Julia Extra Band 376

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BEGEHREN VERBOTEN von CELMER, MICHELLE
Vanessa ist bitterarm, bildschön - und eine Erbschleicherin! Davon ist Prinz Marcus fest überzeugt. Und trotzdem fühlt er sich insgeheim immer mehr zu dieser bezaubernden Frau hingezogen, die sein Vater heiraten will …

… UND PLÖTZLICH PRINZESSIN! von WEST, ANNIE
"Ich will keine Prinzessin sein!" Entschieden stellt Luisa sich Raul von Monteregio entgegen, der plötzlich auf ihrer Farm auftaucht. Doch sie hat keine Wahl. Ein altes Gesetz zwingt sie, dem faszinierenden Kronprinzen in sein märchenhaftes Fürstentum zu folgen - als seine Braut …

ES WAR EINMAL EIN PLAYBOY … von HARDY, KATE
Wie gern würde die Physiotherapeutin Serena an eine romantische Cinderella-Story glauben, als ihr attraktiver Patient George Somers sie mit einem heißen Kuss überrascht. Aber leider steht der vermögende Adlige in dem Ruf, ein unverbesserlicher Playboy zu sein …

VERLIEB DICH NIE IN EINEN PRINZEN von MORGAN, RAYE
Erfüllt von schmerzlicher Sehnsucht steht Kayla auf der Empore des Ballsaals und beobachtet Prinz Max. Gerade wird ihre heimliche Liebe einer Dame in prachtvoller Robe vorgestellt. Ist es seine zukünftige Braut? Ach, wäre Kayla doch an ihrer Stelle! Aber das ist unmöglich, oder?


  • Erscheinungstag 14.01.2014
  • Bandnummer 0376
  • ISBN / Artikelnummer 9783733703851
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Celmer, Annie West, Kate Hardy, Raye Morgan

JULIA EXTRA BAND 376

MICHELLE CELMER

Begehren verboten

Prinz Marcus weckt heiße Leidenschaft in der jungen Vanessa. Ein Gefühl – so verzaubernd wie verboten! Denn sie soll den König von Varieo heiraten – und sich nicht in seinen sexy Sohn verlieben!

ANNIE WEST

… und plötzlich Prinzessin!

„Sie sind Prinzessin Luisa von Ardissia!“ Luisas Welt steht Kopf, als Kronprinz Raul von Monteregio auf ihrer Farm in Australien auftaucht. Denn ein altes Gesetz verlangt, dass sie seine Braut wird …

KATE HARDY

Es war einmal ein Playboy …

Obwohl Serenas Herz nach George Somers’ heißem Kuss höherschlägt, weist sie ihn zurück. Ein reicher Adliger wie er kann doch nicht ernsthaft an einer normalen Frau wie ihr interessiert sein, oder?

RAYE MORGAN

Verlieb dich nie in einen Prinzen

Kayla betrachtet voll schmerzlicher Sehnsucht, wie ihre heimliche Liebe Prinz Max mit einer Dame in prachtvoller Robe tanzt – doch sie weiß genau: Der Prinz wird ihre Gefühle niemals erwidern!

1. KAPITEL

Aus der Luft sah die Küste von Varieo mit dem kristallklaren blauen Wasser und den unberührten Sandstränden wie das Paradies aus.

Vanessa Reynolds war erst vierundzwanzig Jahre alt, aber sie hatte schon auf mehr Kontinenten und in mehr Städten gelebt als die meisten Menschen in ihrem gesamten Leben. Das typische Schicksal einer Soldatentochter. Doch nun, so hoffte sie, würde sie in dem kleinen Königreich Varieo am Mittelmeer für immer ein Zuhause finden.

„Es ist wunderbar hier, Mia“, flüsterte sie ihrer sechs Monate alten Tochter zu, die endlich friedlich in ihrem Kindersitz schlief. Während des dreizehnstündigen Fluges hatte Mia immer wieder geweint.

Das Flugzeug ging in den Sinkflug über. Bald würden sie auf dem privaten Flughafen landen, auf dem schon Gabriel wartete, Vanessas … Nun, es kam ihr ein wenig seltsam und kindisch vor, ihn ihren Freund zu nennen, schließlich war er schon sechsundfünfzig. Aber ihr Verlobter war er auch nicht – zumindest noch nicht. Denn als er um ihre Hand angehalten hatte, hatte sie nicht Ja gesagt. Aber auch nicht Nein. Erst auf dieser Reise würde sie sich entscheiden, ob sie einen Mann heiraten wollte, der nicht nur zweiunddreißig Jahre älter war als sie, sondern auch ständig unterwegs und … ein richtiger König war.

Sie schaute aus dem Fenster. Je näher sie dem Boden kamen, desto nervöser wurde sie.

„Vanessa, in was hast du dich jetzt schon wieder reingeritten?“, hätte ihr Vater vermutlich gesagt, hätte sie nur genügend Mut gehabt, ihm die Wahrheit zu erzählen. Und dann hätte er ihr bestimmt noch vorgehalten, dass sie dabei war, einmal mehr einen großen Fehler zu begehen. Nun, sie hatte vielleicht nicht gerade die besten Erfahrungen mit Männern gemacht seit … seit der Pubertät. Aber dieses Mal war es anders.

Da mochte ihre beste Freundin Jessy noch so sehr zweifeln. Am Abend zuvor war Jessy bei ihr gewesen. „Jetzt scheint er ja ganz nett zu sein“, hatte Jessy gesagt. „Aber was, wenn er sich in seinem Land als rücksichtsloser Tyrann erweist?“

Vanessa wusste, dass sie ein Risiko einging. Aber Gabriel war ein Gentleman, und seine Gefühle für sie waren echt. Niemals würde er ihr Auto stehlen und sie hilflos in einem Diner mitten in der Wüste Arizonas zurücklassen. Er würde gewiss nie eine Kreditkarte auf ihren Namen ausstellen lassen, um diese dann rettungslos zu überziehen. Gabriel würde ihr nicht die große Liebe vorspielen, um sie dazu zu bringen, für ihn eine Seminararbeit in Geschichte zu schreiben – nur um sie anschließend für eine Cheerleaderin sitzen zu lassen. Und ganz bestimmt würde er sie niemals schwängern und anschließend verschwinden, während sie und das ungeborene Kind irgendwie sehen mussten, wie sie zurechtkamen.

Ein Luftloch schüttelte den Privatjet durch, und Mia wachte auf. Sie blinzelte kurz, dann begannen ihre Lippen zu zittern, und sie stieß ein ohrenbetäubendes Heulen aus.

„Keine Sorge, meine Kleine, alles wird gut!“, murmelte Vanessa und streichelte die Babyfaust. „Wir sind schon fast da.“

Bei der Landung begann Vanessas Herz wie wild zu schlagen. Seit Gabriel vor knapp einem Monat aus Los Angeles abgereist war, hatten sie zwar täglich geskyped, aber es war doch etwas anderes, als sich wirklich zu sehen. Was, wenn ihm ein Blick auf ihre zerknitterte Kleidung, ihren verschmierten Eyeliner und ihre bemitleidenswerten Haare reichte, um sie gleich wieder in die USA zurückzuschicken?

Mach dich nicht lächerlich. Das Flugzeug rollte zu dem geschützten Terminal der königlichen Familie. Natürlich war es ihr Aussehen gewesen, das Gabriel angezogen hatte, als sie sich in dem schicken Hotel in Los Angeles das erste Mal begegnet waren – da machte sich Vanessa keine Illusionen. Sie war Hospitality-Managerin des Hotels, sprach mehrere Sprachen – und sah mehr als nur ansprechend aus.

Ihre Schönheit war Vanessas unschätzbares Kapital und gleichzeitig auch ihre Achillesferse. Gabriel aber hatte sie nie gewollt, nur um sich mit ihr zu schmücken. Sie waren enge Freunde geworden. Vertraute. Er liebte sie, zumindest sagte er das, und Vanessa vertraute ihm.

Es gab nur ein kleines Problem. Obwohl sie ihn als Freund lieb gewonnen hatte, konnte sie nicht sagen, ob sie tatsächlich in ihn verliebt war. Und Gabriel wusste das. Darum hatte er sie eingeladen, sechs Wochen mit ihm zu verbringen. Er war überzeugt, in dieser Zeit würde Vanessa ihre Liebe zu ihm entdecken. Für Gabriel besaß das Eheversprechen noch seine wahre Bedeutung.

Vor acht Monaten war seine Frau, mit der er dreißig Jahre glücklich verheiratet gewesen war, an Krebs gestorben.

Erneut schrie Mia zum Steinerweichen. Sobald das Flugzeug zum Stehen kam, schaltete Vanessa ihr Handy an. Sie schrieb Jessy eine SMS, dass sie sicher gelandet waren. Dann hob sie ihre Tochter aus dem Kindersitz, drückte Mia an sich und genoss den süßen Babyduft.

„Wir sind da, Mia. Unser neues Leben beginnt.“

Mehr als alles andere wünschte sie sich für Mia ein geordnetes Zuhause mit Vater und Mutter. Wenn sie Gabriel heiratete, würden sich für Mia Privilegien und Möglichkeiten eröffnen, von denen Vanessa nicht im Entferntesten geträumt hatte. Musste sie nicht allein deshalb schon diesen Mann heiraten, auch wenn er sie nicht … um den Verstand brachte? Waren nicht Respekt und Freundschaft wichtiger?

Sie schaute aus dem Fenster. Eine große Limousine fuhr heran und hielt hundert Meter vom Flugzeug entfernt.

Gabriel, dachte sie, gleichzeitig erleichtert und aufgeregt.

Die Flugbegleiterin tauchte neben Vanessas Sitz auf. Sie zeigte auf das Handgepäck, die vollgestopfte Windeltasche und die Handtasche und fragte: „Kann ich Ihnen helfen, Miss Reynolds?“

„Gern.“ Während sie ihre Handtasche nahm, kümmerte sich die Flugbegleiterin um den Rest.

Seit Mias Geburt war Vanessa nicht mehr ausgegangen – bis Gabriel in ihr Leben trat. Dabei hatten unzählige männliche Gäste sie im Hotel eingeladen, aber Vanessa wollte Geschäftliches und Privates lieber nicht verbinden. Aber wenn ein König sie bat, mit ihm etwas zu trinken, war es schwer, Nein zu sagen. Gerade, wenn er auch noch so gut aussah und so charmant war wie Gabriel. Und nun war sie also hier in Varieo, nur ein paar Monate später, um ein neues Leben zu beginnen.

Vanessa stieg die Stufen zur Rollbahn hinunter, erleichtert, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Die Sonne brannte. Die Flugbegleiterin geleitete Vanessa zur Limousine, und der Fahrer stieg aus, um ihr den hinteren Wagenschlag aufzuhalten. Vanessas Puls beschleunigte sich. Doch dann stieß sie enttäuscht den Atem aus. Wie Gabriel war auch dieser Mann schmal und groß, er hatte ebenso markante Gesichtszüge, und auch seine Augen wirkten genauso ausdrucksstark. Nur war es nicht Gabriel.

Tagelang hatte sie sich über das Land und das Königshaus informiert, und sofort erkannte sie, dass es sich bei dem attraktiven Mann um Prinz Marcus Salvatora handelte, Gabriels Sohn. Er sah genauso aus wie auf den Fotos: geheimnisvoll und zu ernst für einen Mann von achtundzwanzig Jahren. Seine graue Hose und das weiße Hemd kontrastierten mit seinem olivfarbenen Teint und dem gewellten schwarzen Haar. Er sah wie ein Cover-Model des GQ-Magazins aus, nicht wie ein zukünftiger Regent.

Vanessa blickte an ihm vorbei in die Limousine. Doch da war niemand. Dabei hatte Gabriel versprochen, sie abzuholen.

Tränen der Erschöpfung und der Enttäuschung brannten ihr in den Augen. Sie sehnte sich nach Gabriel. Wie kein anderer gab er ihr das Gefühl von Sicherheit. Aber was sollte sein Sohn denken, wenn sie jetzt mitten auf dem Rollfeld in Tränen ausbrach?

Zeig nie Schwäche! Das hatte ihr Vater ihr immer eingeimpft. Also atmete sie tief durch, straffte die Schultern und begrüßte den Prinzen mit leicht gesenktem Kopf, wie es in seinem Land Sitte war.

„Miss Reynolds“, sagte er und reichte ihr die Hand.

Um seinen Gruß zu erwidern, nahm Vanessa Mia vom rechten auf den linken Arm. Ihre Hand war durch die Hitze leicht verschwitzt. „Hoheit, es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“

Während viele Männer eine Frau eher mit schlaffem Handschlag begrüßten, war Marcus’ Griff fest, und seine Hand fühlte sich kühl und trocken an. Forschend sah er sie aus dunklen Augen an. Als er seinen Blick nicht von ihrem löste und auch ihre Hand nicht losließ, schien es Vanessa, als würde er sie zum Armdrücken oder zu einem Duell herausfordern wollen. Gern hätte sie ihre Hand zurückgezogen. Als Marcus endlich seinen Griff löste, spürte sie ein elektrisierendes Prickeln, wo er sie berührt hatte.

Das kommt von der Hitze, dachte sie. Dabei wirkte der Prinz kühl und beherrscht, während sie schwitzte.

„Mein Vater lässt sich entschuldigen“, sagte Marcus. Seine Stimme klang tief und samtweich, ganz wie die seines Vaters. „Er musste unerwartet ins Ausland. Eine Familienangelegenheit.“

Ins Ausland? Vanessa war enttäuscht. „Hat er gesagt, wann er zurück sein wird?“

„Nein. Aber er will sich melden.“

Wie konnte Gabriel sie nur vollkommen allein in einem fremden Land lassen?

Du wirst jetzt nicht weinen! Sie biss die Zähne zusammen. Währenddessen begann Mia wieder zu brüllen.

Marcus hob leicht eine Augenbraue.

„Das ist Mia, meine Tochter“, stellte sie vor.

Als sie ihren Namen hörte, hob Mia den Kopf von der Schulter ihrer Mutter und sah aus ihren blauen Augen zu Marcus auf. Ihre feinen blonden Haare klebten an den tränennassen Wangen. Sie hatte gerade eine Phase, in der sie oft fremdelte. Vanessa rechnete schon damit, dass Mia gleich noch lauter weinen würde. Stattdessen bedachte ihre Tochter Marcus mit einem Lächeln, das selbst das kälteste Herz zum Schmelzen gebracht hätte.

Als hätte Mia ihn angesteckt, entspannten sich Marcus’ Gesichtszüge, und ein Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. Verdammt, er hatte sogar Grübchen. Ein seltsames Gefühl ergriff Vanessa – wie ein aufgeregtes Flattern im Bauch … So fühlte sie sich nur, wenn sie sich gerade verliebte. Augenblicklich verspürte sie Angst und Schuldgefühle. Was war sie nur für eine Frau, wenn sie sich in ihren künftigen Schwiegersohn verliebte?

Marcus wandte sich ihr wieder zu, und sein Lächeln verschwand. Er deutete auf die Limousine, in deren Fond der Chauffeur gerade den Kindersitz befestigte. „Fahren wir?“

Vanessa nickte und versicherte sich, dass sie alles unter Kontrolle hatte.

Die Frau war noch schlimmer, als Marcus es sich ausgemalt hatte.

Unauffällig beobachtete er sie, während sie beide auf der Rückbank saßen. Innerhalb weniger Wochen war es ihr gelungen, seinen trauernden Vater zu verhexen – und das nur acht Monate nach dem Tod der Königin. Marcus’ Mutter …

Als er ihm die Neuigkeit eröffnete, dachte Marcus zuerst, sein Vater hätte den Verstand verloren. Er hatte sich nicht nur in eine Amerikanerin verliebt, sondern auch noch in eine junge Frau, die er zudem kaum kannte. Als Marcus sie jetzt von Nahem sah, wurde ihm allerdings klar, warum sein Vater so hingerissen war. Ihr seidiges Haar war von einem Honigblond, das sicher kein Friseur so hinbekommen würde. Ihre Figur war traumhaft, und ihr Gesicht hätte selbst Leonardo oder Tizian begeistert.

Dabei hatte Marcus gehofft, dass sie so dumm wie die Blondinen aus den amerikanischen Realityshows wäre. Aber dann war er ihrem Blick begegnet … Ihm war nicht entgangen, welche Intelligenz ihre grauen Augen ausstrahlten. Doch wenn er genau hinschaute, entdeckte er auch einen Hauch Hilflosigkeit.

Er verfluchte sich selbst dafür, doch er empfand Mitleid mit ihr, so zerzaust und erschöpft sah sie aus. Was jedoch nichts daran änderte, dass sie seine Feindin war.

Im Kindersitz quengelte das Baby und brach schließlich in ein derart durchdringendes Geschrei aus, dass ihm die Ohren wehtaten.

„Alles in Ordnung, Liebes“, murmelte Vanessa und sah zu Marcus. „Es tut mir wirklich leid. Eigentlich weint sie sonst so gut wie nie.“

Er mochte zwar Kinder, allerdings gefielen sie ihm besser, wenn sie lachten. Eines Tages würde er selbst Kinder haben. Als einzigem Nachkommen der Familie lag es an ihm, die Zukunft der Salvatoras zu sichern.

Was aber, wenn sich das änderte? Warum sollte sein Vater mit einer hübschen jungen Frau nicht weitere Kinder bekommen? Der Gedanke legte sich ihm wie ein Stein auf die Brust.

Vanessa griff in eine der Taschen zu ihren Füßen, zog ein Fläschchen mit Saft heraus und gab es ihrer Tochter. Mia saugte am Schnuller, doch schon nach wenigen Sekunden verzog sie das Gesicht und stieß die Flasche zu Boden – genau auf seinen Schuh.

„Es tut mir wirklich leid.“ Vanessa wiederholte sich, während ihre Tochter erneut schrie. Marcus fürchtete, dass auch Vanessa jeden Moment anfangen könnte zu weinen. Er hob die Flasche auf und reichte sie ihr.

Währenddessen kramte Vanessa einen Teddy aus der Tasche und versuchte, ihre Tochter damit abzulenken. Schon nach wenigen Augenblicken flog auch er durch die Luft und landete auf Marcus’ Bein. Vanessa versuchte es mit einer Rassel – mit dem gleichen Ergebnis.

„Entschuldigung“, sagte sie.

Er hob beides auf und gab es ihr.

Mehrere Minuten lang saßen sie angespannt schweigend da. Dann fragte sie: „Sind Sie immer so gesprächig?“

Er hatte ihr nichts zu sagen, so einfach war es. Abgesehen davon hätte er schon brüllen müssen, um das schreiende Baby zu übertönen.

Als er schwieg, fuhr Vanessa nervös fort: „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf gefreut habe, hierher zu kommen und Sie kennenzulernen. Gabriel hat mir viel über Sie erzählt. Und über Varieo.“

Marcus widerstrebte es, so zu tun, als wäre er glücklich über ihre Ankunft. Zudem glaubte er ihr nicht eine Sekunde lang, was sie da sagte. Auch wenn man kein Genie war, ließ sich leicht durchschauen, worum es ihr eigentlich ging: Sein Vater war reich – und König.

Vanessa versuchte noch einmal ihr Glück mit der Flasche, dieses Mal mit Erfolg. Die Kleine nuckelte zufrieden, und kurz darauf fielen ihr schon die Augen zu.

„Sie hat auf dem Flug kaum geschlafen“, meinte Vanessa. „Bestimmt dauert es ein bisschen, bis sie sich an die neue Umgebung gewöhnt.“

„Hat der Vater nichts dagegen, dass Sie mit dem Kind in ein anderes Land gehen?“

„Ihr Vater hat sich verabschiedet, kaum dass ich ihm von der Schwangerschaft erzählt habe. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.“

„Sie sind geschieden?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich war nie verheiratet.“

Na toll. Als wäre eine Scheidung nicht schon schlimm genug. Aber ein uneheliches Kind? Was dachte sich sein Vater eigentlich? Glaubte er tatsächlich, sein Sohn würde solch eine Frau akzeptieren?

Seine Miene musste seine Abneigung verraten haben, denn Vanessa sah ihm in die Augen. „Ich schäme mich nicht für meine Vergangenheit, Eure Hoheit. Auch wenn Mia sicher nicht unter den glücklichsten Umständen geboren wurde, ist sie doch das Beste, was mir in meinem Leben je geschehen ist. Ich bedaure nichts.“

Nicht gerade zurückhaltend, dachte Marcus. Für eine künftige Königin war das nicht unbedingt von Vorteil. Allerdings musste er zugeben, dass auch seine Mutter selten mit ihrer Meinung hinter dem Berg gehalten hatte. Und das hatte sie sogar zum Vorbild der jungen Frauen gemacht. Aber nie war seine Mutter leichtsinnig gewesen. Wenn diese Frau jetzt glaubte, sie könnte seiner Mutter auch nur halbwegs das Wasser reichen, dann irrte sie sich.

Hoffentlich nahm sein Vater Vernunft an, ehe es zu spät war. Im Moment blieb Marcus nichts anderes übrig, als ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Denn genau das hatte er seinem Vater versprochen.

„Ihre Vergangenheit geht nur Sie und meinen Vater etwas an.“

„Dennoch scheinen Sie Ihre eigene Meinung dazu zu haben. Vielleicht sollten Sie mich erst ein wenig kennenlernen, bevor Sie ein endgültiges Urteil fällen.“

Er beugte sich zu ihr, und sein Ausdruck ließ keinen Zweifel daran, wie ernst es ihm war. „Ich habe nicht vor, damit meine Zeit zu verschwenden.“

Vanessa zuckte noch nicht einmal zusammen. Furchtlos sah sie ihm in die Augen. Sie ließ sich nicht einschüchtern. Er fühlte … eine seltsame Mischung zwischen Hass und Lust. Und jene seltsame Anwandlung von Lust traf ihn wie eine demütigende Ohrfeige.

Nun besaß diese Miss Reynolds sogar noch die Frechheit, zu lächeln. In ihm stieg Zorn auf, aber gleichzeitig nahm ihr Lächeln ihn gefangen.

Er fühlte sich unbehaglich, als er sein Handy hervorholte und sich von Vanessa abwandte. Sein Vater schien zum ersten Mal, seit er seine Frau an den Krebs verloren hatte, wieder glücklich zu sein, und das wollte Marcus ihm unter keinen Umständen verderben. Diese Liebesgeschichte würde ohnehin bald ihr natürliches Ende finden.

Sein Vater würde ganz bestimmt rechtzeitig aufwachen und diese Amerikanerin wieder nach Hause zurückschicken.

War die Reise bisher schon nicht allzu glücklich verlaufen, so schien seit ihrer Ankunft in Varieo alles schlimmer zu werden.

Vanessa saß neben der schlafenden Mia. Offenbar hatte Marcus sein Urteil über sie bereits gefällt. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, mit ihm allein zu sein, bis Gabriel zurückkam.

Wahrscheinlich hatte sie sich nicht gerade klug verhalten, als sie ihm so offen entgegengetreten war. Meistens war sie diplomatischer, aber Marcus hatte sie so selbstgefällig angesehen, dass sie ihre strapazierten Nerven nicht im Griff gehabt hatte. Sie warf Marcus einen verstohlenen Blick zu. Seine Aufmerksamkeit galt allein seinem Telefon. Er war unglaublich attraktiv. Schade nur, dass sein Charakter da nicht mithielt.

Du bist ja auch ziemlich schnell mit deinem Urteil.

Vielleicht hatte er seine Gründe? Würde sie sich nicht ebenfalls Sorgen machen, wenn ihr Vater ihr mitteilte, eine deutlich jüngere Frau heiraten zu wollen, noch dazu eine vollkommen unbekannte? Außerdem war Gabriel nicht irgendein Mann, sondern ein reicher König. Sicher wollte Marcus seinen Vater nur schützen. Und er hatte seine Mutter erst vor weniger als einem Jahr verloren. Gabriel hatte durchblicken lassen, dass ihr Tod seinen Sohn schwer mitgenommen hatte. Gewiss dachte er, Vanessa würde den Platz der Königin einnehmen wollen, auch wenn das ganz sicher nicht der Wahrheit entsprach.

Sie wusste ja noch nicht einmal, ob sie Gabriel wirklich heiraten wollte. Um das herauszufinden, war sie schließlich hergekommen. Und wenn es nicht wie geplant lief, konnte sie einfach nach Hause zurückkehren.

Sie entspannte sich und sah aus dem Seitenfenster der Limousine. Gerade fuhren sie durch das bezaubernde Küstenstädtchen Bocas. Kleine Läden, Restaurants und Boutiquen reihten sich aneinander, und die Gehwege mit ihrem Kopfsteinpflaster waren voller Menschen. Als sie die steile Zufahrt zum Palast hinauffuhren, sah Vanessa in einiger Entfernung den Strand und den Hafen, in dem neben kleinen Segelbooten und größeren Jachten auch riesige Kreuzfahrtschiffe lagen.

Sie hatte gelesen, dass die Saison am Meer von April bis November dauerte. In den anderen Monaten konzentrierte sich der Fremdenverkehr in Varieo auf das Bergland, wo man Snowboarden und Skifahren konnte. Wie Gabriel ihr erklärt hatte, war ein Großteil der Wirtschaft seines Landes vom Tourismus abhängig, ein schweres Geschäft während der Krise der letzten Jahre.

Vor ihnen öffneten sich die Tore, und als Vanessa den Palast erblickte, stockte ihr der Atem. Das prächtige Gebäude lag inmitten sattgrüner Rasenflächen, umgeben von üppig blühenden Blumenrabatten in einer gepflegten Gartenanlage. An allen Ecken plätscherten herrliche Springbrunnen vor sich hin.

Ihre Stimmung hellte sich etwas auf.

Sie wandte sich Marcus zu. Er wirkte ungeduldig, als könnte er es nicht erwarten, endlich aus dem Wagen zu flüchten und sie zurückzulassen.

„Sie haben ein wundervolles Zuhause“, sagte sie.

„Hatten Sie etwas anderes erwartet?“

Vanessa seufzte innerlich auf. Der Wagen fuhr nun an einer beeindruckenden Marmortreppe vor, die von weißen Säulen eingerahmt wurde. Der Palast war angeblich größer als das Weiße Haus.

Sobald Marcus die Tür geöffnet wurde, sprang er aus der Limousine und überließ es dem Chauffeur, Vanessa zu helfen. Sie nahm Mia auf den Arm und folgte Marcus, der am Eingang hinter der massiven hohen Flügeltür auf sie wartete.

Im Inneren wirkte der Palast genauso überwältigend wie von außen. Die Wände der runden Eingangshalle waren cremefarben gestrichen, und der Marmorboden glänzte. Durch die Fenster, die bis zur runden Deckenkuppel reichten, strömte die Sonne herein und ließ die Kristalle am riesigen Leuchter wie Diamanten funkeln. An beiden Seiten der Halle wanden sich entlang der runden Wände ausladende Treppen nach oben, eingefasst von kunstvoll geschmiedeten Geländern. Unter dem Kristallleuchter war ein mächtiger Marmortisch platziert, darauf stand ein wunderschöner bunter Blumenstrauß, dessen exotischer Duft die Luft erfüllte. Eine Mischung aus Tradition und Raffinesse überwältigte ihre Sinne.

Erst jetzt wurde Vanessa klar, wo sie wirklich war. Ihr wurde schwindlig. Hier also könnte Mia aufwachsen, umgeben von dieser Pracht. Wichtiger aber war, dass im Palast jemand lebte, der bereit war, Mia als seine Tochter anzuerkennen.

Zu gern hätte sie ihre Begeisterung mit Marcus geteilt und ihm gesagt, was für eine Ehre es für sie war, hier sein zu dürfen. Doch da ihr das vermutlich nur eine weitere unhöfliche Antwort eingebracht hätte, schwieg sie lieber.

Vom anderen Ende der Eingangshalle her traten mindestens zehn Hausangestellte ein. Marcus stellte Vanessa allen vor. Celia, die verantwortliche Haushälterin, war eine groß gewachsene, ernste Frau in einer gestärkten grauen Uniform. Ihr silbergraues Haar trug sie zu einem festen Knoten zusammengebunden. Ihre drei Helferinnen waren ähnlich gekleidet, jedoch deutlich jünger, und es fehlte ihnen Celias strenge Ausstrahlung.

Vanessa lächelte und nickte jeder von ihnen freundlich zu.

„Dies ist Camille“, stellte Celia ihr die jüngste der drei Frauen auf Englisch vor. Sie sprach fast ohne jede Betonung, was zu ihrem beinahe schon mürrischen Gesichtsausdruck passte. „Während Ihres Aufenthalts wird sie sich um Sie kümmern.“

Während Ihres Aufenthalts? Ging man also davon aus, dass sie nicht lange bleiben würde? Oder besser gesagt: Hoffte man es sogar?

„Ich freue mich, dich kennenzulernen, Camille“, begrüßte Vanessa das Mädchen und reichte ihm die Hand.

Camille wirkte nervös, als sie Vanessas Hand nahm.

Dann war George, der alte Butler, an der Reihe. Sein dürrer Körper steckte in einem Frack, dazu trug er ein gestärktes Hemd mit Frackkragen, und er hielt sich leicht nach vorn gebeugt. Ihm unterstanden zwei junge Assistenten. Außerdem gab es noch einen Koch und eine rundliche Bäckerin.

Marcus wandte sich George zu und wies diesen auf das Gepäck hin, das der Chauffeur inzwischen an der Tür abgestellt hatte. Ohne dass der Butler ein Wort sagen musste, kümmerten sich seine beiden Assistenten um die Koffer und Taschen.

Nun trat eine elegant gekleidete Frau mittleren Alters nach vorn und stellte sich selbst als Tabitha vor, die persönliche Sekretärin des Königs. „Wenn Sie irgendetwas brauchen sollten, dann zögern Sie bitte nicht, sich an mich zu wenden“, sagte sie in perfektem Englisch. Neben ihr stand eine junge Frau in Uniform. „Das ist Karin, Ihre Nanny. Sie wird sich um Ihre Tochter kümmern.“

Vanessa war unwohl bei dem Gedanken, Mia in die Hände einer Fremden zu geben. Aber sie vertraute Gabriel. „Ich bin sehr erfreut, dich kennenzulernen“, sagte sie.

Karin nickte freundlich. „Ma’am.“

„Bitte sag Vanessa zu mir. Ich habe noch nie großen Wert auf Formalitäten gelegt. Ihr könnt mich gern alle bei meinem Vornamen nennen.“

Ihre Bitte rief beim Personal keinerlei Reaktion hervor, noch nicht einmal die Andeutung eines Lächelns. Ob sie wohl immer so sind? fragte sich Vanessa. Oder mögen sie mich einfach nicht? Vielleicht waren sie ja ebenso wie Marcus jetzt schon davon überzeugt, dass man ihr besser mit Misstrauen begegnete.

Marcus wandte sich ihr zu: „Ich werde Ihnen jetzt Ihre Räumlichkeiten zeigen.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er zur linken Treppe. Er eilte die Stufen hinauf, sodass Vanessa beinahe laufen musste, um mit ihm mitzuhalten.

Während die Eingangshalle in Beige gehalten war, dominierten im ersten Stock Farbtöne wie Rot, Orange und Violett. Vanessa hätte niemals solche Farben gewählt, dennoch wirkten sie elegant.

Marcus führte sie über einen langen Flur.

„Ist Ihr Personal immer so förmlich?“, erkundigte sie sich.

„Reicht es Ihnen nicht, dass es Ihnen jeden Wunsch erfüllt?“, gab Marcus über die Schulter zurück. „Muss es dabei auch noch lachen?“

Sie antwortete nicht. Schweigend gingen sie bis zum Ende des Flurs, wo Marcus die letzte Tür öffnete. Gabriel hatte schon angekündigt, dass er sie in seiner komfortabelsten Gästesuite unterbringen wollte. Allerdings hatte Vanessa keine Vorstellung davon gehabt, wie groß diese sein würde. Das Wohnzimmer war riesig, und die Decken reichten schwindelerregend hoch, ebenso wie die Fenster mit den Balkontüren in der Mitte. Farblich dominierten gedeckte Gelb- und Grüntöne.

Um einen Kamin herum stand eine gemütliche Sitzgruppe. Außerdem gab es einen Essbereich, dessen Tisch mit einer kostbaren Damastdecke bedeckt war, sowie in einer anderen Ecke des Zimmers einen Schreibtisch, umgeben von Bücherregalen.

„Wie herrlich!“, meinte sie. „Gelb ist meine Lieblingsfarbe.“

„Das Schlafzimmer ist dort drüben.“ Marcus zeigte auf eine Tür am anderen Ende des Raumes.

Vanessa ging über den weichen Teppich zur Schlafzimmertür und öffnete sie. Was sie sah, raubte ihr den Atem. Der Raum spiegelte reinsten Luxus wider – mit einem gewaltigen Himmelbett, einem Kamin und einem beeindruckenden Flatscreen-Fernseher. Allerdings sah sie nirgends die Wiege, die Gabriel ihr versprochen hatte.

Langsam begann ihr der Arm unter dem Gewicht der schlafenden Mia zu schmerzen, daher legte sie ihre Tochter vorsichtig auf das Himmelbett.

Sie warf noch einen Blick in den begehbaren Kleiderschrank, wo schon ihre Koffer standen. In dem Schrank hätte sie ihre gesamte Garderobe gleich mehrfach unterbringen können. Auch das großzügige Bad war einfach perfekt.

Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, stand Marcus mit verschränkten Armen vor dem Kamin. Ungeduldig sah er auf die Uhr.

„Ich habe kein Bett für Mia gesehen“, sagte Vanessa. „Gabriel hat gemeint, er besorgt eine Wiege für Mia.“

„Das Kinderzimmer ist vorn im Flur.“

„Gut, dann gibt es bestimmt ein Babyfon. Damit ich höre, wenn sie in der Nacht aufwacht.“ Mia schlief mittlerweile zwar die meisten Nächte durch, dennoch musste man ihr die Windel wechseln, sie stillen oder sie trösten, wenn sie schlecht träumte.

„Dafür ist doch die Nanny da.“

Richtig, die Nanny. Vanessa hatte gedacht, die wäre eine Art Babysitter, falls sie selbst sich einmal nicht um Mia kümmern konnte. „Und wo schläft das Kindermädchen?“

„Ihr Schlafzimmer geht vom Kinderzimmer ab.“

In seiner Welt war es wohl ganz selbstverständlich, wenn Bedienstete für das Wohl der Kinder verantwortlich waren. Aber das war nicht Vanessas Welt.

„Ich vermute, Sie sind nun erst einmal zufrieden …“ Marcus schien bereit zur Flucht. Aber so schnell ließ Vanessa ihn nicht gehen.

„Falls ich etwas Bestimmtes brauche, was mache ich dann?“, fragte sie unschuldig.

„Dort auf dem Tisch steht das Telefon, mitsamt einer Liste der Verbindungen im Haus.“

„Aber wie weiß ich, an wen ich mich wenden muss?“

Er hätte sicher am liebsten mit den Augen gerollt. „Wenn Sie etwas zu essen oder zu trinken wünschen, dann rufen Sie in der Küche an, wenn Sie frische Handtücher oder Bettwäsche brauchen, dann rufen Sie in der Waschküche an … Sie verstehen sicherlich das System, oder?“

„Und falls ich eine Frage an Sie habe, steht Ihre Nummer auch auf der Liste?“

„Nein, das tut sie nicht. Und selbst wenn, würden Sie mich kaum erreichen.“

„Nein?“

„Nein. Solange mein Vater nicht da ist, nimmt mich der Dienst für unser Land ganz in Anspruch.“

Gott, war es denn unmöglich, diese harte Schale zu durchdringen? „Marcus, ich kann sehr gut verstehen, wie Sie sich fühlen müssen, aber …“

„Sie können überhaupt nichts!“ Die Feindseligkeit in seiner Stimme erschreckte Vanessa. „Mein Vater hat mich gebeten, Sie zu empfangen, und ich bin seiner Bitte nachgekommen. Wenn Sie mich jetzt also entschuldigen.“

Hinter ihnen räusperte sich jemand, und beide drehten sich gleichzeitig zur Tür. Es war die Nanny.

„Am besten, Sie sprechen jetzt mit Karin wegen Ihres Kindes“, meinte Marcus.

Mit raschen Schritten verließ er das Zimmer, und Vanessa seufzte innerlich. „Komm doch bitte herein“, wandte sie sich an Karin.

Das Mädchen wirkte etwas nervös. „Soll ich Mia übernehmen, damit Sie sich ausruhen können?“

Vanessa hatte noch immer ein seltsames Gefühl dabei, Mia in den Händen einer völlig Fremden zu lassen, aber sie war wirklich erschöpft. „Ja, ich könnte wohl etwas Schlaf brauchen“, sagte sie zu Karin. „Aber wenn die Kleine aufwacht, dann bringst du sie bitte sofort zu mir. Sie ist sicher verwirrt, wenn sie in einem fremden Zimmer aufwacht und eine Unbekannte an ihrem Bett sitzt.“

„Natürlich, Ma’am!“

„Bitte, sag doch Vanessa.“

Karin nickte, obwohl sie sich anscheinend unbehaglich bei dem Gedanken fühlte.

„Mia schläft auf dem Bett drüben. Am besten, ich trage sie ins Kinderzimmer, dann sehe ich auch gleich, wo das ist. Kannst du die Tasche nehmen?“

Wieder nickte Karin nur.

Offenbar war sie nicht gerade gesprächig.

Mit Mia auf dem Arm folgte Vanessa der Nanny über den Flur. Hinter der zweiten Tür befand sich das Kinderzimmer. Es war kleiner als die Suite und verfügte über eine Spiel- und eine Schlafecke. Vor den hellgrün gestrichenen Wänden leuchteten die weiß lackierten Möbel regelrecht. In der Spielecke warteten Regale voller Spielsachen für Kinder jeden Alters.

Vanessa ging davon aus, dass Mia später ein eigenes Zimmer bekommen würde, wenn sie bleiben sollten. In der Nähe von Gabriels Schlafzimmer.

Bei dem Gedanken, mit Gabriel das Schlafzimmer – und das Bett – zu teilen, wurde ihr etwas flau im Magen.

Alles wird gut.

Sie legte Mia in die Wiege und deckte sie mit einer leichten Decke zu. Die Kleine rührte sich nicht einmal, so erschöpft schien sie von der Reise zu sein.

„Vielleicht sollte ich noch ihre Sachen auspacken“, sagte Vanessa zu Karin.

„Das mache ich schon, Ma’am.“

Vanessa seufzte. Ma’am. Nun gut, daran konnten sie ja noch arbeiten. „Vielen Dank.“

Sanft küsste sie Mia auf die Stirn. „Schlaf gut, Süße.“

Nachdem sie Karin noch einmal eingeschärft hatte, ihr Bescheid zu sagen, wenn Mia aufwachte, ging Vanessa zurück in ihre Suite. Sie nahm ihre Handtasche und holte das Handy heraus. Kein Anruf. Als sie Gabriels Nummer wählte, wurde sie direkt zur Mailbox umgeleitet.

Das Bett mit der weichen Decke und den flauschigen Kissen sah einladend aus. Vanessa legte das Handy auf den Nachttisch, sank in die Kissen und kämpfte nicht weiter dagegen an, als ihr die Augen zufielen.

2. KAPITEL

Von Vanessas Suite aus ging Marcus direkt in sein Büro, wo seine Assistentin am Computer ihre nachmittägliche Patience legte. Alle nannten sie Cleo, aber eigentlich hieß sie Cleopatra – ihre Eltern waren Ägypter und wohl sehr exzentrisch gewesen.

„Hat mein Vater sich gemeldet?“

Ohne die Augen vom Bildschirm zu lösen, schüttelte Cleo den Kopf.

„Es freut mich, dass Sie Ihre Zeit produktiv nutzen“, neckte er sie.

Sie kannte das schon und ließ sich nicht stören. „Das hält den Kopf fit.“

Sie mochte zwar auf die Siebzig zugehen, aber geistig hellwach. Seit fast vierzig Jahren stand sie in den Diensten der königlichen Familie und war bis zum Tod der Königin deren Sekretärin gewesen. Danach hatten die meisten erwartet, dass sich Cleo in den Ruhestand verabschieden und ihre großzügige Rente genießen würde. Aber noch wollte sie nicht aufhören, zu arbeiten. Sie meinte, es hielte sie jung. Wie Marcus vermutete, spielte wohl auch die Einsamkeit eine Rolle, denn ihr Mann war vor zwei Jahren gestorben.

Sie beendete ihre Patience und schloss das Programm. Auf dem Bildschirm erschien ein Foto ihrer acht Enkel. Gerade als sie sich zu Marcus umdrehte, konnte er ein Gähnen nicht unterdrücken.

„Müde?“, fragte sie.

Seit Monaten kämpfte er gegen seine Schlaflosigkeit. Er war eigentlich immer müde. Um einem erneuten Vortrag von Cleo zu entgehen, meinte er: „Ich werde ganz gewiss wieder gut schlafen, wenn sie erst verschwunden ist.“

„Ist sie denn so schlimm?“

„Sie ist furchtbar.“

„Und das wissen Sie schon nach dreißig Minuten, die Sie mit ihr verbracht haben?“

„Ich habe es schon nach fünf Minuten gewusst. Schon in dem Moment, als sie aus dem Flugzeug stieg.“

Cleo lehnte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Weißes Haar umspielte ihr Gesicht. Trotz ihres Alters wirkte sie immer noch jung. „Und wodurch?“

„Sie ist nur hinter seinem Geld her.“

„Das hat sie Ihnen gesagt?“

„Das war nicht nötig. Sie ist jung, schön und alleinstehende Mutter. Was sollte sie sonst von einem Mann im Alter meines Vaters wollen?“

„Der König ist ein attraktiver und charmanter Mann. Warum sollte sie sich also nicht in ihn verliebt haben?“

„In den paar Wochen?“

„Ich habe mich gleich am ersten Abend in meinen Mann verliebt. Sie sollten nicht unterschätzen, welche Macht die körperliche Anziehungskraft besitzt.“

Marcus zuckte zusammen. Die Vorstellung, dass sein Vater und diese Frau … Daran wollte er noch nicht einmal denken. Obwohl es kaum einen Zweifel daran geben konnte, dass sie seinen Vater verführt hatte. Er kannte solche Frauen und ihre Tricks aus eigener Erfahrung. Was für ein leichtes Opfer sein trauernder Vater gewesen sein musste, trotz seiner eigentlich unerschütterlichen Moral.

Cleo unterbrach seine Gedanken. „Ist sie wirklich so schön, wie Ihr Vater gesagt hat?“

„Ja. Und sie hat ein uneheliches Kind.“

Cleo rang nach Luft und schlug die Hände zusammen. „Hängt sie auf!“

Marcus starrte sie an.

„Sie wissen schon, in welchem Jahrhundert wir leben, oder? Emanzipation, Gleichberechtigung, all das?“

„Natürlich. Aber mein Vater? Dem die Tradition heilig ist … Er ist einsam und vermisst meine Mutter, eine andere Erklärung gibt es nicht.“

„Sie trauen ihm nicht sehr viel zu, oder? Der König ist ein sehr intelligenter Mann.“

Ja, das war er. Allerdings war es momentan offensichtlich nicht der Verstand, von dem sein Vater sich steuern ließ.

Vanessa schreckte hoch. Ihr Herz raste, und sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren.

Zunächst dachte sie, sie hätte den ganzen Tag verschlafen, doch dann sah sie, dass nur jemand die Vorhänge zugezogen hatte. Sie griff nach dem Handy, um zu sehen, wie spät es war. Erleichtert stellte sie fest, dass nur eineinhalb Stunden vergangen waren. Gabriel hatte nicht angerufen.

Sie wählte noch einmal seine Nummer. Wieder nur die Mailbox. Sie legte auf und holte ihren Laptop hervor. Vielleicht hatte er ja eine E-Mail geschickt. Allerdings kam sie nicht ins Internet, da das Netzwerk geschützt war. Sie musste erst jemanden nach dem Passwort fragen.

Seufzend schloss sie den Laptop. Karin hatte sie nicht geweckt, also schlief Mia wohl noch. Da Vanessa sich nicht um ihre Tochter kümmern musste, wusste sie kurz nicht, was sie machen sollte. Dann fiel ihr das Gepäck ein, das noch ausgepackt werden musste. Als sie den begehbaren Schrank öffnete, sah sie, dass all ihre Sachen bereits ordentlich verstaut worden waren.

Das Dienstmädchen musste im Zimmer gewesen sein. Vanessa gefiel nicht, dass Fremde all ihre Sachen in die Hand genommen hatten. Aber wahrscheinlich musste sie sich hier daran gewöhnen.

Sie zog ihre zerknitterten Sachen aus und streifte eine Yogahose sowie ein einfaches Baumwolltop über. Ihr Magen machte sich bemerkbar, und sie fragte sich, wann man sie wohl zum Dinner rief. Mit dem Handy in der Hand ging sie in das Wohnzimmer ihrer Suite. Sonnenschein durchflutete den Raum und lockte sie zum Balkon. Als sie die Balkontür öffnete, wehte ihr heiße Luft entgegen.

Sie trat auf den Balkon und schaute sich neugierig um. Ein verschnörkeltes Geländer schloss die kleine Fläche ab, rundherum standen Kübel mit exotischen Pflanzen. Vanessa ließ den Blick über die endlosen Rasenflächen schweifen, die von Blumenbeeten aufgelockert wurden und von schattigen Alleen umgeben waren. Direkt unterhalb des Balkons lag der große Swimmingpool, von dem Gabriel ihr erzählt hatte. Er hatte ihn bauen lassen, weil sein Sohn früher Wettkampfschwimmer gewesen war. Bis heute schwamm Marcus noch regelmäßig. Das erklärte seinen imposanten Oberkörper.

Du solltest nicht an Marcus’ Oberkörper denken.

Ihr Handy klingelte, und auf dem Display leuchtete Gabriels Name auf. Endlich! Ihr Herz schlug schneller.

Gabriels Stimme wirkte wie Balsam für ihre strapazierten Nerven. Sofort sah sie sein Gesicht vor sich. Seine sanften Augen und sein Lächeln. Wie sehr sie ihn vermisste!

„Bitte entschuldige, dass ich nicht da sein konnte, um dich willkommen zu heißen!“, sagte er. Er sprach Varieanisch, allerdings unterschied es sich nur sehr wenig vom Italienischen, das Vanessa perfekt beherrschte.

„Ich vermisse dich“, sagte sie.

„Ja, und es tut mir wirklich leid. Wie war dein Flug? Wie geht es Mia?“

„Der Flug war lang, und Mia hat so gut wie gar nicht geschlafen. Aber das holt sie jetzt nach. Bis gerade eben habe ich auch noch geschlafen. Wo bist du? Dein Sohn hat nur etwas von einer Familienangelegenheit gesagt.“

„Ja, es geht um Trina, die Halbschwester meiner Frau in Italien. Sie wurde mit einer Infektion ins Krankenhaus eingeliefert.“

„Oh, das tut mir leid.“ Er hatte oft von seiner Schwägerin gesprochen. Trina hatte ihre Schwester die letzten Wochen vor deren Tod begleitet. Danach war sie noch einige Zeit bei Gabriel und Marcus geblieben. „Hoffentlich ist es nichts Ernstes.“

„Noch ist sie nicht außer Lebensgefahr. Du verstehst hoffentlich, dass ich im Moment nicht hier weg kann. Trina ist verwitwet und hat keine Kinder. Sie hat niemanden außer mir. Und nach allem, was sie für uns getan hat, fühle ich mich ihr verpflichtet.“

„Natürlich verstehe ich das.“

Sie hörte, wie er erleichtert ausatmete. „Ich war mir sicher, dass du so reagierst. Du bist eine außergewöhnliche Frau, Vanessa.“

„Kann ich irgendetwas tun? Irgendwie helfen?“

„Hab nur etwas Geduld.“

„Was meinst du, wie lange wirst du bleiben?“

„Zwei Wochen vielleicht. Genaueres kann ich erst sagen, wenn wir sehen, wie sie auf die Behandlung anspricht.“

Zwei Wochen? Allein mit Marcus?

„Gut. Ich warte hier auf dich.“ Wohin sollte sie auch sonst? Sie hatte ihre Wohnung untervermieten müssen, da sie unbezahlten Urlaub genommen hatte. Und von Gabriel wollte sie kein Geld annehmen.

„Und wenn du Wünsche hast, wende dich einfach an Marcus. Ich habe ihm gesagt, er soll dir bei allem helfen. Er hat dich willkommen geheißen, oder?“

„Ja, das hat er.“

„Und war er nett?“

Natürlich konnte sie Gabriel jetzt die Wahrheit sagen, aber was würde das bringen? Er würde sich aufregen, und Marcus würde sie noch weniger mögen. „Er war ausgesprochen zuvorkommend.“

„Das freut mich. Der Tod seiner Mutter ist ihm sehr nahegegangen.“

„Es wird sicher nicht leicht für ihn, dich mit einer anderen Frau zu sehen“, sagte Vanessa diplomatisch.

„Bist du mit deinem Zimmer zufrieden?“

„Mehr als das. Und der Palast ist wundervoll. Morgen werde ich mit Mia den Garten erkunden. Und ich kann es kaum erwarten, die Stadt kennenzulernen.“

„Marcus begleitet dich sicher gern.“

Eher friert die Hölle zu.

„Ja, mal sehen.“

„Ich bin überzeugt, dass ihr beide gute Freunde werdet.“

Vanessa hatte da ihre Zweifel.

„Ich habe eine Überraschung für dich dagelassen“, verkündete Gabriel. „In der obersten Schublade des Schreibtisches.“

„Was für eine Überraschung?“

„Wenn ich es dir erzähle, ist es ja keine Überraschung mehr.“

Sie zog die Schublade auf und entdeckte eine Kreditkarte mit ihrem Namen darauf. Sie seufzte innerlich. „Gabriel, ich weiß es zu schätzen, aber …“

„Ich weiß, du bist zu stolz, um von mir etwas anzunehmen. Aber bitte tu es für mich!“

„Ich fühle mich einfach nicht wohl dabei, wenn ich dein Geld ausgebe. Du tust doch wirklich auch so schon genug für mich.“

„Aber stell dir mal vor, du siehst etwas in einer Boutique.“

„Du bist immer für mich da. Das ist alles, was zählt.“

„Deshalb bist du ja auch so eine wunderbare Frau. Und darum liebe ich dich. Bitte, nimm sie. Nur für den Fall der Fälle. Egal, ob es fünf oder fünftausend Euro kostet … Wenn du etwas siehst, dann kauf es einfach.“

„Gut, ich werde sie immer mitnehmen.“ Damit legte sie die Karte zurück in die Schublade. Niemals würde sie auch nur einen Cent damit ausgeben.

„Ich vermisse dich, Vanessa, und kann es gar nicht erwarten, mit dir ein neues Leben zu beginnen.“

„Du weißt, noch steht das nicht fest“, erinnerte sie ihn.

„Du wirst schon zustimmen“, entgegnete er, so selbstbewusst und überzeugt wie an jenem Tag, als er um ihre Hand angehalten hatte. „Vanessa, ich muss aufhören. Der Doktor ist hier, und ich will mit ihm sprechen.“

„Natürlich.“

„Wir telefonieren morgen.“

„Ja.“

„Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“

Ach, wenn doch eines Tages diese Worte für sie die gleiche Bedeutung haben würden wie für Gabriel! Sie wünschte sich so sehr, dass aus der freundschaftlichen Liebe, die sie für ihn empfand, echte Liebe wurde.

Zugegeben, er war ein außergewöhnlich gut aussehender Mann. Vielleicht hatten seine Wangen nicht mehr ganz die Spannkraft früherer Jahre, und seine Haare waren schon recht grau, und er war auch nicht mehr ganz so fit wie früher – aber all das machte ihr nichts aus. Nur die inneren Werte zählten, sonst nichts. Sie spürte in seiner Nähe Wärme und Geborgenheit, nur fehlte … jenes gewisse Etwas.

Jenes Etwas, das sie elektrisiert hatte, als sie Marcus die Hand gegeben hatte.

Vanessa verdrängte die Erinnerung daran. Das war schließlich nicht alles. Marcus fehlte das liebenswürdige und großzügige Wesen seines Vaters. Wenn Gabriel sie umarmte, wenn er mit den Lippen zärtlich ihre Wangen liebkoste, dann fühlte sie sich respektiert, geschätzt und sicher. Das bedeutete vielleicht nicht unbedingt heißen Sex, aber Sex, so wusste sie aus eigener Erfahrung, wurde manchmal einfach überschätzt. Freundschaft konnte sehr viel mehr wert sein. Denn die blieb erhalten, wenn das gewisse Etwas verschwand. Was unweigerlich früher oder später der Fall war.

Männer wie Marcus versprachen dagegen Aufregung und Leidenschaft – bis sie sich wieder davonmachten. Meistens ließen sie nur Scherben zurück. Vanessa konnte sich gut all die gebrochenen Herzen vorstellen, die Marcus’ Weg pflasterten. Auf Gabriel hingegen konnte man sich verlassen – und das war jetzt das Wichtigste für sie. Aufregung hatte sie genug gehabt. Jetzt wollte sie eine reife, dauerhafte Beziehung. Und die konnte Gabriel ihr geben.

Wie jeden Abend zog Marcus seine Bahnen im Pool. Je mehr seine Muskeln brannten, desto besser fiel der Stress von ihm ab. Als er anschlug, hörte er das Handy klingeln. Er wuchtete sich aus dem Becken und ging zum Tisch, auf den er es gelegt hatte. Sein Vater.

Er überlegte, ob er rangehen sollte. Sicher hatte sein Vater inzwischen mit Vanessa gesprochen und erfahren, dass er sie nicht gerade herzlich empfangen hatte. Ihr Plan sah vermutlich vor, einen Keil zwischen ihn und seinen Vater zu treiben. Allerdings würde sein Vater das irgendwann durchschauen und sie dann zur Rechenschaft ziehen. Sollte sie sich doch selbst mit ihren Plänen einen Strick drehen! Dafür war Marcus auch bereit, eine Standpauke über sich ergehen zu lassen. Er nahm den Anruf an. „Vater, wie geht es Tante Trina?“

„Im Moment gar nicht gut.“

Verdammt! Marcus schmerzte die Vorstellung, dass ein weiterer Mensch sterben könnte, der ihm so viel bedeutete. „Wie ist die Prognose?“

„Man muss jetzt erst einmal sehen. Aber die Ärzte sind guter Hoffnung, dass sie sich wieder ganz erholen wird.“

Marcus atmete auf. Vor acht Monaten erst hatte er seine Mutter begraben müssen … „Wenn du noch irgendetwas brauchst, lass es mich wissen.“

„In der Tat brauche ich etwas. Aber erst möchte ich dir danken, mein Sohn, und dir sagen, wie stolz ich auf dich bin … und dass ich mich schäme.“

Stolz auf ihn? Vielleicht hatte sein Vater doch noch nicht mit Vanessa gesprochen. „Was meinst du?“

„Nun, ich weiß doch, wie schwer es für dich sein muss, dass ich mich so schnell wieder verliebt habe. Noch dazu in eine junge Frau. Ehrlich gesagt hatte ich befürchtet, du würdest sie vielleicht nicht ganz so freundlich empfangen, wie sie es verdient. Entschuldige, wenn ich dir nicht vertraut habe.“

Was zum Teufel hatte sie ihm erzählt?

Marcus wusste nicht, was er sagen sollte. Bei den warmen Worten seines Vaters bekam er ein schlechtes Gewissen. Was würde er denken, wenn er die Wahrheit erfuhr? Und warum hatte Vanessa gelogen?

„Ist ihre Tochter nicht süß?“, fragte sein Vater und klang dabei völlig hingerissen.

Marcus konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, dass der König je jemanden süß gefunden hatte. „Das ist sie“, pflichtete er ihm bei, obwohl das Baby bisher entweder geschrien oder geschlafen hatte. „Gibt es noch irgendetwas Wichtiges, um das ich mich kümmern sollte?“

„Nein, es ist schon alles in Ordnung. Ich lasse meinen Stab herkommen, um hier ein temporäres Büro einzurichten.“

„Das ist doch nicht nötig. Ich kann hier alles erledigen, solange du weg bist.“

„Natürlich. Aber ich würde verrückt werden, wenn ich nichts zu tun hätte. So kann ich arbeiten und trotzdem bei Trina sein.“

Das schien Marcus für einen kurzen Aufenthalt sehr viel Aufwand zu sein. „Was glaubst du, wann du zurückkommst?“

„Vanessa habe ich gesagt, in zwei Wochen. Aber es kann sich auch länger hinziehen.“

Marcus wurde stutzig. „Was heißt das?“

„Na ja, hoffentlich nicht mehr als drei, vier Wochen.“

Ein ganzer Monat. Ohne jede Frage stand die Familie – besser gesagt, Trina – für seinen Vater an erster Stelle, aber schließlich wartete jetzt Vanessa auf ihn. „Einen Monat? Das ist ganz schön lange.“

„Ja, aber wie viel Zeit hat Trina für uns geopfert?“

Sein Vater hatte recht. „Entschuldige, ich wollte nicht egoistisch klingen. Du sollst natürlich für Trina sorgen. Egal, wie lange.“

„Gut. Um einen Gefallen möchte ich dich noch bitten. Sorge dafür, dass Vanessa und Mia nicht langweilig wird.“

Schlimmer hätte es für Marcus nicht kommen können. „Was soll ich tun?“

„Gib ihnen das Gefühl, willkommen zu sein. Mach Sightseeing mit ihnen, unternehmt irgendwas Schönes.“

Marcus hatte vorgehabt, dieser Miss Reynolds und ihrem schreienden Baby so weit möglich aus dem Weg zu gehen. Und jetzt sollte er den Fremdenführer spielen? „Vater …“

„Ich bin mir sicher, ihr werdet euch schon aneinander gewöhnen. Sie ist ein besonderer Mensch.“

Egal, was sein Vater sagte, Marcus konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als Zeit mit dieser Frau zu verbringen. „Vater, ich glaube nicht …“

„Stell dir bitte einmal vor, wie sie sich fühlen muss, allein in einem fremden Land. Und das ist nur meine Schuld. Dabei habe ich Wochen gebraucht, um sie zu überreden. Wenn sie jetzt wieder fliegt, dann wird sie kaum noch einmal kommen.“

Wäre das denn so schlimm?

Vielleicht war der Vorschlag seines Vaters gar nicht einmal so schlecht. Je mehr Zeit er mit Vanessa verbrachte, desto eher konnte er sie vielleicht überzeugen, schnell wieder abzureisen. Bei dem Gedanken musste er lächeln. „Ich mache es“, sagte er.

„Danke, Marcus. Du ahnst gar nicht, wie viel mir das bedeutet. Bis ich zurückkomme, erlasse ich dir alle anderen Pflichten. Du hast Urlaub.“

„Hast du eine Idee, was ich als Erstes mit ihr unternehmen soll?“

„Vanessa würde gern die Stadt sehen. Ansonsten werde ich dir noch eine Liste mailen. Und wenn ich noch etwas für dich tun kann, sag es mir.“

Du könntest sie in die USA zurückschicken. Aber dass sie dorthin zurückging, dafür würde er schon sorgen. Wenn er erst mit ihr fertig war, würde sie sogar freiwillig zurückschwimmen. Aber bei einer Frau wie ihr lag der Schlüssel zum Erfolg in Geduld und Raffinesse.

Sein Vater verabschiedete sich, und Marcus legte das Handy auf den Tisch. Nachdenklich sah er zum Balkon von Vanessas Wohnzimmer hinauf. Er sollte ihr die gute Nachricht gleich überbringen, damit sie der morgige Ausflug nicht unvorbereitet traf. Schnell streifte er sich Shorts, ein Hemd und Sandalen über. Auf dem Weg nach oben fuhr er sich durch die noch feuchten Haare. Als er sich ihrer Suite näherte, lauschte er, ob das Baby schrie, aber alles war ruhig.

Er klopfte an. Sie musste in der Nähe der Tür gewesen sein, denn sie öffnete fast im selben Augenblick. Sie hatte sich umgezogen und trug eine bequeme schwarze Sporthose und ein einfaches lila T-Shirt. Die Haare hatte sie zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie wirkte noch jünger als zuvor, und gleichzeitig auch sehr viel entspannter als auf dem Flughafen. Ihm fiel noch einmal auf, wie schön sie war. Ohne ihr Make-up wirkte sie etwas weniger exotisch und verführerisch, aber ihre Gesichtszüge waren ganz einfach wunderschön.

Er sah an ihr vorbei ins Innere des Zimmers. In der Mitte war eine Decke auf dem Teppich ausgebreitet, darauf machte Mia … ja, was eigentlich? Aufgestützt auf Händen und Knien schaukelte sie vor und zurück, dabei wanderte ihr Kopf von links nach rechts, wie ein aus dem Takt geratenes Uhrpendel. Für einen Moment blieb sie regungslos so hocken, dann fiel sie nach links und rollte auf den Rücken, verwirrt um sich schauend.

Hatte das Kind etwa eine Art von Anfall?

„Ist alles okay mit ihr?“ Marcus fragte sich, ob er besser einen Arzt rufen sollte.

Vanessa lächelte ihrer Tochter zu. „Alles okay.“

„Was hat sie da gerade gemacht?“

„Sie ist gekrabbelt.“

Gekrabbelt? „Sehr weit ist sie aber nicht gekommen …“

„Noch nicht. Im Moment lernt sie erst, sich auf Händen und Knien zu halten.“

Kreischend rollte Mia sich auf den Bauch und stemmte sich nach oben, dann begann sie wieder zu schaukeln. Alles schien ganz gut zu laufen, bis ihre Arme plötzlich nachgaben und sie vornüber stürzte. Marcus zuckte zusammen, als Mia mit dem Gesicht voran auf die Decke fiel. Sie hob den Kopf, für einen kurzen Augenblick sah sie überrascht aus, dann verzog sich ihr Gesicht und heulte los.

„Ihr ist doch nichts passiert, oder?“, fragte Marcus, da Vanessa keine Anstalten machte, einzugreifen.

„Wahrscheinlich ist sie einfach nur frustriert.“

Doch Mia weinte auch nach einigen Sekunden noch. „Wollen Sie sie nicht hochnehmen?“

Vanessa zuckte mit den Schultern. „Wenn ich sie jedes Mal hochnehmen würde, wenn sie den Mut verliert, dann würde sie irgendwann aufhören, es überhaupt noch zu probieren. Sie wird sich schon gleich wieder beruhigen.“

Kaum hatte sie das gesagt, da hörte Mia von einem Moment zum anderen auf zu schreien und versuchte erneut, sich auf Händen und Knien zu halten.

„Geht das oft so?“, erkundigte sich Marcus.

Vanessa stöhnte auf. „Seit drei Tagen beinahe ununterbrochen. So schnell gibt sie nicht auf. Das hat sie wohl von meinem Vater.“

An ihrem zärtlichen Blick und ihrem stolzen Lächeln konnte er erkennen, wie sehr Vanessa ihre Tochter liebte. Umso unverzeihlicher war es, dass sie seinen Vater ausnehmen wollte.

„Entschuldigung“, sagte sie und drehte sich zu ihm. „Sind Sie wegen etwas Bestimmtem hier …?“ Sie verstummte und kniff überrascht die Augen zusammen, als ihr wohl erst jetzt auffiel, wie er angezogen war. Ihr Blick wanderte ungläubig von seinen Sandalen über Beine und Shorts hoch zum Ausschnitt seines Hemdes, unter dem seine nackte Brust zu sehen war. Für einen Moment wirkte sie wie hypnotisiert. „Entschuldigung, was haben Sie gesagt?“

„Ich habe nichts gesagt. Aber ich glaube, Sie wollten mich fragen, ob ich aus einem bestimmten Grund hier bin.“

Ihre Wangen färbten sich feuerrot. „Genau.“

„Ich wollte gern etwas mit Ihnen besprechen. Falls Sie Zeit haben.“

„Selbstverständlich.“ Sie trat von der Tür zurück, wobei sie über ihre eigenen Füße stolperte. „Sorry. Kommen Sie doch herein.“

Er trat ein und fragte sich, ob sie sich wohl schon an der Zimmerbar bedient hatte. „Geht es Ihnen gut?“

„Ich habe vorhin geschlafen und bin anscheinend noch nicht ganz wach. Der Jetlag macht mir noch zu schaffen.“

„Warum haben Sie meinen Vater angelogen?“

Das traf sie unerwartet. „Ich verstehe nicht ganz.“

„Sie haben meinem Vater erzählt, ich hätte Sie freundlich empfangen. Wie wir beide wissen, entspricht das nicht der Wahrheit.“

„Was hätte ich ihm denn sagen sollen? Dass sein geliebter Sohn sich aufgeführt hat wie ein Idi…“ Sie schlug sich die Hand vor den Mund.

Marcus starrte sie entgeistert an. „Haben Sie mich gerade einen Idioten genannt?“

Vanessa war mulmig zumute. „Wie gesagt, bin ich nicht wirklich wach, und da ist es mir wohl so rausgerutscht. Aber seien wir doch ehrlich: Sie haben sich wirklich so benommen.“

Vermutlich redeten häufiger Leute schlecht über ihn. Hinter seinem Rücken. Aber noch nie hatte jemand es gewagt, ihn so geradeheraus zu beleidigen. Er hätte wütend sein sollen, nur war er auf seltsame Art und Weise eher amüsiert. „Versuchen Sie etwa, mich gegen sich aufzubringen?“

„Ach, Sie können mich doch jetzt schon nicht leiden. Und ich bezweifle, dass ich etwas daran ändern kann, egal, was ich sage oder nicht sage. Das ist zwar traurig, aber …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe Gabriel nicht angelogen. Ich habe nur nicht die ganze Wahrheit gesagt.“

„Warum?“

„Er hat schon genügend Sorgen, auch ohne mich. Außerdem kann ich mich allein durchsetzen.“

Wenn Marcus es nicht besser gewusst hätte, hätte er fast glauben können, dass ihr wirklich etwas an seinem Vater lag. Aber er kannte diese Art von Frauen. „Ach ja?“

„Ja!“ Entschlossen verschränkte sie die Arme, wodurch ihre vollen Brüste noch besser zur Geltung kamen.

Marcus musste sich zusammenreißen, um sie nicht anzustarren. So wunderschön sie auch aussehen mochte – innen drin verbarg sich eine schwarze Seele. Das wusste er.

Er bemerkte, dass sie ihn wie abwesend musterte. Seinen Körper. Doch dann senkte sie rasch den Blick.

„Also“, begann Vanessa. „Sie mögen mich nicht. Das ist Ihr gutes Recht, und ich verstehe es sogar. Ich bin etwas enttäuscht, dass Sie mir noch nicht einmal eine Chance geben, aber so ist es eben. Und um ehrlich zu sein: So viel liegt mir an Ihnen nun auch nicht. Warum gehen wir uns also nicht einfach aus dem Weg?“

„Miss Reynolds …“

„Vanessa, bitte! Es wird Ihnen doch kein Zacken aus der Krone brechen, wenn Sie mich so nennen.“

„Vanessa“, setzte er noch einmal an. „Was halten Sie von einem Waffenstillstand?“

3. KAPITEL

Ein Waffenstillstand?

Vanessa musterte Marcus prüfend. Ob er es ernst meinte? Aber alles, worauf sie sich konzentrieren konnte, war sein Haar mit der einzelnen Strähne, die sich gelöst hatte und ihm nun in die Stirn fiel. Sie spürte das starke Verlangen, ihm die Strähne zurückzustreichen. Und warum nur wanderte ihr Blick immer wieder zu seiner sonnengebräunten Haut, die unter seinem Hemd hervorblitzte?

„Warum?“, fragte sie.

„Wollten Sie nicht, dass ich Ihnen eine Chance gebe?“

„Doch. Aber Sie schienen von der Idee zunächst nicht sehr begeistert zu sein.“

„Da habe ich ja auch noch nicht gewusst, wie viel Zeit wir in den nächsten Wochen miteinander verbringen werden.“

„Was heißt das?“

„Mein Vater möchte gern, dass wir uns besser kennenlernen. Er hat mich gebeten, mich als Ihr Gesellschafter um Sie zu kümmern. Bis er wieder da ist, soll ich dafür sorgen, dass Ihnen und Ihrer Tochter nicht langweilig wird.“

Verdammt, was hatte Gabriel da angerichtet? Gezwungen, mit ihr Zeit zu verbringen, würde Marcus sie nur noch mehr verabscheuen. Ganz zu schweigen davon, dass er so etwas an sich hatte … So etwas, bei dem sie über ihre eigenen Füße stolperte und dumme Sachen anstellte. Ihn beleidigte … oder ihn anstarrte.

„Ich brauche keinen Gesellschafter. Mia und ich kommen auch allein zurecht.“

„Zu Ihrer Sicherheit dürfen Sie den Palast aber nicht ohne Begleitung verlassen. Außerdem ist es der Wunsch meines Vaters, dass jemand Sie begleitet.“

„Was ist mit Tabitha?“

„Sie wird zu meinem Vater nach Italien fliegen. Sie ist immer an seiner Seite. Einige Leute glauben sogar …“ Er hielt inne und schüttelte den Kopf. „Ach, egal.“

Hatte er die Andeutung absichtlich gemacht? Wie gut kennst du Gabriel wirklich? Möglicherweise hatte er wer weiß wie viele Geliebte, und es gab gar keine kranke Schwägerin. Vielleicht war er gerade mit einer seiner Geliebten zusammen. Vielleicht …

Hör auf damit!

Sie vertraute Gabriel. Warum hatte sie sich von Marcus’ plumper Andeutung verunsichern lassen? Es war schließlich nicht Gabriels Schuld, dass bisher jede ihrer Beziehungen in einer Katastrophe geendet hatte. Wenn er wollte, dass sie Marcus in den nächsten Wochen besser kennenlernte, dann würde sie das versuchen. „Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als meine Zeit mit Ihnen zu verbringen.“

Marcus verzog das Gesicht. „Wenn der Gedanke an meine Gegenwart so abstoßend für Sie ist …“

„Nein! Keineswegs! Ich möchte Sie wirklich gern besser kennenlernen, Marcus. Aber Sie sollen sich nicht dazu gezwungen fühlen. Ich kann mir wahrscheinlich nicht einmal annähernd vorstellen, wie schwer das für Sie sein muss … mit mir. Wie sehr Sie der Tod Ihrer Mutter geschmerzt haben muss. Soweit ich gehört habe, muss sie eine bemerkenswerte Frau gewesen sein. Niemals würde ich auch nur versuchen, ihren Platz einzunehmen. Ich möchte nur, dass Gabriel glücklich ist. Und wenn wir beide uns gut verstehen, dann können wir bestimmt dazu beitragen.“

„Gut, ich gebe zu, dass ich vielleicht etwas vorschnell geurteilt habe. Und wie ich betonen möchte, zwingt mein Vater mich keineswegs. Ich hätte ihm seine Bitte auch abschlagen können. Allerdings weiß ich, wie wichtig es ihm ist.“

Damit hatte er sich zwar noch nicht für sein Benehmen entschuldigt, aber es war schon mal ein Anfang. Vanessa hoffte, er meinte wirklich, was er sagte. „In dem Fall wäre es mir eine Ehre, wenn Sie mir Gesellschaft leisten.“

„Also, Waffenstillstand?“ Er trat näher, die Hand ausgestreckt. Verdammt, wie gut er roch! Ein würziger Duft ging von ihm aus, und am liebsten hätte sie die Nase an seinen Hals gepresst und tief eingeatmet.

Nein! Das will ich ganz bestimmt nicht!

Sie wollte auch nicht schon wieder dieses Prickeln spüren! Und doch war es da, als sie seine Hand nahm. Wie konnte ein Mann, den sie nicht mochte, solche Gefühle bei ihr auslösen?

„Mein Vater hat vorgeschlagen, dass ich Sie morgen in unsere kleine Stadt begleiten könnte. Sagen Sie mir einfach, was Sie gern sehen oder tun möchten.“

Im Grunde hätte sie nichts dagegen gehabt, eine Woche faul am Pool zu liegen. Aber Gabriel erwartete natürlich, dass sie sich die Gegend ansah. Nur so konnte sie entscheiden, ob sie tatsächlich hier leben wollte. „Wenn mir etwas einfällt, sage ich es Ihnen.“

„Dann schlage ich vor, wir treffen uns morgen früh um zehn.“

„Einverstanden.“

Er nickte. Als er aus dem Zimmer ging, schloss er die Tür hinter sich.

Vanessa setzte sich auf den Boden neben Mia, die mittlerweile glücklich und zufrieden einfach auf dem Bauch lag und auf einen Zahnring biss.

Bei dem Gedanken, so viel Zeit mit Marcus zu verbringen, wurde Vanessa etwas mulmig. Nur hatte sie keine andere Wahl. Immerhin: Wenn das Personal erst einmal sah, dass sie sich mit Marcus gut verstand, würde es vielleicht etwas auftauen.

Das Handy klingelte, und Vanessa sprang schnell auf, in der Hoffnung, Gabriel riefe noch einmal an.

Es war ihre beste Freundin Jessy. „Hey, ich bin gerade aufgewacht und habe deine SMS gelesen. „Wie war der Flug?“

„Ein Albtraum. Mia hat so gut wie gar nicht geschlafen.“ Sie lächelte ihrer Tochter zu, die noch immer den Ring malträtierte. „Aber sie scheint sich schnell einzugewöhnen.“

„Hat Gabriel sich gefreut, dich zu sehen?“

Vanessa zögerte. Sie wollte Jessy nicht anlügen, und gleichzeitig wollte sie das Misstrauen, das ihre beste Freundin bereits geäußert hatte, nicht noch anheizen. Aber wenn sie nicht mit Jessy reden konnte, mit wem dann? „Leider musste er seine Pläne ändern.“ Sie erzählte von Gabriels Schwägerin, und warum er bei ihr sein wollte. „Ich weiß, was du jetzt denkst.“

„Es stimmt, ich habe dir abgeraten, diese Reise zu unternehmen. Aber du wirst schon wissen, was für dich und Mia am besten ist.“

„Das glaubst du nicht wirklich, oder?“

„Doch! Aber ich mache mir trotzdem Sorgen um dich. Und ich hasse den Gedanken, du könntest von hier fortziehen. Aber das sollte für dich keine Rolle spielen.“

Für Vanessa tat es das jedoch sehr wohl. Seit sie nach Los Angeles gezogen war, waren ihre Freundin und sie unzertrennlich gewesen. Jessy war zwar viel zurückhaltender als Vanessa, aber sie war ebenfalls äußerst attraktiv. Sie wusste, was es bedeutete, immer nur das „hübsche Mädchen“ zu sein. Außerdem hatte sich auch Jessy oft genug für die falschen Männer entschieden, wenngleich ihr jetziger Freund Wayne offensichtlich endlich der Richtige für sie war.

„Und was machst du, bis Gabriel wieder da ist?“, fragte Jessy.

„Sein Sohn wird mir das Land zeigen.“

„Sieht er genauso blendend aus wie auf dem Foto, das du mir gezeigt hast?“

Leider ja … „Auf einer Skala von eins bis zehn gebe ich ihm eine Fünfzehn.“

„Wenn es mit Gabriel nicht klappen sollte, dann hast du also schon eine Alternative“, meinte Jessy neckend.

„Habe ich übrigens erwähnt, dass er ein Idiot ist? Und er scheint mich nicht gerade zu mögen. Auch wenn ich nicht weiß, warum.“ Sie nahm Mia ein paar Teppichflusen aus der Faust, bevor die Kleine sie in den Mund steckte. „Gabriel möchte, dass wir uns anfreunden. Mir würde es schon reichen, wenn Marcus mir nicht allzu offen zeigt, wie sehr er mich ablehnt.“

„Vanessa, du bist einer der liebenswertesten, nettesten, rücksichtsvollsten Menschen, die ich kenne. Wie kann er da etwas gegen dich haben?“

„Seine Ausstrahlung ist so … so stark“, erklärte sie. „Wenn er einen Raum betritt, dann ist er einfach da. Es ist fast schon beängstigend.“

„Er ist eben ein Prinz.“

„Und Gabriel ist König. Aber bei ihm habe ich mich einfach immer nur geborgen gefühlt.“

„Versteh mich nicht falsch, aber vielleicht ist Gabriel so etwas wie eine Vaterfigur für dich.“

„Mein Dad ist eine solch mächtige Vaterfigur, das reicht für ein zweites Leben.“

„Aber du hast ständig geklagt, dich bei ihm wie eine Versagerin zu fühlen, weil er immer etwas an dir auszusetzen hat.“

Das war richtig, und Vanessa genoss die verständnisvolle Aufmerksamkeit von Gabriel. Dennoch hatte sie nie nach einem Vaterersatz gesucht. Die Männer, zu denen sie sich in der Vergangenheit hingezogen gefühlt hatte, hatten versucht, sie zu kontrollieren und zu dominieren. Und alle waren Männer mit einer starken Präsenz gewesen. So wie Marcus …

„Ich vertraue Marcus nicht“, sagte sie. „Schon seit ich aus dem Flugzeug stieg, hat er keinen Zweifel daran gelassen, dass er mich nicht mag.“

„Glaubst du, er will Gabriel und dich auseinanderbringen?“

„Im Moment weiß ich wirklich nicht, was ich denken soll.“ Sie war sich nur sicher, dass irgendetwas an Marcus sie beunruhigte, und es war kein schönes Gefühl. Aber bis Gabriel zurückkam, war sie mehr oder weniger von seinem Sohn abhängig.

„Ich muss dir auch etwas erzählen“, platzte Jessy in ihre Gedanken. „Wayne hat mich nach Arkansas eingeladen, zum vierzigsten Hochzeitstag seiner Eltern. Damit ich seine Familie kennenlerne.“

„Und du fährst, oder?“

„Na klar! Weißt du, wann mich ein Mann das letzte Mal seiner Familie vorgestellt hat? Und wann ich das letzte Mal überhaupt scharf darauf gewesen bin? Allerdings leben sie irgendwo auf dem Land, wo der Handy-Empfang ziemlich schlecht ist. Ich mache mir Sorgen, dass du mich vielleicht erreichen willst und ich dann nicht …“

„Jessy, mir wird schon nichts passieren! Und im schlimmsten Fall kann ich immer noch meinen Vater anrufen.“

„Bist du dir sicher?“

„Na klar! Mit Prinz Marcus werde ich schon zurechtkommen.“

Sie konnte nur hoffen, dass sie damit recht hatte.

Marcus war sich so sicher gewesen, dass er Vanessa von Anfang an durchschaut hatte. Doch nachdem sie den Tag gemeinsam im Städtchen verbracht hatten, kamen ihm Zweifel.

Tabitha, die wie immer die Interessen des Königs im Auge behielt, hatte Marcus wegen der Kreditkarte gewarnt, die sie für Vanessa besorgen musste. Marcus bereitete daher den Chauffeur schon einmal darauf vor, dass er später wahrscheinlich Unmengen an Tüten und Paketen zu tragen haben würde. Bis zum Nachmittag gingen sie dann auch in mindestens ein Dutzend Läden – Souvenirshops, teure Boutiquen, Juweliere.

Und Marcus sah genau, wie Vanessa die Kleider bewunderte und sich gar nicht losreißen konnte von einem Paar nicht einmal besonders teurer Ohrringe. Aber sie kaufte nichts – nur ein T-Shirt für ihre Tochter, eine Postkarte, die sie, wie sie sagte, an eine Freundin in Los Angeles schicken wollte, und einen Liebesroman – ihr einziges Laster, wie sie ihm mit einem verlegenen Lächeln gestand. All das bezahlte sie bar. Die größte Überraschung erlebte Marcus allerdings, als er ihre Unterhaltung mit einem Verkäufer mitbekam: Sie sprach fließend die Landessprache.

„Sie haben gar nicht gesagt, dass Sie unsere Sprache beherrschen“, sagte er, als sie den Laden verließen.

Sie zuckte nur die Schultern. „Sie haben mich nicht gefragt.“

Das war richtig. Vieles an ihr verwirrte ihn. Sie war weltgewandt und kannte viele Länder, und dennoch zeigte sie noch immer eine kindliche Freude und Neugier an allem, was sie besichtigten. Ihr Enthusiasmus war so ansteckend, dass auch Marcus seine Heimat mit neuen Augen zu sehen begann.

Vanessa war intelligent. Sie wirkte selbstsicher und elegant, zugleich bezaubernd ungeschickt, wenn sie in einem Laden etwas herunter stieß oder über eine Türschwelle – oder die eigenen Füße – stolperte. Während sie hingerissen eine alte Kirche betrachtete, lief sie gegen eine Touristin, die gerade ein Foto schoss. Und das war ihr keineswegs peinlich! Sie lachte einfach herzlich, entschuldigte sich bei der Frau und machte ihr sogar noch ein Kompliment für ihre Schuhe.

Außerdem hatte Vanessa die vergnügliche Angewohnheit, genau das zu sagen, was sie dachte. Ohne lange darüber nachzudenken, egal, ob sie sich blamierte.

Sie war erfrischend unkonventionell.

Noch vor vierundzwanzig Stunden wäre er froh gewesen, sie nie wiedersehen zu müssen. Aber jetzt saß er mit ihr im Schatten eines Olivenbaums auf einer Decke im Garten des Jachtklubs von Varieo und sah ihr zu, wie sie mit gutem Appetit Salami, Brot und Käse aß. Zwischen ihnen turnte Mia herum, noch immer schaukelte sie unermüdlich auf Händen und Knien vor und zurück. Marcus war verwirrt; eine beunruhigende Mischung aus Ratlosigkeit, Argwohn und Faszination hielt ihn gefangen.

„Sie waren wohl sehr hungrig“, bemerkte er, als Vanessa sich das letzte Käsestück in den Mund steckte.

Die meisten Frauen wären bei einer solchen Bemerkung wohl zusammengezuckt, hätten sich vielleicht sogar angegriffen gefühlt. Aber ihr schien es nichts auszumachen.

„Ich unterzuckere schnell, darum muss ich mindestens fünf, sechs Mal am Tag etwas essen. Trotzdem nehme ich nicht zu. Noch ein Grund mehr für andere Frauen, mich zu hassen.“

„Warum sollten andere Frauen Sie hassen?“

„Machen Sie Witze? Eine Frau, die alles essen kann, was sie will, und trotzdem kein einziges Pfund zunimmt – für manche Leute ist das unverzeihlich. Als ob ich etwas dafür könnte, schön und schlank zu sein! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft ich mir als Teenager gewünscht habe, ein ganz gewöhnliches Mädchen zu sein.“

„Ich dachte, alle Frauen möchten schön sein?“

„Die meisten ja. Aber nur sie selbst sollen schön sein, nicht die anderen. Deshalb war ich bei den Mädchen unbeliebt.“

Während sie das sagte, geriet Mia ins Straucheln und plumpste gegen Marcus’ Bein. Sie lächelte ihm zu und brabbelte fröhlich vor sich hin. Er konnte gar nicht anders als zurückzulächeln. „Hatten Sie denn gar keine Freundinnen?“

„Die meisten Mädchen hatten irgendwie Angst vor mir. Erst nach einiger Zeit tauten sie auf. Doch dann wurde mein Vater versetzt, und ich musste in einer neuen Schule von vorn beginnen.“

„Sind Sie oft umgezogen?“

„Mindestens einmal im Jahr. Mein Vater ist bei der Armee.“

Marcus konnte sich das nur schwer vorstellen. Er hatte gedacht, sie wäre in einem vornehmen Stadtteil aufgewachsen, mit einer wunderschönen, aber ehrgeizigen Mutter und einem Vater, der Manager in irgendeiner Firma war, und der seine Tochter nach Strich und Faden verwöhnte. „An wie vielen Orten haben Sie gelebt?“

„An zu vielen. Mein Vater war für Schulungen an speziellen Waffen zuständig, darum wurde er ständig versetzt. Wir haben in Deutschland, Bulgarien, Israel, Japan und Italien gelebt. Und in den USA auf elf verschiedenen Militärbasen in acht Staaten. Das alles, bevor ich achtzehn war. Manchmal glaube ich, das ständige Umziehen hat Dad geholfen, mit dem Tod meiner Mutter zurechtzukommen.“

Dass auch sie ihre Mutter verloren hatte, kam für ihn überraschend. „Wann ist sie gestorben?“

„Als ich fünf war. An einer Grippe.“

Seit dem Tod seiner Mutter fühlte Marcus sich, als würde eine schwere schwarze Wolke auf ihm lasten. Er bezweifelte, dass er je wieder so glücklich sein würde wie vor ihrem Tod. Vanessa schien jedoch trotz ihres Verlusts positiv und unbeschwert in die Zukunft zu schauen.

„Sie war erst sechsundzwanzig.“

„Das ist sehr jung.“

„Sie hatte sich schon eine ganze Zeit nicht gut gefühlt, und als es immer schlimmer wurde und sie endlich zum Arzt ging, da hatte sie schon eine Lungenentzündung. Dad war zu der Zeit gerade am Persischen Golf stationiert. Er ist nie darüber hinweggekommen, dass er nicht da war.“

Marcus konnte es nicht fassen, wie jemand so jung – und noch dazu an etwas so Alltäglichem – sterben konnte.

„Und was ist mit Ihnen?“, fragte Vanessa. „Wo haben Sie schon gelebt?“

„Ich war an vielen Orten. Aber gelebt habe ich immer nur hier im Palast.“

„Wollten Sie nie einfach ausbrechen und alles hinter sich lassen?“

Er wusste nicht, wie oft er das schon gewollt hatte. „Mein Platz ist hier“, sagte er. „Das wird auch von mir erwartet.“

Mia brabbelte etwas und wedelte mit den Armen, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er kitzelte sie unterm Kinn, und sie gluckste fröhlich.

„Wenn ich noch immer bei meinem Vater leben müsste, hätte man mich schon längst in eine Gummizelle gesteckt.“ Vanessa zog eine Miene, als habe sie in eine Zitrone gebissen. „Nie konnte ich ihm etwas recht machen.“

„Er freut sich bestimmt, wenn Sie jetzt einen König heiraten.“

„Selbst wenn ich ihm sagen würde, ich trete in Mutter Teresas Fußstapfen, würde er noch etwas daran auszusetzen finden. Außerdem habe ich ihm nichts davon gesagt. Nur ein einziger Mensch weiß, wo ich bin: meine beste Freundin Jessy.“

„Warum machen Sie so ein Geheimnis daraus?“

„Ich will mir erst ganz sicher sein, ob ich Gabriel wirklich heiraten möchte.“

„Warum sollten Sie ihn nicht heiraten wollen?“

Vanessa zögerte. Sollte sie wirklich mit Marcus über ihr Verhältnis zu Gabriel sprechen? So schlimm war Marcus gar nicht. Am Anfang waren sie beide noch reserviert gewesen, aber dann hatte Vanessa bald herausgefunden, dass er seinem Vater viel ähnlicher war, als sie vermutet hatte. Manchmal fand sie ihn anstrengend. Andererseits war er jedoch sehr intelligent, er besaß einen wachen Verstand und einen trockenen Humor. Seine Abneigung gegen sie schien mittlerweile nachgelassen zu haben. Außerdem mochte er Mia.

„Sie möchten wahrscheinlich nicht darüber reden“, sagte Marcus in einem Tonfall, als wolle sie etwas verheimlichen.

Ihr Verhältnis zu Gabriel ging Marcus eigentlich nichts an. Doch wenn sie ihm nicht antwortete, musste es so aussehen, als hätte sie etwas zu verbergen. „Meine Beziehung zu Gabriel ist … kompliziert.“

„Was kann daran kompliziert sein? Sie lieben ihn doch, oder nicht?“

„Ja, natürlich, ich liebe ihn. Auf eine gewisse Weise. Ich bin nur nicht sicher, ob ich wirklich in ihn verliebt bin.“

„Und was ist da der Unterschied?“

Wusste er das wirklich nicht? Oder wollte er nur, dass sie sich um Kopf und Kragen redete? „Ihr Vater ist ein wirklich bewundernswerter Mensch. Er ist klug und liebenswürdig. Ich liebe ihn wie einen Freund, und ich möchte, dass er glücklich ist. Und mich zu heiraten, würde ihn glücklich machen. Zumindest hat er das gesagt. Außerdem möchte ich nicht, dass Mia ohne Vater aufwächst.“

„Aber?“ Marcus streckte seine langen muskulösen Beine aus.

„Aber ich will auch, dass ich glücklich bin.“

„Und mein Vater macht Sie nicht glücklich?“

„Doch, schon, aber …“ Vanessa stöhnte. Es ließ sich also nicht vermeiden. „Was meinen Sie, wie weit man vor der Ehe gehen sollte?“

Ohne zu zögern, erwiderte er: „Nun, es gibt moralische Grenzen.“

„Dann wollen Sie also sagen, es sei nur für ihren Vater unmoralisch, vor der Ehe Sex zu haben? Und Sie dürfen?“

„Mein Vater gehört zu einer anderen Generation. Er denkt anders.“

„Ich finde, zwei Menschen sollten wissen, ob sie auch im Bett harmonieren, ehe sie sich in eine Ehe stürzen. Seien wir einmal ehrlich: Sex ist ein wichtiger Bestandteil jeder Beziehung. Meinen Sie nicht?“

„Doch.“

„Gabriel hingegen ist sehr altmodisch. Noch nicht einmal ein Kuss kommt infrage, bevor wir offiziell verlobt sind. Und Sex vor der Ehe ist für ihn ein absolutes Tabu.“

„Ich soll also ernsthaft glauben, Sie und mein Vater hätten noch nie …“ Er schien sich nicht überwinden zu können, es auszusprechen.

Vanessa war amüsiert. „Überrascht Sie das wirklich? Ich weiß nicht, warum ich Ihnen all das erzähle. An Ihrer Meinung über mich wird es ja ohnehin nichts ändern. Im Grunde sollte es mir egal sein, ob Sie mich mögen, aber leider ist es das nicht. Ich weiß nicht, warum.“

Marcus schien verunsichert zu sein. „Es stimmt nicht, dass ich Sie nicht mag.“

„Aber Sie vertrauen mir nicht. Zu Recht, schließlich vertraue ich Ihnen ebenso wenig.“

Marcus lachte nur, was Vanessa verwirrte.

„Finden Sie das etwa lustig?“

„Was ich lustig finde, ist, dass Sie es mir so direkt ins Gesicht sagen. Halten Sie sich mit ihrer Meinung eigentlich nie zurück?“

„Doch, manchmal.“ Beispielsweise hatte sie ihm noch nicht gesagt, wie sexy sein Po war. Oder wie schön sein kurzärmliges weißes Hemd seine sonnengebräunte Haut zur Geltung brachte. Und sie verriet ihm auch nicht, wie sehr der Bartschatten an seinem Kinn sie verlockte, sanft darüber zu streicheln. Oder wie der Schwung seiner Lippen bei ihr die Begierde weckte …

Nein, sie wollte nicht mehr daran denken. „Früher hat mein Vater mich nie ernst genommen. Er hatte eine Art, bei der ich mich immer klein und dumm gefühlt habe. Heute sage ich, was mir durch den Kopf geht, und ich bin eigentlich auch ganz zufrieden mit mir. Mein Leben ist vielleicht nicht perfekt, und ich habe noch immer Angst, Fehler zu machen.“

„Sie sind eine sehr schöne Frau, und mein Vater scheint wirklich verrückt nach Ihnen zu sein. Es dürfte Sie nicht allzu viel Anstrengung kosten, damit er seine Prinzipien vergisst.“

Schlug er ihr etwa vor, Gabriel zu verführen? Und warum durchlief sie ein kleiner Glücksschauer, als Marcus sagte, sie sei schön? Weshalb war ihr seine Meinung wichtig? „Das würde ich nie tun. Dafür bedeutet er mir viel zu viel.“

Mia begann zu jammern, und Vanessa nutzte die Gelegenheit, um dieses merkwürdige und absolut unpassende Gespräch zu beenden. Ganz egal, was sie tat oder sagte: Ihr Verhältnis zu Marcus schien immer komplizierter zu werden.

„Ich muss mit Mia in den Palast zurück. Sie braucht ihren Schlaf. Und ich auch.“ Marcus stand auf. „Gehen wir.“

Sie räumten gemeinsam die Picknicksachen zusammen, und zu Vanessas Überraschung nahm Marcus Mia auf den Arm, damit sie die Decke zusammenfalten konnte. Noch überraschter war sie darüber, wie selbstverständlich er Mia hielt und dass die Kleine sich an seine Schulter klammerte, als Vanessa sie ihm wieder abnehmen wollte.

Kleine Verräterin, dachte sie, aber dennoch musste sie lächeln. „Anscheinend will sie bei Ihnen bleiben.“ Es schien Marcus nichts auszumachen. Sie schlenderten zum Wagen zurück.

Vanessa erwartete, dass sie direkt zum Palast zurückfahren würden, aber Marcus ließ den Chauffeur vor einem der Geschäfte halten, in denen sie zuvor gewesen waren. Als er wenige Minuten später wieder herauskam, hatte er ein kleines Päckchen bei sich. Er ließ es in seiner Hosentasche verschwinden, bevor er wieder ins Auto stieg. Obwohl Vanessa neugierig war, wagte sie es nicht, zu fragen. Wahrscheinlich hatte er ein Geschenk für seine aktuelle Freundin besorgt. Wie Gabriel angedeutet hatte, mangelte es seinem Sohn nie an weiblicher Gesellschaft.

Während sie weiterfuhren, schlief Mia ein. Sie hielten vor dem Schlossportal, und noch bevor Vanessa sich ihrer Tochter zuwenden konnte, hatte Marcus sie schon aus dem Kindersitz befreit und hochgenommen.

„Ich kann sie tragen“, sagte Vanessa.

„Ich habe sie schon.“ Er trug sie nicht nur nach oben ins Kinderzimmer, er legte sie auch noch in die Wiege und deckte sie zu … Wie ein Vater, dachte Vanessa. Tief in ihrem Innern spürte sie einen Stich bei dem Gedanken, was Mia in ihrem kurzen Leben ohne Vater schon versäumt hatte. Denn sie selbst wusste, was es bedeutete, wenn ein Elternteil fehlte. Deshalb hoffte sie von ganzem Herzen, Gabriel würde diese Lücke füllen.

„Sie war wirklich lieb heute.“ Marcus lächelte Mia an, die tief und fest schlief.

„Im Grunde ist sie total pflegeleicht. Gestern haben Sie sie in einem schlechten Moment erlebt.“

Vanessa bat Karin, auf Mia aufzupassen, damit sie selbst kurz schlafen konnte. Vielleicht war es doch ganz praktisch, eine Nanny zu haben. Marcus begleitete sie zu ihrer Suite. Vor der Tür drehte sie sich zu ihm um. „Danke, dass Sie mir heute die Stadt gezeigt haben. Es war ein sehr schöner Tag.“

„Und das hat Sie überrascht?“

„Ja. Ich dachte, es könnte auch ganz anders kommen.“

Seine Mundwinkel zuckten … Dann lächelte er, und Vanessa konnte ihren Blick nicht von seinen Grübchen losreißen.

„War das jetzt zu ehrlich?“, fragte sie.

„Anscheinend gewöhne ich mich schon an Ihre Ehrlichkeit.“ Er grinste herausfordernd. „Mein Vater möchte, dass ich morgen mit Ihnen ins Historische Museum gehe.“

„Eigentlich bin ich noch ganz schön erschöpft von der Reise. Ich habe eher an einen erholsamen Tag am Pool gedacht. Aber fühlen Sie sich bloß nicht verpflichtet, uns Gesellschaft zu leisten. Sie haben bestimmt anderes zu tun.“

„Dann verschieben wir das Museum auf einen anderen Tag?“

Vanessa nickte. „Das wäre wunderbar.“

Er wollte sich schon abwenden, da fiel ihm noch etwas ein. „Das hätte ich jetzt fast vergessen.“ Er zog das Päckchen aus der Hosentasche und reichte es ihr. „Das ist für Sie.“

Verblüfft nahm sie es entgegen. „Was ist es?“

„Machen Sie es auf.“

Sie öffnete das Päckchen. Als sie sah, was darin war, stockte ihr der Atem. „Aber … Woher wussten Sie das?“

„Ich habe gesehen, wie Sie sie bewundert haben.“

Vanessa nahm die Ohrringe in die Hand. Sie waren handgefertigt, aus Silber mit kleinen Smaragden. Sie hatte sich sofort in sie verliebt, aber die hundertfünfzig Euro waren ihr zu viel gewesen.

„Sie sind wunderbar, Marcus.“ Sie sah ihn an. „Aber ich verstehe nicht.“

„Wenn mein Vater bei Ihnen gewesen wäre, dann hätte er die Ohrringe sicher sofort gekauft. So habe ich es eben an seiner Stelle gemacht.“

Vanessa wurde den Gedanken nicht los, dass es doch mehr zu bedeuten hätte. Viel mehr. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Vielen Dank.“

Vanessa mochte es gar nicht, wenn Gabriel etwas für sie kaufte. Als würde er glauben, sich ihre Zuneigung erkaufen zu müssen. Marcus hingegen hatte keinen Grund, ihr etwas zu schenken. Außer, weil er es wollte. Sein Geschenk kam von Herzen – mehr als jedes Geschenk von Gabriel es konnte. Zumindest sah Vanessa es so.

Sie unterdrückte die Tränen reiner Freude, überrascht, wie viel ihr die Geste bedeutete. „Ich muss mich jetzt verabschieden. Gabriel wird mich gleich anrufen.“

„Natürlich. Wir sehen uns morgen.“

Sie sah ihm nach, bis er um die Ecke bog. Weil es Gabriel so wichtig war, hatte sie sich mit Marcus anfreunden wollen, auch wenn ihr das gestern noch aussichtslos erschienen war. Doch jetzt schien Gabriels Wunsch wahr zu werden.

Marcus stieß sich vom Beckenrand ab und schwamm seine letzte Bahn. Er durchpflügte das Wasser, schon müde von den zusätzlichen dreißig Minuten Training, die er eingelegt hatte. Im Wasser hatte er über das Gespräch mit Vanessa nachgedacht. Wenn sie die Wahrheit sagte und tatsächlich nicht mit seinem Vater im Bett gewesen war, warum war sein Vater ihr dann verfallen? Wegen ihrer Jugend und der Aussicht auf einen Neubeginn?

Seine Mutter hatte ihm vor langer Zeit gestanden, dass sie sich eigentlich noch mehr Kinder gewünscht hatten. Aber nach Komplikationen bei Marcus’ Geburt konnte sie keine Kinder mehr bekommen. Vielleicht sah sein Vater jetzt seine Chance, weitere Kinder zu haben. Eine so hingebungsvolle Mutter wie Vanessa würde sich gewiss nicht mit einem Kind zufriedengeben.

Vielleicht zog ihn an Vanessa auch einfach all das an, was Marcus heute gesehen hatte. Sie war eine Frau, die klug, lustig und ein wenig exzentrisch war. Und natürlich wunderschön.

So schön, dass du ein Geschenk für sie kaufen musstest?

Er sah wieder Vanessas überraschten Gesichtsausdruck vor sich, als sie das Päckchen öffnete.

Kurz hatte er sogar gedacht, ihr würden gleich die Tränen kommen. Und das wegen eines so geringfügigen Geschenks. Wenn es ihr nur ums Geld ging, sollte man dann nicht erwarten, dass sie etwas anderes als Diamanten ablehnen würde?

Vielleicht war mein Geschenk unbewusst eine Art Test, überlegte Marcus. Diesen Test hatte Vanessa jedenfalls mit Bravour bestanden.

Irgendwie mochte er Vanessa, auch wenn er es gar nicht wollte. Eine Frau wie sie hatte er noch nie kennengelernt.

Sein Handy läutete. Wahrscheinlich sein Vater mit Neuigkeiten von Tante Trina. Aber als er die Nummer auf dem Display sah, fluchte er im Stillen. Es war ihm ganz egal, was seine Ex ihm noch zu sagen hatte. Nachdem sie ihn drei Wochen mit Anrufen und Kurznachrichten bombardiert hatte, ohne eine Antwort von ihm zu bekommen, sollte sie doch langsam verstanden haben.

Eigentlich konnte Marcus Frauen nichts abgewinnen, die allzu offensiv waren. Doch irgendwann hatte er Carmela nachgegeben, die nicht lockergelassen hatte – außerdem war sie sexy und sinnlich und mit einem Traumkörper gesegnet. Und da sie aus einer reichen, einflussreichen Familie stammte, hatte er nicht befürchten müssen, sie wäre nur hinter seinem Geld her. Nach sechs Monaten hatte er sogar schon an Hochzeit gedacht, bis ihm endlich klar wurde, wie oberflächlich ihre Beziehung eigentlich war. Es ging nur um Sex; zu tieferen Gefühlen schien Carmela nicht fähig zu sein.

Das Telefon zeigte eine neue Nachricht an, natürlich von ihr.

„Es reicht“, knurrte er und schleuderte das Handy in den Pool. Als er seinen Blick vom Wasser hob, hin zum Kiesweg auf der anderen Beckenseite, bemerkte er, dass er eine Zuschauerin hatte.

Vanessa stand auf dem Kiesweg und beobachtete, wie Marcus’ Handy in den Pool platschte und langsam nach unten sank.

„Eigentlich gibt es keinen Tag, an dem ich nicht das Gleiche tun will. Obwohl ich meistens eher daran denke, es vom Hoteldach zu werfen oder von einem vorbeifahrenden Laster überrollen zu lassen“, sagte sie.

Marcus fuhr sich durch die nassen Haare. Die letzten Strahlen der Abendsonne tauchten seine muskulöse Brust, seine kräftigen Arme und die langen Beine in einen warmen Schimmer. Und seine Badehose mochte zwar das Wichtigste bedecken, aber sie war nass und gab somit doch ziemlich viel preis.

Verdammt, ich bin ja schlimmer als eine Zwölfjährige, dachte Vanessa. Als hätte ich noch nie zuvor einen fast nackten Mann gesehen. Allerdings war keiner von ihnen so … so zum Anbeißen gewesen.

Vergiss nicht, das ist der Sohn deines Beinahe-Verlobten!

„Das war kindisch von mir, ich weiß.“

„Hat es sich denn zumindest gut angefühlt?“

Er musste lächeln. „Ja. Und ich brauchte ohnehin ein neues Handy.“

„Dann war es das doch wert.“

Autor

Raye Morgan
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