Julia Exklusiv Band 355

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BLONDER ENGEL – GANZ IN WEISS von JANELLE DENISON
Große blaue Augen, blonde Locken und ein zauberhaftes weißes Kleid, doch die Braut ist ziemlich betrunken. Vor allem – was macht sie hier allein in der Bar? Das fragt sich Garrett Blackwell und nimmt die hilflose, junge Braut mit zu sich nach Hause, damit sie ihren Rausch ausschlafen kann. Vor wem mag sie nur geflüchtet sein?

ZAUBERHAFTE TAGE MIT NIALL von LIZ FIELDING
Männer können alles, glaubt Niall Farraday – und wird eines Besseren belehrt, als er sich ausgerechnet in Romana Claibourne verliebt. In die clevere PR-Managerin, die er aus der Familienfirma "C & F" drängen will, um selbst die Macht zu übernehmen ...

NACHT DES SCHICKSALS von GRACE GREEN
Auf dem Landsitz ihrer Familie will Kendra ein neues Leben beginnen. Noch immer leidet sie unter dem Gedächtnisverlust, der durch einen Unfall ausgelöst wurde. Sie beauftragt den Unternehmer Brodie Spencer, das Anwesen zu renovieren. Kann er ihr vielleicht helfen, den Schleier der Vergangenheit zu lüften?


  • Erscheinungstag 14.10.2022
  • Bandnummer 355
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512008
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Janelle Denison, Liz Fielding, Grace Green

JULIA EXKLUSIV BAND 355

1. KAPITEL

Die Braut hatte das Gesicht eines Engels und die Figur einer Göttin, gehüllt in meterlange Bahnen schimmernder weißer Seide. Der Kontrast zwischen dem lilienweißen Gewand und diesem Ort lockerer Moral veranlasste Garrett Blackwell, tief durchzuatmen, bevor er sich auf einen der freien Barhocker setzte.

Er war allerdings nicht der Einzige, der zu der abgelegenen Ecknische hinüberstarrte, in der die einsame Braut sich niedergelassen hatte und eine dunkelbraune Flüssigkeit aus einem Cognacschwenker trank – oder besser gesagt, hinunterstürzte. „Leisure Pointe“, dröhnte wie immer von lauter Musik, Gelächter und harmlosen Streitigkeiten, doch die Hauptattraktion schien die Dame in Weiß zu sein. Die Frauen beobachteten sie neugierig und misstrauisch, während sämtliche Männer offenbar nur darauf warteten, für den fehlenden Bräutigam einzuspringen.

Garrett konnte es ihnen nicht verübeln. Sie war eine Augenweide, eine Frau, für die ein Mann sich zum Narren machen konnte. Große blaue Augen, volle Lippen, die zum Küssen einluden, und ein makelloser, samtweicher Teint, der vor Wärme zu leuchten schien. Das weizenblonde Haar war zu einer Hochfrisur aufgesteckt, aus der sich bereits die Hälfte der Locken gelöst hatten und offen um ihr Gesicht und über ihren Rücken fielen. Das schulterfreie Kleid war über und über mit Perlen und Pailletten bestickt, das Dekolleté reichte bis zum Ansatz der wohlgeformten Brüste, und das Mieder umschloss eine schmale Taille. Garrett vermutete, dass sie lange, schlanke Beine hatte, die zu der zierlichen Gestalt passten. Rasch verdrängte er diese Gedanken, bevor sie eine noch gefährlichere Richtung einschlugen. Schließlich ging es ihn absolut nichts an, welch hauchdünne Dessous sie unter dem Kleid tragen mochte.

„Sie ist toll, oder?“

Garrett wandte sich Harlan zu, dem Barkeeper und Inhaber des Lokals. Harlan trug ein Holzfällerhemd mit hochgerollten Ärmeln, verwaschene Jeans und Hosenträger, die völlig überflüssig waren, da der breite Gürtel diese Aufgabe ebenso gut hätte bewältigen können.

„Sie sieht aus wie jemand aus St. Louis, der sich verirrt hat. Keine so elegante Frau wie sie würde sich freiwillig in ein Nest wie Danby, Missouri, begeben, es sei denn, sie hätte sich verfahren. Wer ist sie eigentlich?“

„Keine Ahnung.“ Harlan öffnete eine Bierflasche und stellte sie vor Garrett. „Niemand scheint zu wissen, wer sie ist oder woher sie kommt. Sie ist noch nie in Danby oder Umgebung gesehen worden – dabei hat sie ein Gesicht und einen Körper, den kein gesunder Mann je vergessen würde, wenn du verstehst, was ich meine.“

Oh ja, Garrett verstand nur zu gut, was Harlan meinte. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um genau zu wissen, wie sie aussah. Vor seinem geistigen Auge tauchten die wilde Haarmähne auf, die vollen Brüste, die durch die schmale Taille noch üppiger wirkten … Genug! Wenn er weiter über sie nachdachte, würde das Verlangen ihn überwältigen und um den Verstand bringen. Er hob die Flasche an die Lippen und trank einen tiefen Schluck.

„Wo steckt der Bräutigam?“

Harlan räumte die schmutzigen Gläser vom Tresen und stellte sie ins Spülbecken. „Hab keinen gesehen. Sie hat allerdings ein paar Heiratsanträge von den jungen Burschen bekommen, die heute hier herumschwärmen. Die Bande ist ihr kaum von der Seite gewichen und hat sich ganz schön aufgespielt.“ Ein fürsorglicher Ausdruck spiegelte sich in seinen Augen, so wie man es von einem Vater dreier Töchter im Teenageralter erwarten durfte. „Ich musste die Jungs schließlich verscheuchen, damit sie ihre Ruhe hat. Obwohl das Mädchen die Annäherungsversuche ignoriert hat, bestellen sie immer wieder Drinks für sie. Fünf Amaretto! Ich habe Betty gerade gesagt, sie solle ihr nichts mehr bringen und keine Bestellungen von ihren Bewunderern mehr entgegennehmen, es sei denn, es handelt sich um Kaffee.“

Garrett lächelte. Harlan wirkte und klang wie ein großer, brummiger Grizzly, aber in Wirklichkeit war er eine Seele von Mensch. Er führte seine Bar ordentlich und gönnte es jedem, wenn er sich amüsierte. Andererseits war allgemein bekannt, dass Harlan in seinem Lokal keinen Ärger oder Schlägereien duldete und sich stets um die Gäste kümmerte, die zu viel getrunken hatten.

Wie die Braut ohne Bräutigam.

Harlan ging ans Ende des Tresens, um Getränkewünsche zu erfüllen, und Garrett ertappte sich dabei, wie er erneut zu der Frau hinüberschaute. Sie war ein faszinierendes Geschöpf – nicht nur wegen der geheimnisvollen Umstände, die sie nach Danby verschlagen hatten, oder weil sie im „Leisure Pointe“ völlig fehl am Platz war. Gekleidet wie eine Märchenprinzessin und mit einer Schönheit gesegnet, die gleichermaßen verblüffend und erregend war, glich sie einem funkelnden Diamanten inmitten einer Handvoll Kieselsteinen. Sie gehörte nicht hierher, sondern in eine Großstadt.

Als Harlan zurückkehrte, sprach Garrett seine Gedanken laut aus. „Wer, um alles in der Welt, würde sie hier absetzen?“

„Der Chauffeur ihrer Limousine.“

„Draußen stand aber keine Limousine“, erwiderte Garrett stirnrunzelnd.

Harlan griff nach dem Geschirrtuch und begann, die Biergläser abzutrocknen. „Der Bursche hat sich auch nicht lange aufgehalten“, erklärte er verächtlich. „Er ist ihr mit einem Koffer gefolgt und hat mir erzählt, dass sie ihn gebeten habe, hier zu halten. Der feine Schnösel meinte, er sei nur für eine bestimmte Zeit gebucht, und die sei abgelaufen. Er würde nicht warten, und sie solle sehen, wie sie klarkomme.“

„Das ist alles?“

„Er hat sich noch beschwert, dass er den ganzen Weg nach St. Louis zurückfahren müsse. Ich nehme also an, dass sie von dort stammt.“ Seufzend legte Harlan einen Arm auf den Tresen. „Du musst mir einen Gefallen tun, Blackwell.“

„Wieso habe ich das Gefühl, dass mir nicht gefallen wird, was du mir zu sagen hast?“, erkundigte Garrett sich spöttisch.

„Hab dich nicht so“, beschwerte Harlan sich. „Ich will doch nur, dass du hinübergehst und die Dame fragst, wen wir anrufen sollen, damit sie abgeholt wird.“

Die Bitte war schlicht, unmissverständlich und erforderte wenig Mühe, aber Garrett spielte nicht mehr den Ritter. Nicht seit die letzte Frau, die er aus einer Notlage gerettet hatte, seine Großzügigkeit ausgenutzt und ihn schamlos hinters Licht geführt hatte.

Seine Miene hatte ihn offenbar verraten, denn Harlan fuhr rasch fort: „Ich könnte hier garantiert eine Menge Freiwilliger auftreiben, aber die meisten Männer würden ihr wahrscheinlich nur einen unsittlichen Antrag machen. In Anbetracht ihres Zustandes …“

Garrett stöhnte auf. Er war hergekommen, um sich zu entspannen, ein paar Bier zu trinken und mit Harlan und einigen Stammgästen, die noch mit seinem Vater befreundet gewesen waren, über alte Zeiten zu plaudern. Es war die gleiche langweilige Samstagabendroutine – ganz anders als das Wochenende seines Bruders mit Partys, Frauen und halsbrecherischen Abenteuern.

Rylan … Bemüht, sich um Harlans Vorschlag zu drücken, spähte Garrett durch den dichten Zigarettenrauch auf der Suche nach dem dunklen, zerzausten Haarschopf und dem charmanten Grinsen seines jüngeren Bruders.

„Warum beauftragst du nicht Rylan damit?“, fragte Garrett.

Obwohl sein Bruder das schöne Geschlecht schätzte und ihn jedes weibliche Wesen unter achtzig anhimmelte, hatte er nie die Notsituation einer Frau ausgenutzt. Der Respekt, den ihre Mutter sie gelehrt hatte, war noch immer tief verwurzelt. Garrett bezweifelte allerdings, dass Charlotte Blackwell je damit gerechnet hatte, welch hohen Preis ihr ältester Sohn für seine Ritterlichkeit hatte zahlen müssen.

Seine achtjährige Tochter erinnerte ihn ständig daran, wie ehrenwert er gewesen war. Zu schade, dass Chelseas Mom nicht genauso verantwortungsbewusst oder treu gewesen war – ihm oder dem kleinen Mädchen gegenüber, das sie nie wirklich geliebt hatte.

„Dein Bruder ist vor über einer Stunde mit Emma Gentry gegangen“, erklärte Harlan. „Er machte nicht den Eindruck, als würde er bald wiederkommen.“

Garrett wunderte sich nicht im Mindesten. Er und sein Bruder teilten sich das Haus, das Garrett vor vier Jahren von ihrer Mutter geerbt hatte, als diese sich entschloss, zu ihrer Schwester nach Iowa zu ziehen. Mit sechsundzwanzig kam und ging Ry, wie es ihm gefiel. Häufig verbrachte er die Freitag- und Samstagnächte auswärts. Garrett kümmerte sich nicht darum, solange Ry sich von Ärger fernhielt.

„Wie wär’s mit Otis?“ Garrett betrachtete den Mann am anderen Ende der Bar. „Er ist völlig harmlos und kann die Sache genauso gut erledigen wie ich.“

„Otis ist ein verrückter alter Kauz. Sieh ihn dir doch an. Er starrt sie an, der Mund steht ihm offen, und er ist kurz davor, vom Schlag getroffen zu werden. Glaubst du wirklich, dass er in diesem Zustand auch nur einen zusammenhängenden Satz herausbringen würde?“

Garrett musste wider Willen lachen. Verstohlen musterte er die Männer an den anderen Tischen und stellte dabei fest, dass Otis nicht der Einzige war, der die schöne Braut anhimmelte. Erstaunlich, dass eine einzelne Frau eine solche Wirkung auf so viele Männer ausüben konnte.

„Um es ganz deutlich zu sagen, Blackwell: Ich bitte dich nicht, das Mädchen zu heiraten“, beharrte Harlan, während er unverdrossen die georderten Drinks mixte. „Es ist schon spät, und falls sie in St. Louis wohnt, dauert es eine gute Stunde, sie abzuholen und nach Hause zu bringen.“

„Okay“, lenkte Garrett ein. „Du schuldest mir etwas, Harlan.“

„Ja, ja.“ Der Wirt zwinkerte ihm zu. „Wenn du wiederkommst, wartet ein kühles Bier auf dich.“

Garrett murmelte etwas Unverständliches, während er sich erhob und zu der Nische ging. Je eher er sich dieser lästigen Pflicht entledigte, desto eher konnte er beginnen, den Abend zu genießen.

Die neugierigen Blicke der anderen Gäste waren ihm ebenso peinlich wie die Tatsache, dass rechts und links von ihm alle Gespräche verstummten. Sensationell … Garrett Blackwell näherte sich im „Leisure Pointe“ einer Frau. Es war allgemein bekannt, dass er für die Frauen in Danby nicht mehr als ein kurzes Nicken oder einen knappen Gruß übrig hatte. Etwaige Annäherungsversuche pflegte er höflich zurückzuweisen, auch wenn sie noch so verlockend sein mochten.

Dabei war er kein Mönch, ganz im Gegenteil. Die wenigen Frauen, mit denen er im Lauf der Jahre Affären gehabt hatte, lebten in anderen Städten, wo Klatsch und Spekulationen ihnen oder seiner Familie nicht schaden konnten. Diese Frauen hatten sich damit abgefunden, dass er nichts Ernstes suchte. Er hatte nämlich nicht die Absicht, noch einmal seine Gefühle von einer Frau manipulieren zu lassen.

Garrett atmete tief durch, bevor er der Braut gegenüber Platz nahm, um wenigstens ein Mindestmaß an Diskretion zu wahren. Er wollte sie weder in Verlegenheit bringen noch dem lauernden Publikum ein Spektakel bieten.

Sie drehte das Glas zwischen ihren Händen, blickte auf die dunkle Flüssigkeit – und wirkte unendlich verloren. Verwirrt. Erst als er mit den Beinen den weiten Seidenrock streifte, hob sie überrascht den Kopf.

Er öffnete den Mund, um zu sprechen, doch angesichts ihrer Augenfarbe wusste er nicht mehr, was er hatte sagen wollen. Bereits aus der Ferne war ihm aufgefallen, dass sie blau waren, aber aus der Nähe raubten sie ihm fast den Atem – am äußeren Rand ein sanftes Moosgrün und zur Iris hin tiefes Saphirblau mit winzigen goldenen Pünktchen. Ihre Wimpern waren dicht und dunkel, die Brauen zartgeschwungen. Ein kleiner Schönheitsfleck am linken Mundwinkel lenkte seinen Blick auf ihre vollen, weichen Lippen. Lippen, die die aufreizendsten Fantasien heraufbeschworen.

Obwohl das weiße Kleid ein Symbol der Reinheit und Unschuld darstellte, umgab die Frau ein Flair von Sinnlichkeit. Der Widerspruch aus Verlockung und Arglosigkeit musste einfach jeden Mann erregen. Und dennoch war Garrett sich ziemlich sicher, dass sie sich ihrer faszinierenden Ausstrahlung überhaupt nicht bewusst war. Sie setzte sich nicht in Pose, kokettierte nicht oder flirtete, um Interesse zu erregen. Das hatte sie nicht nötig. Mutter Natur hatte sie mit einem perfekten Gesicht, einem makellosen Körper und einer unbeschreiblichen Aura gesegnet – oder gestraft, je nachdem, wie man es betrachtete.

Und dann fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. Obwohl an dieser Geste absolut nichts Berechnendes war, fesselte sie seine Aufmerksamkeit und ließ das Blut schneller durch seine Adern strömen.

Allmählich wurde ihm seine Sprachlosigkeit lästig.

Ein bezauberndes Lächeln umspielte ihre Lippen, vertrieb jedoch nicht die düsteren Schatten aus ihren Augen. Mit einem schläfrigen Blinzeln stützte sie das Kinn auf die Hände. Verträumt schaute sie ihn an – eine Auswirkung des Alkohols, wie Garrett vermutete.

„Hallo.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern und steigerte sein Verlangen wie eine körperliche Liebkosung.

Verlegen räusperte er sich. „Ma’am. Geht es Ihnen gut?“

„Ich bin in … Ordnung“, erklärte sie strahlend und trank den letzten Schluck Likör. „Mir geht’s fabelhaft!“

Sie war weit davon entfernt und hielt sich nur mit Mühe aufrecht. „Wie wär’s, wenn ich Ihnen einen Kaffee bestellen würde?“

Stirnrunzelnd dachte sie über die Frage nach. „Ja, Kaffee wär nicht schlecht. Mit viel Milch und Zucker.“ Sie gähnte. „Keinen Amaretto mehr. Er macht mich so schläfrig.“ Kichernd fügte sie hinzu: „Ich meine müde.“

Schmunzelnd winkte er die Kellnerin herbei und orderte einen Becher starken schwarzen Kaffee. Dann wandte er sich der Braut zu, die vergeblich eine widerspenstige Locke zu glätten versuchte.

„Ich hasse mein Haar“, verkündete sie mürrisch. „Die Locken bleiben nie dort, wo ich sie haben will. Wussten Sie, dass ich mir als kleines Mädchen immer glattes Haar gewünscht habe?“

„Nein.“ Woher auch? Er hatte sie schließlich noch nie zuvor getroffen.

Sie senkte die Lider, und als Garrett schon glaubte, sie wäre eingeschlafen, fuhr sie leise fort: „Bei jedem Geburtstag habe ich die Kerzen ausgeblasen und mir so glattes Haar wie meine Freundin Cindy gewünscht. Es hat nie geklappt.“

Er betrachtete das von ihr so verabscheute lange volle Haar und malte sich aus, wie die Locken sich um seine Finger schmiegen würden …

Gleich darauf schlug sie die Augen wieder auf. Ihr Blick wirkte ungemein verletzlich. Da Garrett nicht wusste, was er erwidern solle, beschloss er, auf Nummer sicherzugehen und zu schweigen.

„Meine anderen Wünsche sind auch nicht wahr geworden“, gestand sie ruhig. „Ich sollte einen Märchenprinzen heiraten und mit ihm glücklich sein. Offenbar habe ich mit meinen Wünschen keinen Erfolg.“

Becky kam mit dem Kaffee und ersparte es Garrett, irgendeine höfliche Antwort formulieren zu müssen. Ihm war klar, dass der Alkohol der Fremden die Zunge gelöst hatte, doch die Bemerkungen über den Märchenprinzen und unerfüllte Wünsche schienen unmittelbar mit der geplatzten Hochzeit zusammenzuhängen.

„Heute sollte der glücklichste Tag in meinem Leben werden“, meinte sie, als sie wieder allein waren. „Das hat meine Mom mir gesagt, bevor sie starb, aber es war der schrecklichste Tag meines Lebens. Dabei wollte ich nur ein kleines bisschen Respektabilität, doch ich werde nie, nie respektabel sein.“

Zum Teufel! Welch furchtbares Verbrechen hatte sie denn begangen, dass sie sich für so unwürdig hielt? Garretts Mitgefühl erwachte – und seine Neugier. Rasch verdrängte er beide Regungen, weil er sich nicht in den emotionalen Aufruhr der Frau verstricken lassen wollte. Sobald er sachdienliche Hinweise erhalten hatte, wäre seine Aufgabe erledigt, und er könnte zu dem kalten Bier zurückkehren, das Harlan ihm versprochen hatte.

Er griff nach Milch und Zucker und schüttete reichlich davon in den Kaffee, bevor er ihr den Becher zuschob.

Sie atmete tief durch und blickte ihn zweifelnd an. „Glauben Sie, dass sich alles nur als böser Traum herausstellt, wenn ich morgen aufwache?“

Garrett hätte sie gern in dieser Hoffnung bestärkt, musste sich allerdings mit einem aufmunternden Lächeln begnügen. „Wenn Sie den Kaffee nicht trinken, werden Sie morgen einen grauenvollen Kater haben …“

Sie schloss beide Hände um den Becher. „Mir geht’s gut. Einfach fabelhaft.“

„Hm.“ Falls sie jetzt aufstand, würde sie garantiert umkippen. „Wie heißen Sie?“ Am besten begann er mit einer ganz einfachen Frage und arbeitete sich dann weiter vor, wenn sie nüchterner war.

„Jenna Chestfield …“ Sie verstummte und schüttelte verwirrt den Kopf. Prompt lösten sich noch mehr Locken aus ihrer Frisur und fielen ihr über die Schultern bis zum Ansatz ihrer Brüste. „Nein … Wir haben uns nicht das Jawort gegeben, also bin ich noch immer nur Jenna Phillips.“

Nur Jenna Phillips. Hinter diesen Worten verbarg sich ein Schicksal, davon war Garrett überzeugt – ein Schicksal, für das er sich nicht interessieren durfte. Verstohlen blickte er auf ihre linke Hand. Das Fehlen eines Ringes bestätigte ihre Vermutung, dass die Hochzeit nicht stattgefunden hatte.

Sie stützte erneut das Kinn auf die Hand. „Wie heißen Sie?“

„Garrett.“

„Garrett …“, wiederholte sie. Aus ihrem Mund klang sein Name sehr, sehr intim. „Ein schöner, starker, respektabler Name. Sind Sie respektabel?“

Beinahe wäre er in schallendes Gelächter ausgebrochen. Bestrebt, seine ritterliche Tat hinter sich zu bringen, fragte er: „Gibt es jemanden, den wir anrufen können, damit er Sie abholt, Jenna?“

Sie brauchte nicht lange zu überlegen. „Nein.“

„Ein Verwandter vielleicht?“ Da sie vorhin den Tod ihrer Mutter erwähnt hatte, fügte er drängend hinzu: „Ihr Vater? Oder ein anderer Angehöriger?“

Tiefer Kummer und Einsamkeit spiegelten sich in ihren Augen. „Niemand“, flüsterte sie heiser.

„Und was ist mit Ihrem Verlobten?“ Kaum waren die Worte heraus, bereute er sie schon.

„Nein, er will mich nicht mehr. Nicht, nachdem ich ihn und seine Familie so gedemütigt habe. Ich kann nicht mehr zurück.“

Verzweifelt bemühte Garrett sich, sein Mitgefühl zu unterdrücken. Er wollte sich um diese Frau und ihre Notlage keine Gedanken machen. Es war nicht seine Sache, warum sie sich einbildete, eine solche Enttäuschung für ihren Verlobten zu sein.

Großartig! Was sollte er jetzt unternehmen? Er spähte zur Bar hinüber und begegnete Harlans fragendem Blick. Außer dem Namen der Frau und der Tatsache, dass Jenna Phillips offenbar genauso allein war wie er selbst, wusste er nicht mehr über sie als zuvor.

Nun ja, er hatte seine Pflicht getan. Jetzt war es an Harlan, sich etwas für die einsame Braut einfallen zu lassen. Garrett wollte sich gerade erheben, als sie ihn zurückhielt. Ihre Hand lag weich und sehr kühl auf seiner erhitzten Haut – und beflügelte seine Fantasie. Wie mochte sich der Rest ihres Körpers unter seinen Fingern anfühlen? Unter seinen Lippen? Er verwünschte diese unliebsamen Gedanken. War er so lange ohne Frau gewesen, dass eine Fremde, die Braut eines anderen, ihn durch eine schlichte Berührung so zu erregen vermochte?

Sie suchte Sicherheit bei ihm, so viel stand fest. Angesichts ihres verzweifelten Blicks vergaß er alles andere und erinnerte sich daran, dass er ihr zu Hilfe geeilt war.

„Sie lassen mich allein?“ Panik schwang in ihrer Stimme mit, als hätte sie erst jetzt erkannt, dass sie in einer fremden Stadt, in einer verräucherten Bar voller Männer gestrandet war, die nur darauf lauerten, seinen Platz einzunehmen.

„Ich muss mit Harlan sprechen. Es wird Sie niemand belästigen“, versicherte er und verspürte den sonderbaren Drang, die ihm völlig unbekannte Frau zu beschützen. Kein gutes Zeichen.

Er hätte sich gern eingeredet, dass es sich um ein ähnlich väterliches Gefühl wie bei seiner Tochter handelte, doch Jenna weckte in ihm keineswegs das Bedürfnis, sie zu umsorgen. Nein, seine Reaktion auf sie war durch und durch männlich und bedrohte das sichere, wohlgeordnete Dasein, das er in den letzten sechs Jahren für sich und Chelsea aufgebaut hatte.

Je früher Jenna nach St. Louis und zu dem Leben zurückkehrte, das dort auf sie wartete – ein weitaus mondäneres und aufregenderes Leben, als es Danby zu bieten hatte –, desto besser wäre es für sie alle.

Garrett deutete auf den Becher. „Sie trinken inzwischen den Kaffee aus, okay?“

Sie verstärkte den Druck auf seinen Arm. „Kommen Sie zurück?“

Am liebsten hätte er die Frage verneint, doch Jennas flehender Blick ging ihm unter die Haut und beschwor Empfindungen herauf, die er seit Langem verdrängt hatte. „Ja, ich komme zurück.“

Und sei es auch nur, um ihr in ein Taxi zu helfen oder um mich zu vergewissern, dass sie eine sichere Unterkunft für die Nacht gefunden hat, dachte er. Damit würde sich sein Kontakt zu der einsamen Braut erschöpfen.

„Hast du den Verstand verloren?“, rief Garrett, als ihm Harlan seinen absurden Vorschlag unterbreitet hatte. „Ich kann sie nicht mit zu mir nach Hause nehmen!“

„Also wirklich, Garrett.“ Harlan bedachte ihn mit einem Was-ist-denn-schon-dabei-Blick. „Morgen ist sie bestimmt in einer besseren Verfassung und wird erkennen, dass es klüger ist, dorthin zurückzukehren, wo sie herkommt. Eine Nacht, Blackwell, kein ganzes Leben.“

Eine Nacht war für Garrett genau eine Nacht zu viel, zumal die geflohene Braut seinen Seelenfrieden so stark beeinträchtigte. „Such dir ein anderes Opferlamm, Harlan.“

Der Wirt schaute sich in dem überfüllten Saal um und wandte sich dann wieder Garrett zu. „Ich traue keinem anderen“, erklärte er ernst.

Garrett massierte sich die schmerzenden Schläfen. „Ich beherberge keine Streuner“, entgegnete er in dem hilflosen Bemühen, Harlan zu überzeugen, dass er nicht der Richtige sei, um auf Jenna aufzupassen. Die einzigen Frauen, denen er sich verpflichtet fühlen wollte, waren seine Tochter, seine Mutter und seine Schwester Lisa.

Harlan seufzte. „Dann muss ich wohl den Sheriff rufen, damit er sie abholt. Sie wird die Nacht in einer Ausnüchterungszelle verbringen.“ Er beeilte sich, eine Getränkebestellung zu erfüllen.

Garrett blickte derweil zu Jenna hinüber, die so verstört und verloren wirkte, und malte sich aus, wie die schöne, verwöhnte Braut am nächsten Morgen auf einer schmalen Pritsche aufwachen würde, desorientiert und angsterfüllt – und ohne einen Funken jener Respektabilität und Würde, auf die sie so viel Wert legte. Er schwankte zwischen Zweifel und der ihm von seiner Mutter anerzogenen Ritterlichkeit. Sein Verstand riet ihm davon ab, seinem Gewissen zu folgen und die Verantwortung für eine verwirrte Frau zu übernehmen. Ihre Probleme gehen mich nichts an, dachte er gereizt. Außerdem würde es ihn in den Wahnsinn treiben, falls sie auch nur eine Nacht unter seinem Dach schliefe.

Während Garrett grübelte, erschien an der Bar Beau Harding, ein Gelegenheitsarbeiter, der in der Sägemühle jobbte. Garrett nickte ihm nur kurz zu, da er ihn nicht sonderlich mochte. Der junge Mann war für seinen Geschmack zu arrogant. Vor einem Monat hatte er in Garretts Firma, Blackwell Engineering, nach Arbeit für den Sommer gefragt. Obwohl Garrett mit dem Gedanken gespielt hatte, seine Crew zu erweitern, hatte er sich von seinem Instinkt leiten lassen und ihn fortgeschickt.

Beau warf einen lüsternen Blick in Jennas Richtung und grinste den Wirt verschlagen an, als dieser zurückkehrte. „Was ist mit der hübschen Braut dort drüben los, Harlan?“

„Wir überlegen gerade, was wir mit ihr machen sollen“, erwiderte Harlan zögernd.

Beaus blassgraue Augen funkelten. „Ihr braucht jemanden, der sie über Nacht mit in ein Motel nimmt?“

Der Doppelsinn hinter diesen Worten war unmissverständlich. Der bloße Gedanke, dass dieser Mann Jenna berühren oder womöglich ihren Zustand ausnutzen könnte, brachte Garrett zur Weißglut.

„Nein“, warf er ein, bevor Harlan etwas antworten konnte. „Sie hat bereits eine Unterkunft.“

Eingedenk Garretts vehementer Weigerung von vorhin zog Harlan die Brauen hoch.

Lässig drehte Beau sich zu Garrett um. „Wollte nur meine Hilfe anbieten“, meinte er kühl und ging weiter.

Garrett hätte wetten mögen, dass Beau Jenna hatte helfen wollen. Verwundert stellte er fest, dass sie seinen Beschützerinstinkt weckte. Das letzte Mal hatte er eine solche Anwandlung bei einer anderen Frau gehabt. Und zwar bei Chelseas Mutter.

Es hatte ihm nichts als Schmerz, Liebeskummer und das bittere Gefühl eingebracht, benutzt und betrogen worden zu sein.

„Ihr Koffer steht im Lager.“ Harlan verschwand schleunigst, um Jennas Gepäck zu holen. Offenbar fürchtete er, Garrett könne es sich anders überlegen, falls er, Harlan, sich nicht beeilte.

Garrett atmete tief durch. Eine Nacht, sagte er sich. Dann würde dieses weibliche Ärgernis wieder fort sein, fort aus seinem Leben und zurück in St. Louis, wohin sie gehörte.

Eine andere Möglichkeit gab es gar nicht.

2. KAPITEL

Zum ersten Mal seit sechs Jahren nahm Garrett eine Frau mit nach Hause. Es war eine Ironie des Schicksals, dass die betreffende Frau die Braut eines anderen war und sich auf dem Beifahrersitz seines Trucks niedergelassen hatte, umhüllt von einer Wolke weißer Seide.

Kaum hatte er den Parkplatz vom „Leisure Pointe“ verlassen, hatte sie sich einfach ausgestreckt, ihren Kopf auf seinen Schoß gebettet und war sofort eingeschlafen. Der lange Tag, den sie hinter sich hatte, und der Amaretto forderten offenbar ihren Tribut.

Dass sie ihm so blind vertraute, beunruhigte ihn. Er war schließlich ein Fremder für sie. Obwohl er niemals die Notlage einer Frau ausnutzen würde, war er sicher, dass Jenna Phillips „Leisure Pointe“ nicht so bereitwillig mit ihm verlassen hätte, wenn sie nüchtern und bei klarem Verstand gewesen wäre. Aber so, wie sie ihre Sorgen hinuntergespült hatte, hatte sie wohl kaum eine andere Wahl gehabt. Und, wie Harlan genau wusste, war Jenna bei ihm sicherer als bei Beau oder sogar im hiesigen Motel.

Die zehnminütige Fahrt zu Garretts Haus schien eine halbe Stunde zu dauern, und auf jedem Meter der Strecke bemühte er sich, nicht an die Frau zu denken, die ihre Wange so intim an seinen Schenkel geschmiegt hatte. Leider war es ihm nicht möglich, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Ihre schmale Hand ruhte auf seinem Knie, und mit jedem tiefen Atemzug wärmte sie seine Haut durch den dichten Jeansstoff – und erhitzte sein Blut. Und dann das wilde, lockige Haar, das sich auf seinem Schoß wie süßer, köstlicher Honig ausbreitete …

Unfähig, der Versuchung zu widerstehen, berührte er eine der goldenen Strähnen, rieb sie zwischen den Fingern und fand sie so seidenweich und warm wie Sonnenschein. Der Drang, die Finger tiefer in diese warme, weiche Pracht zu schieben, war schier überwältigend, doch er durfte ihm nicht nachgeben.

Als sie endlich das zweistöckige Gebäude erreicht hatten, bog er in die Auffahrt ein und parkte den Wagen neben der Vordertür. Bis auf Jennas tiefe, gleichmäßige Atemzüge war es völlig still. Obwohl er sie nur ungern störte, wusste Garrett, dass sie es im Bett viel bequemer haben würde, und so berührte er leicht ihre nackte Schulter.

„Jenna“, raunte er. „Sie müssen aufstehen.“

Sie murmelte etwas Unverständliches über Prinzen, kuschelte sich fester an ihn und seufzte zufrieden. Er biss die Zähne zusammen, als sein Körper sofort auf ihre Nähe reagierte und ihn schmerzlich daran erinnerte, dass er schon viel zu lange ohne Frau war.

Entschlossen, die schlafende Schönheit zu wecken, rüttelte er sie. „Aufwachen, Jenna!“

Aufstöhnend öffnete sie die Augen und richtete sich auf. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und schaute sich blinzelnd um. Ihr Blick wanderte von ihm zu dem dunklen Haus vor ihnen. „Wo sind wir?“ Ihre schlaftrunkene Stimme klang in Garretts Ohren unbeschreiblich sexy.

Er nutzte die Gelegenheit, öffnete die Tür und sprang hinaus in die mondhelle Nacht. „Wir sind zu Hause“, erklärte er, während er ihren Koffer von der Ladefläche nahm. Dann reichte er ihr die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

Kummervoll schüttelte sie den Kopf. „Ich habe kein Zuhause mehr“, flüsterte sie.

Gewiss scherzte sie nur oder war zutiefst aufgewühlt – Letzteres war eher wahrscheinlich. Auch wenn sie ihren Verlobten nicht geheiratet hatte, musste sie doch zumindest irgendwo wohnen, Freunde und eine Familie haben, die sie vermissen würden, und ein Leben, in das sie bald zurückkehren wollte.

„Da Ihnen niemand einfiel, den wir hätten benachrichtigen können, können Sie heute Nacht hierbleiben. Wir werden morgen alles klären, wenn es Ihnen wieder besser geht. Einverstanden?“

Sie nickte und ließ sich aus dem Wagen helfen. Als sie auf dem Boden stand, schwankte sie leicht, und Garrett legte stützend den Arm um sie. Dann führte er sie zur Tür.

Glücklicherweise schlief Chelsea bei seiner Schwester, und auch sein Bruder verbrachte die Nacht woanders. Beide würden allerdings morgen früh zurück sein, und dann würde Garrett die Anwesenheit des Gastes erklären müssen. Wenn jedoch alles klappte, würde Jenna schon bei Sonnenaufgang verschwunden sein.

Er schalte die Wohnzimmerlampe ein. Das matte Licht reichte aus, um ihnen den Weg nach oben zu weisen. Noch bevor sie das obere Stockwerk erreichten, überlegte er fieberhaft, wo er Jenna einquartieren solle. Nach kurzem Kampf mit seinem Gewissen beschloss er, ihr sein Zimmer zu überlassen, da es über ein separates Bad verfügte – nur für den Fall, dass ihr Magen rebellierte. Er selbst würde in Chelseas Bett nebenan schlafen.

Dank Chelsea war sein Bett gemacht, und die Sachen, die er normalerweise über einen Stuhl in der Ecke warf, waren fortgeräumt, sodass sein Zimmer halbwegs ordentlich wirkte. Seine kleine Tochter war zwar erst acht, nahm aber ihre Pflichten sehr ernst, seit sie für sich die Rolle der „Hausfrau“ entdeckt hatte – was sie allerdings nicht daran hinderte, ihn ständig daran zu erinnern, dass er eine Frau brauche und sie eine Mom wolle.

Er hatte jedoch nicht die Absicht, wieder zu heiraten. Eine Frau war für ihn mehr als genug gewesen und hatte ihm eine Lektion erteilt, die er mit keiner Frau, einschließlich dieser hier, wiederholen würde. Als Mom war seine Schwester Lisa ein ausgezeichneter Ersatz für den mütterlichen Einfluss, den Chelsea sich wünschte.

Jenna betrachtete die sehr maskuline Einrichtung, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, um wessen Raum es sich handeln mochte. Nachdem Garrett sie auf dem breiten Bett platziert und das bauschige Hochzeitskleid um sie drapiert hatte, stellte er den Koffer neben die Kommode, in der Hoffnung, sie würde nun allein fertig werden.

„Das Bad ist gleich nebenan“, erklärte er. „Und falls Sie irgendetwas brauchen, rufen Sie mich einfach. Ich bin im Nebenzimmer.“ Er wandte sich zum Gehen.

„Garrett?“ Ihre sanfte Stimme hielt ihn zurück.

Seufzend drehte er sich um und wappnete sich innerlich gegen ihren kummervollen Blick. „Ja?“

Jenna streifte sich die Satinschuhe von den Füßen. „Ich … ich kann die Knöpfe von meinem Kleid nicht allein öffnen.“

Sie stand auf und fasste das wallende Haar im Nacken zusammen. Eine Reihe von mindestens zwei Dutzend winziger Perlenknöpfe erstreckte sich von ihren Schultern bis hinab zu ihrem Po.

Der bloße Gedanke, sie auszuziehen, lähmte ihn. Am liebsten hätte er ihr geraten, im Kleid zu schlafen, wusste aber sofort, dass dieser Vorschlag unsinnig war. Sie würde es extrem unbequem haben, und außerdem müsste sie früher oder später das Kleid ohnehin ablegen. Resigniert fügte er sich in das Unvermeidliche.

Mit unsicheren Fingern quälte er sich mit den glatten Knöpfen ab, wobei es ihm unmöglich war, die weiche helle Haut zu ignorieren, die er dabei entblößte. Als das Mieder geöffnet war, verschränkte sie die Arme vor der Brust, um den Stoff zu halten. Sie trug eine weiße Satinkorsage, die er ebenfalls aufhakte, weil sie damit allein auch nicht zurechtgekommen wäre.

Endlich hatte er es geschafft, und ihr weißer Spitzenslip tauchte auf. Garrett trat einen Schritt zurück, bereit, aus dem Zimmer zu fliehen – bevor er der Versuchung erlag, die von dieser Frau ausging. Sie schien jedoch nicht sicher, was sie als Nächstes tun oder wie sie sich aus den Unmengen von Stoff befreien sollte, ohne zu straucheln.

Hilfe suchend schaute sie ihn an. Er musste ihr also etwas besorgen, in dem sie schlafen konnte.

Garrett unterdrückte ein Stöhnen. Da er keine Lust hatte, ihren Koffer zu durchsuchen und am Ende womöglich ein hauchdünnes Nichts zu finden, das eigentlich für die Hochzeitsnacht bestimmt gewesen war, holte er eines seiner Seidenhemden aus dem Wandschrank und warf es ihr zu. Dankbar fing sie es auf, und als sie den weichen Stoff nahm, wandte er ihr den Rücken zu, damit sie sich ungestört umziehen konnte.

Eine Minute später flüsterte sie: „Ich bin fertig.“

Er drehte sich um und stellte erfreut fest, dass alle wichtigen, üppigen Körperteile sittsam bedeckt waren – gleichzeitig fiel ihm auf, wie gut sie das weite Hemd ausfüllte. Ihre hohen, festen Brüste zeichneten sich deutlich unter dem dünnen Material ab. Der Saum umspielte ihre schlanken Schenkel und lenkte den Blick auf die langen, anmutigen Beine in elfenbeinfarbenen Strümpfen. Unliebsame Fantasien erwachten in ihm.

Sein Herzschlag beschleunigte sich, während die Erregung wuchs. Um sich abzulenken, half er ihr aus dem Kleid, schlug die Decke zurück und klopfte auf die Matratze, wie er es allabendlich bei der Zubettgehroutine mit seiner Tochter machte. „Hinein mit Ihnen.“

Die erwachsene Frau mit den atemberaubenden Maßen setzte sich auf sein Bett, doch bevor er ihr die Decke bis zum Kinn ziehen konnte, blickte sie auf ihre Beine. „Meine Strümpfe und der Strumpfgürtel“, wisperte sie stirnrunzelnd. „Ich kann damit nicht schlafen. Ich will sie loswerden.“

Garrett presste die Lippen zusammen. Er hatte gehofft, sie würde die Strümpfe nicht bemerken, und hätte wetten mögen, dass sie sofort einschlafen würde, sobald ihr Kopf das Kissen berührte. In ihrer momentanen Verfassung würde sie nichts stören, nicht einmal das bisschen Wäsche. Der trotzige Ausdruck in ihren Augen verriet ihm jedoch, dass die Folter noch nicht vorbei war. Er trat einen Schritt zurück, damit sie es selbst machen konnte, und verschränkte die Arme vor der Brust, damit er nicht in Versuchung geriet, ihr zu helfen. Ungeniert hob sie den Hemdsaum an und langte schwankend nach unten. Für ein paar Sekunden fand sie das Gleichgewicht wieder, dann fiel sie um.

Ihre Beharrlichkeit hätte ihn amüsiert, wenn ihr Anblick ihn nicht so erregt hätte.

Für eine nüchterne Frau wäre es ein Leichtes gewesen, sie hätte es vielleicht sogar zu einem provozierenden Striptease gestaltet. Jedoch für eine Frau mit zwei linken Händen, der es nicht einmal gelang, die Finger unter die Strumpfbänder zu schieben, war es eine schier unlösliche Aufgabe. Mit jedem gescheiterten Versuch wuchs ihre Ungeduld, sie schluchzte enttäuscht auf. Als sie den Kopf hob, schimmerten Tränen in ihren wunderschönen blauen Augen.

Sie biss sich auf die Lippe. „Ich kann heute überhaupt nichts richtig machen.“

Hätte sie nicht so niedergeschlagen ausgesehen, wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, der stummen Bitte in ihrem Blick zu widerstehen. Dies war kein raffinierter Trick, um ihn zu verführen, wie er es schon bei vielen anderen Frauen erlebt hatte, sondern ein ehrliches Flehen um Hilfe.

Also vergaß er alle guten Vorsätze, schob ihre Hände beiseite und steckte die Finger unter das schmale Spitzenband. Unter Aufbietung all seiner Willenskraft gelang es ihm, seine Gedanken zu kontrollieren, aber als er ihre seidenzarte Haut streifte, flammte das lang verdrängte Verlangen in ihm auf.

Gereizt über seine Reaktion auf diese Frau, brachte er die Aufgabe so schnell wie möglich hinter sich. „Legen Sie sich hin, und schlafen Sie“, befahl er mürrisch.

Sie lehnte sich in die Kissen zurück. Ihr Haar breitete sich wie ein Heiligenschein aus. Schläfrig blinzelte sie ihn an. Garrett mied ihren Blick und deckte sie zu. Er wollte sich gerade aufrichten und das Zimmer verlassen, als sie ihn zurückhielt. Mit klopfendem Herzen wartete er.

Die unterschiedlichsten Emotionen spiegelten sich auf ihren Zügen. „Danke, Garrett“, flüsterte sie.

Ihre Lippen waren nur Zentimeter von seinen entfernt, einladend und weich, der sexy Leberfleck faszinierte ihn. Hatte er sich je etwas mehr gewünscht, als seinen Mund auf Jennas zu pressen?

Er schluckte trocken. „Wofür?“, fragte er rau.

„Dafür, dass Sie sich um mich kümmern.“ Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Es ist lange her, seit jemand so nett und fürsorglich zu mir war.“

Sosehr er sich auch bemühte, den körperlichen und seelischen Zauber zu brechen, den sie über ihn geworfen hatte, er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Er hatte das Gefühl, unaufhaltsam zu ihr hingezogen zu werden, und zwar nicht durch ihre Hände, die sich an sein Hemd klammerten, sondern durch seine eigene unverzeihliche Schwäche und den Wonnen, den ihre leicht geöffneten Lippen verhießen.

Süße. Hingabe. Und eine Leidenschaft, nach der er sich plötzlich sehnte.

Er hatte diesen Kuss nicht gewollt. Hatte sich selbst nicht gestatten wollen, Bedürfnissen und Begierden nachzugeben, die er so lange erfolgreich verdrängt hatte. Aber als sie mit der Hand über seinen Nacken strich und ihn zu sich herabzog, gerieten seine Sinne in Aufruhr. Sie senkte die Lider, und er dachte nicht mehr daran, ihr zu widerstehen. Das hätte einer geradezu heldenhaften Selbstbeherrschung bedurft, über die er nicht verfügte.

Ihm war klar, dass diese Geste nur Dankbarkeit ausdrücken sollte, aber so, wie Jennas Lippen sich an seine schmiegten, war die Umarmung weitaus intimer als jeder aufreizende Kuss. Ihr Mund war warm und unbeschreiblich verführerisch, so geheimnisvoll und köstlich.

Und voller Versprechen, an die er schon längst nicht mehr glaubte.

Widerstrebend zog Garrett sich zurück. Sie stieß einen protestierenden Laut aus, als er sich von ihr löste, doch sie ließ die Hände sinken, und ihre Augen blieben geschlossen. Die Erschöpfung, gegen die sie so tapfer angekämpft hatte, forderte ihren Tribut, und mit einem leisen Seufzer schlief Jenna ein.

Garrett fragte sich, ob sie sich am nächsten Morgen noch an irgendetwas erinnern würde.

Vermutlich nicht.

Hoffentlich nicht.

Aufstöhnend rollte Jenna sich mit schmerzendem Kopf auf die Seite, blinzelte in das ins Zimmer strömende Sonnenlicht – und blickte in das Gesicht eines hübschen kleinen Mädchens mit langem, beneidenswert glattem blondem Haar, fragenden grünen Augen und nachdenklicher Miene. Das Mädchen kniete neben dem Bett. Es hatte die Ellbogen auf die Matratze gestützt, das Kinn auf die Hände gelegt und schien schon seit geraumer Zeit darauf zu warten, dass Jenna endlich aufwachte.

„Warum schläfst du in Daddys Bett?“ Es klang eher neugierig als vorwurfsvoll.

Aufgeschreckt durch die Frage eines ihr völlig fremden Kindes, überlegte Jenna fieberhaft, wo sie war und wie sie in dieses Zimmer und das große Bett gekommen war. Ein dezenter männlicher Duft schien sie zu umhüllen und erinnerte sie an den Prinzen, der sie gestern Nacht gerettet hatte.

Sie schloss die Augen. Gestern Nacht … Die schrecklichen Ereignisse, die sie in eine Stadt hatten flüchten lassen, in der niemand sie kannte, kehrten mit Macht in ihr Gedächtnis zurück. Sie war so von Scham überwältigt gewesen, dass sie einfach in die Limousine gestiegen war, die darauf gewartet hatte, sie und Sheldon zum Hochzeitsempfang in den Countryklub zu bringen.

„Fahren Sie los“, hatte sie dem Chauffeur befohlen.

Es war ihr egal gewesen, wohin, solange nur möglichst viele Meilen zwischen ihr und der schändlichen Vergangenheit lagen, der sie offenbar nicht entrinnen konnte. Eine Vergangenheit, die sie für immer verfolgen würde. Eine Vergangenheit, die ihr jegliche Chance raubte, jemals respektiert oder ehrbar zu werden. Wie hatte sie sich nur einbilden können, in Sheldons luxuriöses Leben zu gehören und die Frau eines prominenten Chirurgen werden zu können? Sie hatte sich bemüht, sich anzupassen, aber sie hatte den einmal begangenen Fehler nicht auslöschen können. Seine rechtschaffene Familie und ihr elitärer Freundeskreis waren ebenfalls nicht bereit gewesen, ihr zu verzeihen.

Nach einer Stunde Fahrt hatte der verärgerte Chauffeur in Danby den Parkplatz von „Leisure Pointe“ angesteuert und ihr erklärt, dass man ihn nicht für einen Treck quer durch Missouri engagiert habe. Da sie gewusst hatte, dass man sie in St. Louis nicht vermissen würde, war sie aus dem Wagen gestiegen, hatte die überfüllte Bar betreten und sich deprimiert in einer abgeschiedenen Nische niedergelassen. Nie zuvor hatte sie sich einsamer gefühlt.

Sie erinnerte sich vage, dass einige Männer ihr Amaretto geschickt hatten. Der Barkeeper hatte ihr die aufdringlichsten Gäste vom Hals gehalten, da sie offensichtlich hatte allein sein wollen. Und dann war Garrett gekommen, Garrett mit den tiefblauen Augen. In einer Situation, in der sie geglaubt hatte, nie wieder sicher und geborgen zu sein, hatte er ihr das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermittelt.

Jenna hob die Hand an die Lippen, und in ihrem Magen rumorte es. Daran waren jedoch nicht die Auswirkungen des Amarettos schuld, sondern etwas viel Angenehmeres – und Furcht einflößenderes. Überdeutlich erinnerte sie sich an den Kuss des hinreißenden schwarzhaarigen Prinzen und die süße, zärtliche Hingabe, die sie in diesem Moment empfunden hatte.

Danach hatte tiefer Schlummer sie überwältigt. Als sie ein sanftes Zupfen am Haar verspürte, verdrängte sie die intimen Gedanken und öffnete die Augen. Das kleine Mädchen hatte sich eine Strähne um den Finger gewickelt und beobachtete fasziniert, wie die Locke ganz von selbst die Form behielt.

„Warum schläfst du in Daddys Bett?“, wiederholte sie hartnäckig.

Jenna suchte nach den richtigen Worten. „Nun, ich brauchte heute Nacht einen Platz zum Schlafen, und dein Daddy hat mir erlaubt, sein Bett zu benutzen.“ Zumindest daran erinnerte sie sich.

„Oh.“ Stirnrunzelnd dachte das Kind darüber nach. „Du hast auch sein Hemd an.“

Jenna blickte an sich herab und stellte fest, dass sie keineswegs das hauchdünne Negligé trug, das sie für die Flitterwochen eingepackt hatte. Weitere Bilder drangen durch ihren noch immer benebelten Verstand: Garrett, der ihr beim Ausziehen half … Seine tiefblauen Augen …

Das Mädchen neigte den Kopf zur Seite. „Wie heißt du?“

„Jenna.“ Sie lächelte. „Und du?“

„Chelsea Blackwell.“ Sie richtete sich auf und ging zu dem Stuhl in der Ecke, über dem das Hochzeitskleid hing. Beinahe ehrfürchtig strich sie über den weißen Stoff. „Es ist wie das Gewand einer Märchenprinzessin.“

Leider sind meine Träume nicht wie im Märchen wahr geworden, dachte Jenna traurig. „Es ist ein Hochzeitskleid.“

„Hat Daddy dich geheiratet?“ Hoffnungsvoll wandte Chelsea sich um. „Bist du meine neue Mom?“

Jenna schüttelte den Kopf. „Nein, dein Dad hat mich nicht geheiratet, und ich bin nicht deine neue Mom.“ Sie setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Es dauerte einen Moment, bis das Schwindelgefühl verschwunden war. Es tat ihr leid, die Träume des Mädchens zerstören zu müssen, und so bot sie ihm den erstbesten Trost, der ihr in den Sinn kam. „Aber ich wäre gern deine Freundin.“

„Okay.“ Sichtlich zufrieden über den Kompromiss, strahlte Chelsea sie an und zeigte ein bezauberndes Grübchen auf der rechten Wange. „Heißt das, du bleibst hier?“

Jenna wusste darauf nichts zu erwidern. Sie hoffte, in den nächsten Wochen zu entscheiden, in welche Richtung sich ihr Leben entwickeln würde. Allerdings bezweifelte sie, dass sie so lange in diesem Haus bei Garrett und seiner niedlichen kleinen Tochter würde bleiben können.

Bevor sie antworten konnte, drangen Schrittgeräusche von der Treppe herauf, und ihr Prinz der letzten Nacht kam herein. Im hellen Tageslicht und ohne Alkohol, der ihr den Blick und die Sinne trübte, fand sie, dass er noch atemberaubender war, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er trug ausgeblichene Jeans, die seine schmalen Hüften wie eine zweite Haut umschlossen, und ein lässiges Hemd, unter dem sich eine muskulöse Brust verbarg. Kurz, er strahlte eine raue Männlichkeit aus, die in krassem Kontrast zu dem konservativen, zugeknöpften Äußeren stand, das Sheldon und seine Freunde bevorzugten. Dieser Mann war bodenständig und körperbetont, mit nachtschwarzem Haar, das seine faszinierenden blauen Augen betonte, und einem sinnlichen Mund, der ihn noch hinreißender machte.

Trotz seiner etwas abweisenden Haltung ließ er den Blick bewundernd auf ihrem zerzausten Haar ruhen. Unbehaglich wurde sie sich bewusst, dass sie sein Hemd anhatte. Als er ihre nackten Beine betrachtete, besann sie sich schockiert, dass er ihr die Strümpfe abgestreift und ihre Haut gestreichelt hatte.

Dann blickte er auf Chelsea. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, ließ seine Züge weicher wirken und Jennas Herz schneller schlagen.

„Hier bist du also, Kätzchen“, meinte er liebevoll. „Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst.“

„Ich wollte dein Bett machen und habe Jenna darin gefunden.“ Sie eilte zu ihrem Vater und schaute ihn flehend an. „Kann sie bei uns bleiben? Bitte …“

„Sie ist kein streunendes Hündchen, das du behalten kannst“, wandte er gutmütig ein. „Jenna brauchte nur einen Schlafplatz für eine Nacht, und nachdem sie nun ausgeruht ist, will sie bestimmt nach Hause.“ Er tippte Chelsea auf die Nasenspitze. „Warum gehst du nicht nach unten in die Küche? Ich komme gleich nach und mache Frühstück.“

Kaum war Chelsea verschwunden, breitete sich Stille im Zimmer aus. Jenna war unfähig, ihren Blick von Garretts zu lösen. Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch, nicht vor Übelkeit, sondern wegen seiner überwältigenden Nähe. Auf gar keinen Fall wollte sie sich zu einem Mann hingezogen fühlen, den sie kaum kannte, zumal sie die Ereignisse des gestrigen Tages noch nicht verkraftet hatte und ihre Zukunft ungewiss war.

Sie atmete tief durch. „‚Kätzchen‘ ist offenbar Ihre Tochter.“

Er nickte und massierte sich den Nacken. „Ja, das ist sie“, erwiderte er mit einem sonderbar besitzergreifenden Unterton. „Ich nenne sie Kätzchen, weil sie mir wie eine kleine Katze überallhin folgt, seit sie ihre ersten Schritte gemacht hat.“

Jenna konnte sich lebhaft vorstellen, wie Chelsea hinter ihrem Vater hertapste. Obwohl Garretts Vaterliebe unverkennbar war und Chelsea ihn förmlich anbetete, gab es zwischen den beiden keinerlei Ähnlichkeit. Sein tiefschwarzes Haar und die leuchtenden blauen Augen bildeten einen krassen Kontrast zu Chelseas blondem Haar, den grünen Augen und dem hellen Teint.

„Chelsea sieht wohl mehr wie ihre Mutter aus“, überlegte Jenna laut.

Ihre Bemerkung schien ihn zu überraschen. „Nein, eigentlich nicht“, meinte er stirnrunzelnd.

Sein abweisender Tonfall verriet, dass sie ein heikles Thema angeschnitten hatte.

Jenna beschloss, es nicht weiterzuverfolgen. „Ihre Tochter ist jedenfalls sehr niedlich – und ziemlich altklug. Sie dachte, Sie und ich hätten geheiratet.“

Er zuckte zusammen. „Chelseas Mom starb, als sie knapp zwei war, sie erinnert sich also kaum an sie. In letzter Zeit fragt sie immer wieder nach einer Mutter. Ich schätze, der Anblick des Hochzeitskleides und Ihre Anwesenheit in meinem Bett hat sie zu den falschen Schlüssen verleitet.“

„Es war ein recht hoffnungsvoller Schluss.“ Jenna verstand den Wunsch des kleinen Mädchens, das fehlende Elternteil zu ersetzen. Sie selbst hatte ihren Vater nie kennengelernt, und obwohl ihre Mutter sich alle Mühe gegeben hatte, war das Fehlen des männlichen Einflusses in Jennas Leben ein Verlust, den sie noch immer spürte.

„Trotzdem ist es besser, wenn sie solchen Träumen gar nicht erst nachhängt. Ich bestärke sie auch nicht darin“, erklärte er nachdrücklich, bevor er das Thema wechselte. „Wie geht es Ihnen?“

„Ein bisschen benommen, aber sonst okay.“ Sie fuhr sich mit den Fingern durch das wirre Haar. „Es tut mir sehr leid wegen gestern Nacht, Garrett.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.“ Er zuckte die Schultern. „Sie waren nicht in der Verfassung, sich eine Unterkunft zu suchen, und ich habe Ihnen eine besorgt.“

„Bestimmt habe ich Ihnen den Abend verdorben. Ich bin in Ihr Heim und Ihre Familie eingedrungen und habe sogar in Ihrem Bett geschlafen. Obwohl ich mich nicht mehr an alles erinnere, weiß ich, dass ich mich in der Bar zur Närrin gemacht habe.“ Sie dachte an ihr kindisches Geschwätz über lockiges Haar, Märchenprinzen und ewiges Glück. Verlegen senkte sie den Kopf. „Im Gegensatz zu meinem gestrigen Benehmen gehört es nicht zu meinen Gewohnheiten, Fremde zu küssen.“

Allerdings war Garrett ihr nicht wie ein Fremder erschienen. Er war warmherzig und einfühlsam gewesen, und deshalb fiel es ihr schwer, den zärtlichen Kuss zu bereuen, der ihr so viel Sicherheit und Geborgenheit vermittelt hatte. Dieser Kuss, frei von Heuchelei und falschen Hoffnungen, hatte genau die Anerkennung bedeutet, nach der sie sich so lange gesehnt hatte.

Garrett hielt sie vermutlich für ein Flittchen, weil sie sich solche Freiheiten gestattet hatte – und das nur wenige Stunden nachdem sie ihren Bräutigam vor dem Altar hatte stehen lassen!

Kopfschüttelnd schaute sie ihn an. „Mir tut der Kuss leid“, flüsterte sie.

„Nein, ich bin derjenige, der sich entschuldigen sollte.“ Das sinnliche Leuchten seiner Augen strafte den grimmigen Tonfall Lügen. „Es wird nicht wieder passieren.“

Er klang so entschlossen, aber Jenna fragte sich dennoch, ob er vielleicht von dem Kuss genauso beeindruckt war wie sie.

In diesem Moment fiel die Eingangstür laut ins Schloss, und jemand kam polternd die Treppe herauf. „Ich bin wieder da, Liebling“, rief eine fröhliche Männerstimme.

Jennas Augen wurden groß vor Erstaunen, und Garrett presste seufzend die Hand auf die Augen. Ein gut aussehender Mann blickte im Vorübergehen kurz ins Zimmer, dann blieb er unvermittelt stehen, kehrte zurück und lehnte sich an den Türrahmen.

Der Mann, eine etwas jüngere Ausgabe ihres Prinzen, schaute grinsend von Jenna zu Garrett. „Zum Teufel, großer Bruder! Scheint so, als wäre ich nicht der einzige, der letzte Nacht Glück hatte.“

Jenna errötete bei dieser Anspielung.

„Es ist nicht so, wie du denkst, Rylan“, versicherte Garrett rasch.

Rylan zog ungläubig die Brauen hoch. „Willst du mir etwa erzählen, du hättest eine schöne Frau in deinem Bett gehabt und nicht …?“

Garrett brachte ihn mit einer warnenden Geste zum Schweigen. „So ist es. Ich werde dir unten alles erklären.“

Der andere Mann rührte sich nicht von der Stelle. „Willst du mich nicht vorstellen?“

Garrett seufzte ungeduldig. „Jenna, dies ist mein jüngerer Bruder Rylan. Ry … Jenna Phillips.“

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Sie fand ihn amüsant und nicht so ernst wie seinen Bruder.

„Ganz meinerseits.“ Er sah sie bewundernd an. „Sie sind nicht aus der Gegend, oder?“

„Nein, sie stammt aus St. Louis“, warf Garrett ein, bevor sie antworten konnte, und drängte Rylan aus dem Zimmer. „Und sie wird nicht lange genug hierbleiben, dass du einen Flirt anfangen kannst.“

„Zur Hölle mit einem Flirt.“ Rylan zwinkerte Jenna verschwörerisch zu. „Ich wollte sie gerade um eine Verabredung bitten.“

Garretts Miene wurde erstaunlich grimmig. „Hast du schon genug von Emma Gentry?“

„Emma und ich habe nichts Festes miteinander.“

„Und Jenna ist nicht interessiert“, konterte Garrett und wies auf die Tür. „Raus, Ry.“

Jenna unterdrückte ein Lächeln bei dem gutmütigen Wortgefecht. Es belustigte sie, dass Garrett ihre Tugend vor seinem unbekümmerten, draufgängerischen Bruder schützen wollte.

Nachdem Rylan den Raum verlassen hatte, wandte Garrett sich zu ihr um. „Willkommen im verrückten Blackwell-Haushalt. Wie Sie sicher gemerkt haben, ist die Anwesenheit eines weiblichen Gastes im Haus – insbesondere in meinem Zimmer – eine sensationelle Neuigkeit.“

Trotz der ironischen Worte verriet die Äußerung einiges über Garrett: Er war ein integrer Mann, das hatte er bereits bewiesen, indem er sie in der letzten Nacht gerettet und ihr eine sichere Unterkunft geboten hatte, und er war sehr diskret, was seine Familie und sein Privatleben betraf. Jenna schätzte solche Qualitäten, obwohl ihr klar war, wie grundlegend ihre eigene schändliche Vergangenheit Garretts Wertvorstellungen zuwiderlief.

Der bloße Gedanke, Garrett und seine Familie in den Skandal zu verwickeln, mit dem sie untrennbar verbunden war, brachte sie jäh in die Wirklichkeit zurück. Sosehr sie die Herzlichkeit und Freundlichkeit der Blackwells genoss, wollte sie doch keinesfalls deren Gastfreundschaft ausnutzen.

Sie stand auf. „Ich würde gern duschen und mich umziehen, wenn es Ihnen recht ist.“ Als er nickte, fügte sie lächelnd hinzu: „Sobald ich präsentabel bin, komme ich nach unten.“

„Das Frühstück wartet auf Sie.“ Bevor er hinausging, warf er noch einen bewundernden Blick auf ihre Beine.

3. KAPITEL

Als Jenna nach unten kam, wartete in der Küche nicht nur das Frühstück auf sie. Verwundert blieb sie stehen, als sie sich einer ebenso hübschen wie schwangeren Frau gegenüber sah, die gerade den Tisch abräumte. Ein Blick auf die leuchtenden blauen Augen und das schulterlange schwarze Haar genügte, um Jenna zu zeigen, dass sie es mit eine weiteren Blackwell zu tun hatte.

Die Frau wirkte nicht im Mindesten schockiert, dass sich eine Fremde im Haus aufhielt, und betrachtete flüchtig Jennas blaue Leinenshorts, die dazu passende Bluse und die hochhackigen Sandalen, die absolut ungeeignet für einen entspannten Sonntag im Haus waren. Allerdings hatte dieses Outfit Jennas Verlobter ausgesucht, und es waren die zwanglosesten Sachen, die sie eingepackt hatte, da sie wusste, dass Sheldon es schätzte, wenn sie sich elegant und nach der neuesten Mode kleidete.

Plötzlich fühlte sie sich wie eine Betrügerin. Die Frau in dem schicken Ensemble war die Person, die sie Sheldon zuliebe unbedingt hatte sein wollen – und in gewissem Maß auch für ihre Mutter. Aber die Wahrheit ließ sich nicht leugnen. Hinter dem weltgewandten Äußeren verbarg sich die wahre Jenna, eine schlichte Frau, die sich danach sehnte, um ihrer selbst willen akzeptiert zu werden, ohne Heuchelei und ohne nach ihrer Vergangenheit beurteilt zu werden – sofern dies überhaupt möglich war.

„Guten Morgen“, begrüßte die andere Frau sie lächelnd und trug die Teller zum Spülbecken. „Möchten Sie Kaffee zum Frühstück? Garrett hat für Sie einen Teller mit Pfannkuchen im Ofen warm gestellt.“

Obwohl der Alkoholnebel sich unter der Dusche gelichtet hatte, rebellierte Jennas Magen bei der bloßen Erwähnung von fester Nahrung. „Vielleicht etwas später. Im Moment genügt mir Kaffee.“

Die Frau holte einen Becher aus dem Schrank, füllte ihn mit der dampfenden Flüssigkeit und stellte ihn dann vor Jenna auf den Tisch. Sie deutete auf zwei kleinere Gefäße. „Hier sind Milch und Zucker.“

„Wo ist Garrett?“, erkundigte Jenna sich, während sie den Kaffee süßte. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, ihren Gastgeber in der Küche anzutreffen.

„Er ist mit Rylan und meinem Mann Duane draußen. Unser Truck hat Probleme mit der Wasserpumpe, und die drei versuchen, eine Lösung zu finden. Garrett kommt bald wieder. Chelsea spielt hinter dem Haus.“ Sie legte die Hand auf ihren gewaltigen Bauch. „Ich bin übrigens Lisa, Garretts Schwester.“

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Jenna reichte Lisa die Hand. „Ich bin Jenna Phillips, aber das wissen Sie bestimmt schon.“

„Ja. Garrett hat uns erzählt, warum Sie hier sind und was gestern Abend im Leisure Pointe passiert ist.“

Erstaunlicherweise schwang keinerlei Kritik in Lisas Worten mit, aber Jenna war überzeugt, dass die andere Frau sich wunderte, warum sie ihren Bräutigam am Hochzeitstag verlassen hatte. Da die Erklärung überaus kompliziert und demütigend gewesen wäre, zog sie es vor, nicht näher darauf einzugehen.

„In Anbetracht meines Zustandes war es sehr nett von ihm, mich über Nacht aufzunehmen“, meinte sie ausweichend.

„Ja. Ich bin froh, dass mein Bruder noch immer bereit ist, einer Frau zu helfen, wenn die Situation es erfordert“, sagte Lisa ruhig.

Jenna fand Lisas Bemerkung sonderbar und irgendwie anzüglich. Trotz seiner Gastfreundschaft und seiner Hilfsbereitschaft folgerte sie aus der vorherigen Unterhaltung mit ihm, dass er fest damit rechnete, sie würde noch heute die Heimreise antreten. Leider gab es nichts, was sie in St. Louis erwartete, außer bösen Erinnerungen und dem Gefühl, versagt zu haben.

Sie trank einen Schluck Kaffee und fragte mit einem Blick auf Lisas Bauch: „Wann ist es denn so weit?“

Lisa ließ sich schwerfällig auf dem Stuhl neben Jennas nieder. „Meiner Meinung nach nicht früh genug“, erwiderte sie. Jenna stimmte in ihr Lachen ein. „Ich bekomme Zwillinge, und nach den letzten Berechnungen meines Arztes sind sie frühestens in vier oder fünf Wochen fällig. Allerdings habe ich den Eindruck, als würden Jacob und Janet sich schon jetzt auf den Weg machen.“

„Zwillinge … Ein Junge und ein Mädchen …“ Versonnen schob Jenna sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr. „Wie schön.“

Erschöpft massierte Lisa ihren Leib. „Ja, es ist schön, aber ich muss zugeben, dass der Gedanke, zwei auf einmal zu haben, ziemlich erschreckend ist.“

Ungeachtet der berechtigten Ängste beneidete Jenna sie um die Familie, die sie bald haben würde. Das war etwas, das sie für sich selbst erträumt und mit Sheldon zu erreichen gehofft hatte, doch diese Chance hatte sie in dem Moment verspielt, als sie ihn vor dem Alter hatte stehen lassen – und er hatte nicht versucht, sie aufzuhalten.

Sie räusperte sich. „Ich bin überzeugt, der Mutterinstinkt wird siegen, und Sie schaffen es.“

„Das rede ich mir auch immer ein.“ Vergeblich bemühte Lisa sich um eine bequemere Sitzposition.

Ein paar Minuten später kam Garrett in die Küche. Sein erster Blick galt Jenna und ihrem Outfit, das er neugierig und kritisch zugleich betrachtete. Dann wandte er sich seiner Schwester zu. „Die Wasserpumpe ist notdürftig repariert, aber ihr müsst den Truck noch diese Woche in die Werkstatt bringen.“ Er ging zum Spülbecken, um sich die Hände zu waschen. „Duane wartet draußen auf dich. Er will losfahren. Danke, dass du gestern Nacht auf Chelsea aufgepasst hast.“

„Es war mir ein Vergnügen. Du weißt, dass ich sie gern bei uns habe.“ Als sie sich ächzend aufrichtete, war er sofort bei ihr, um ihr zu helfen. Sie lachte atemlos. „Wir drei danken dir für deinen Beistand. Dann bis morgen im Büro.“

„Ich werde schon früh da sein, weil ich noch einen Kostenvoranschlag ausarbeiten will. Und da ich nicht vor elf in die Stadt muss, um das Leibermann-Projekt zu überprüfen, kannst du dir also Zeit lassen.“

„Ich muss auch früh anfangen.“ Lisa griff nach ihrer Handtasche. „Auf mich wartet ein Stapel Belege, die in den Computer eingegeben werden müssen und … Oh!“ Sie verstummte mitten im Satz und presste die Hand auf den Bauch.

„Ich finde, es ist höchste Zeit, dass du in den Mutterschaftsurlaub gehst“, erklärte Garrett. „Du solltest dich zu Hause ausruhen und nicht im Büro arbeiten.“

Beruhigend strich sie sich über den Leib. „Der Arzt sagt, ich könne bis zur Entbindung arbeiten, wenn ich mich entsprechend fühle.“

„Und ich bin dein älterer Bruder und Chef, und ich sage, wenn du keinen bezahlten Urlaub nimmst, muss ich dich feuern.“ Seine ernste Miene strafte den halb scherzhaften Tonfall Lügen. „Du bist im achten Monat und siehst erschöpft aus. Ich setze noch diese Woche eine Anzeige in die Zeitung und suche eine Sekretärin, die deinen Job übernimmt. Außerdem wirst du an den Nachmittagen nicht mehr auf Chelsea aufpassen. Während du frei hast, kann sie zu mir ins Büro kommen.“

Lisa seufzte. „Du machst dich lächerlich, Garrett.“

„Das ist mein gutes Recht“, erwiderte er liebevoll. „Nutz das bisschen Zeit, das du noch hast, Schwesterchen. Sobald die beiden nämlich geboren sind, wird dein Leben nie wieder so sein wie früher.“ Sein strenger Blick zeigte, dass jeder Widerspruch sinnlos war.

„Gut, du hast gewonnen“, lenkte seine Schwester ein und drehte sich zu Jenna um. „Es war sehr nett, Sie kennenzulernen.“

„Sie auch.“ Jenna hatte das Gefühl, in Lisa eine Freundin gefunden zu haben. „Viel Glück mit den Zwillingen.“

Kaum war Lisa gegangen, verwandelte Garrett sich wieder in den zurückhaltenden, wortkargen Mann, der sie vorhin im Schlafzimmer zurückgelassen hatte. Er schenkte sich einen Becher Kaffee ein und hielt die Kanne hoch. „Möchten Sie auch noch etwas?“

„Gern. Eine halbe Tasse wäre schön.“

Er durchquerte die Küche und füllte ihren Becher. Sie war ihm nun so nahe, dass sie seinen unverwechselbaren männlichen Duft einatmen konnte. Ihr Herz klopfte, als wollte es zerspringen. Dieser Mann beflügelte ihre Sinne, eine prickelnde Erfahrung, die sie aufregend und verwirrend zugleich fand.

Unter Aufbietung ihrer gesamten Willenskraft verdrängte sie diese Empfindungen. Auf gar keinen Fall wollte sie sich zu Garrett Blackwell hingezogen fühlen, egal, wie atemberaubend und erotisch er auch sein mochte. Zuerst musste sie sich über ihre Zukunft klar werden.

Er stellte die Kaffeekanne in die Maschine zurück und holte die Platte mit Pfannkuchen aus dem Ofen. „Haben Sie schon gefrühstückt?“

Ihr Magen hatte sich zwar beruhigt, aber sie war nicht sicher, ob sie bereits etwas essen konnte. „Ich bin wirklich nicht hungrig.“

Garrett bedachte sie mit dem gleichen unnachgiebigen Blick wie vorhin seine Schwester. „Sie brauchen etwas Stärkeres als Kaffee, bevor sie aufbrechen.“

„Mir geht es gut“, versicherte Jenna.

„Was haben Sie gestern gegessen?“ Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust. „Ich schätze, Sie sind auf Ihrer Hochzeit davongelaufen, bevor Sie den Empfang oder das Dinner genießen konnten.“

Trotzig straffte sie die Schultern. „Ich hatte ein halbes Sandwich zum Lunch. Mehr konnte ich nicht essen, weil ich so nervös war.“

„Amaretto und Kaffee bringen Sie nicht weiter.“ Er legte einen der goldbraunen Pfannkuchen auf einen Teller und trug ihn zum Tisch. „Probieren Sie wenigstens. Und während Sie essen, können wir überlegen, was wir mit Ihnen anfangen.“

„Was wir mit mir anfangen?“ Sie verteilte ein wenig Butter auf dem Pfannkuchen und schüttete großzügig Sirup darüber. „Nach allem, was Sie vorhin zu Ihrer Tochter gesagt haben, fühle ich mich tatsächlich langsam wie ein streunendes Haustier.“ Ruhig hielt sie seinem Blick stand, um ihm zu beweisen, dass sie keinen Vormund brauchte. „Ich bin Ihnen für das, was Sie gestern für mich getan haben, sehr dankbar, Garrett, aber Sie sind nicht für mich verantwortlich.“

„Ich bin für Sie verantwortlich, seit ich Harlan gestern erklärt habe, ich würde Sie mit nach Hause nehmen“, entgegnete er düster.

Sie war einerseits gerührt über seine ritterliche Einstellung und andererseits verwundert über den abweisenden Tonfall. Er mochte zwar ein ausgeprägtes Ehrgefühl haben, aber aus ihr unerfindlichen Gründen schien er nicht sonderlich begeistert über ihre Anwesenheit – also warum glaubte er, ihr gegenüber verpflichtet zu sein? Sie ahnte, dass sie seine Last durch den spontanen Kuss gestern Abend noch vergrößert hatte.

Obwohl sie vom Alkohol berauscht und von Erschöpfung und Reue benebelt gewesen war, erinnerte sie sich deutlich, wie aufreizend Garrett seine Lippen auf ihre gepresst hatte. Während der flüchtigen Umarmung hatte es keine Scheu zwischen ihnen gegeben, ganz im Gegensatz zu der verkrampften Haltung, die er nun an den Tag legte.

„Warum haben Sie mich mitgenommen?“, fragte sie ruhig. „Sie hätten mich im Leisure Pointe zurücklassen können.“

„Süße, Sie waren weit davon entfernt, auf sich selbst aufpassen zu können. Sie hatten gar keine Alternativen. Ich konnte Sie schließlich nicht die Nacht in einer Ausnüchterungszelle verbringen lassen, und ich wollte auch nicht, dass Beau Harding Sie in eine Motel ‚begleitet‘. Also war ich Ihre sicherste Wahl.“

„Danke.“

Er zuckte die Schultern. Die Hüfte gegen den Tresen gelehnt, trank er einen Schluck Kaffee und beobachtete Jenna über den Rand der Tasse hinweg. „Und was haben Sie jetzt vor?“

„Sie meinen jetzt, da ich niemandes Braut mehr bin? Ich weiß es wirklich nicht.“ Sie hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht, ihr war nur klar, dass sie sich selbst gegenüber ehrlich sein musste und endlich eine nie gekannte Freiheit und Unabhängigkeit genießen konnte. „Ich hoffe, diese Frage Schritt für Schritt beantworten zu können.“

Ganz oben auf der Liste stand die Notwendigkeit, lässige, bequeme Garderobe für sich zu kaufen. Sachen, wie sie sie getragen hatte, bevor ihre Mutter darauf gedrungen hatte, sie möge eine Dame werden und sich einen ehrbaren Ehemann sichern. Ein geschmackvolles Outfit verlieh ihr zwar den Anschein von Eleganz und Kultiviertheit, konnte jedoch keine verpfuschte Vergangenheit verbergen. In T-Shirts, Jeans und schlichten Baumwollkleidern fühlte sie sich mehr wie sie selbst.

Sie spießte ein Stück Pfannkuchen auf die Gabel und tauchte es in Ahornsirup. „Gibt es in der Gegend einen Secondhandshop?“

„Einen Secondhandshop?“, wiederholte er stirnrunzelnd.

„Ja.“ Da ihre finanziellen Mittel begrenzt waren, würde sie ihre Ausgaben einteilen müssen. „Ich benötige ein paar Sachen, und die können gern gebraucht sein.“

„Nun, da wäre ‚Kate’s Korner‘ … Ihr Laden liegt an der Mulberry Avenue.“

„Perfekt.“ Jenna nahm noch einen Bissen.

Sichtlich verwirrt stellte Garrett den Becher auf den Tresen und massierte sich den Nacken. „Wenn Sie möchten, kann Rylan Sie zu Kate und dann zurück in die Stadt fahren.“

Er konnte es offenbar kaum erwarten, sie loszuwerden – kein Wunder, so wie sie in sein Leben geplatzt war. Eines stand jedoch fest: Sie würde nicht nach St. Louis zurückkehren. Ihr Leben dort war eine Illusion gewesen, voller Erwartungen, die sich nicht erfüllen würden. Nicht mehr.

„Das ist nicht nötig, Rylan braucht mich nicht nach St. Louis zu bringen.“ Sie atmete tief durch. „Ich werde wohl eine Weile in Danby bleiben.“

Blanker Unglaube spiegelte sich auf seinen Zügen. „Warum?“

Jenna legte die Gabel beiseite. „Es gibt nichts, was mich nach St. Louis zurückzieht“, erwiderte sie schlicht. „Nicht mehr.“

„Und was ist mit Ihrer Familie?“

Sie erinnerte sich an die bruchstückhafte Unterhaltung im Leisure Pointe. „Ich sagte Ihnen bereits, dass ich keine Familie habe, und das ist die Wahrheit. Ich habe meinen Vater nie kennengelernt, habe keine Geschwister, und meine Mutter ist vor drei Jahren an Lungenentzündung gestorben.“

„Keine Großeltern, Tanten, Onkel oder andere Verwandte? Es muss doch irgendjemanden geben!“

„Ich habe nie einen von ihnen getroffen.“ Da sie keine Lust hatte, ihm ihre Familiengeschichte zu erzählen oder zu berichten, dass ihre Großeltern sich geweigert hatten, die siebzehnjährige schwangere Tochter zu unterstützen, stand sie auf und trug den Teller zum Spülbecken. „Es gibt wirklich niemanden.“

„Und Ihr Verlobter?“ Garrett schien verzweifelt bemüht, jemanden zu finden. „Bestimmt handelt es sich zwischen Ihnen beiden nur um ein Missverständnis, das man klären kann.“

Die Kehle war ihr plötzlich wie zugeschnürt. Die Beziehung zu Sheldon konnte sie unmöglich wieder aufnehmen. Sie wollte ihn später am Tag anrufen, sich bei ihm entschuldigen und ihm versichern, dass es ihr leid tue, ihn und seine Familie in ihren ganz persönlichen Skandal verstrickt zu haben. Dieses Gespräch würde zweifellos einen endgültigen Schlussstrich bedeuten.

Mit gesenktem Kopf wusch sie das Geschirr ab. „Zwischen Sheldon und mir ist es aus.“

„Haben Sie ihn nicht geliebt?“

Schon wieder dieser vorwurfsvolle Unterton. Und weil Garrett natürlich nicht wusste, warum sie an ihrem Hochzeitstag geflohen war, konnte sie ihm die Kritik nicht verübeln. Wahrscheinlich hielt er sie für eine oberflächliche Person, die ihrem Verlobten das Herz gebrochen hatte.

„Ich mochte Sheldon. Sehr sogar.“ Er war ein guter, netter Mann, und obwohl sie von Liebe gesprochen hatten, war es nie die alles verzehrende Leidenschaft gewesen, von der sie geträumt hatte. „Aber es ist besser, wenn wir künftig getrennte Wege gehen.“

Garretts prüfender Blick flößte ihr Unbehagen ein, und so schaute sie aus dem Fenster über der Spüle. Hinter dem Haus erstreckte sich ein großer, makellos gepflegter Garten mit einem Swimmingpool. Das Sonnenlicht schimmerte auf dem Wasser, das Erfrischung von der Sommerhitze verhieß. In einiger Entfernung schwang Chelsea auf einer Holzschaukel hin und her.

„Sie werden nach St. Louis zurückgehen“, sagte Garrett nachdrücklich. „Sie leben dort.“

Ja, sie hatte dort gelebt, aber sie hatte nie wirklich in diese riesige, überwältigende Stadt gehört. „Ich lebe dort nicht mehr, Garrett.“ Nachdem sie sich die Hände abgetrocknet hatte, wandte sie sich zu ihm um. „Und ungeachtet dessen, was Sie gern glauben möchten, gibt es für mich keinen Grund, dorthin zurückzukehren.“ Ehe er protestieren konnte, fügte sie hinzu: „Ich habe letzten Monat meinen Job als Sekretärin gekündigt, um Sheldon den Haushalt zu führen. Den Vertrag für mein Apartment habe ich nicht verlängert, weil ich es nicht mehr gebraucht hätte, und mein Auto habe ich auf Sheldons Wunsch hin verkauft. Er hat mir einen Mercedes geschenkt, der seiner Meinung nach für die Frau eines Arztes angemessener war.“ Um ihre Worte zu unterstreichen, zählte sie die einzelnen Punkte an den Fingern ab. „Meine persönlichen Habseligkeiten wurden in Kartons verpackt, die Sheldon mir sicher gern an meine neue Adresse schicken wird, wo immer das sein mag.“ Ihre Stimme bebte. „Bis ich entschieden habe, wie ich mein künftiges Leben gestalten werde, ist Danby so gut wie jeder andere Ort.“

Er presste die Lippen zusammen, sichtlich verblüfft über ihren Ausbruch.

„Ich habe den starken Verdacht, dass Sie mich hier nicht haben wollen, trotzdem werde ich bleiben“, fuhr sie fort, bestrebt, ihm ihren Standpunkt klarzumachen und gleichzeitig ihre Würde zu wahren. „Seit gestern Abend habe ich Ihnen genug Ärger bereitet, aber wenn ich erst einmal Ihr Haus verlassen habe, können Sie Ihre Verpflichtung mir gegenüber als beendet ansehen. Ich will niemandem zur Last fallen!“

Ihre Blicke trafen sich, hielten einander in einem stummen Willenskampf fest. Die Spannung in der Küche war fast mit Händen greifbar. Garrett atmete tief ein und aus, fasziniert von den goldenen Pünktchen in Jennas Augen, die vor Temperament zu sprühen schienen. Sie hatte die Schultern gestrafft, ihre ganze Haltung strahlte Stolz aus – und tiefe Verletzlichkeit.

Während die Sekunden verstrichen, wuchs Garretts schlechtes Gewissen. Zum Teufel, dachte er und entspannte sich ein wenig. Er hatte sie provoziert und diese Zurechtweisung verdient.

Der Grund für sein Benehmen lag auf der Hand: Jenna stellte eine Belastung dar, sie versetzte seine Sinne und seinen Seelenfrieden in Aufruhr – und in gewisser Weise auch seine Gefühle. Am meisten ärgerte ihn jedoch, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, obwohl sie genau die Ablenkung war, die er in seinem Leben nicht brauchen konnte.

Aus eben diesen selbstsüchtigen Gründen wollte er Jenna nicht in Danby haben, allerdings schien es so, als hätte er in dieser Angelegenheit keine Wahl. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fügen und abzuwarten, wie sie sich entscheiden würde. Möglicherweise kehrte sie tatsächlich nicht nach St. Louis zurück, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich auf Dauer in Danby niederlassen würde. In der kleinen Gemeinde gab es für Fremde nichts Reizvolles.

Seine eigene Frau war ein lebender Beweis für diese Theorie gewesen und hatte sich rasch gelangweilt. Er hatte einen hohen Preis für Angelas mangelndes Interesse an ihrer Ehe und der kleinen Tochter zahlen müssen.

Die Erinnerung an den Verrat seiner toten Frau rückte für Garrett wieder alles in die richtige Perspektive. Genau wie Angela war auch Jenna Zuneigung und einer festen Bindung ausgewichen, um ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu wahren, und obwohl er die Gründe nicht kannte, weshalb sie ihre Hochzeit hatte platzen lassen, bewies ihre Weigerung, über die Probleme mit ihrem Bräutigam zu sprechen, dass der Aufenthalt dieser Frau in Danby nur so lange dauern würde, bis etwas Besseres und Aufregenderes auftauchte.

Er seufzte resigniert. „Wenn Sie in Danby bleiben, sollte ich mich wohl besser daran gewöhnen, dass wir uns häufiger über den Weg laufen werden.“

„Ja, das sollten Sie.“ Trotzig hob sie das Kinn und zeigte so die starrsinnige Seite ihrer Persönlichkeit, einen Charakterzug, den er sonderbarerweise gleichermaßen bewunderte und missbilligte.

Ihr Haar schien vor Leben zu vibrieren, eine unzähmbare goldene Mähne, die ihn geradezu magisch anzog. Ohne an die Konsequenzen oder seine guten Vorsätze zu denken, streckte er die Hand aus und schob eine widerspenstige Strähne hinter ihr Ohr, doch die Locke sprang wieder zurück, so als wollte sie ihn verspotten. Sanft strich er mit dem Finger über Jennas samtige Wange und berührte das verführerische Schönheitsmal über ihrer Lippe. Sie holte zitternd Luft und schaute ihn an. In ihren Augen spiegelten sich Unsicherheit und grenzenloses Verlangen, das ihm schier das Herz zerriss.

Garrett wusste, dass er sich zurückziehen und sie allein lassen musste. Aber dann erinnerte er sich, wie süß sie gestern Nacht geschmeckt hatte, und alle Logik war vergessen. Sie wich glühendem Begehren, das in heftigem Widerstreit mit seinem Gewissen und der Stimme der Vernunft lag, die ihm riet, Jenna und diesen flüchtigen Moment zu meiden.

Er wollte sie wieder schmecken, und er war unfähig, den betörenden Zauber zwischen ihnen zu brechen.

Wie gebannt durch seine unvermutete Berührung, erhob sie keinen Protest, als er die Hand um ihren Nacken legte und sie sanft zwang, den Kopf zu heben. Ihre Augen waren groß vor banger Erwartung. Sie hatte die Lippen leicht geöffnet, allerdings nicht, um Einwände zu erheben. Nein, es schien ihr die Sprache verschlagen zu haben, ihre Reaktionen verliefen jedoch synchron mit seinen. 

Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten und des Streites, den sie soeben noch ausgefochten hatten, begehrte sie ihn auch. Die Luft zwischen ihnen knisterte förmlich vor erotischer Spannung, und er senkte den Kopf … In diesem Moment wurde die Vordertür krachend zugeschlagen.

Jenna wich zurück und befreite sich aus seinem Griff. Garrett gab sie sofort frei, erst jetzt wurde ihm klar, wie weit er gegangen war. Weiter als er beabsichtigt hatte! Er hatte kein Recht, sie so vertraulich zu berühren oder ihr gar einen zweiten Kuss abzuverlangen.

Zarte Röte überzog ihre Wangen, ihr Blick verriet, wie schockiert und verärgert sie über ihr Verhalten war. Sie räusperte sich, aber bevor sie etwas äußern konnte, kam Rylan in die Küche.

Jenna war über Rylans plötzliches Erscheinen so erleichtert, dass sie fast in Tränen ausgebrochen wäre, zumal sie selbst nichts unternommen hatte, um Garrett zu stoppen oder den Kuss zu verhindern, auf den sie unvermeidlich zugesteuert waren.

Autor

Janelle Denison
Zusammen mit ihrem Mann, einem Ingenieur, lebt Janelle im sonnigen Südkalifornien. Für seine Unterstützung ist sie ihm dankbar und noch dankbarer dafür, dass er nie ein Wort darüber verliert, wenn das Abendbrot verspätet – oder auch gar nicht – auf den Tisch kommt, weil sie über ihre Arbeit am Computer...
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