus den finsteren Gedanken, und sie nickte. „Ja, er will tauchen. In Bon… Bon…“ Der Name fiel ihr einfach nicht ein.

„In Bonaire“, sagte in diesem Moment eine tiefe Männerstimme.

Sally blickte auf und sah Noah hereinkommen, ein Tablett mit vier gefüllten Gläsern in den Händen.

„Woher weißt du das?“, fragte sie unüberlegt und fuhr insgeheim zusammen. Wenn sie nicht besser aufpasste, würde sie ihren Schwindel selbst auffliegen lassen. Noah kannte ihren Bruder und hatte ihn wahrscheinlich über den Urlaub reden hören.

„Erinnerst du dich denn nicht, Liebling?“ Noah stellte das Tablett ab. „Du hast es mir heute Morgen erzählt, als wir unter der Dusche gestanden haben.“

Hatte er tatsächlich „unter der Dusche“ gesagt? Sie blickte besorgt zu ihren Großeltern, die schockiert die Brauen hochzogen, dann wieder zu Noah, der sich über das Tablett neigte.

Wenn ich mich ein bisschen strecke, kann ich ihm einen kräftigen Tritt in seine knackige Kehrseite verpassen, dachte Sally rachsüchtig. Wahrscheinlich hielt Noah sich für den witzigsten Krankenpfleger weit und breit.

Sie entschied sich jedoch gegen jede Art von Gewaltanwendung und räusperte sich nur vielsagend, was er nicht beachtete, da er gerade ihren Großeltern je ein Glas reichte, dazu Papierservietten, die mit Hexen und Kürbissen bedruckt waren. Am Tag nach Halloween hatte sie mehrere Packungen davon billig erstanden, und sie hatten ihr bisher gute Dienste geleistet. Nein, sie durfte sich jetzt nicht als miserable Gastgeberin fühlen, nur weil sie bescheiden lebte.

Noah reichte nun auch ihr ein Glas. „Sechs Löffel Zucker, wie du es magst, Liebes.“

Sally rang sich ein Lächeln ab. „Danke, das ist perfekt.“ Wahrscheinlich würde sie gleich an Überzuckerung sterben, aber die Show musste ja weitergehen! Tapfer trank sie einen Schluck und stellte überrascht fest, dass der Tee perfekt schmeckte.

Noah zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Dieser hinterhältige Schuft! Er hatte lediglich einen Löffel Zucker ins Glas gegeben und nur behauptet, es seien sechs gewesen, um sie zu ärgern. Bei erster sich bietender Gelegenheit würde sie ihm den Hals umdrehen!

Ihre Großmutter blickte so zweifelnd in ihr Glas, als würde sie erwarten, Dreck darin schwimmen zu sehen. Sie hob es an die Lippen, trank aber nicht, sondern setzte es gleich wieder ab. Dann sah sie auf ihre mit Brillanten besetzte Armbanduhr. „Wir müssen jetzt aufbrechen. Du hast dem Taxifahrer doch gesagt, er soll uns um halb vier wieder abholen, Hubert?“

Auch er sah auf seine Uhr. „Ach ja, wie schnell doch die Zeit verfliegt“, meinte er und stand auf.

„Ich glaube, ich höre das Taxi schon.“ Noah stellte sein Glas aufs Tablett und hielt Abigail Vanderkellen die Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen. „Besucht uns ab jetzt doch öfter.“

„Ich … nun ja …“ Die alte Dame lächelte flüchtig und strich sich den Rock glatt. Als sie bemerkte, dass Sally sich aus ihrer halb liegenden, halb sitzenden Stellung auf der Chaiselongue aufrichtete, machte sie eine Handbewegung, als wollte sie einen Floh verscheuchen. „Bemüh dich nicht, Sally! Dein Mann kann uns nach draußen begleiten.“

Ohne Widerspruch lehnte Sally sich wieder zurück. Ihr war es recht, sich nicht rühren zu müssen, denn in letzter Zeit fiel es ihr schwer, aufzustehen.

„Ich wünsche euch eine angenehme Reise“, sagte sie höflich. Das musste zum Abschied genügen. Nun hat die Qual gleich ein Ende, dachte sie erleichtert und schloss die Augen.

Plötzlich erklang ein schriller Aufschrei, dann ein ominöses Krachen – danach klägliches Stöhnen.

Sally fuhr hoch.

2. KAPITEL

Noah spürte den Stoß eines Ellbogens, dann sank ihm Abigail Vanderkellen in die Arme. Geistesgegenwärtig hielt er die alte Dame fest und beobachtete fassungslos, wie ihr Mann, den sie offensichtlich auch angestoßen hatte, über die Schwelle stolperte. Auf den glatten Fliesen der Diele fand er keinen Halt und fiel seitlich gegen ein kunstvolles Metallgebilde, das an einen Rebstock erinnerte. Dieses stürzte wie in Zeitlupe um und riss Hubert Vanderkellen mit, der seltsam verdreht auf der Skulptur liegen blieb und erst nach einer Schrecksekunde zu stöhnen begann.

Noah war einen Moment wie erstarrt, setzte dann aber die ohnmächtige Abigail Vanderkellen auf dem Sofa ab. „Kümmere du dich um deine Großmutter“, wies er Sally an und eilte in die Diele zu Hubert Vanderkellen.

Während er den alten Mann behutsam abtastete, um festzustellen, ob er sich ernsthaft verletzt hatte, fragte er sich, wann sein Arbeitstag endlich zu Ende sei und er den lang ersehnten Urlaub antreten könne. Den ganzen Tag über hatte es eine zeitraubende Komplikation nach der anderen gegeben, und er, Noah, hatte beinah befürchtet, das Krankenhaus erst in der allerletzter Minute verlassen zu können.

Dann war er doch noch rechtzeitig mit der Arbeit fertig geworden, und als er in die Auffahrt zum Haus von Sams Schwester einbog, hatte er geglaubt, sich in den folgenden zwei Wochen mit keinerlei Problemen befassen zu müssen. Er hatte es auch noch geglaubt, als die hübsche, schwangere junge Frau die Verandastufen heruntergekommen war. Dann hatte sie ihn an der Hand genommen, ihm einen Ehering an den Finger gesteckt und ihm zugeflüstert, dass sie wahnsinnig glücklich seien. Von dem Moment an war ihm gewesen, als wäre er in ein seltsames Schattenreich geraten, in dem er auch noch mit den Geistern der Vergangenheit konfrontiert wurde.

Dass Abigail und Hubert Vanderkellen ihn nicht erkannt hatten, wunderte ihn nicht, denn zum einen hatte er sie früher nur flüchtig gekannt, zum anderen hatte er Boston gleich nach dem Abschluss der höheren Schule verlassen und fuhr nur gelegentlich zu Weihnachten dorthin zurück, um seine Familie zu besuchen. Trotzdem war es seltsam, wie das Leben manchmal die Karten austeilte!

Nun wünschte sich Noah, im Krankenhaus zu sein und dort noch einiges in letzter Minute erledigen zu müssen. Seit er vor einer halben Stunde dieses Haus betreten hatte, hatte sich alles ein bisschen zu verrückt für seinen Geschmack entwickelt.

Ihm war aufgefallen, dass die hübsche blonde Frau – zweifelsohne Sams Schwester – sich in Gegenwart ihrer Großeltern sehr unbehaglich fühlte. Wieso eigentlich? Sie waren zwar steif und überheblich, aber keineswegs Furcht einflößende Ungeheuer. Das konnte er beurteilen, auch wenn er ihnen damals in Boston nur selten begegnet war. Sams Schwester war jedoch über den Besuch offensichtlich bestürzt. Ein flehender Blick aus ihren großen grauen Augen hatte genügt, und er, Noah, war ihr zu Hilfe geeilt – auch wenn er nicht genau wusste, worin genau diese bestand.

Ja, diese wunderschönen Augen schienen ihn förmlich verhext zu haben! Unsinn, sagte Noah sich dann sachlich. Die junge Frau war hochschwanger, und ihm als Gynäkologen und Geburtshelfer lag von Berufs wegen daran, Frauen in ihrem Zustand zu helfen und ihnen jeden Stress zu ersparen.

Aus dem Wohnzimmer drangen nun gedämpft Stimmen zu ihm, und Noah schloss daraus, dass Abigail Vanderkellen aus der Ohnmacht erwacht war. Wenigstens etwas! „Wir lassen Sie jetzt ins Krankenhaus bringen, Mr. Vanderkellen“, begann er.

„Nein!“ Sallys Großvater umklammerte stöhnend Noahs Arm. „Nicht ins Krankenhaus. Ich mag keine Krankenhäuser!“

„Beweg ihn nicht!“ Sams Schwester erschien in der Diele. „Wir müssen den Krankenwagen rufen.“

„Wie geht es deiner Großmutter?“, erkundigte sich Noah.

„Sie fühlt sich noch schwach, ist aber nicht mehr so blass. Was machst du mit meinem Großvater?“ Sie eilte besorgt zu ihm und packte ihn bei der Schulter. „Er darf nicht bewegt werden, bis der Krankenwagen da ist.“

„Ich kann viel schneller feststellen, was ihm fehlt, wenn du mich nicht anfasst“, erwiderte er kurz angebunden und löste sich aus ihrem Griff.

„Er braucht einen …“ Sie verstummte kurz und flüsterte ihm dann scharf ins Ohr: „… einen Arzt!“

„Ich weiß.“ Finster blickte Noah zu ihr auf. Sein Dienst im Krankenhaus hatte um fünf Uhr morgens begonnen, nun war er müde und wollte nicht angefasst werden, nicht einmal von einer sehr attraktiven jungen Frau. „Frag deine Großmutter, ob sie ein Glas Wasser möchte oder eine kalte Kompresse für den Kopf.“

Sams Schwester funkelte ihn warnend an. „Aber Schatz, du kannst doch nicht …“

„Ich bin nicht verletzt, es ist nur mein altes Rückenleiden“, mischte sich Hubert ein und stöhnte kläglich. „Nichts Ernstes.“

In dem Fall genügen wahrscheinlich Bettruhe und Schmerzmittel, überlegte Noah, versuchte aber nochmals, seinen Patienten zu einem Aufenthalt im Krankenhaus zu überreden. „Es wäre wirklich besser, wenn Sie sich dort gründlich untersuchen lassen, Mr. Vanderkellen.“

„Nein!“, erwiderte Sallys Großvater schroff und versuchte mühsam, sich aufzurichten. „Auf keinen Fall! Ich hasse Krankenhäuser.“

„Okay, okay! Lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Behutsam hob Noah den alten Mann hoch und trug ihn ins Wohnzimmer.

Abigail Vanderkellen saß nun auf dem Sofa und strich sich nervös übers Haar. Offensichtlich war es ihr peinlich, dass sie die Fassung verloren hatte. Was konnte sie dermaßen erschreckt haben?

„Liebling, könntest du deiner Großmutter helfen, sich umzusetzen?“, bat Noah. „Es ist besser für deinen Großvater, wenn er sich hinlegt.“

„Oh!“ Sally sah nicht besonders glücklich aus. „Natürlich. Darf ich dir helfen, Gramdma? Glaubst du, du schaffst es?“

„Selbstverständlich! Mit mir ist alles in Ordnung.“ Während Abigail Vanderkellen das Wohnzimmer durchquerte, musterte sie ihre Umgebung so argwöhnisch, als erwartete sie, dass sie jeden Moment von einem wilden Tier angefallen würde. Sobald sie saß, legte sie die Beine hoch und betrachtete ihren Mann kritisch. „Hat er es wieder mit dem Rücken?“

Noah nickte. „Ich fürchte, ja.“ Er legte den stöhnenden alten Mann auf die Couch. „Haben Sie diese Beschwerden schon einmal gehabt, Mr. Vanderkellen?“

„Ja, mehrmals.“ Sallys Großvater schloss die Augen. „Ein Muskel verhärtet sich und klemmt einen Nerv ein.“

„Und was verschreibt Ihr Hausarzt in solchen Fällen?“

„Bewegung“, mischte sich seine Frau kurz und bündig ein.

Hubert Vanderkellen schnitt ein Gesicht. „Nein, strenge Bettruhe und ein Mittel, das die Muskeln entspannt. Ich kann mich an den Namen der Tabletten allerdings nicht erinnern.“

„Er simuliert doch bloß!“

„Bitte, Mrs. Vanderkellen, ich möchte mit Ihrem Mann reden!“, entgegnete Noah geduldig. „Sind Sie gegen irgendetwas allergisch, Mr. Vanderkellen?“

„Nein.“

„Versuchen Sie, sich zu entspannen.“ Aufmunternd klopfte er dem alten Mann sanft auf die Schulter. „Ich bestelle ein Mittel in der Apotheke und lasse es herbringen.“

„Ach Grandpa, es tut mir ja so leid! Ich hätte die Skulptur nicht in der Diele stehen lassen dürfen.“ Sally neigte sich über ihren Großvater und nahm seine Hand. Er zuckte zusammen und stöhnte erneut.

„Er hat wirklich schlimme Schmerzen“, erklärte Noah und ging in die Diele zurück, wo er zuvor ein Telefon gesehen hatte.

„Wohin gehst du, und was machst du?“, erkundigte sie sich und folgte ihm.

„Ich besorge deinem Großvater ein Medikament.“ Er nahm den Hörer vom altmodischen schwarzen Telefon. „Gibt es in der Nähe eine Apotheke?“

„Ja, ‚Bert’s Drogerie‘. Warum?“

Da ihr ohnehin gleich klar werden würde, was er vorhatte, antwortete er nicht. „Hallo, Vermittlung? Verbinden Sie mich bitte mit ‚Bert’s Drogerie‘.“

„Was machen Sie?“, flüsterte Sally eindringlich.

„Wonach klingt es denn? Ich rufe an, um ein Rezept durchzugeben. Oh, danke.“

„Sind Sie wahnsinnig, Noah? Sie können doch nicht …“

„Ruhe, bitte!“, forderte er sie auf und wandte ihr den Rücken zu. „Ja, hier Dr. Noah Barrett. Ich benötige ein Medikament für einen Mr. Hubert Vanderkellen, und schicken Sie das Mittel bitte …“ Er verstummte kurz, dann fiel ihm ein, dass Sam ihm die Adresse aufgeschrieben hatte, und er zog den Zettel aus der Tasche. „In die Bobolink Lane, Nr. 95099. Das Haus liegt am Ende der Straße.“

Während er dem Apotheker Namen und Menge des gewünschten Medikaments durchgab, spürte er, wie heftig an seinem Hemd gezogen wurde, und drehte gereizt den Kopf um.

„Wie können Sie es wagen, sich als Arzt auszugeben und Medikamente anzufordern!“, empörte sich Sally.

Da Noah alle notwendigen Informationen durchgegeben hatte, legte er auf. „Sie haben mir doch gesagt, ich würde einen Arzt spielen. Wenn Sie jetzt das Skript ändern, gerate ich völlig durcheinander.“

Sie atmete scharf ein, und er fand, dass sie besonders bezaubernd aussah, wenn sie sich ärgerte. Ihre großen hellgrauen Augen funkelten, und ihr zartes Gesicht war gerötet. Das hellblonde Haar hatte sie zusammengebunden, einzelne feine Strähnen hatten sich jedoch gelöst und fielen ihr locker in die Stirn. Ihre Beine waren schlank und wohlgeformt, und wenn sie nicht wie jetzt im schätzungsweise achten Monat schwanger war, hatte sie bestimmt eine gute Figur und wirkte zierlich, ja beinah zerbrechlich.

Sie war ihrem Bruder überhaupt nicht ähnlich. Sam war dunkelhaarig, ruhig und zurückhaltend, während diese junge Frau ihre Gefühle keineswegs verbarg und sehr eigenwillig und dynamisch wirkte. Außerdem besaß sie eine schwer zu bestimmende, aber unwiderstehliche Anziehungskraft. Anders kann ich mir einfach nicht erklären, warum ich bei ihrem seltsamen Spielchen mitmache, dachte Noah verwundert.

„Übrigens, was war denn in Ihre Großmutter gefahren, dass sie so in Panik geraten ist?“, fügte er hinzu.

„Wechseln Sie jetzt nicht das Thema, Noah! Sie dürfen nicht so tun, als wären Sie Arzt, dafür könnten Sie ins Gefängnis kommen.“ Sie stieß ihm mit dem Finger gegen die Brust. „Die fünfzig Dollar, die Sie von mir bekommen, reichen nicht für Ihre Kaution!“

„Fünfzig?“, wiederholte er, zugleich überrascht und amüsiert.

„Denken Sie nicht mal im Traum daran, mehr zu verlangen!“ Wieder stupste sie ihn. „Und als Sie mich vorhin geküsst haben, sind Sie eindeutig zu weit gegangen.“

Noah lächelte breit. „Soll ich den Kuss zurücknehmen?“

Nun sah sie völlig verwirrt aus. „Zurück? Wie soll denn das funktionieren?“

Er neigte den Kopf, bis seine Lippen nur noch wenige Zentimeter von ihren entfernt waren. „So!“

Als ihr offensichtlich klar wurde, dass er sie wieder küssen wollte, wich sie schnell zurück. „Sie dürfen so anmaßend sein, wie Sie wollen, wenn Sie privat unterwegs sind, Noah, aber im Moment habe ich Sie sozusagen unter Vertrag.“

„Anmaßend? Das ist das erste Mal, dass man mich so charakterisiert.“

„Es war das netteste Wort, das mir auf die Schnelle eingefallen ist!“

Noah lachte leise. „Na gut, wenn Sie mich den Kuss nicht zurücknehmen lassen, würde ich sagen, sind wir hiermit quitt. Sie schulden mir auch kein Geld.“

„Unsinn! Ich bezahle wie ausgemacht. Und nun gehen Sie bitte beiseite, damit ich einen Krankenwagen bestellen kann.“

„Ihr Großvater möchte aber unter keinen Umständen ins Krankenhaus, und wenn es stimmt, was er über sein Rückenleiden sagt, braucht er meiner Meinung nach nicht in eine Klinik.“

„Ach, Ihrer Meinung nach?“, wiederholte sie sarkastisch. „Das finde ich ungemein beruhigend!“

In diesem Moment wurde an die Haustür geklopft, und Sally blickte überrascht hin. „Wer kann denn das sein?“

„Wahrscheinlich jemand für mich“, neckte Noah sie. Da er eine Ahnung hatte, wer draußen stand, zog er sein Portemonnaie aus der Hosentasche und nahm fünfzig Dollar heraus. „Geben Sie ihm das Geld.“

Verwirrt sah sie ihn an. „Wozu das?“

„Sie werden schon sehen.“

Bevor sie etwas erwidern konnte, wurde nochmals geklopft, und sie eilte zur Tür und öffnete. „Ja, bitte?“

Das Folgende konnte Noah nicht genau verfolgen, er bekam aber mit, dass es sich bei dem Besucher um einen Mann handelte.

„Ach, du meine Güte“, sagte Sally dann leise und ging hinaus. Nach kurzer Zeit kam sie, sichtlich verwirrt, zurück.

„War es jemand für mich?“, fragte Noah scherzend.

„Nein, es … es war ein Krankenpfleger, und …“

„Haben Sie ihm die fünfzig Dollar gegeben?“

„Ja, und er hat sie tatsächlich genommen“, erwiderte sie, noch immer ratlos. „Er hat behauptet, ich würde sie ihm schulden.“ Plötzlich funkelte sie ihn an und stellte sich direkt vor ihn hin. „Wer sind Sie eigentlich, und was wollen Sie hier?“

„Das habe ich Ihnen zu erklären versucht, als ich ankam, aber Sie haben mich nicht zu Wort kommen lassen“, erwiderte Noah.

„Sagen Sie es mir jetzt. Sofort!“

Er sah auf die Armbanduhr und stellte fest, dass die Zeit knapp wurde. „Ich bin ein Freund Ihres Bruders, und wenn ich meinen Flug noch erreichen möchte, muss ich schnellstens von hier weg.“

„Sind Sie zufällig auch noch Arzt?“

„Nicht zufällig“, erwiderte er humorvoll.

„Sie sind also tatsächlich Arzt?“, fragte sie nochmals, und es klang so ungläubig, als hätte er behauptet, der Weihnachtsmann zu sein.

„Ja, und ich kann es beweisen“, antwortete Noah plötzlich ganz ernst, weil sie den Tränen nahe zu sein schien.

„Und ich dachte, Sie seien …“

„Ja, ich weiß. Vergessen Sie es einfach“, unterbrach er sie. „Sam hat mich gebeten, auf dem Weg zum Flughafen hier vorbeizukommen und seine Taucherbrille mit den optischen Gläsern zu holen, die er vergessen hat. Das Flugzeug startet in einer Stunde, deshalb sollte ich mich lieber ein bisschen beeilen.“ Er hielt ihr die Hand hin, denn es blieb ihnen gerade noch genug Zeit, um sich richtig vorzustellen. „Ich bin Noah Barrett. Sam und ich machen gemeinsam Urlaub. Hat er Ihnen das nicht erzählt?“

Sally schüttelte ihm die Hand, und er war erstaunt, dass ihre Hand Schwielen hatte und ihr Griff auffallend fest war. Was tat diese zierliche junge Frau den ganzen Tag lang? Hob sie Straßengräben aus?

„Sam hat nur erwähnt, dass er zum Tauchen in die Karibik fliegt“, erklärte sie leise. „Und ich wusste, dass er heute abreist.“

Noah wies mit dem Kopf zum Wohnzimmer. „Übrigens: Hat Ihre Großmutter Ihnen gesagt, was sie so erschreckt hat?“

„Ja: Sie hat einen Gecko über den Fußboden laufen sehen und anscheinend angenommen, es handele sich um einen mit Krankheitserregern verseuchten, typisch texanischen Schädling.“ Sie zuckte die Schultern, aber es wirkte nicht gleichgültig, sondern bedrückt. „Der Gecko ist wahrscheinlich in die Diele geraten, als ich Sie vorhin draußen in Empfang genommen habe. Das arme kleine Tier war bestimmt mehr erschrocken als meine Großmutter!“ Sally schnitt ein Gesicht. „Sie hält Texas für die absolute Wildnis und erwartet hinter jeder Ecke Menschen fressende Nagetiere.“

„Ich hatte auch den Eindruck, dass ihre Großeltern nicht zu ihrem Vergnügen hier sind“, stimmte Noah zu.

„Mir ist ein Rätsel, warum sie überhaupt hergekommen sind. Und je eher wir sie loswerden, desto besser.“

„Sie können nicht weg“, erklärte Noah kurz und bündig.

Scharf sah sie ihn an. „Was meinen Sie damit?“

„Ihr Großvater hat starke Schmerzen.“

„Dann soll er sich ins Krankenhaus legen. Da ist man für Schmerzen zuständig.“

Noah fragte sich, warum Sally ihre Großeltern so ablehnte. „Ihr Großvater braucht nicht ins Krankenhaus. Er muss nur einige Zeit strikt das Bett hüten. Ich glaube nicht, dass man ihn über die Schwelle eines Krankenhauses bekommt, es sei denn, er ist ohnmächtig.“

„Hier kann er jedenfalls nicht bleiben!“

„Warum nicht?“

„Ich will ihn nicht hier haben.“

Verblüfft schüttelte Noah den Kopf. „Die beiden sind Ihre nächsten Verwandten.“

„Ach ja? Haben sie sich vielleicht so verhalten, während …“ Kurz presste sie die Lippen zusammen, bevor sie hinzufügte: „Warum ich meine Großeltern nicht im Haus haben möchte, geht Sie gar nichts an!“

Damit hatte sie völlig recht. Noah interessierte es durchaus, was sich hinter dieser Familienfehde verbarg, er hatte jedoch keine Zeit mehr, um seine Neugier zu befriedigen.

„Wie Sie meinen. Dann suche ich jetzt Sams Taucherbrille und verabschiede mich. Er meinte, sie könne auf der hinteren Veranda liegen.“ Er wies zur Küche. „Ich nehme an, da geht es entlang?“

„Ich habe die Brille nicht gesehen, aber die Veranda ist tatsächlich neben der Küche. Sie dürfen von mir aus gern da suchen, ich habe andere Probleme.“

Er wollte an ihr vorbeigehen, blieb aber unvermittelt stehen. „Übrigens, wie heißen Sie eigentlich?“

Sie blinzelte, als würde sie aus einem dunklen Raum ins grelle Licht treten. „Wie bitte?“

„Wie heißen Sie?“, wiederholte Noah.

„Sally. Sally Johnson.“

Ach, sie war nicht verheiratet? Natürlich gab es, wie er aus seiner Tätigkeit in der Praxis wusste, immer mehr ledige Mütter heutzutage, trotzdem hätte er Sams Schwester eigentlich so viel Weitsicht zugetraut, als allein Stehende kein Baby zu bekommen.

„Na dann: Viel Glück, Sally!“

Sie presste die Fingerspitzen gegen die Schläfen und schloss seufzend die Augen. Da sie ihn entweder nicht gehört hatte oder nicht antworten wollte, ging Noah auf die hintere Veranda, um die Taucherbrille zu suchen.

Nachdem er fünf Minuten lang zwischen Metallstücken, einem Fahrrad, Gartengeräten und Blumentöpfen gesucht hatte, fand er das Gewünschte endlich auf einem Tisch, der zum Umtopfen diente. Als er in die Diele zurückkehrte, war diese leer, aber aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen.

Er ging hinein, um sich zu verabschieden, und wie vorhin schon einmal traf ihn ein flehender Blick aus Sallys großen hellgrauen Augen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Noah sofort besorgt.

„Na ja … Schatz, könntest du Großvater nach oben in mein … unser Zimmer bringen? Er und Grandma bleiben hier.“

Als sie ihn mit dem Kosewort anredete, setzte sein Herz einen Schlag lang aus. Er hatte ganz vergessen, welche Komödie sie spielten. Besorgt blickte er auf die Armbanduhr. „Ja, sicher.“

„Das ist absolut lächerlich!“, mischte sich Abigail Vanderkellen ein. „Du wolltest von vornherein nicht an der Wanderung zu den Pyramiden teilnehmen, Hubert. Ich hätte wissen müssen, dass du …“

Sallys Großvater stöhnte laut und presste sich die Hand aufs Kreuz. „Oh, diese Schmerzen!“

„Er ist wirklich schlimm gestürzt“, versuchte Noah zu vermitteln.

Abigail Vanderkellen sah ihn so argwöhnisch an, als würde sie vermuten, dass er sich mit ihrem Mann gegen sie verschworen habe. „Na gut“, sagte sie schließlich. „Wir müssen dem Taxifahrer ein anständiges Trinkgeld geben, damit er uns die Koffer ins Haus trägt! Noah, erledigen Sie das bitte.“

Nachdem Noah dafür gesorgt hatte, dass das Gepäck ins Haus getragen wurde, brachte er Hubert nach oben und legte ihn in Sallys sonnigem Zimmer auf die bunte Steppdecke, die das große Bett mit den vier Pfosten bedeckte.

„Wenn Ihr Mann das Medikament genommen hat, helfe ich Ihnen, ihn ins Bett zu bringen“, bot Noah Sallys Großmutter an.

Diese kramte schweigend in ihrer Handtasche, und als sie sich schließlich umdrehte, hielt sie eine Spraydose in der Hand und begann, ohne ihn einer Antwort zu würdigen, das Zimmer mit Desinfektionsmittel einzunebeln.

Noah zog den Kopf ein und eilte in den Flur, wo er beinah mit Sally zusammenstieß, die händeringend dastand.

„Ich finde es nett, dass Sie Ihre Großeltern doch hier bleiben lassen“, sagte er.

„Nett?“, wiederholte sie. „Was soll ich denn machen? Meine Großmutter hat mir erzählt, dass ihr Haus in Boston zurzeit von Grund auf renoviert wird. Dorthin können sie also nicht. Weltweit gibt es, wie sie meinen, nur eine Hand voll Hotels, die nicht vor Dreck starren und von Krankheitskeimen verseucht sind, und natürlich befindet sich keins von ihnen in Texas.“ Man hörte ihr an, wie elend sie sich fühlte. „Und meine Großeltern würden selbstverständlich nicht einmal im Traum daran denken, irgendwelchen Freunden zur Last zu fallen! Können Sie sich das vorstellen? Ihren Freunden wollen sie sich nicht aufdrängen, mir aber schon.“

„Natürlich, sie sind doch Ihre Angehörigen und …“

„Sie, Dr. Garrett, mögen eine herzliche Beziehung zu Ihren Großeltern haben, die bestimmt ausgesprochen liebenswert sind“, unterbrach Sally ihn. „Doch nicht jeder Mensch hat so viel Glück.“

Er hatte keine Lust, sich auf eine Diskussion über die Beziehung zu seinen engsten Verwandten einzulassen, deshalb verbesserte er Sally nur: „Barrett!“

„Wie bitte?“

„Egal! Es war interessant, Sie kennengelernt zu haben, Sally!“ Er lief die Treppe hinunter, denn nun rannte ihm allmählich die Zeit davon.

„Warten Sie! Bitte!“

Noah wandte sich um.

„Was ist denn sonst noch?“

„Sie … Sie können nicht weggehen!“, erwiderte sie atemlos und zog ihn ins Wohnzimmer. „Was soll ich meinen Großeltern sagen?“

„Bezüglich welcher Angelegenheit?“, fragte er verwirrt.

„Über Sie und mich – das angeblich wahnsinnig glückliche Ehepaar!“

Ungläubig sah Noah sie an. Es war ja recht amüsant gewesen, für kurze Zeit Komödie zu spielen, doch nun sah es so aus, als würde sich alles zu einem absurden Melodrama entwickeln. „Hören Sie, Sally!“ Er löste sich von ihr und zog sich den Ring vom Finger. „Ich habe mich seit drei Jahren auf einen Urlaub gefreut. Seit drei Jahren!“, wiederholte er nachdrücklich und gab ihr den Ring in die Hand. „Mein Flug nach Bonaire startet in fünfundvierzig Minuten. Sagen Sie Ihren Großeltern, was Sie wollen! Dass ich zu einem Kongress musste – oder dass Außerirdische mich entführt haben. Mir ist es egal.“ Kurz drückte er ihr zum Abschied die Hand. „Machen Sie’s gut, Sally! Ich wünsche Ihnen viel Glück im Leben.“

„Ich zahle Ihnen viel Geld!“

„Das brauche und will ich nicht.“

„Was dann? Ich würde alles tun“, rief sie verzweifelt. „Verstehen Sie denn nicht? Meine Großeltern verachten mich, weil mein Vater nur ein einfacher Feuerwehrmann war. Sie haben den Kontakt zu meiner Mutter – ihrem einzigen Kind! – abgebrochen, weil sie keinen Mann aus ihren Kreisen geheiratet hat. Und wenn sie jetzt erfahren, dass ich ledig bin, sind sie endgültig überzeugt, dass ich, wie sie ohnehin immer vermutet haben, zum Gesindel zähle!“

„Gesindel?“, fragte Noah verwundert. „Ich bin durchaus auch der Meinung, dass es nicht ideal ist, wenn eine Frau ihr Kind allein aufzieht, aber heutzutage betrachtet man eine ledige Mutter doch nicht mehr von vornherein als moralisch verworfen – nicht einmal, wenn man wie Ihre Großeltern zur Bostoner Oberschicht zählt. Bestimmt übertreiben Sie jetzt und …“

„O nein, das tue ich nicht! Da Sie weder mich noch meine Großeltern kennen, können Sie Ihre Meinung für sich behalten“, unterbrach sie ihn heftig. „Ärzte! Unerträgliche Besserwisser, jeder Einzelne von ihnen. Warum ich mein Baby allein bekomme, geht weder meine Großeltern noch Sie etwas an – es ist ausschließlich meine Angelegenheit!“

„Vergessen Sie bitte nicht, dass Sie mich in Ihre Angelegenheiten hineinzogen haben, Sally!“

„Ja, aber das war doch ein Irrtum! Allerdings irre ich mich nicht, was die Einstellung meiner Großeltern betrifft. Sie sind die selbstgerechtesten, engstirnigsten und klassenbewusstesten Snobs der Welt.“ Sie presste die Finger gegen die Schläfen. „Sie würden meine Entscheidung, nicht zu heiraten, auf die minderwertigen Gene zurückführen, die ich väterlicherseits geerbt habe. Oh, und ich kann mir ihre angewiderten Mienen genau vorstellen, wenn sie erfahren würden, dass der Vater meines Babys ein anonymer Samenspender ist und die ganze Romanze in einem kurzen Klinikaufenthalt bestand.“

Noah erstaunte es, dass es keinen Mann in Sallys Leben gab oder gegeben hatte, obwohl sie ausgesprochen hübsch war. Hatte sie sich für künstliche Befruchtung entschieden, weil sie prinzipiell keine Männer mochte? Doch das ging ihn nun wirklich nichts an.

„Ich verstehe, wie sehr Sie das alles belastet, Sally, und bedauere Sie aufrichtig, aber ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr.“

Kurz musterte sie ihn, dann hob sie schicksalsergeben die Hände. „Richtig. Es ist nicht Ihr Problem, und Sie wollen Ihren Flug erreichen. Könnten Sie trotzdem vorher noch das Gepäck nach oben bringen? Meine Großmutter schafft es auf keinen Fall, und wenn ich versuche, die großen Koffer nach oben zu wuchten, setzen bei mir womöglich frühzeitig die Wehen ein.“

Noah betrachtete das aufgestapelte Gepäck unfreundlich, wusste jedoch, dass er nur noch mehr Zeit verschwenden würde, wenn er sich mit Sally auf eine weitere Diskussion einließ.

„Na gut, das erledige ich noch, dann verabschiede ich mich endgültig.“

Das Telefon klingelte, und Sally hob den Hörer ab. Noah achtete nicht auf das Gespräch, weil er erstaunt die vielen Gepäckstücke betrachtete: Koffer, Kleidersäcke, diverse Reisetaschen und einen Überseekoffer von den Ausmaßen einer mittelgroßen Kommode. Wollten Sallys Großeltern etwa jahrelang auf Reisen gehen?

„Es ist für Sie!“ Sally hielt ihm den Hörer hin. „Eine Frau namens Jane. Sie sagt, es sei wichtig.“

„Jane?“ Seine Freundin war mit Sam und dessen Verlobter Dorothy bereits am Flughafen. Vielleicht war die Abflugzeit verschoben worden? Das würde ausnahmsweise einmal gelegen kommen. Er nahm den Hörer.

„Ich hole inzwischen das Geld, das ich Ihnen schulde“, flüsterte Sally.

„Nicht nötig! Ich nehme es nicht.“ Noah wandte ihr den Rücken zu. „Hallo, Jane, mein Schatz! Was gibt’s?“

„Darling, wo bleibst du so lange? Wir warten auf dich“, erklang eine ihm vertraute, hohe Stimme. „Du musst ganz schnell herkommen! Ich habe eine tolle Überraschung für dich.“

Noah lächelte. Bevor er ihr erklären konnte, dass er demnächst bei ihr sei, sprach sie schon weiter.

„Nein, ich kann nicht eine Sekunde länger warten, Darling, ich muss es dir sofort erzählen!“

„Na schön, Jane, was gibt es denn?“ Aus Erfahrung wusste er, dass man sie nicht bremsen konnte, wenn sie in Schwung geraten war, deshalb fand er sich damit ab, mit dem Telefonat noch weitere kostbare Minuten zu verschwenden.

„Schatz, ich habe eine winzig kleine Änderung in unserer Urlaubsplanung vorgenommen“, erklärte Jane affektiert, und eine böse Ahnung überfiel ihn. „Dorothy hat mir Bonaire beschrieben. Du wusstest bestimmt nicht, dass es dort überhaupt kein Nachtleben gibt! Nur die Möglichkeit zum Tauchen.“

„Genau deshalb fliegen wir doch hin“, erinnerte Noah sie ungeduldig. „Du wolltest, wie du dich vielleicht erinnerst, auch tauchen lernen.“

„Na ja, ich dachte, dafür genügen zwei, drei Nachmittage! Du willst bestimmt nicht den gesamten Urlaub tagein, tagaus unter Wasser verbringen.“ Nun klang sie weinerlich. „Und du weißt, dass ich bei meiner empfindlichen Haut nicht lang in der Sonne liegen kann. Deshalb habe ich für dich und mich ein Zimmer in einem sagenhaft tollen Hotel auf Aruba bestellt. Es wird dir gefallen! Aruba liegt nicht sehr weit entfernt von Bonaire. Du kannst ja vormittags ab und zu Sam und Dorothy treffen, wenn ich mal ausschlafen möchte. Es wird einfach himmlisch, Darling!“

Noah traute seinen Ohren nicht. „Du nimmst mich auf den Arm, Jane, stimmt’s?“

Er dachte wirklich, sie würde nur scherzen. Seit er sein Studium abgeschlossen hatte, war er nicht mehr zum Tauchen gewesen, und nun freute er sich sehr darauf. Tauchen war ein guter Ausgleich zu dem Stress und der Hektik, die sein Beruf mit sich brachte. Ja, in den Tiefen des Ozeans hatte er, Noah, Stille und Frieden zu finden gehofft.

„Auf den Arm?“, wiederholte Jane. „Weshalb sollte ich das tun, Noah? Nein, wir fahren nach Aruba und machen, was uns gefällt, Sam und Dorothy tun auf Bonaire das, was ihnen passt. Klingt das nicht paradiesisch?“

Ihm wurde seltsam zu Mute. „Nein, Jane, das tut es nicht!“

„Wie bitte?“ Sie klang ungläubig.

Beinah hätte Noah gelacht. Ihr kam es anscheinend gar nicht in den Sinn, dass er zornig sein und ihre Handlungsweise als selbstsüchtig und eigenmächtig auffassen könnte. In letzter Zeit wurde es offensichtlich immer schwieriger, Jane zufriedenzustellen. Zwei Monate zuvor hatte er zu Janes großer Bestürzung das Angebot abgelehnt, an der Frauenklinik in Boston zu arbeiten.

„Allein schon der Name Barrett bedeutet in Boston gesellschaftliches Ansehen“, hatte Jane gejammert. „Dort könntest du tun, was dir gefällt, und du wärst jemand!“

Ja, das wusste er. Und genau deshalb war er damals nach Texas geflüchtet, um dort Medizin zu studieren. Er hatte sich den typischen Bostoner Akzent abgewöhnt, trug Jeans und Cowboystiefel, was er bequemer fand als Maßanzüge, und war nach der Ausbildung in Houston geblieben und hatte eine gut gehende Praxis eröffnet. Weshalb sollte er zurück nach Boston gehen? Es ging ihm gut in Houston, seine Patientinnen schätzten ihn, und einmal pro Woche arbeitete er ehrenamtlich in einer ausschließlich durch Spenden finanzierten Klinik, in der mittellose Frauen gratis behandelt wurden.

Als er Jane erklärt hatte, dass er seine Schützlinge nicht im Stich lassen wolle, hatte sie gemeint, er könne doch auch in Boston entsprechende Fälle behandeln. Offensichtlich verstand sie nicht, dass es ihm nicht um die „Fälle“ ging, sondern um Menschen, die auf seine Hilfe angewiesen waren.

Jane hatte geschmollt, und um sie zu besänftigen, bat er Sam, ihn zu vertreten, und flog mit Jane für ein „romantisches“ Wochenende nach Las Vegas.

Und nun wollte sie schon wieder Vergnügen und Nachtleben statt Ruhe und Erholung! Plötzlich war er der Beziehung ziemlich überdrüssig. Jane machte ihn so wütend, dass er sie vorerst nicht sehen wollte – nicht, bevor er sich beruhigt hatte.

Nachdenklich blickte Noah hoch und unterdrückte einen Fluch, als er Sally eine der Taschen mühsam die Treppe hinauftragen sah. Er hatte plötzlich eine kuriose Idee.

„Darling, wo steckst du eigentlich?“, fragte Jane argwöhnisch.

Janes Frage riss Noah aus den Gedanken. „Gib mir mal Sam.“

„Wie bitte?“

„Ich möchte kurz mit Sam sprechen, Jane!“ Es fiel ihm schwer, die Beherrschung zu wahren.

„Hallo, Kumpel, was ist? Kannst du meine Taucherbrille nicht finden?“

„Doch, die habe ich.“

„Gut, Noah, dann sehen wir uns ja gleich.“

„Nein, das glaube ich nicht.“ Noah war normalerweise kein impulsiver Mensch, aber nun folgte er seiner Eingebung, egal, welche Konsequenzen sich daraus ergeben mochten. „Deine Schwester hat mich um einen Gefallen gebeten, Sam, deshalb bleibe ich vorerst hier. Richte Jane aus, dass ich ihr viel Vergnügen wünsche. Ich komme dann irgendwann nach.“ Wenn ich nicht mehr so wütend bin, fügte er im Stillen hinzu.

Sam lachte. „Sehr witzig!“

„Nein, ich meine es ernst. Die Taucherbrille schicke ich dir umgehend per Post nach.“

„Jane wird bestimmt fuchsteufelswild“, warnte Sam ihn.

„Das macht dann zwei.“

„Ach so, sie hat dir erzählt, was sie getan hat, Noah?“

„Ja.“

Sam räusperte sich. „Tut mir leid, dass ich es ihr nicht ausreden konnte, aber ich habe auch erst erfahren, was sie sich erlaubt hat, als wir sie hier getroffen haben. Und um welchen Gefallen hat meine Schwester dich gebeten?“

„Ach, nichts Großartiges.“ Wütend fuhr sich Noah durchs Haar. „Ich bin für die nächsten Tage als ihr Ehemann engagiert.“

3. KAPITEL

Auf dem Weg nach oben hatte Sally nicht verstehen können, was Noah am Telefon sagte. Irgendwie wünschte sie sich aber, das Flugzeug würde einen technischen Defekt haben und Noahs Abreise sich verzögern. Weshalb, verflixt noch mal, fiel ihr kein stichhaltiger Grund ein, warum er die Stadt verließ. Ein Kongress war vielleicht tatsächlich keine so schlechte Idee.

„Was für ein Schlamassel“, sagte Sally halblaut, während sie eine der schweren Taschen, immer nur eine Stufe auf einmal nehmend, nach oben beförderte. Plötzlich wurde sie ihr aus der Hand genommen. Zum Glück hielt sie sich mit der anderen am Geländer fest, sonst wäre sie möglicherweise vor Überraschung rückwärts die Treppe hinuntergefallen.

Sally blickte auf.

„Hallo!“ Noah sah nicht gerade begeistert aus.

„Ich trage die Tasche“, informierte sie ihn überflüssigerweise. „Es wäre nett, wenn Sie den großen Koffer nach oben schafften, bevor Sie zum Flughafen fahren.“

„Ich reise nicht ab.“ Er klang schroff. „Jedenfalls nicht heute.“

„Stimmt was mit dem Flugzeug nicht?“, fragte sie verwirrt.

„Nein, ich habe lediglich beschlossen … Sam hat mir vor einigen Monaten einen großen Gefallen getan, und ich finde, ich kann seiner Schwester ein, zwei Tage aushelfen, sozusagen als Wiedergutmachung.“ Er stellte die Tasche wieder ab und hielt Sally die Hand hin. „Am besten geben Sie mir den Ring zurück.“

„Den Ring?“, wiederholte Sally wie benommen.

Um seine Lippen zuckte es, aber sein Blick war kühl. „Nimm diesen Ring als Zeichen meiner Treue?“

„Ach so!“ Ihr Herz schien bei den feierlichen Worten einen Schlag lang auszusetzen, obwohl sie doch nie geheiratet hatte – und es auch nicht zu tun beabsichtigte. Reiß dich zusammen, der Mann meint es nur sarkastisch, ermahnte sie sich. Zurzeit sah sie aus wie eine wandelnde Tonne, da brauchte sie sich keine falschen Hoffnungen zu machen. Errötend zog sie den Ring, der ihrem Vater gehört hatte, aus der Tasche ihres weiten Trägerkleids und reichte ihn Noah. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Dr. Garrett.“

Er steckte sich den Ring an den Finger und sah sie finster an. „Erstens lautet mein Nachname Barrett, nicht Garrett, und zweitens sollten Sie mich, auch wenn wir allein sind, Noah nennen und duzen.“

„Sollte ich Sie … dich nicht besser Schatz oder Liebling nennen, so wie vorhin?“

„Sag einfach das zu mir, was du auch zu dem Mann sagen würdest, mit dem du ‚wahnsinnig glücklich‘ wärst.“ Er nahm die Tasche und ging weiter die Treppe hinauf.

„Und welchen Kosenamen hast du mir zugedacht?“

Er wandte sich um und lächelte breit. „Wie wäre es mit ‚Herzblatt‘?“

Sally schnitt ein Gesicht. „Nein, das ist zu dick aufgetragen.“

Er lachte. „Und was hältst du von ‚Lollipop‘? Das trifft doch genau ins Schwarze.“

„Weil ich so rund bin?“, hakte sie wütend nach.

„Nein, so süß!“

Gegen ihren Willen fand sie die Bemerkung so komisch, dass sie ein Lächeln unterdrücken musste. Noah machte sich doch nur lustig über sie! „Mir wäre es lieber, wenn du mich Schätzchen oder Liebes nennst.“

„Alles klar – Lollipop!“ Er drehte sich um und ging weiter.

Wütend sah sie ihm nach und stellte unwillkürlich fest, dass er auch von hinten äußerst attraktiv war. „Keine dummen Gedanken!“, ermahnte sie sich halblaut. „Denk an den letzten Arzt, mit dem du dich eingelassen hast!“

Sie ging in die Diele zurück, um ein weiteres Gepäckstück zu holen, und überlegte dabei, wie lange es ihr und Dr. Garrett – nein, Barrett! – gelingen würde, die Komödie überzeugend zu spielen.

Es war ihr so einfach und narrensicher erschienen, weil das Ganze nur eine Stunde hätte dauern sollen. Wer hätte denn ahnen können, was sich daraus ergeben würde?

Als sie in der Diele war, wurde plötzlich an die Haustür geklopft. Sie öffnete. Draußen stand der Apotheken-Bote und händigte ihr die Medikamente aus. Als sie die Tür wieder schloss, kam Noah herunter.

Bestürzt stellte sie fest, dass sie ihn unglaublich sexy fand. Das Baby bewegte sich plötzlich heftig, und sie zuckte zusammen. „Du hast recht, meine Kleine! Es geht mich nichts an, wie sexy der Doktor ist.“

„Hast du etwas zu mir gesagt, Sally?“

Sie schüttelte den Kopf und legte sich die Hand auf den Bauch. „Nein, zu Vivica.“

Noah sah plötzlich nicht mehr so finster aus. „Es wird also ein Mädchen?“

„Ja – wie du als mein Mann ja eigentlich wissen müsstest.“ Sie nahm das Rezept und rubbelte mit dem Fingernagel den Namen Barrett weg. Dann löste sie den Aufkleber mit dem Hinweis, dass man nach Einnahme des Mittels nicht Auto fahren solle, und klebte ihn über die aufgeraute Stelle.

„Was machst du da?“, erkundigte Noah sich.

„Wonach sieht es denn aus, Dr. Step?“, fragte sie und legte besondere Betonung auf den Namen.

Noah verstand, was sie meinte. „Ach ja, richtig. Gut gedacht.“

„Danke.“ Sie schob das Rezept wieder in die Tablettenschachtel. „Übrigens: Vivica war der Name meiner Mutter.“

„Die Abigail und Hubert Vanderkellens Tochter war?“

„Stimmt. Mit zweitem Namen soll das Baby Charlotte heißen, nach der Mutter meines Vaters. Wie die hieß, wissen meine Großeltern nicht, aber als mein Mann würdest du es wissen.“

„Wann ist die kleine Vivica Charlotte Step denn fällig?“

„In vier Wochen. Am ersten April. Ja, ja, ich weiß.“ Sie hob die Hand, als er noch etwas hinzufügen wollte. „Ein Aprilscherz. Vivica hat mir allerdings versprochen, dass sie etwas zu früh oder ein bisschen verspätet auf die Welt kommt.“ Sie hielt ihm die Tablettenschachtel hin. „Hier, nimm das mit.“

Er nahm stattdessen zwei Koffer. „Nein, bring lieber du das deinem Großvater. Ach ja, mein Gepäck ist noch in meinem Wagen. Wo soll ich das abstellen?“

Einen Moment lang war Sally wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte sich nicht überlegt, welche Folgen es haben würde, wenn ihr sogenannter Ehemann hierblieb und einen Platz zum Schlafen brauchte. Verflixt! Warum nur hatte ihre Großmutter sie in diese Lage gebracht? Wahrscheinlich, weil sie, Sally, sie belogen hatte.

„Na ja, am besten in das Zimmer oben am Ende des Flurs“, antwortete sie schließlich.

Er nickte. „Alles klar!“

Plötzlich wurden ihr die Knie weich, und sie setzte sich rasch auf die Treppe. Abgesehen vom zukünftigen Kinderzimmer, in dem kein Bett stand, gab es keinen anderen freien Raum im Haus. Noah Barrett würde es mit einer hochschwangeren Gefährtin teilen müssen – zu ihrer beider Pech.

Sally barg das Gesicht in den Händen und wünschte sehnlichst, dass Noah es, wenn sie es ihm mitteilte, gelassen aufnehmen würde.

Der Nachmittag schien sich endlos hinzuziehen. Hubert Vanderkellen stöhnte unablässig und behauptete, sich nicht rühren zu können, während Abigail ihn immer wieder aufforderte, aufzustehen und sich zu bewegen.

Sally machte Platz im Kleiderschrank ihres Zimmers und erklärte das Fehlen von Männersachen damit, dass sie und Noah wegen des Babys gerade alles neu arrangierten. Ihrer Großmutter schien das völlig egal zu sein. Sie hörte überhaupt nicht zu, sondern verbrachte die Zeit damit, ihren Mann anzufunkeln und alles in ihrer Reichweite zu desinfizieren.

Noah war schweigsam und wirkte missmutig, wenn ihre Großeltern nicht in seiner Nähe waren. Wenig später fuhr er in die Stadt, um spezielle Lebensmittel für Abigail zu besorgen, die behauptete, nicht alles essen zu können. Vermutlich sollte das im Klartext heißen, dass sie keine Lebensmittelvergiftung riskieren wollte, indem sie etwas aß, was sich in Sallys Kühlschrank befand.

Gegen Abend trug Sally ein Tablett, beladen mit frisch erstandenem Hüttenkäse, Pfirsichspalten und Kaffee – natürlich von der besten Sorte und frisch gemahlen – nach oben, wobei sie sich fragte, ob ihre Großmutter am Krankenlager ihres Mannes sitzen bleiben wollte, weil sie ihm so treu ergeben war, oder vielmehr, weil sie die Küche noch nicht desinfiziert hatte.

Als Sally in die Küche zurückging, stand Noah am Herd und wendete die Bratkartoffeln in der Pfanne. Sie wunderte sich immer noch, warum er ihr einige Tage seines lang ersehnten Urlaubs opferte. Sam musste ihm ja einen sehr großen Gefallen getan haben, und Noah schien alles andere als glücklich über den Entschluss zu sein, Wiedergutmachung auf diese Art zu leisten. Wieso tat er es dann? Ihr schuldete er ja nichts!

„Noah, was machst du da?“, fragte sie schroff.

„Ich wende die Bratkartoffeln, damit sie nicht anbacken.“

„Danke!“ Sie nahm Noah den Bratenwender aus der Hand. „Der Hackbraten ist auch fertig. Wir können jetzt essen.“

„Wie wäre es mit Salat?“, schlug Noah vor.

Aus Salat machte sie sich nichts, hatte jedoch, seit sie schwanger war, darauf geachtet, ihn auf den Speiseplan zu setzen – zumindest gelegentlich.

„Sieh im Kühlschrank nach. Ich weiß nicht, was an Zutaten da ist, aber wenn du unbedingt welchen möchtest …“

Er wies auf ihren Bauch. „Vivica braucht eine Extraportion Vitamine.“

Sally war nicht daran gewöhnt, dass man ihr Vorschriften machte. Sie unterließ jedoch eine scharfe Bemerkung, weil sie Noah nicht verärgern wollte, und sagte nur: „Na ja – falls du etwas Salatähnliches findest, bedien dich ruhig.“

Er öffnete den Kühlschrank und inspizierte ihn. „Wie fühlt sich dein Großvater?“

„Er schläft. Wahrscheinlich ist das reine Selbstverteidigung. Dann braucht er sich nicht länger die Vorhaltungen anzuhören, er würde nur simulieren.“

Noah lachte. „Ja, soviel ich mitbekommen habe, war er nicht sehr begeistert von der Aussicht, eine einwöchige Wandertour zu mexikanischen Pyramiden machen zu müssen.“

„In der zweiten Woche wollten sie auf St. Martin, St. Thomas und Martinique Station machen, wo mein Großvater Golf, Golf und nochmals Golf zu spielen vorhatte. Ein Sport, den meine Großmutter zutiefst verabscheut.“

Noah schien einige Zutaten gefunden zu haben, aus denen sich so etwas wie ein Salat zubereiten ließ. „Wetten, dass dein Großvater innerhalb einer Woche wieder gesund ist?“

„In einer Woche? Bis dahin bin ich mit den Nerven bestimmt völlig am Ende!“ Sally seufzte laut.

Noah legte drei welke Stängel Sellerie auf den Küchentisch, dazu einige Kieselsteinen ähnliche Gebilde, die möglicherweise einmal Radieschen gewesen waren. Außerdem hatte er eine überreife Tomate gefunden und einen halben Blumenkohl, der nicht allzu schlimm aussah.

„Hast du Gemüsekonserven im Haus, Sally?“

„Wieso?“ Sie lächelte. „Kannst du das rohe Gemüse nicht wieder beleben? Du bist doch Arzt.“

Er erwiderte das Lächeln, und ihr stockte der Atem, weil es unwiderstehlich war, sogar wenn seine Augen noch immer kühl blickten. Keine dummen Gedanken! ermahnte sie sich dann. So kurz vor der Niederkunft sollte sie sich auf mütterliche Empfindungen beschränken, statt Tagträumen nachzuhängen.

„Das Grünzeug tut es notfalls auch allein, aber ich wollte noch Bohnen oder Möhren dazutun“, erklärte Noah.

Sally wies auf die Speisekammer neben der Verandatür. „Bitte, sieh ruhig nach.“

Einige Minuten später kam er mit zwei Dosen in der Hand zurück. „Einmal Mais, einmal Erbsen.“

„Das klingt nach einer abscheulichen Kombination.“ Sie schnitt ein Gesicht. „Muss Vivica das wirklich über sich ergehen lassen? Ich nehme doch regelmäßig Vitamintabletten.“

„Tu mir den Gefallen, und iss den Salat.“

Die Nase rümpfend wandte sie sich dem Herd zu. „Die Bratkartoffeln sind fertig.“

„Den Salat zu machen dauert nicht lang.“

Sally deckte den Tisch in der Küche und gab Hackbraten und Kartoffeln in Schüsseln. Noah stellte seine Version eines gemischten Salats dazu, den sie misstrauisch begutachtete.

„Es wundert mich, dass du kochen kannst, Noah.“

„Ich bin nun mal außergewöhnlich begabt. Und das hier ist ein perfektes Beispiel meiner Kochkünste.“

„Ja, das habe ich befürchtet. Was möchtest du trinken? Ich nehme Wasser.“

„Ist mir recht.“

Sie füllte zwei Gläser und stellte sie auf den Tisch, dann wollte sie sich setzen. Noah schob ihr den Stuhl zurecht, was sie überraschte.

„Das ist doch nicht nötig“, wehrte sie verlegen ab. Warum war er so höflich, obwohl sie unfreundlich zu ihm war?

„Du bist doch meine innig geliebte Frau“, meinte er schalkhaft und nahm ebenfalls Platz.

„Was soll das? Bist du einer dieser Schauspieler, die sich mit Leib und Seele in ihre Rolle versetzen?“, fragte sie missmutig, während sie sich Bratkartoffeln auf den Teller tat.

Noah servierte ihr und sich zwei große Portionen Salat, und sie hatte das Gefühl, er würde auch dafür sorgen, dass sie ihre aufaß.

„Nein, aber es ist mir ein echtes Anliegen, Schwangeren zu helfen und es ihnen so bequem wie möglich zu machen. Das gehört einfach dazu, wenn man als Geburtshelfer praktiziert.“

„Oh! Ich dachte … So wie du dich um meinen Großvater nach seinem Sturz gekümmert hast, habe ich vermutet, du seist Orthopäde oder Unfallchirurg.“

„Gib doch zu, du hast gedacht, ich sei bloß Krankenpfleger.“

Sally errötete. „Das finde ich nicht länger komisch!“

Um seine Lippen zuckte es. „Alles klar.“

Schweigend begannen sie zu essen, und für eine Weile hörte man nichts außer dem Klirren des Bestecks auf den Steinguttellern, die Sally von ihrer Mutter geerbt hatte.

„Und nun, Sally …“ Noah räusperte sich und sah sie neckend an. „Besser gesagt: Und nun, Lollipop – würde es dir etwas ausmachen, meine Neugier bezüglich eines ganz bestimmten Themas zu befriedigen?“

Ihr wurde unbehaglich zu Mute. „Falls du wissen willst, wie mir der Salat schmeckt: Er ist gut. Wie hast du die Salatsoße gemacht?“

„Es ist eine Marinade aus Olivenöl, Balsamessig, Salz, Pfeffer und getrocknetem Oregano, aber das …“

„Wo hast du Balsamessig gefunden?“, unterbrach sie ihn.

Er wies auf eine hübsche dunkelblaue Flasche auf dem Fensterbrett. „Da.“

„Ach, das ist Balsamessig?“

„Was dachtest du denn?“

„Gar nichts. Ich habe die Flasche nur gekauft, weil ich das blaue Glas so hübsch fand – und den Zweig Rosmarin in der Flüssigkeit.“

„Jetzt weißt du, dass sie Balsamessig enthält. Als ich gesagt habe, dass ich wegen einer bestimmten Sache neugierig bin, meinte ich natürlich deine ungewöhnliche Methode, schwanger zu werden.“

Misstrauisch sah sie ihn an. „Wieso? Es ist eine völlig legale Methode! Bereitet dir das irgendwelche Probleme?“

Ihre scharfe Reaktion schien ihn zu überraschen. „Theoretisch nicht, aber da du unverheiratet bist, habe ich mich gefragt, was dich zu dem doch ziemlich extremen Entschluss veranlasst hat.“

„Was ist daran extrem?“ Trotzig hob sie das Kinn. „Ich wollte ein Kind haben und vermeiden, dass ein Mann darauf Anspruch erhebt und mir das Leben erschwert, nur weil ich einige Male mit ihm im Bett war. Deshalb habe ich mich für einen anonymen Samenspender entschieden. So einfach ist das.“

„So einfach also.“

„Ja. Es geht dich zwar nichts an, aber ich erkläre es dir trotzdem. Erstens: Ich liebe Kinder. Zweitens: Es gibt in meinem Leben keinen Mann, der sich binden und Verpflichtungen übernehmen möchte. Drittens: Ich werde demnächst achtundzwanzig.“

Noah zog die Brauen hoch. „Ich verstehe.“

Sie stach in ein Blumenkohlröschen. „Du brauchst es nicht zu verstehen – und auch nicht einverstanden zu sein!“

„Das ist mir klar“, erwiderte er. „In meiner Praxis sehe ich jedoch oft genug, wozu es führt, wenn eine Frau sich entschließt, ein Kind allein großzuziehen. Zu viele junge Mädchen lassen sich heutzutage darauf ein, ohne eine Ahnung zu haben, was das bedeutet. Sie wollen bloß eine lebende Puppe zum Spielen oder jemanden, der sie liebt. Sie sind nicht reif genug, um zu wissen, was es an Geld, Zeit, Energie und Geduld kostet, ein Kind allein zu erziehen.“

Er beugte sich vor und legte die Hände flach auf den Tisch, eine ganz harmlose Geste, die Sally als seltsam aggressiv empfand.

„Und wenn ich dann einer jungen Frau begegne“, fügte Noah hinzu, „die noch viele Jahre vor sich hat, in denen sie eine richtige Familie gründen kann, und entdecke, dass sie den Entschluss gefasst hat, ein Kind allein zu bekommen, kann ich einfach nicht anders, als mich zu fragen, ob sie weiß, was sie tut.“

Dass er so bevormundend klang, machte sie wütend. „Na schön, du kannst dich fragen, was du willst, solange du es für dich behältst. Ich brauche keine Vorträge, und ich brauche keinen Vater für mein Kind, das ebenfalls darauf verzichten kann.“ Sie stand auf. „Ich brauche nur für die nächsten Tage jemanden, der meinen Ehemann spielt. Unglücklicherweise bist du das.“

Lieber Himmel, er ist genauso konventionell und engstirnig wie meine Großeltern, dachte sie wütend. Anscheinend war sie vom Regen in die Traufe gekommen.

„Ärzte!“, rief Sally. „Eher geht die Welt unter, als dass einer von ihnen zugibt, im Unrecht zu sein!“

„Beruhige dich!“ Noah stand ebenfalls auf. „Du bist ja so angespannt wie eine Bogensaite.“

„Wie angespannt ich bin, geht dich überhaupt nichts an!“

„Irrtum! Ich bin Geburtshelfer, und du bist hochschwanger, deshalb geht es mich durchaus etwas an, auch wenn es dir nicht gefällt.“

„Es passt mir tatsächlich nicht! Wage also nicht, dich einzumischen“, warnte sie ihn und fügte halblaut hinzu: „Du aufgeblasener Besserwisser.“

„Glaub ja nicht, ich hätte das nicht gehört, Sally.“

„Und glaub du nicht, dass es mir was ausmacht! Ich nehme jetzt ein schönes, heißes Bad.“ Sie massierte sich im Hinausgehen den schmerzenden Rücken. „Lass die Teller stehen. Ich spüle sie nachher.“

„Kein heißes Bad!“, rief Noah ihr nach. „Nur mäßig warm.“

So ein Tyrann! Vor sich hin schimpfend, ging Sally nach oben.

Nachdem Sally ein lauwarmes Bad genommen hatte, putzte und desinfizierte sie alles, so gut sie konnte, und ging dann kurz ins Krankenzimmer, um ihrer Großmutter zu sagen, dass das Bad frei sei. Ihr Großvater lag auf dem Rücken und schnarchte rhythmisch.

„Soll ich Grandpa noch etwas zu essen bringen?“, erkundigte sich Sally.

„Nein!“ Ihre Großmutter presste kurz die Lippen so fest zusammen, dass sie wie ein Strich wirkten. „Er kann aufstehen und sich selbst versorgen.“

Sally atmete tief durch, um sich zu beherrschen. „Na ja, wenn er dennoch etwas braucht, lass es mich wissen.“

„Hubert ist ein alter Schwindler! Wenn es um ein Golfturnier ginge, würde er die Rückenschmerzen in null Komma nichts vergessen. Geh ins Bett, Sally. Er wird heute Nacht schon nicht verhungern.“

Sally schloss die Tür und ging nach unten. Sie hatte bereits ein langes Flanellnachthemd und den Bademantel angezogen, denn es war empfindlich kühl geworden.

Zum Spülen hatte sie absolut keine Lust, aber wenn die fettigen Teller bis morgen stehen blieben, würde die Sache noch unangenehmer werden. Seufzend knipste sie das Licht in der Küche an und war überrascht, diese tadellos aufgeräumt vorzufinden. Noah hatte alles erledigt, und das verursachte ihr ein schlechtes Gewissen. Sie war vorhin wütend aus der Küche geeilt, und trotzdem hatte er abgewaschen und alles weggeräumt.

„Das ist wahrscheinlich Teil seiner Kampagne, meine Schwangerschaft zu seinem Anliegen zu machen!“, murrte sie halblaut. Ärzte! Die hielten sich alle für Halbgötter und meinten, nur sie hätten recht.

Noch immer gereizt, ging sie wieder nach oben. An ihrer Zimmertür blieb sie stehen, weil ihr plötzlich einfiel, dass es für die nächsten Tage nicht mehr ihr Zimmer war, sondern ihre Großeltern es bewohnten. Sie ging zum Raum am Ende des Flurs, dessen Tür geschlossen war. Als sie anklopfen wollte, hörte sie ihre Großmutter aus dem Bad kommen und überlegte es sich anders. Welche liebende Frau klopfte an, bevor sie zu ihrem Mann ins Schlafzimmer ging?

Sally nickte ihrer Großmutter lächelnd zu und betrat das Zimmer. Ihr aufgeblasener, besserwisserischer Pseudoehemann saß auf dem Bett, dessen Kopf- und Fußteil ein ähnlich verschlungenes Blattmuster aufwies wie die Skulptur unten in der Diele, die den ganzen Schlamassel verursacht hatte.

Plötzlich erinnerte das Bett Sally nicht länger an eine hübsche Laube, sondern an Tarzans Lager im Dschungel. Noah trug nur Boxershorts, und mit den breiten Schultern und der muskulösen Brust wirkte er überwältigend männlich.

Als er hörte, wie die Tür geschlossen wurde, blickte er überrascht auf.

Sally lehnte sich gegen die Tür und sah konzentriert zum Ventilator an der Decke hoch. „Tut mir leid, Noah, aber ich konnte nicht anklopfen, weil meine Großmutter gerade aus dem Bad kam und es bemerkt hätte.“

„Was kann ich für dich tun?“

Autor

Renee Roszel

Renee ist mit einem Ingenieur verheiratet, was einen großen Vorteil und einen kleinen Nachteil hat. Der Vorteil: Wann immer ihre Kinder Probleme in Mathe haben, kann er helfend einspringen, denn Renee könnte es ganz sicher nicht! Der Nachteil: Seine Liebeserklärungen tendieren dazu, sehr sachlich zu sein – er ist und...

Mehr erfahren
Penny Jordan
<p>Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...
Mehr erfahren
Caroline Anderson
<p>Caroline Anderson ist eine bekannte britische Autorin, die über 80 Romane bei Mills &amp; Boon veröffentlicht hat. Ihre Vorliebe dabei sind Arztromane. Ihr Geburtsdatum ist unbekannt und sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Suffolk, England.</p>
Mehr erfahren