Julia Extra Band 461

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VERBOTENE KÜSSE NACH DIENSTSCHLUSS von CHANTELLE SHAW
Als Millionär Torre Romano die Frau wiedersieht, mit der er einst eine leidenschaftliche Nacht verbrachte, fühlt er sich erneut zu ihr hingezogen. Doch er weiß: Orla Brogan ist eine gewissenlose Betrügerin. Darf er sie unter diesen Umständen wirklich zu seiner Assistentin machen?

MEIN HERZ LÄSST SICH NICHT KAUFEN! von LUCY GORDON
Eine Million Pfund! So viel bietet Vittorio Martelli ihr an, um eine alte Schuld zu tilgen. Damit könnte Jackie ein neues Leben beginnen. Doch ihr Stolz verbietet der jungen Engländerin, das unmoralische Angebot des galanten Conte anzunehmen, auch wenn ihr Herz längst für ihn schlägt …

VERLIEBT IN DEN SEXY BOSS von SUSAN MEIER
Tycoon Mitch Ochoa braucht dringend eine Verlobte. In der Not bittet er seine Mitarbeiterin Lila, die Rolle zu spielen. Doch als die sonst so unscheinbare Lila plötzlich in High Heels vor ihm steht, fragt Mitch sich, ob seine Assistentin nicht auch eine andere Rolle übernehmen könnte … die seiner Geliebten?

DAS KINDERMÄDCHEN UND DER MILLIONÄR von KATE HARDY
Der reiche Witwer Jamie Wallis ist erleichtert, in der jungen Sophie endlich eine geeignete Nanny für seine Tochter gefunden zu haben. Doch obwohl er geschworen hat, sich nie wieder zu verlieben, bleiben ihm Sophies Reize nicht lange verborgen …


  • Erscheinungstag 08.01.2019
  • Bandnummer 0461
  • ISBN / Artikelnummer 9783733712815
  • Seitenanzahl 450
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Chantelle Shaw, Lucy Gordon, Susan Meier, Kate Hardy

JULIA EXTRA BAND 461

CHANTELLE SHAW

Verbotene Küsse nach Dienstschluss

Soll Orla sich wirklich auf eine Affäre mit ihrem Boss Torre Romano einlassen? Zu dunkel sind die Erinnerungen an die Vergangenheit. Doch sie kann sich der Anziehung des aufregenden Millionärs einfach nicht entziehen …

LUCY GORDON

Mein Herz lässt sich nicht kaufen!

Für seinen verstorbenen Vater soll Conte Vittorio Martelli eine alte Schuld tilgen. Doch die junge Engländerin Jackie weigert sich, das Geld anzunehmen. Ahnt sie, dass er ihr etwas verheimlicht?

SUSAN MEIER

Verliebt in den sexy Boss

Lila kann es nicht fassen: Ihr Boss Mitch Ochoa bittet sie, seine Verlobte zu spielen. Die Rolle sollte ihr leichtfallen: Schließlich ist sie seit Langem heimlich in den smarten Geschäftsmann verliebt …

KATE HARDY

Das Kindermädchen und der Millionär

Um Tycoon Jamie Wallis als Geschäftspartner zu gewinnen, willigt die junge Sophie ein, sich um dessen Tochter zu kümmern. Doch Sophie wird zu spät bewusst, wie gefährlich ihr attraktiver Auftraggeber ihr werden kann …

1. KAPITEL

„Ich verstehe nicht, warum du die Tochter deiner Ex-Frau zu deiner Geburtstagsfeier einladen musst“, sagte Torre Romano und sah seinen Vater fragend an. Gerade hatte er noch den Ausblick von der Villa Romano auf die Amalfiküste genossen, die man von seinem eigenen Haus in Ravello, das höher an der Felsküste lag, noch besser sah. Doch dann hatte sein Vater mit seiner Ankündigung jenes Gefühlschaos in Torre wachgerufen, das Orla Brogan noch immer in ihm auslöste.

„Ich habe meinen Stiefsohn eingeladen“, antwortete Giuseppe. „Warum sollte ich nicht auch meine Stieftochter einladen?“

„Das ist etwas anders. Jules ist als kleiner Junge mit seiner Mutter hergezogen, und du warst wie ein Vater für ihn.“ Torre wich Giuseppes prüfendem Blick aus. „Aber an Orla kann ich mich kaum erinnern“, fuhr er fort und ärgerte sich darüber, dass das nicht stimmte. „Ich habe sie nur einmal gesehen – als du ihre Mutter geheiratet hast, mit der du dann nur ein paar Jahre zusammengeblieben bist. Die paar Male, die Orla sie hier besucht hat, war ich immer weg.“

Torre sah Orla vor sich, wie sie unter ihm lag, ihre Haut weiß wie Milch, das bernsteinfarbene Haar über die Kissen ergossen. Unwillkürlich regte es sich bei ihm. Dio! Wie konnte es sein, dass sie ihm nach so vielen Jahren noch immer so naheging, obwohl sie nur eine einzige Nacht miteinander verbracht hatten?

Tatsächlich war sie die Einzige, die ihn je die Kontrolle über sich hatte verlieren lassen. Kaum, dass er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war es um seinen guten Vorsatz geschehen gewesen, sich nie von seinen Trieben lenken zu lassen. Nie so zu sein wie sein Vater.

Dessen Stimme holte Torre nun zurück ins Hier und Jetzt. „Orla war nicht mehr hier, seit Kimberly mich verlassen hat“, sagte der alte Mann. „Aber ich habe sie gern und freue mich, dass meine beiden Stiefkinder zu meinem Siebzigsten kommen. Ich bin gespannt, ob Jules gute Neuigkeiten für uns hat.“

„Was für Neuigkeiten?“

„Ich vermute, dass er vorhat, Orla zu heiraten. Guck nicht so erstaunt. Ich habe dir doch bestimmt gesagt, dass sie sich wiederbegegnet sind, als er vor ein paar Monaten in der Londoner Niederlassung von ARC angefangen hat. Vor Kurzem hat er angedeutet, dass er mehr für sie empfindet“, antwortete Giuseppe. „Es würde mich freuen, wenn die Stiefkinder aus meinen beiden letzten Ehen heiraten würden. Aber noch mehr würde ich mich freuen, wenn du endlich eine Familie gründen und für einen Erben sorgen würdest.“

Torre hatte keine Lust, mit seinem Vater darüber zu diskutieren, dass er mit bald vierunddreißig noch unverheiratet war. Er wollte so lange wie möglich Junggeselle bleiben, auch wenn er nachvollziehen konnte, dass Giuseppe sich einen Erben wünschte, der sein Familienunternehmen Alfonso Romano Construzione, kurz ARC, einmal leiten würde. Torre würde eines Tages seiner Verpflichtung nachkommen und eine Frau heiraten, die seine Interessen und Wertvorstellungen teilte. Aber er würde sich dabei im Gegensatz zu seinem Vater weder von seinen Hormonen noch von seinem Herzen leiten lassen.

Torre liebte seinen Vater und bewunderte dessen Geschäftssinn, mit dem er ARC zum wichtigsten Bauunternehmen Italiens gemacht hatte. Doch das Privatleben von Giovanni war weniger rühmlich. Er war seiner zweiten Frau Sandrine, Jules Mutter, immer wieder untreu gewesen. Sein Unvermögen, den zahllosen jungen Frauen zu widerstehen, die von seinem Reichtum angezogen wurden wie Motten vom Licht, hatte ihn zum Gespött der Klatschpresse gemacht.

Auch als Giuseppe sich vor acht Jahren von Sandrine hatte scheiden lassen, um das frühere Model Kimberly Connaught zu heiraten, hatte die Regenbogenpresse breit darüber berichtet. Torre war sofort klar gewesen, dass Kimberly nur hinter dem Geld seines Vaters her war, und er verstand nicht, wieso Giuseppe so dumm hatte sein können, auf sie hereinzufallen. Doch dann war er Orla begegnet, und noch auf der Hochzeitsfeier hatte er feststellen müssen, dass er kein Stück besser war als sein Vater.

„Es überrascht mich, dass du dich über eine Verbindung von Jules und Orla freuen würdest“, antwortete Torre. „Als ich vor einem Monat in England war, haben die Zeitungen über die Riesensumme berichtet, die sie als Abfindung bekommen haben soll, als sie sich von diesem berühmten Sportler hat scheiden lassen. Ihre Ehe mit ihm hat nicht mal ein Jahr gehalten. Offenbar hat Orla die Vorliebe, reiche Männer zu heiraten und sich wieder von ihnen scheiden zu lassen, von ihrer Mutter geerbt. Wenn sie jetzt hinter Jules her ist, dann gnade ihm Gott.“

„Ich gebe nicht viel auf das, was in den Zeitungen steht, und ich glaube nicht, dass Orla sich für Jules’ Geld interessiert“, erwiderte Giuseppe und musterte seinen Sohn aufmerksam. „Du äußerst dich nicht zum ersten Mal abfällig über sie, und das, obwohl du sagst, dass du dich kaum an sie erinnerst. Ist damals irgendetwas zwischen euch vorgefallen? Ich weiß noch, dass sie am Tag nach der Feier überstürzt abgereist ist.“

„Was soll da schon vorgefallen sein?“ Torre wich dem prüfenden Blick seines Vaters aus und verbannte das Bild von Orlas schlankem Körper aus seinem Kopf. Es belastete ihn, dass er nicht in der Lage war, die Erinnerung an sie komplett auszulöschen. Die anderen Frauen in seinem Leben kamen und gingen, ohne einen Eindruck zu hinterlassen, und er wusste nicht, warum es ihn so sehr aus der Ruhe brachte, zu wissen, dass Orla nach Amalfi kommen würde. „Ich mache mir nur Sorgen um Jules. Du weißt, was für ein Träumer er ist“, sagte er und verließ das Zimmer mit dem unguten Gefühl, dass Giuseppe etwas ahnte.

Wäre er dieser verwunschenen Rothaarigen bloß nie begegnet! Zum Glück war er schon am nächsten Morgen zur Besinnung gekommen. Und gerade hatte er genug damit zu tun, sowohl den Vorstands- als auch den Geschäftsführerposten von seinem Vater, der in den Ruhestand ging, zu übernehmen. Als studierter Bauingenieur besuchte er die Bauprojekte von ARC rund um den Globus, um fachlichen Rat zu geben und Probleme zu beheben. Er liebte diese Tätigkeit und die Freiheit, die sie ihm bot, und war nicht begeistert, diese aufzugeben, um die Firma zu leiten. Außerdem war er nicht sicher, ob er die großen Fußstapfen seines Vaters würde ausfüllen können. Da war ein Wiedersehen mit Orla, das ihn an seinen Fehler vor acht Jahren erinnerte, das Letzte, was er gebrauchen konnte.

Torre sagte sich, dass sein Stiefbruder schon merken würde, auf was er sich eingelassen hatte, wenn er auf sie hereingefallen war. Doch das änderte nichts an seiner schlechten Laune, und er verließ fluchend das Haus.

Auf der Amalfitana war wenig los, was für den Hochsommer untypisch war. Die Küstenstraße zwischen Sorrent und Salerno war berüchtigt für ihre Haarnadelkurven. Orla war froh, dass Jules fuhr, denn so konnte sie die herrliche Aussicht auf das Tyrrhenische Meer genießen.

Plötzlich wurde die Stille von Motorengeheul zerrissen. Orla wandte sich um und sah einen roten Sportwagen, der sich ihrem Mietwagen rasch näherte und sie in einer engen Kurve überholte.

„Das war mein Stiefbruder mit seinem neuen Spielzeug“, sagte Jules. „Angeblich der schnellste und teuerste Wagen der Welt. Frauen und Autos, Torres große Leidenschaften …“

Torre. Es fuhr ihr wie ein Schreck in die Glieder. Sie hatte den Fahrer des Cabriolets gesehen, ihn aber nicht erkannt. Einen Moment lang überlegte sie, Jules zu bitten, sie zum Flughafen zurückzubringen. Sie irgendwo hinzubringen, nur weit weg von dem Mann, den sie seit acht Jahren nicht vergessen konnte.

Doch das musste jetzt ein Ende haben. Ihr Riesenfehler, die eine Nacht mit Torre zu verbringen, verfolgte sie schon viel zu lange. Sie war nicht mehr die naive Achtzehnjährige von damals, die die Flucht ergriffen hatte, nachdem er ihr vorgeworfen hatte, es genau wie ihre Mutter nur aufs Geld abgesehen zu haben.

In der Zwischenzeit hatte sie die Ehe mit einem gewalttätigen Mann überlebt und würde es überstehen, Torre wiederzusehen. Außerdem würde sie sicher feststellen, dass nie mehr hinter ihren Gefühlen für Torre gesteckt hatte als eine Teenagerschwärmerei, und gestärkt aus der Begegnung herausgehen.

Als sie zehn Minuten später bei der Villa Romano ankamen, stand der rote Sportwagen in der Auffahrt, doch Torre war zu Orlas Erleichterung nicht zu sehen. Jules parkte den Leihwagen, und als sie die Beifahrertür öffnete, schlug ihr intensive Hitze entgegen. Weil sie wusste, dass sie sich hier im Nu einen Sonnenbrand holen würde, setzte sie ihren breitkrempigen Strohhut auf.

Von den Zitronenplantagen wehte ein belebender Geruch herüber und mischte sich mit dem Blütenduft des Geißblatts, mit dem die Mauern der Villa bewachsen waren. Schon bei ihrem ersten Besuch hatte Orla sich in die Amalfiküste mit dem leuchtenden Rosa der Bougainvilleen, dem dunklen Grün der Zypressen und dem strahlenden Blau des Meeres verliebt, das die Felszunge umgab, auf der die Villa Romano stand. Doch sie war nicht mehr hier gewesen, nachdem ihre Mutter nach der kurzen Ehe mit dem Milliardär Giuseppe Romano nach London zurückgekehrt war, um dort ihre Abfindung zu verjubeln.

Orla hatte die Einladung zu Giuseppes siebzigstem Geburtstag fast abgesagt, weil sie wusste, dass Torre da sein würde. Doch sie mochte ihren Stiefvater, in dessen Haus sie immer willkommen gewesen war und zu dem sie auch nach der Scheidung ihrer Mutter den Kontakt gehalten hatte. Als Jules vorschlug, zusammen nach Amalfi zu reisen, hatte Orla beschlossen, sich dem gefürchteten Wiedersehen zu stellen. Bei ihren bisherigen Besuchen in der Villa Romano hatte sie stets darauf geachtet, dass Torre nicht dort war, aber sie durfte einer Begegnung mit ihm nicht weiter aus dem Weg gehen, wenn sie die Vergangenheit ein für alle Mal hinter sich lassen wollte.

Sie blieb beim Wagen stehen, während Jules dem Hausangestellten entgegenging, der herausgekommen war, um sie zu begrüßen.

„Es scheint ein Durcheinander mit den Zimmern zu geben“, sagte Jules, als er zu ihr zurückkam. „Offenbar sind ferne Verwandte unerwartet angereist, und nun ist unklar, wo wir übernachten. Ich gehe mal mit der Haushälterin sprechen.“

„Ich komme gleich nach. Ich muss mir nach der langen Reise ein bisschen die Beine vertreten.“

„Mach das, aber bleib im Schatten, Chérie.“

Lächelnd sah Orla ihm hinterher. Ihr charmanter französischer Stiefbruder war immer nett zu ihr gewesen, wenn sie ihre Mutter in der Villa Romano besucht hatte, obwohl Kimberly der Grund dafür gewesen war, dass Giuseppe sich von Jules’ Mutter hatte scheiden lassen. Jules, der sich nach wie vor gut mit seinem Stiefvater verstand, hatte vor einem halben Jahr als Hauptbuchhalter in der Londoner Niederlassung von ARC angefangen. Orla wohnte nicht weit entfernt von seinem Büro, seitdem sie das Luxusappartement ihrer Mutter hatte verkaufen müssen, um deren Schulden abzuzahlen. Orla traf sich ein- oder zweimal in der Woche zum Essen mit Jules, und er hatte sich in der Zeit, als ihr die gesundheitlichen Probleme ihrer Mutter zu schaffen gemacht hatten, als guter Freund erwiesen.

Zeitgleich hatten die Medien Orla verteufelt, weil sie angeblich eine Riesenabfindung von ihrem reichen Ex-Mann eingeheimst haben sollte, obwohl sie in Wahrheit nicht einen Penny bekommen hatte.

Aber sie würde jetzt nicht an die Vergangenheit denken. Sie hatte sich von David befreit, und ihre zehnmonatige Horrorehe hatte sie in vielerlei Hinsicht stärker gemacht. Nie wieder würde sie es zulassen, dass ein Mann über sie bestimmte, wie ihr Ex-Mann es getan hatte.

Sie schlenderte zu dem Sportwagen. Zum ersten Mal verstand sie, wieso man von einem Auto sagen konnte, dass es sexy sei. Die schnittige rote Karosserie buhlte um Aufmerksamkeit, und das schwarze Lederinterieur war ausgesprochen männlich. Der Wagen strahlte Aufregung und Gefahr aus – genau wie sein Besitzer. Doch sie wollte keine Aufregung.

Von der Ehe mit David hatte sie sich die Sicherheit erhofft, nach der sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte. Doch gekommen war es ganz anders. Von Anfang an war da dieses Gefühl der Unsicherheit gewesen. Und dann diese Angst, wenn er mal wieder zu tief ins Glas geschaut hatte. Er war sehr launenhaft gewesen, und lange hatte sie geglaubt, etwas falsch zu machen und für seine Wutanfälle verantwortlich zu sein.

Instinktiv fuhr sie mit den Fingern über die acht Zentimeter lange Narbe an ihrer Schläfe, die sie hinter ihrem seitlich gescheitelten Haar verbarg und mit Schminke kaschierte. Doch die Narbe würde sie für immer daran erinnern, warum sie nie wieder einem Mann vertrauen würde.

Sie hatte niemandem von den seelischen und körperlichen Misshandlungen erzählt, die sie während ihrer kurzen, unglücklichen Ehe mit dem Cricketspieler erlitten hatte. David Keegan war bei Fans und Medien für seine nette Art auf dem Spielfeld und bei Interviews bekannt, und Orla war sicher, dass ihr niemand glauben würde, dass er ein Alkoholproblem hatte und sich in ein aggressives Monster verwandelte, wenn er getrunken hatte.

Die Presse hatte ihr vorgeworfen, ihm das Herz gebrochen und seine Karriere zerstört zu haben, indem sie ihn wenige Tage vor einem Spiel gegen Australien, bei dem er als Spielführer fungierte, verließ. Davids Team hatte verloren, und er musste seinen Posten als Mannschaftskapitän abgeben. In einem Interview hatte er den Kummer über die Trennung als Grund für seine schlechte Leistung auf dem Feld angegeben.

Anfangs gab sie sich selbst die Schuld für ihre Probleme mit David, der ihr Selbstwertgefühl geschwächt hatte, indem er ihr immerzu sagte, wie nutzlos sie sei. Erst seine körperliche Attacke brachte sie schließlich zur Besinnung. Sie hörte auf, sich vorzumachen, dass mit der Ehe alles in Ordnung war, und gestand sich ein, dass David ihre Gefühle für ihn zunichtegemacht hatte. Wäre sie bei ihm geblieben, hätte sie in der ständigen Angst gelebt, dass er sie das nächste Mal, wenn er sie schlug, umbringen könnte.

Es war nicht leicht gewesen, das Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen, aber Orla hatte einen starken Willen. Und in die Villa Romano zu kommen, obwohl sie wusste, dass Torre da sein würde, war ein weiterer Schritt von dem naiven verträumten Mädchen, das sie gewesen war, zu der unabhängigen Frau, die sie jetzt war.

„Eine echte Schönheit, oder?“

Orla zuckte zusammen. Die tiefe Stimme hinter ihr hatte sie unzählige Male im Traum gehört, doch dieses Mal war sie echt.

Als sie Torre zum letzten Mal gesehen hatte, war er um die fünfundzwanzig gewesen, aber jetzt war er Anfang dreißig. Wahrscheinlich verlor er schon seine Haare und setzte Fett an. Von dieser Vorstellung ermutigt, wandte sie sich zu ihm um – und das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als ihre Blicke sich trafen.

Vor acht Jahren hatte Torre unglaublich gut ausgesehen. Mit seinen ebenmäßigen Zügen und seinem gepflegten Äußeren hätte er ein Männermodel in einem Hochglanzmagazin sein können. Doch nun war er noch atemberaubender, als sie ihn in Erinnerung hatte, und seine starke männliche Ausstrahlung und seine unterschwelligen Sinnlichkeit brachten ihr Blut in Wallung. Orla wünschte, sie hätte auf ihre innere Stimme gehört und Jules gebeten, sie zum Flughafen zurückzubringen. Doch sie war nicht mehr das unerfahrene junge Ding, das Torre für einen Märchenprinzen hielt. Inzwischen wusste sie, dass sie Verantwortung für sich selbst übernehmen musste.

„Hallo, Torre“, sagte sie mit fester Stimme. „Jules meinte, du warst derjenige, der uns auf der Amalfitana wie ein Irrer überholt hat.“

Als er lächelte, strahlten seine weißen Zähne. Mit Entsetzen stellte Orla fest, dass sich Erregung in ihr breitmachte. Es war lange her, dass sie sich zum letzten Mal zu jemandem hingezogen gefühlt hatte. Sie hatte geglaubt, David hätte ihre Fähigkeit dazu ebenso ausgelöscht wie ihren Stolz und ihre Selbstachtung. Es war eine Katastrophe, dass ausgerechnet Torre ihr Blut so in Wallung brachte.

Nie würde sie vergessen, wie sie sich das erste Mal geküsst hatten. Vor acht Jahren hatte er alles genommen, was sie ihm mit einer Naivität gegeben hatte, über die sie im Rückblick heulen könnte. Er hatte ihr die Unschuld genommen und anschließend auf ihr herumgetrampelt wie auf einem lästigen Insekt.

„Ich kenne die Küstenstraße wie meine Westentasche“, antwortete er und ging auf sie zu. „Außerdem verleiht so ein bisschen Gefahr dem Leben mehr Würze.“ Seine grauen Augen glänzten wie polierter Stahl.

Er blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie fürchtete, er könnte bemerken, dass das Herz ihr bis zum Hals pochte. Instinktiv hob sie eine Hand zum Hals und spielte an ihrer Goldkette herum.

„Das sehe ich anders. Ich finde es dumm, unnötige Risiken einzugehen.“ Sie straffte sich, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein, und stellte fest, dass er größer war, als sie ihn in Erinnerung hatte. Trotz ihrer Acht-Zentimeter-Absätze überragte er sie. Sie fragte sich, warum sie ihn noch herausforderte, wenn es klüger wäre, sich von ihm fernzuhalten. Doch ihre Füße gehorchten ihrem Hirn nicht mehr, und so blieb sie wie gebannt stehen, als er ihr die Sonnenbrille abnahm.

„Deine Augen sind genau so, wie ich sie in Erinnerung habe. Hellbraun mit olivgrünen Sprenkeln“, sagte er.

Orla war sicher, dass er hörte, wie heftig ihr Herz schlug. Seit ihrer Zusage für Giuseppes Geburtstagsfeier vor einem Monat hatte sie sich innerlich auf das unvermeidbare Wiedersehen mit Torre vorbereitet. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie kühl und herablassend wäre, während Torre reumütig und zerknirscht darüber sein würde, dass er sie damals zurückgewiesen hatte.

Doch ihr Körper hielt sich nicht an ihre Vorsätze. Ihr war schwindelig. Allerdings konnte das auch an der Hitze liegen. Aber dass ihre Brüste sich auf einmal schwer anfühlten, war nicht so leicht zu erklären, und auch nicht, dass ihre Brustwarzen sich unter ihrem Kleid aufgerichtet hatten. Sie betete, dass er es nicht bemerkte.

„Und? Hast du was dagegen?“, fragte sie, nahm ihm ihre Sonnenbrille ab und setzte sie wieder auf. Hinter den dunklen Gläsern versteckt fühlte sie sich wohler. „Es überrascht mich, dass du dich an meine Augenfarbe erinnerst. Ich erinnere mich an kaum etwas von damals.“

Zu ihrem Verdruss schien er nicht beeindruckt von ihrer Erwiderung, und sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, das Orla den Atem raubte. „Dann freut es mich, dass wir uns noch einmal miteinander bekannt machen können.“

„Warum? Daran, dass du mich gar nicht schnell genug loswerden konntest, nachdem wir die Nacht miteinander verbracht hatten, erinnere ich mich sehr wohl.“

Torre schien sie gar nicht zu hören, und sein intensiver Blick steigerte ihre Erregung so sehr, dass Orla am liebsten dem aberwitzigen Drang nachgegeben hätte, sich an ihn zu schmiegen.

Als sie ihre trockenen Lippen befeuchtete, sah er ihre Zungenspitze wie gebannt an. Er musterte sie mit ernstem, fast schon wildem Blick. „Mit achtzehn warst du sehr hübsch“, sagte er. „Aber jetzt … Dio, jetzt bist du eine echte Schönheit!“

Orla stand wie angewurzelt da, konnte den Blick nicht von ihm losreißen, von seinem Mund, der ihrem auf einmal zu nah war. Sie war wie geblendet von Torre. Er strahlte eine starke Sinnlichkeit aus, die eine Saite tief in ihr anschlug.

Seit ihrer letzten Begegnung waren seine damals so glatten Züge schroffer und herber geworden, was durch den dunklen Bartschatten noch betont wurde. Seine sinnlichen geschwungenen Lippen und das volle, dunkelbraune Haar ließen sein kantiges Gesicht etwas weicher wirken.

„Menschen können sich ändern“, sagte er.

„Was willst du damit sagen?“ Sie fragte sich, ob sie sich verhört hatte. Irgendwie konnte sie gerade nicht klar denken.

Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging, roch den eigenartig vertrauten Duft seines Aftershaves und hatte das Gefühl, sich außerhalb der Realität zu befinden.

„Orla“, raunte er mit einer Stimme, die ihr durch und durch ging. Völlig unvorbereitet wurde sie von einem heftigen Verlangen nach ihm gepackt, und ihr Herz klopfte wie verrückt, als Torre sich vorbeugte und sein warmer Atem ihre Lippen streifte.

2. KAPITEL

„Ich dachte, du würdest reinkommen, Orla!“

Jules’ Stimme brachte Orla zur Besinnung. Unwillkürlich wich sie zurück. So viel zu ihrem Vorsatz, Torre gegenüber cool zu bleiben! Kaum, dass sie einander wieder begegnet waren, hatte sie sich förmlich an ihn rangeschmissen. Ein Glück, dass Jules verhindert hatte, dass sie sich lächerlich machte!

„Ich habe die Haushälterin nicht gefunden, also habe ich unser Gepäck erst einmal im Flur stehen gelassen“, erklärte Jules. „Hallo, Torre.“ Er schüttelte seinem Stiefbruder die Hand. „Schön, dich zu sehen.“

Zu Orlas Verwunderung legte Jules einen Arm um ihre Schultern. Sie wusste, dass es nichts weiter war als eine freundschaftliche Geste, aber die Art, wie er sie an sich zog, hatte etwas eigenartig Besitzergreifendes. Torre kniff die Augen und den Mund zusammen. Fast sah es aus, als wäre er sauer, aber vielleicht irrte sie sich.

„Freut mich auch, dich zu sehen“, antwortete Torre. „Unser Cousin Claudio und seine Familie sind überraschend gekommen, und da alle anderen Gästezimmer der Villa Romano bereits vergeben sind, habe ich Giuseppe gesagt, dass ihr in meinem Haus in Ravello unterkommt.“

„Nein!“ Orla errötete, als sie merkte, dass sie das Wort laut und deutlich ausgesprochen hatte. „Ich meine, danke für das Angebot, aber in deinem kleinen Haus ist nicht genug Platz für uns beide. Ich nehme mir ein Hotelzimmer.“

Die Vorstellung, das Haus zu betreten, in dem Torre ihr die Unschuld genommen hatte, war ihr unerträglich. Sie wollte nicht daran erinnert werden, wie er sie ausgezogen und dann auf sein Bett gelegt hatte. Die Nacht mit ihm war traumhaft gewesen, aber der darauffolgende Morgen hatte alles in einen Albtraum verwandelt.

Sie konnte noch deutlich den eisigen, verurteilenden Ton hören, mit dem er sie gefragt hatte, warum sie ihm nicht gesagt habe, dass sie die Tochter der neuen Frau seines Vaters sei. „Hattest du gehofft, mich dazu zu bringen, dich zu heiraten, so wie Kimberly es mit meinem Vater gemacht hat?“, hatte er wissen wollen. „Wolltet ihr gemeinsam das Vermögen der Romanos an euch bringen?“

Seine kalte Verächtlichkeit hatte Orla sehr verletzt.

Er hatte sie mit einem spöttischen Blick bedacht, als sie beteuerte, ihm ihre Identität nicht absichtlich verheimlicht zu haben. Und als sie ihm erklärte, dass sie den Nachnamen ihres Vaters trug, während Kimberly den Nachnamen eines anderen Ex-Mannes angenommen hatte, war er nur noch wütender geworden. Er hatte ihr die Bettdecke weggerissen und mit wildem Blick ihren nackten Körper angestarrt.

„Du hast mir deine Unschuld vergeblich geopfert, Cara“, hatte er gesagt. „Mein Vater hat sich damit zum Gespött gemacht, dass er eine Frau geheiratet hat, die nur hinter seinem Geld her war, aber ich habe nicht vor, den gleichen Fehler zu begehen.“

Torres Stimme riss Orla aus den schmerzhaften Erinnerungen. „Ich habe das Haus vor ein paar Jahren abgerissen und ein größeres gebaut. In Casa Elisabetta ist ausreichend Platz. Und ich bezweifele, dass du in der Hochsaison irgendwo an der Amalfiküste ein freies Hotelzimmer findest.“

„Das stimmt“, sagte Jules und lächelte Orla an. „Du wirst Ravello mögen. Es ist eine nette kleine Stadt mit einem fantastischen Blick aufs Meer.“

Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit der Unterbringung bei Torre abzufinden, auch wenn sie sich zu gern geweigert hätte. Selbst wenn sie ein Hotelzimmer finden würde, könnte sie es sich nicht leisten. Sie hatte ihr Konto bereits bis zum Limit überzogen, um die Flüge zu ihrer Mutter nach Chicago und zurück zu bezahlen.

„Dann wäre das ja geklärt“, sagte Torre. „Wir sollten uns jetzt mal auf den Weg zu Giuseppe machen. Es gibt Mittagessen auf der Terrasse.“

Er folgte ihr und Jules auf dem Kiesweg, der um das Haus herumführte. Orla spürte seinen Blick und wurde sich auf einmal der Tatsache bewusst, dass ihr Kleid vielleicht ein bisschen zu figurbetont war.

„Ich bin diese Hitze nicht gewohnt“, sagte sie und entwand sich Jules, der den Arm locker um ihre Schultern geschlungen hatte.

Sie erreichten die mit einer weinbewachsenen Pergola überdachte Terrasse. Zwölf Personen saßen bereits an einem langen Tisch.

Giuseppe erhob sich, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. „Benvenuta, Orla. Dein letzter Besuch ist lange her“, sagte er und küsste sie auf beide Wangen. Dann wandte er sich Jules zu. „Warum hast du so lange damit gewartet, Orla nach Amalfi zu bringen?“

Orla begrüßte die anderen Gäste, denen sie vorgestellt wurde, und fragte sich, was Giuseppe gemeint haben mochte, als er Jules gefragt hatte, warum er sie nicht früher nach Amalfi mitgebracht habe. Giuseppe wusste, dass sie mit Jules befreundet war, aber die beiden hatten sich einen verstohlenen Blick zugeworfen, was ihr nicht geheuer war. Sie hatte das Gefühl, dass sich da etwas abspielte, wovon sie nichts wusste – obwohl es sie betraf.

Nachdem sie ihre Sonnenbrille in der Handtasche verstaut hatte, setzte sie ihren Strohhut ab; ihr Haar fiel ihr über den Rücken. Als sie ein unterdrücktes Stöhnen hörte, wandte sie sich um und sah Torre hinter sich stehen. Wieder wurde ihr schwummerig. Aber dieses Mal konnte sie nicht die Hitze dafür verantwortlich machen, dass das Blut ihr wie geschmolzene Lava durch die Adern jagte.

Sie riss den Blick von ihm los, doch es entging ihr nicht, dass er spöttisch das Gesicht verzog, als Jules ihr seinen Arm um die Taille legte, um sie zum Tisch zu führen.

Vergiss Torre, sagte sie sich. Doch das war leider nicht möglich, denn er setzte sich ihr direkt gegenüber. Ein Kellner bot ihr Wein zum Essen an, doch sie entschied sich für Wasser, weil sie sich vor ihrer Reise etwas eingefangen hatte und ihr Magen noch etwas empfindlich war. Auch wenn sie sonst kaum Alkohol trank, hatte sie gerade nicht wenig Lust, sich so sehr zu betrinken, dass sie Torre nicht mehr bemerkte und vor allem aufhörte, sich vorzustellen, wie er sie berührte.

Wieder musste sie an damals denken. Die Gäste der Hochzeitsfeier hatten hinter vorgehaltenen Händen darüber geredet, dass Kimberly die Ehe mit Giuseppe nur seines Geldes wegen eingegangen war. Orla hatte sich für ihre Mutter geschämt und war froh darüber gewesen, dass offenbar niemand wusste, dass sie die Tochter der Frischvermählten war, weil Kimberly sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie irgendjemandem vorzustellen. Als Orla gerade auf ihr Zimmer zurückgehen wollte, spürte sie einen Blick im Rücken. Sie drehte sich um – und sah den Mann, der ihr schon bei ihrer Ankunft mit ein paar Freundinnen ihrer Mutter bei der Villa Romano aufgefallen war. Beim Aussteigen aus dem Taxi hatte sie einen unglaublich gut aussehenden Mann aus dem von der Auffahrt einsehbaren Pool steigen sehen. Auch den Freundinnen ihrer Mutter war sein durchtrainierter Körper aufgefallen, und sie hatten anzügliche Bemerkungen gemacht und Mutmaßungen über seine Fähigkeiten als Liebhaber angestellt.

„Er ist Giuseppes Sohn“, hatte Kimberly erklärt, die herausgekommen war, um ihre Freundinnen zu begrüßen. „Er ist sehr sexy, aber furchtbar arrogant und behandelt mich wie Abschaum. Ich nehme an, es ärgert ihn, dass ich jetzt alles erbe, wenn Giuseppe stirbt.“

Während der Feier dachte Orla immer wieder daran, dass Torre Romano ihr Stiefbruder war, doch als sich ihre Blicke am Ende trafen, war sie wie elektrisiert. Und als er schließlich entschlossen auf sie zukam, wusste sie instinktiv, dass sie die Flucht ergreifen sollte.

Zu dumm, dass sie damals nicht auf ihr Bauchgefühl gehört hatte …

Orla stocherte lustlos in den Ricottaravioli herum, die als erster Gang aufgetragen worden waren. Die Gespräche am Tisch wurden vorwiegend auf Italienisch geführt, und Orla war froh, dass sie einen Großteil dessen, was gesagt wurde, verstand. Sie hatte in der Schule Italienisch gelernt und ihre Fähigkeiten bei den Besuchen in der Villa Romano vertieft. Nun hoffte sie, dass ihre Sprachkenntnisse ihr dabei helfen würden, Giuseppe davon zu überzeugen, ihr Arbeit zu geben.

„Du bist so still, Orla.“

Torres tiefe Stimme riss sie aus den Gedanken.

Jetzt, wo sie einigermaßen über den ersten Effekt des Wiedersehens mit ihm hinweg war, konnte sie ihn mit etwas nüchternerem Blick betrachten, was seine Wirkung auf sie leider nicht abschwächte. Der oberste Knopf seines Hemdes war offen, und der Anblick seiner sonnengebräunten Haut mit den dunklen Haaren darauf erregte sie.

Hilfesuchend sah sie Jules an, doch der war in ein Gespräch mit Giuseppe vertieft. „Ich bin müde von der Reise“, antwortete sie kleinlaut.

„Der Flug von London nach Neapel dauert zweieinhalb Stunden. Das ist nicht besonders anstrengend“, erwiderte Torre.

„Ich wusste nicht, dass von mir erwartet wird, dich zu unterhalten“, entgegnete Orla. „Worüber soll ich mit dir reden?“

Das Funkeln seiner Augen verriet ihr, dass sie ihm in die Falle gegangen war. Zu gern hätte sie ihm den Inhalt der Wasserkaraffe ins Gesicht geschüttet, doch sie zwang sich zur Ruhe. Es war lange her, dass sie zum letzten Mal wütend geworden war. Nur indem sie ruhig geblieben war, hatte sie David beschwichtigen können. Das einzige Mal, dass sie versucht hatte, ihren Standpunkt zu verteidigen, war er gewalttätig geworden.

Unwillkürlich hob sie die Hand an die Narbe über ihrer Augenbraue, wo der Ring, den David getragen hatte, sich tief in die Haut gegraben hatte. Die Wunde hatte so stark geblutet, dass Orla in die Notfallambulanz des Krankenhauses musste, um sich nähen zu lassen.

Als sie jetzt sah, dass Torre ihre Handbewegung bemerkt hatte, ließ sie ihren Arm rasch sinken.

„Warum erzählst du nicht ein bisschen von dir? Als wir uns vor acht Jahren kennengelernt haben, sind wir ja kaum zum Reden gekommen“, sagte er.

Orla spürte, wie sie errötete, als ihr Bilder von damals durch den Kopf gingen. Von Torre, der sich auf dem Bett ausstreckte, braungebrannt und durchtrainiert, und sie auf sich zog. Davon, wie sehr es sie fasziniert hatte, seinen sehnigen Körper an ihrem weiblichen Körper zu spüren. Weil sie nie zuvor einen Mann nackt gesehen hatte, war sie zunächst etwas eingeschüchtert von dem Anblick seines erregten Körpers gewesen, doch als er sie geküsst hatte, war sie von heftiger Leidenschaft gepackt worden, und ihre Zweifel waren wie weggeblasen gewesen.

„Was willst du wissen?“, fragte sie, fest entschlossen, nicht auf seine Sticheleien zu reagieren.

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern, doch sein Blick war lauernd. „Zum Beispiel, wovon du lebst.“

Sie fragte sich, ob Torre die Geschichten kannte, die die Regenbogenpresse nach ihrer Scheidung über sie verbreitet hatte. Nachdem vor einem Monat das endgültige Scheidungsurteil gesprochen worden war, hatte Orla zu ihrem Entsetzen feststellen müssen, was in den Klatschspalten über sie behauptet wurde. Dass sie es nur auf Davids Geld abgesehen und eine riesige Abfindungssumme eingeheimst hatte. Die Sympathie der Öffentlichkeit gehörte David, da man sie mit ihrer Mutter in Zusammenhang brachte, die dafür berüchtigt war, vom Geld ihrer reichen Ex-Männer zu leben.

Zu gerne hätte sie Torre erzählt, dass sie beruflich erfolgreich war. Immerhin war es Giuseppe gewesen, der das Interesse am Bau bei ihr geweckt hatte, woraufhin sie ihr Mathestudium aufgab und begann, Bauingenieurwesen zu studieren.

Sie bereute es zutiefst, das Studium nicht abgeschlossen zu haben. Sie hatte David im Abschlussjahr kennengelernt, in dem Exkursionen zu verschiedenen Bauprojekten anstanden. David gefiel es nicht, dass sie in einem männlich dominierten Berufsfeld tätig war. Im Nachhinein musste sie sich eingestehen, dass sich seine besitzergreifende, eifersüchtige Art schon vor ihrer Hochzeit gezeigt hatte. Kaum dass sie verheiratet gewesen waren, überredete er sie dazu, ihr Studium aufzugeben, damit sie ihn zu seinen Auslandsspielen begleiten konnte, und die Dinge nahmen ihren Lauf …

Orla lächelte den Kellner an, der ihre nicht gegessene Vorspeise gegen ein Risotto mit Meeresfrüchten austauschte. Leider hatte sie nach wie vor keinen Appetit und war mit den Gedanken in der Vergangenheit.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich wieder an der Uni einzuschreiben und ihr Studium abzuschließen, doch das Ende ihrer Beziehung hatte ihr Selbstvertrauen zu sehr beschädigt. Außerdem konnte sie durch die steigenden Arztkosten ihrer Mutter das Studium nicht mehr finanzieren. Also bildete sie sich zur Sekretärin weiter und nahm eine Stelle bei der Baufirma Mayalls an. Ihre Kenntnisse im Bauingenieurwesen erwiesen sich als wertvoll, sodass sie schnell zur Chefsekretärin befördert wurde. Doch als sie für längere Zeit zu ihrer Mutter nach Amerika reisen musste, erhielt sie wegen ihrer langen Fehlzeiten die Kündigung. Seitdem bekam sie nur Absagen auf ihre Bewerbungen, weshalb ihre finanzielle Situation katastrophal war. Und ihr Selbstwertgefühl war auf dem Nullpunkt angekommen – wie damals, als Torre sie davongejagt hatte.

Nun wartete er noch immer auf ihre Antwort. „Ich gehe davon aus, dass du arbeitest – oder bekommst du dein Leben von jemand anderem finanziert?“, fragte er.

„Ich habe momentan keine Arbeit“, antwortete sie mit tonloser Stimme.

„Laut Giuseppe wohnst du in Chelsea. Wie kannst du es dir leisten, in einem so exklusiven Teil Londons zu leben, wenn du nicht arbeitest?“

„Das geht dich nichts an“, antwortete sie. Giuseppe wusste nicht, dass sie das Luxusappartement, das er ihrer Mutter nach der Scheidung überlassen hatte, verkauft hatte, um damit Kimberlys Krankenhausrechnungen zu bezahlen. Beim Verkauf zu erfahren, dass ihre Mutter eine Hypothek auf die Wohnung in Chelsea genommen hatte, war ein weiterer Schock für Orla gewesen. Doch es nützte nichts, das Torre zu erklären, der ihre Mutter verachtete.

Erschrocken über ihre patzige Antwort wartete Orla darauf, dass Torre wütend wurde – wie David es geworden war, wenn sie es gewagt hatte, ihm zu widersprechen. Doch Torre sagte nichts. Es kam ihr sogar fast so vor, als habe sie so etwas wie Respekt in seinem Blick gesehen.

Jules beendete seine Unterhaltung mit Giuseppe und wandte sich ihr zu. „Du hast kaum etwas gegessen. Ist dir nicht wohl? Das war aber auch was ganz Fieses, was du dir da eingefangen hattest!“

Orla lächelte ihn dankbar an. Er war ein echter Freund. „Nein, es geht schon wieder.“ Widerwillig sah sie zu Torre hinüber. Sein spöttischer Blick machte sie wütend.

Jules schien die gespannte Atmosphäre zwischen ihnen nicht zu bemerken und strahlte Torre an. „Ihr zwei habt euch sicher viel zu erzählen, nachdem ihr euch acht Jahre lang nicht gesehen habt.“

„Ich hätte gern gewusst, was Orla beruflich macht, aber sie hat mir gesagt, dass sie nicht arbeitet“, erwiderte Torre trocken.

„Ich hoffe, sie hat dir auch gesagt, dass es nicht ihre Schuld war, dass ihr letzter Arbeitgeber ihr gekündigt hat“, sprang Jules ihr bei und wandte sich an Giuseppe. „Orla ist eine sehr gute Sekretärin und wäre die ideale Besetzung für die Stelle als Assistenz des Prüfungsleiters der Londoner Niederlassung, aber sie ist vom Geschäftsführer Richard Fraser abgelehnt worden.“

„Zwar würde ich dir gerne helfen, weil es mich freut, dass du für das Unternehmen arbeiten möchtest “, meldete Giuseppe sich zu Wort, „aber ich bin nicht mehr für ARC zuständig. Zum hundertsten Firmenjubiläum werde ich der Presse mitteilen, dass ich meine Posten als Vorstand und Geschäftsführer meinem Sohn übertrage. Ich habe die Übergabe schon in die Wege geleitet, nachdem mir meine Lungenentzündung klargemacht hat, dass ich älter werde und es an der Zeit ist, einem Jüngeren mit mehr Energie und frischen Ideen das Ruder zu überlassen.“ Giuseppe erhob sich und nahm sein Weinglas auf. „Ich möchte auf Torre anstoßen. Ich bin sicher, dass ARC unter seiner Führung florieren und wachsen wird.“

Alle standen auf und hoben ihre Gläser. Orla gratulierte kleinlaut. Sie hatte gehofft, ihr Stiefvater würde ihr eine Stelle bei ARC geben. Doch nun hatte Giuseppe die Firma Torre übergeben, der ihr spinnefeind war.

Nachdem sich alle wieder gesetzt hatten, beugte Jules sich zu Torre hinüber. „Ich wäre dir dankbar, wenn du dich für Orla einsetzen und Richards Fraser bitten könntest, sie einzustellen.“

„Ich kann nichts versprechen. Dafür ist eigentlich die Personalabteilung zuständig“, antwortete Torre. „Aber ich werde mal einen Blick auf ihren Lebenslauf werfen.“

Gern hätte sie Torre gesagt, dass er sich das sparen könne. Sie zweifelte nicht daran, dass er ihr ohnehin keine Stelle gab. Eigentlich wollte sie ja nicht einmal Sekretärin werden, weil sie Büroarbeit nicht mochte. Aber es war das Einzige, wofür sie qualifiziert war, und sie brauchte Arbeit, um die Krankenhauskosten ihrer Mutter zu tragen.

„Ich nehme an, du hast deinen Lebenslauf dabei?“, fragte Torre.

„Ja“, antwortete sie und holte das Dokument aus ihrer Handtasche. Als Torre es über den Tisch hinweg entgegennahm, streiften sich ihre Hände. Es war nur eine flüchtige Berührung, doch sie raubte Orla den Atem.

Torres Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Auf einmal wurde sie wütend. Was gab ihm das Recht, so auf sie hinabzusehen?

Ihre einzige Verfehlung war, dass sie mit ihm geschlafen hatte. Dass sie so dumm gewesen war, Lust und Liebe miteinander zu verwechseln. Torre hatte damals nichts anderes gewollt als ihren Körper, während sie als naive Achtzehnjährige eine magische Nacht lang an die Liebe auf den ersten Blick geglaubt hatte.

Als sie wieder zu ihm hinsah, fand sie seinen Blick auf sich gerichtet. Es verwirrte sie, so von ihm gemustert zu werden, und sie spürte, wie Erregung sich in ihr breitmachte. Errötend presste sie ihre Beine zusammen. Er wusste, dass sie dagegen ankämpfte, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Sein schwelender Blick gab ihr das Gefühl, dass er daran dachte, wie er sie eben in der Auffahrt fast geküsst hatte.

„Komm in zwanzig Minuten in die Bibliothek, dann sprechen wir darüber“, sagte er und erhob sich. „Wenn du mich davon überzeugen kannst, dass deine Fähigkeiten der Firma nützlich sein können, leite ich deine Unterlagen vielleicht an die Personalabteilung weiter.“

Das klang nicht besonders ermutigend, aber immerhin hatte er sie nicht gleich abgelehnt. „Danke“, sagte sie und verspannte sich, als Jules nach ihrer auf dem Tisch ruhenden Hand griff.

„Ich habe dir doch gesagt, das wird schon, Chérie.“

Orla meinte zu sehen, wie Torre die Augen zusammenkniff, und errötete schuldbewusst, obwohl sie nichts getan hatte, dessen sie sich schämen müsste. Zu gern hätte sie Jules ihre Hand entzogen, zumal sie sich seinen besitzergreifenden Tonfall sicher nicht eingebildet hatte. Als Torre sich entfernte, sah sie ihm ängstlich hinterher. Sie hatte das sonderbare Gefühl, sich auf einem gefährlichen Weg zu befinden, von dem es kein Zurück gab.

3. KAPITEL

Torre spürte, dass Orla die Bibliothek betrat, obwohl er mit dem Rücken zur Tür stand und sie ganz leise war. Ihm wurde eng in seiner Haut, als er ihren zarten Duft wahrnahm, ein leichtes, blumiges Parfüm mit Jasminnoten und etwas nicht Greifbarem, das ihn an eine aufregende Sommernacht vor vielen Jahren erinnerte.

Einmal, sein Vater war damals noch mit Kimberly verheiratet gewesen, war Torre von einer Geschäftsreise in die Villa Romano gekommen und musste erfahren, dass er Orla, die zu Besuch bei ihrer Mutter gewesen war, um eine Stunde verpasst hatte. Er hatte sich eingeredet, dass er ohnehin kein Bedürfnis verspürte, sie wiederzusehen. Doch als er die Bibliothek betrat, wo Orla laut seinem Vater die meiste Zeit verbrachte, anstatt wie ihre Mutter am Pool zu liegen und Klatschblätter zu lesen, hing noch ein Hauch von ihrem Duft in der Luft, und alles in ihm hatte sich sehnsüchtig zusammengezogen.

Jetzt stand er viele Jahre später in derselben Bibliothek und atmete ihren Duft ein. Gut, dass er sie vorhin nicht geküsst hatte. Er verstand selbst nicht, was in ihn gefahren war, dass er plötzlich das heftige Bedürfnis verspürt hatte, sie in sein Auto zu setzen und mit ihr nach Ravello zu sich nach Hause zu fahren.

Natürlich war er gespannt darauf gewesen, sie nach all den Jahren wiederzusehen, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn ein derart heftiges Verlangen nach ihr befallen könnte. Ihm war ganz anders geworden, als er sie an seinem Wagen hatte stehen sehen – in ihrem mattgrünen Kleid, das ihren kleinen, festen Brüsten und ihrem wohlgeformten Po schmeichelte. Ihr Blick war unter dem Schatten der Krempe ihres Sonnenhuts und ihrer Sonnenbrille verborgen geblieben. Insgesamt hatte sie unaufdringlich elegant gewirkt und trotz der Sommerhitze kühl wie ein Gin Tonic mit Eis und duftig wie eine englische Rose.

Sie hatte sein Blut in Wallung gebracht, und ihm war egal gewesen, wer sie war. Natürlich wusste er ganz genau, was sie bezweckt hatte, als sie vor all den Jahren mit ihm geschlafen hatte, und er war ganz sicher, dass sie ihm ihre Unschuld in der Erwartung geopfert hatte, dass er genauso leichtgläubig war wie sein Vater, der ihre blutsaugerische Mutter geheiratet hatte.

Zum Glück war Jules wieder hinausgekommen und hatte ihn davor bewahrt, den gleichen Fehler noch einmal zu machen und sich von der Leidenschaft den Verstand vernebeln zu lassen. Torre mochte seinen Stiefbruder, obwohl er ganz anders war als er. Jules war viel umgänglicher als er, was wohl daran lag, dass er die arglose Art seiner Mutter hatte.

Sein Vater hatte Sandrine geheiratet, als Torre zehn gewesen war. Sie hatte die Leere weitestgehend ausgefüllt, die sich in Torre breitgemacht hatte, als seine Mutter vier Jahre zuvor gestorben war. Es war ihm unverständlich gewesen, dass sein Vater die freundliche und gutherzige Sandrine schließlich gegen das habgierige Flittchen Kimberly Connaught eingetauscht hatte. Als Orla ihm nach der gemeinsam verbrachten Nacht enthüllte, dass sie Kimberlys Tochter war, warf er ihr vor, ihn hereingelegt zu haben. Er war wütend auf sich selbst gewesen, weil er sich wie sein Vater von einer Frau in die Falle hatte locken lassen. Aber das Schlimmste war sein schlechtes Gewissen, weil er es als Verrat an seiner Stiefmutter ansah, dass er sich jemanden aus dem gegnerischen Lager ins Haus geholt hatte.

„Torre“, riss Orla ihn aus den Gedanken. Ihre Stimme war klar und weich wie ein Gebirgsbach. Kurz hatte Torre das Gefühl, als legte sich eine samten behandschuhte Hand um ihn. Eben am Tisch hatte er Orla ständig ansehen müssen. An Essen war kaum zu denken gewesen, weil er mehr Lust auf etwas anderes hatte.

Doch er war kein unreifer Junge mehr, kein Sklave seiner Hormone. Er ließ sich von niemandem aus dem Konzept bringen, schon gar nicht von einer Frau, die, wenn man der Presse glauben durfte, genauso geldgierig war wie ihre Mutter. Torre atmete tief durch, bevor er sich mit finsterer Miene zu Orla umwandte. Es wurmte ihn, dass sie so gelassen war, und er wollte sie so durcheinanderbringen, wie sie ihn durcheinanderbrachte.

Wie schaffte sie es nur, so verdammt unschuldig zu wirken, obwohl sie es – das wusste er definitiv – nicht wahr? Als er den Raum durchquerte, sagte er sich, dass es unklug war, ihr zu nahe zu kommen, wenn er sich gerade so gar nicht im Griff hatte. Doch nun war es bereits zu spät. Er blieb so dicht vor ihr stehen, dass er einen Anflug von Verunsicherung und auch ein gewisses Interesse in ihrem Blick sah, bevor sie die Augen niederschlug.

Er erinnerte sich daran, wie die grünen Sprenkel in ihren Augen bei Erregung dunkler geworden waren. Ihr langes, glattes Haar wallte wie ein seidener Vorhang über ihren Rücken. Es hatte die gleiche rotgoldene Farbe wie die Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangen, die sich deutlich von ihrer Porzellanhaut abhoben. Nie hatte er etwas so Schönes gesehen.

Verdrossen gestand er sich ein, dass er keine andere Frau so sehr begehrt hatte wie Orla. Er hasste sich für seine Schwäche, die dafür verantwortlich war, dass er jetzt so erregt war, dass es schmerzte.

„Warum bist du hergekommen?“, fragte er barsch.

Sie sah ihn verwundert an. „Du hast mich gebeten, herzukommen, um über eine etwaige Anstellung zu sprechen.“

„Ich meine, warum bist du in die Villa Romano gekommen?“

„Weil Giuseppe mich zu seinem Geburtstag eingeladen hat.“

„Das hat er auch in den vergangenen Jahren getan. Warum bist du dieses Mal gekommen?“

„Der Siebzigste ist ein runder Geburtstag. Und Jules’ Idee, dass wir zusammen nach Amalfi reisen könnten, kam mir ganz gut vor.“

„Das glaube ich gern.“

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. „Was willst du damit sagen?“

Mit Genugtuung hörte er ihren gereizten Tonfall. Er hatte sie aus der Reserve locken wollen. Vor acht Jahren war sie so erfrischend unverstellt gewesen. So jung und unerfahren. Wie unerfahren sie tatsächlich gewesen war, hatte er erst gemerkt, als sie unter ihm kurz erstarrt war, doch da war es bereits zu spät gewesen, um sie daran zu hindern, dass sie ihm ihre Jungfernschaft opferte.

Jetzt musste sie sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig sein, und er war überrascht, dass sie nicht dieselben berechnenden Züge entwickelt hatte wie ihre Mutter. Trotzdem hatte sie ihre Begeisterungsfähigkeit verloren, die damals ihre Augen zum Leuchten gebracht hatte. Die erwachsene Orla war reserviert und kühl, mit einer unnahbaren Ausstrahlung, die einen Mann leicht in den Wahnsinn treiben konnte.

Torre bedeutete ihr, sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch zu setzen. Anstatt selbst dahinter Platz zu nehmen, lehnte er sich vor ihr an den Tisch. „Ich habe deinen Lebenslauf gelesen“, sagte er und nahm das Dokument vom Tisch. „Du scheinst ja die erforderlichen Kompetenzen als Sekretärin mitzubringen, aber es sieht nicht so aus, als würdest du über Erfahrungen in der Buchhaltung verfügen.“

„Ich habe nie in der Buchhaltung gearbeitet.“

„Warum bewirbst du dich dann als Sekretärin des Prüfungsleiters?“

„Die Aufgaben der Sekretärin unterscheiden sich kaum in den verschiedenen Abteilungen“, antwortete sie. „Jules hat mir von der Stelle in der Buchhaltung erzählt und vorgeschlagen, dass ich mich bewerbe.“

Es überraschte Torre nicht, dass sein Stiefbruder versucht hatte, Orla in seiner Abteilung unterzubringen, um sie jeden Tag sehen zu können. „Und du hast angenommen, Jules würde ein gutes Wort beim Geschäftsführer unserer Londoner Niederlassung für dich einlegen“, antwortete er und sah befriedigt zu, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

„Ich habe gar nichts angenommen“, erwiderte sie aufgebracht, fasste sich aber sofort wieder. Zu gern hätte Torre sie geschüttelt oder geküsst – wenn er nur imstande gewesen wäre, ihren ungerührten Ausdruck zunichtezumachen, der ihn noch in den Wahnsinn trieb.

„Zwei Sachen machen mich stutzig. Erstens frage ich mich, warum du einen Job suchst, obwohl du bei deiner Scheidung diese Riesenabfindung bekommen hast, über die in der Presse berichtet wurde.“

Wieder errötetet sie, doch diesmal sprang sie nicht auf seine Provokation an und sagte mit tonloser Stimme: „Über meine Scheidung ist alles Mögliche berichtet worden, was jeglicher Grundlage entbehrt. Wenn du an alles glaubst, was über mich geschrieben wurde, ist das dein Problem.“

„Wenn die Meldungen nicht korrekt waren, warum hast du dann keinen Widerruf verlangt oder bist rechtlich gegen die entsprechenden Medien vorgegangen?“

Ihr bitteres Lachen versetzte Torre einen Stich. „Ich habe kein Geld von David bekommen. Ich wollte nichts von ihm haben. Und darum konnte ich es mir nicht leisten, gegen die Zeitungen vorzugehen.“

Zu gern hätte Torre ihr geglaubt. Himmel, war er noch ganz bei Trost? „Also hast du dich bei ARC beworben“, sagte er, „aber der Geschäftsführer hat dich abgelehnt. Weiß Jules, dass man dir deine Stelle bei Mayalls wegen zu vieler Krankentage gekündigt hat?“ Als sie ihn verwundert ansah, fuhr er fort: „Ich habe Richard Fraser angerufen, um ihn zu fragen, warum er dich abgelehnt hat. Er hat mir gesagt, dass er mit dem Abteilungsleiter von Mayalls telefoniert und erfahren hat, dass du wegen deiner exorbitanten Fehlzeiten gefeuert worden bist.“

Orla hielt den Blick gesenkt, und Torre verspürte das starke Bedürfnis, ihr Kinn zu nehmen und sie zu zwingen, ihn anzusehen. „Es war eine schwere Zeit, und ich konnte nicht arbeiten, weil …“ Ihre Stimme versagte, und Torre fand, dass sie eine gute Schauspielerin war. „Aus persönlichen Gründen, die ich ungern ausführen möchte.“

„Jules hatte bestimmt Mitleid mit dir, als du ihm diese rührselige Geschichte erzählt hast. Es ist sicher praktisch, jemanden zu haben, der einem so nach der Pfeife tanzt.“

Endlich sah sie zu ihm auf. Ihr Zorn ließ die grünen Sprenkel in ihren Augen leuchten. Es erfüllte Torre mit Genugtuung, dass er Orla endlich aus der Reserve gelockt hatte. Seine innere Stimme ermahnte ihn, dass sein Verhalten dem eines Kindes glich, das Aufmerksamkeit wollte.

„Da tust du ihm unrecht“, sagte sie. „Jules und ich sind gute Freunde.“

„Er ist in dich verliebt. Das sieht doch ein Blinder.“

„Du irrst dich. Jules ist nicht in mich verliebt.“ Sie sprang auf. Jetzt, wo sie stand, war sie zwischen ihm und dem Stuhl gefangen. Torre sah den Puls an ihrem Hals schlagen und wollte die Stelle küssen, wollte darüberlecken und ihre seidige Haut schmecken.

„Auch wenn Jules sehr nett und aufmerksam zu mir ist, sind wir nur Freunde. Aber ich nehme an, dass du dir nicht vorstellen kannst, dass ein rein freundschaftliches Verhältnis zwischen Mann und Frau möglich ist. Du bist so ein … Macho.“ Das klang wie eine Beleidigung, so, als sei sie zu fein, um raue Männlichkeit zu ertragen. „Es geht nicht immer nur um Sex, weißt du?“

„Mein Stiefbruder ist eben auch nur ein Mann“, erwiderte er. „Er will mit dir ins Bett, und das ist sehr verständlich.“ Er ließ seinen Blick über sie schweifen. Ihre kleinen Brüste mit den aufgerichteten Knospen zeichneten sich unter ihrem Seidenkleid ab. Torre hörte seinen eigenen und ihren sich beschleunigenden Atem und sah, dass die Verärgerung in ihrem Blick einer Erregung wich, welche die grünen Sprenkel in ihren Augen dunkler werden ließ. „Beim Essen habe ich Jules beobachtet. Er ist hinter dir her wie ein Rüde hinter einer läufigen Hündin. Und du machst ihm gerade genug Hoffnungen, um ihn bei der Stange zu halten.“

Orla wurde ganz blass. „Du bist widerlich“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Wie kommst du dazu, so mit mir zu sprechen?“

„Ich schätze und respektiere meinen Stiefbruder und werde nicht zusehen, wie er sich lächerlich macht, indem er sich auf dein Spielchen einlässt.“

„Und was wäre das für ein Spielchen?“

„Das gleiche Spiel, das du damals mit mir gespielt hast. Aber obwohl du damals deinen Trumpf ausgespielt und dich von mir hast entjungfern lassen, habe ich mich nicht von dir blenden lassen und erkannt, dass du genauso geldgierig bist wie deine Mutter. Du hast versucht, Schmuck zu stehlen, der meiner Mutter gehört hat!“

Sie seufzte. „Ich habe dir doch gesagt, dass Giuseppe die Ohrringe meiner Mutter geschenkt hat. Und sie hat sie mir geliehen. Ich hatte sie auf der Feier getragen und sie aus Angst, dass ich sie verlieren könnte, abgemacht und in meine Handtasche gesteckt.“

Von wegen! Er würde nicht auf Orlas unschuldiges Getue hereinfallen. Seine Mutter hatte die Smaragdohrringe geliebt und sie bis zu ihrem Lebensende getragen. Als Orla die Handtasche ausgeschüttet hatte und die Ohrringe herausgekullert waren, war er geschockt gewesen und hatte nicht glauben wollen, dass sein Vater seiner neuen Frau tatsächlich Schmuck von Elisabetta geschenkt hatte. Später hatte er allerdings entdeckt, dass Giuseppe verschiedenen Geliebten Schmuck seiner ersten Frau geschenkt hatte. Vielleicht hatte er die Ohrringe also tatsächlich Kimberly geschenkt. Torre beschlich das unangenehme Gefühl, dass er Orla vielleicht zu Unrecht beschuldigte. Aber selbst dann war sie keine Heilige.

„Bei deinem reichen Sportler hattest du da ja mehr Erfolg“, entgegnete er. „Ich weiß nicht, ob du weniger Abfindung bekommen hast, als die Medien behauptet haben, oder ob du schon alles ausgegeben hast, aber nun hat sich ja zum Glück dein ach so guter Freund Jules in dich verliebt. Er würde alles für dich tun und sogar versuchen, meinen Vater zu überreden, dir eine Stelle zu geben. Aber nun hat Giuseppe mir die Firma überschrieben, und ich bin nicht so von dir eingenommen wie Jules. Ich nehme mal an, du hast vor, ihn zu heiraten? Er ist reich und betet dich an. Aber dein Plan hat einen Haken.“

„Ach ja?“ Orlas Augen blitzten wütend, doch ihre Stimme war spöttisch und kühl, und in Torre machte sich ein heftiges Verlangen breit – ein Verlangen, das mit all den bedeutungslosen Abenteuern im Laufe der Jahre nie befriedigt worden war. Und das wegen einer Frau, die nicht einmal sein Typ war! Er mochte sportliche Blondinen, deren Einstellung zu Sex so unkompliziert war wie seine eigene. Es war ihm rätselhaft, warum diese rothaarige Person mit ihren großen Augen und dem blassen, hübschen Gesichtchen ihn so durcheinanderbrachte.

Er richtete sich auf, wobei er sie fast berührte. „Dein Problem ist, dass du eine schlechte Schauspielerin bist. Du erstarrst jedes Mal, wenn Jules dir näher kommt oder dir seine Zuneigung zeigt, und früher oder später wird der arme Kerl merken, dass du nicht mit ihm ins Bett willst.“

„Natürlich will ich nicht ins Bett mit ihm!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften, wodurch sich ihre Brüste seinem Oberkörper entgegenbewegten, und als er ihr in die Augen sah, beobachtete er, wie ihre Pupillen sich weiteten. „Und ich will ihn auch nicht heiraten.“

„Von wegen!“ Torre konnte sich nicht länger beherrschen; er musste sie berühren. Während er eine Strähne ihres Haars um die Finger der einen Hand wickelte, schob er die andere um ihre Taille. „Mit Jules willst du nicht ins Bett, aber mit mir schon, oder?“

„Du bist so eingebildet!“ Orla funkelte ihn an, widersprach ihm aber nicht und versuchte auch nicht, sich ihm zu entziehen. Ihr aufgebrachter Blick war unwiderstehlich. Stöhnend zog er sie an sich und küsste sie.

Sie legte ihre Hände auf seinen Oberkörper, doch anstatt ihn von sich zu schieben, wie er es fast erwartete, spreizte sie ihre Finger und ließ ihre Hände auf seine Schultern wandern, während sie sich seinem Kuss hingab. Und er wurde von einem heftigen Triumphgefühl gepackt, als sie seinen Kuss schließlich mit einem Verlangen erwiderte, das seinem glich, fast so, als hätte sie sich seit acht Jahren nach ihm verzehrt und genau wie er diese Sehnsucht empfunden, die jedes Mal hochgekommen war, wenn er an sie gedacht hatte.

Er drückte sie ganz fest an seinen erregten Körper und verlor sich in dem leidenschaftlichen Kuss. Seine Beherrschung war dahin. An ihre Stelle trat ein verzweifeltes Verlangen, das ihn wütend machte, weil er nicht verstand, warum er Orla so heftig begehrte, wie er nie zuvor eine Frau begehrt hatte.

Dieser Gedanke brachte ihn wieder zur Besinnung. Er brauchte Orla nicht. Aber wie damals hatte sie ihn die Beherrschung verlieren lassen. Er war so schwach wie sein Vater, ein Sklave seines Verlangens nach einer schönen Frau, die sicher mindestens so geldgierig war wie ihre Mutter.

Voller Selbstverachtung riss er sich widerwillig von ihr los. „Die Stelle, für die du dich beworben hast, ist bereits besetzt worden“, sagte er. „Aber selbst wenn sie noch frei wäre, hätte ich sie dir nicht gegeben. Genauso wenig wie jede andere Stelle im Unternehmen.“

Orla blinzelte, und die Erregung in ihrem Blick wich einem verunsicherten Ausdruck. Sie trat einen Schritt zurück und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

Torre bemerkte, dass ihre Hand leicht zitterte. Doch davon ließ er sich nicht beirren. „Ich rate dir, dich von Jules fernzuhalten. Zieh aus London weg und such dir ein anderes Opfer. So hübsch, wie du bist, findest du sicher schnell einen neuen Anbeter.“

Orla schluckte. „Du irrst dich mit Jules“, flüsterte sie.

„Er ist ein Romantiker und hält dich für eine Prinzessin, die er mit einem Kuss aufwecken kann“, fuhr Torre unbeirrt fort. „Er hat keine Ahnung, dass du ein geldgieriges Flittchen bist und er zahlen muss, wenn er dich haben will. Wirst du dich ihm nach und nach verkaufen? Wie viel nimmst du für einen Kuss? Und wie viel dafür, dass er deine Brüste berühren darf? Und wirst du ihn warten lassen, bis du dir seiner ganz sicher bist, weil dein Name auf dem Trauschein steht, bevor du mit ihm ins Bett gehst?“

Wie gebannt sah Torre in ihre vor Wut funkelnden Augen, weshalb er nicht auf die saftige Ohrfeige vorbereitet war, die sie ihm verpasste.

Das brachte ihn zur Besinnung. Seit ihrem Wiedersehen war er nicht ganz bei sich gewesen. Torre berührte die Stelle, wo sie ihn erwischt hatte. „Du kannst ja ganz schön kräftig zuschlagen“, brummte er und gestand sich beschämt ein, dass er zu weit gegangen war.

Als er sie ansah, bemerke er, dass sie so blass war, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Fluchend streckte er die Arme aus, um sie aufzufangen. Sie wich zurück, und ein angsterfüllter Ausdruck huschte über ihr Gesicht.

„Es tut mir so leid, ich kann es nicht glauben, dass ich dich geschlagen habe!“ Sie hob eine Hand vor den Mund und sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. „Das hätte ich nicht tun dürfen. Ich bin kein Stück besser als er.“

„Als wer?“ Torre runzelte die Stirn und sah, wie sie die Lippen zusammenkniff, als bereute sie ihre Worte.

„Es tut mir leid“, wiederholte sie. Kurz dachte er, dass sie mit ihrer sonderbaren Reaktion einfach nur Mitleid erwecken wollte, aber sie zitterte, und ihr erschrockener Gesichtsausdruck war zu echt.

„Ich habe es verdient“, erwiderte er. Vor acht Jahren hatte sie ihn schwach gemacht. Aber er konnte ihr nicht die Schuld dafür zuschieben, dass er seinen Ansprüchen an sich selbst nicht gerecht wurde. Vielleicht war sie ein Flittchen, das es darauf abgesehen hatte, einen reichen Mann seines Geldes wegen zu heiraten, wie ihre Mutter es so oft getan hatte. Eine gescheiterte Ehe hatte Orla schon hinter sich.

Ihre tränenglänzenden Augen lösten eine unbekannte Regung in Torre aus, die er nicht weiter erkundete. Als sie sich verspannte, als erwartete sie, jeden Moment selbst geschlagen zu werden, runzelte er die Stirn. „Orla – wovor hast du Angst?“

Anstatt ihm zu antworten, wirbelte sie herum und stieß dabei so heftig mit dem Knie gehen die Stuhlkante, dass es laut krachte. „Langsam“, ermahnte er sie, als sie durch den Raum spurtete. Er holte sie ein, als sie nach der Türklinke griff. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, woraufhin sie einen kläglichen Laut von sich gab und sich an die Tür drückte.

„Nicht, David, bitte nicht …“

4. KAPITEL

Orla hörte Torre fluchen.

Torre. Nicht David. Während das Bild langsam zu verblassen begann, wie David vor ihr stand, die Hand zum Schlag erhoben, holte sie tief Luft und biss sich auf die Lippe. Hoffentlich hatte sie nicht Davids Namen gerufen. Einen Moment lang hatte sie dieselbe lähmende Angst empfunden wie an dem Abend, als David sie im Badezimmer in die Ecke gedrängt hatte. Sie sah es vor sich, als wäre es erst gestern passiert. Wie er die Tür verschloss, bevor er auf sie zukam, wie er ihre Angst genoss … Zehn Monate vorher hatte er versprochen, sie zu lieben und zu beschützen, doch am Ende war er der Meinung gewesen, dass sie eine schlechte Ehefrau und damit verantwortlich für seine Wutanfälle wäre.

Aber niemand verdiente es, körperlich oder verbal angegriffen zu werden. Das hatte die Krankenschwester in der Notaufnahme gesagt, als Orla ihr erzählt hatte, dass sie sich die Wunde über dem Auge bei einem Sturz zugezogen habe.

Orla sah Torre an, der mit finsterer Miene vor ihr stand, und seufzte tief, als sie sah, dass seine Wange von ihrer Ohrfeige gerötet war. Sie war kein Stück besser als David. Dass sie wütend auf Torre gewesen war, rechtfertigte ihr Verhalten keineswegs. Sie konnte es Torre nicht zum Vorwurf machen, wenn er sich nun an ihr rächte. Sie schloss die Augen und wappnete sich für seinen Schlag. Doch es passierte nichts, und als sie die Augen wieder öffnete, sah er sie nur mit unergründlichem Blick an.

„Hast du etwa Angst vor mir?“, fragte er schließlich ungläubig. Er sah verärgert aus, doch Orla hatte das Gefühl, dass sein Ärger sich nicht gegen sie richtete. „Was denkst du denn, was ich dir antun will, Piccola?“, fragte er ganz ruhig, als wolle er verhindern, dass sie noch mehr Angst bekam. Sie wusste, dass Piccola ‚Kleine‘ hieß – und brach in Tränen aus. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er ihr nicht wehtun würde. Doch sie hatte schmerzlich erfahren müssen, dass sie sich nicht immer auf ihr Gefühl verlassen konnte.

Orla wusste nicht, was sie Torre antworten sollte. Sie hasste sich dafür, dass sie sich vor ihm so gehen ließ, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie wollte seinen sicherlich verächtlichen Blick nicht sehen.

Er brummte etwas auf Italienisch, das sie in ihrem Elend nicht verstand, schlang einen Arm um ihre Taille und einen hinter ihre Knie, und eh sie reagieren konnte, hob er sie hoch und trug sie zu einem Sofa am Fenster.

„Lass mich los“, rief sie und versuchte, sich frei zu strampeln, doch er setzte sich, zog sie auf seinen Schoß und streichelte ihr übers Haar. Seine unerwartete Fürsorglichkeit ließ sie nur noch mehr weinen. Orla konnte sich nicht erklären, warum sie sich in seinen Armen so geborgen fühlte. Sein regelmäßiger Atem beruhigte sie. Sie lehnte den Kopf an seinen Oberkörper und wischte sich die Tränen ab, bevor sie Torre ins Gesicht sah, das ihrem viel zu nah war.

„Geht es dir besser?“, fragte er. Nichts in seiner Stimme verriet, was er dachte.

„Ja, danke.“

„Möchtest du darüber reden?“

„Nein.“ Orla wollte weder über die Brutalität ihres Ex-Mannes mit ihm sprechen noch über ihre Scham darüber, was sie eben getan hatte. Sie versuchte, von seinen Knien zu rutschen, doch er umschlang sie fester, und sie hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Also blieb sie sitzen und wunderte sich ein wenig darüber, dass Torre sie hielt, als sei sie zart und zerbrechlich, nachdem er sie eben noch bezichtigt hatte, Jules ausnehmen zu wollen.

Torre irrte sich. Jules hatte nie angedeutet, dass er mehr von ihr wollte als die lockere Freundschaft, die sie verband. Allerdings hatte er sich ihr gegenüber eigenartig besitzergreifend verhalten, seitdem sie in Amalfi angekommen waren, und Orla war nicht wohl dabei.

„Nach den Feierlichkeiten wird Giuseppe auf Kreuzfahrt gehen“, sagte Torre. „Das wird ihm nach der Lungenentzündung sicher guttun.“

Offenbar wollte er die Stimmung wieder normalisieren. Orla war froh, dass er sie nicht zu einer Erklärung gedrängt hatte. Also blieb sie dankbar bei dem Thema. „Wo geht es denn hin?“

„In die Karibik.“

„Wie schön!“

„Während Giuseppe unterwegs ist, bietet es sich an, dringend fällige Renovierungsarbeiten am Haus durchzuführen.“

„Was für Renovierungsarbeiten?“

„Es gibt Probleme mit dem Fundament. Das Haus sinkt quasi in den Boden ein, einfach ausgedrückt.“

Orla nickte. „Absenkung ist gerade bei älteren Gebäuden problematisch. Bei einem so großen Haus wie der Villa Romano ist es nicht einfach, das Fundament zu unterfangen.“

Torre sah sie verwundert an. „Ich bin erstaunt, dass du dich mit Absenkung und Unterfangung auskennst.“

Einen Moment lang war sie versucht, ihm zu sagen, dass sie drei Jahre lang Bauingenieurswesen studiert hatte. Doch sie fürchtete, dass er sie fragen könnte, warum sie ihren Abschluss nicht gemacht hatte. Und weil sie sich schämte, zuzugeben, dass sie ihre Karriere für einen Mann aufgegeben hatte, wegen dem sie durch die Hölle gegangen war, antwortete sie: „Ich habe ein paar Fachbegriffe bei Mayalls aufgeschnappt.“

Zu ihrer Erleichterung fragte Torre nicht weiter. Allerdings musterte er sie nachdenklich, und auf einmal fand sie es nicht mehr beruhigend, sein Herz im Einklang mit ihrem Puls schlagen zu hören. Ihre Reaktion auf Torre machte ihr Sorgen. Alles kam ihr auf einmal vor wie ein Traum. Sie starrte auf die Stelle, wo sein Hemd, dessen oberste Knöpfe offen waren, den Blick auf ein Dreieck gebräunter Haut freigab. Orla konnte kaum glauben, was sie da tat, als sie ihre Hand auf seine Haut legte, um seine Wärme und den Kontrast zwischen samtener Haut und den drahtigen Haaren auf seinem Oberkörper zu spüren. Er hielt den Atem an, als sie ihre Hand seinen Hals emporwandern ließ und über die dunklen Bartstoppeln auf seinem Unterkiefer streichelte.

Betört von seiner Männlichkeit führte sie ihre Entdeckungsreise fort und fuhr seine sinnlichen Lippen mit den Fingerspitzen nach. Es kam ihr so unwirklich vor, hier auf seinem Schoß zu sitzen und sich an seinen muskulösen Oberkörper zu schmiegen! Und wenn es nicht wirklich war, wenn sie wieder einmal von Torre träumte, wie so oft in den vergangenen acht Jahren, dann konnte es nicht schaden, wenn sie ihm jetzt einladend den Mund entgegenhielt.

Torre gab einen kehligen Laut von sich, der ihr durch und durch ging und ihr Verlangen vollends entfachte. Gleichzeitig wallte Erleichterung in ihr auf, unbändige Freude darüber, dass David es nicht geschafft hatte, ihr weibliches Verlangen zu zerstören. Sie musste sich sogar eingestehen, dass sie Torre mehr begehrte, als sie David je begehrt hatte.

„Du machst mich wahnsinnig“, sagte Torre. Sein warmer Atem streifte ihre Lippen, bevor er sie küsste, innig und so erotisch, dass es Orlas Verlangen noch verstärkte. Er ließ seine Zunge zwischen ihre Lippen gleiten, und sie erwiderte seinen Kuss voller Inbrunst. Sie spürte, wie hart er war. Es gab nur noch sie und ihn und ihre Lust aufeinander. Als sie sich ihm entgegendrängte, stöhnte er auf.

„Ich wusste von Anfang an, dass du eine Hexe bist.“

Seine Stimme war heiser vor Erregung, aber seine Worte zwangen Orla, sich ihre Situation klarzumachen. Torre hatte ganz deutlich gemacht, dass er sie verachtete. Trotzdem hatte sie sich ihm an den Hals geworfen – wie das Flittchen, für das er sie hielt.

Obwohl es ihr unendlich schwerfiel, löste sie den Kuss. Ihr Körper sehnte sich nach ihm. Aber sie war nicht mehr die naive Achtzehnjährige, die sie bei ihrer ersten Begegnung gewesen war. Torre hatte ihr das Herz gebrochen, und sie hatte lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Sie hatte David geheiratet, nachdem sie von Torres Verlobung mit einer Comtesse gehört hatte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es einen Zusammenhang gab. Orla ließ sich von seinen Knien gleiten und erhob sich.

Sie war schmerzlich enttäuscht darüber, dass er nicht versuchte, sie aufzuhalten. Wie blöd war sie eigentlich? Er hatte ihr schon einmal wehgetan und konnte es wieder tun.

Orla schämte sich, dass sie seinem Zauber so schnell erlegen war. Und sie war verwirrt von ihrer Reaktion auf ihn. Sie begehrte ihn genauso sehr wie damals mit achtzehn.

Ihr Stolz war ihre einzige Abwehr. „Du hättest mich nicht küssen dürfen“, sagte sie verärgert.

„Das war eher andersrum. Du hast mich geküsst“, erwiderte er mit einem spöttischen Lächeln. Doch da war noch etwas in seinem Blick, das sie nicht deuten konnte. Als sie in seinen Armen geweint hatte, war es ihr fast vorkommen, als habe sie Mitleid darin gesehen.

Sie wollte sein Mitleid nicht. Beschämt wandte sie sich um und ging hoch erhobenen Hauptes zur Tür.

Torre sah Orla den Raum verlassen und wäre gern hinterhergegangen. Er wusste nicht, warum er auf einmal den Drang verspürte, sie zu beschützen, sie in den Armen zu halten und zu trösten, wie er es eben getan hatte.

Frauen wie sie brauchten nicht beschützt zu werden. Er hatte viele von ihrer Sorte kennengelernt – Frauen, die ihre Schönheit benutzten, um reiche Männer auszunehmen. Orla hatte bereits eine Scheidung hinter sich. Es war verständlich, dass Jules ihrem überirdischen Zauber erlegen war, aber ihr freundliches Wesen und ihre Zerbrechlichkeit waren nur aufgesetzt, da war Torre sich sicher.

Er ging zum Fenster. Die Sehnsucht, die Orla in ihm geweckt hatte, wühlte ihn auf und ließ alles klarer erscheinen. Vor acht Jahren hatte es mächtig geknistert zwischen ihnen, doch seine Gefühle für sie waren komplexer geworden, als er mit ihr ins Bett ging. Es hatte ihn erschrocken, wie nahe sie ihm gegangen war. Als er am nächsten Morgen erfahren musste, wer sie war, hatte er ihr unterstellt, geldgierig wie ihre Mutter zu sein. In Wahrheit war er froh gewesen, einen Vorwand zu haben, sie wegzuschicken.

Sie hatte ihn dazu bringen wollen, sie zu heiraten – warum sonst hätte sie ihm ihre Unschuld schenken sollen? Als sie aus seinem Schlafzimmer gestürzt war, hatte er gar nicht erst in Erwägung gezogen, dass sie irgendetwas anderes sein könnte als ein durchtriebenes Stück, das sich einen reichen Mann angeln wollte.

Und dass Orla eben zusammengebrochen war und so verletzlich gewirkt hatte, hieß nicht zwangsläufig, dass er sich damals geirrt hatte. Stirnrunzelnd dachte er daran, wie verängstigt sie geguckt hatte, als er ihr nach ihrer Ohrfeige gefolgt war. Offenbar hatte sie erwartet, dass er sich rächen würde, was vermuten ließ, dass sie in ihrer Vergangenheit Gewalt erfahren hatte.

Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, ging zurück zum Schreibtisch und griff nach Orlas Lebenslauf. Wenn er ihr einen Job gab, konnte er vielleicht herausfinden, ob sie wirklich nur mit seinem Stiefbruder befreundet sein wollte oder ob sie es auf eine Ehe mit Jules abgesehen hatte. Und auf alle Fälle wäre es interessant, herauszufinden, wer Orla Brogan wirklich war.

5. KAPITEL

Orla stieg aus dem Pool und ging zu Jules, der auf einem Sonnenstuhl lag. Normalerweise half ihr das Schwimmen dabei, einen klaren Kopf zu bekommen, aber heute hatte es nicht funktioniert. All die Bahnen, die sie zurückgelegt hatte, waren vergeblich – Torre beherrschte noch immer ihre Gedanken.

Die Sonne knallte vom wolkenlosen Himmel, und Orla schob einen Liegestuhl in den Schatten eines Sonnenschirms. „Vor ein paar Jahren hat Giuseppe erzählt, Torre hätte sich verlobt“, sagte sie so beiläufig wie möglich zu Jules. „Warum hat er nicht geheiratet?“

„Das war Marisa Valetti … Sie wollte ihn dann doch nicht heiraten. Warum, weiß ich nicht. Giuseppe wünscht sich, dass er endlich heiratet und für Nachkommen sorgt, aber Torre hat eine Freundin nach der anderen und offenbar nicht vor, eine Familie zu gründen. Ich glaube, er ist nie über Marisa hinweggekommen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er zaghaft hinzu: „Ist früher mal was zwischen dir und Torre vorgefallen?“

„Was sollte denn vorgefallen sein?“

Er zuckte mit den Schultern. „Mir ist aufgefallen, dass er dich beim Essen so komisch angeguckt hat.“

Orla zögerte. Sie hatte sich schon gefragt, ob Torre seinem Stiefbruder von ihrer gemeinsamen Nacht erzählt hatte, aber offenbar wusste Jules nichts davon. Sie und Jules hatten den Nachmittag gemeinsam am Pool verbracht, und nichts deutete darauf hin, dass er in sie verliebt sein könnte. Torre hatte ihr diesen Floh sicher nur ins Ohr gesetzt, um ihre Freundschaft mit Jules zu zerstören, weil er meinte, dass sie seinen Stiefbruder ausnehmen wollte. „Er hasst meine Mutter dafür, dass sie seinen Vater des Geldes wegen geheiratet hat, und kann auch mich nicht besonders leiden.“

„Warum? Du kannst doch nichts für deine Mutter.“

„Ich nehme an, es reicht, dass ich ihre Tochter bin“, antwortete Orla. Sie hatte sich oft gefragt, warum Torre so wütend geworden war, als er das erfahren hatte. Er hatte ihr vorgeworfen, ihn absichtlich getäuscht zu haben. Aber das stimmte nicht. Sie hatte einfach nicht mehr klar denken können, als er an jenem Abend direkt auf sie zugesteuert und vor ihr stehengeblieben war.

„Wir hatten noch nicht das Vergnügen“, hatte er mit seiner sonoren, tiefen Stimme gesagt und ihr die Hand entgegengestreckt. „Ich bin Torre Romano.“

Sie wusste noch, wie blass ihre Finger in seiner braungebrannten Hand ausgesehen hatten, und dass sie gedacht hatte, dass er sicher viel Zeit im Freien verbrachte. Seine breiten Schultern und sein durchtrainierter Oberkörper deuteten ebenfalls auf körperliche Arbeit hin. Von ihrer Mutter wusste sie, dass er Bauingenieur war.

Torre hielt ihre Hand länger als nötig, und seine Berührung ließ ein elektrisches Kribbeln durch ihren Arm jagen. „Und du bist?“, fragte er.

„Orla … Orla Brogan.“

„Orla“, wiederholte er lächelnd. „Den Namen habe ich noch nie gehört.“

„Mein Vater war Ire und hat mich nach seiner Mutter benannt.“ Orla errötete. Sie hatte keine Ahnung, wieso sie Torre etwas so Privates erzählte.

„Du redest in der Vergangenheitsform über deinen Vater. Heißt das …?“

„Er ist gestorben, als ich noch ein Kind war.“

„Ich weiß, wie schlimm es ist, einen Elternteil zu verlieren“, antwortete er. „Meine Mutter ist gestorben, als ich sechs war.“

Sie hatte das Gefühl, dass er sich wunderte, über den Verlust gesprochen zu haben, und fragte sich, ob er seine Mutter so sehr vermisste wie sie ihren Vater. Doch er lächelte und fuhr fort: „Dein Vater hat dir einen sehr schönen Namen gegeben, Orla. Fast so schön wie du.“

Flirtete er etwa mit ihr? Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Auf einen so gut aussehenden, aufregenden und selbstbewussten Mann wie Torre war sie nicht vorbereitet. Er war Welten entfernt von den Jungs, mit denen sie bisher zusammen gewesen war. Im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen war sie als fast neuzehnjährige Jungfrau eine Spätzünderin, aber Orla wollte ihr Leben nicht wie ihre Mutter an Männern orientieren und sich von ihnen aushalten lassen. Sie hatte kein Interesse an Jungs und auch keine Zeit dafür, weil sie studieren wollte und darum viel für die Schule tat.

Aber Torre überwältigte sie. Er löste eine Sehnsucht in ihr aus, die beunruhigend heftig war. Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, doch er verfestigte seinen Griff und strich mit dem Daumen über ihren wie verrückt rasenden Puls. „Dein Glas ist leer“, sagte er. „Möchtest du noch einen Drink?“

„Eigentlich wollte ich gerade zurück auf mein Zimmer“, antwortete sie.

Er sah sie überrascht an. „Ach, du bist hier im Haus untergebracht? Wie kommt es dann, dass wir uns noch nicht begegnet sind?“

„Ich bin erst heute angekommen und war den ganzen Tag mit Erledigungen für Kimberly beschäftigt.“ Orla hatte ihre Mutter von klein auf immer nur beim Vornamen genannt.

Torres Miene verdüsterte sich, als er Kimberlys Namen hörte. „Ach, du gehörst zu ihren Untertanen. Ich hatte schon das Vergnügen, meine neue Stiefmutter kennenzulernen“, sagte er zynisch. „Keine Ahnung, warum mein Vater ein geldgieriges Flittchen wie Kimberly Connaught geheiratet hat. Es ist nicht zu übersehen, dass sie nur hinter seinem Reichtum her ist.“

„Ich …“ Orla zögerte. Sie fürchtete, ihn schlecht dastehen zu lassen, wenn sie ihm sagte, dass Kimberly ihre Mutter war, nachdem er so herablassend über sie gesprochen hatte. Hinzu kam, dass sie sich für ihre Mutter schämte.

Doch dann lächelte er wieder, und sie dachte nicht weiter an ihre Mutter, sondern nur daran, wie unglaublich gut er aussah.

„Bleib noch und tanz mit mir“, sagte er.

Torre ging mit ihr auf die Terrasse. Die Musik drang durch die offene Tür zu ihnen heraus. Als er sie an seinen durchtrainierten Körper zog, erbebte Orla vor Aufregung. Seine grauen Augen waren sanft wie Holzrauch, und er sagte etwas auf Italienisch zu ihr. Sie starrte ihn nur an und ließ ihn gewähren, als er sich vorbeugte, um sie zu küssen.

Nie zuvor hatte sie etwas wie seinen Kuss erlebt. Und dort unter dem samtenen Nachthimmel im Mondlicht explodierte Torre in ihrem Herzen. Anders ließ sich das starke Gefühl der Verbundenheit, das sie empfand, nicht beschreiben.

Er löste sich von ihr und lächelte darüber, wie sie seufzend protestierte. „Du musst eine als Engel getarnte Zauberin sein, Orla“, sagte er mit heiserer Stimme. „Kommst du mit zu mir?“

Orla fragte nicht einmal, wo er mit ihr hinwollte. Sie fuhren die gewundene Straße immer weiter bergauf, bis er schließlich vor einem altertümlichen Bauernhaus nah am Rand des Kliffs hielt. Weit unter ihnen spiegelte sich der Mond im Meer.

„Irgendwann will ich mir hier ein modernes Haus bauen“, sagte Torre, nahm sie an der Hand und ging mit ihr hinein. Doch sie achtete kaum auf das Haus, sondern hatte nur Augen für ihn. Er machte sie ganz verrückt. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie Verlangen nach jemandem, und sie sah ihre Sehnsucht im Blick seiner grauen Augen gespiegelt. Also schmiegte sie sich ihm entgegen, als er sie an sich zog, und sträubte sich nicht, als er sie auf seine Arme schwang, um sie die Treppe hinauf und in sein Schlafzimmer zu tragen …

„Orla? Bist du eingeschlafen? Ich möchte mit dir über etwas reden.“

Jules’ Stimme holte Orla in die Gegenwart zurück. Als sie die Augen öffnete, fand sie seinen Blick auf sich gerichtet. Er wirkte sonderbar angespannt. „Worüber denn?“

Als er nicht antwortete, folgte sie seinem Blick und sah Giuseppe, der gerade am anderen Ende des Pools an einem Tisch Platz nahm. Torre war bei seinen Vater, und Orlas Herz machte einen Satz, als er zu ihr herübersah. Zwar konnte sie seine Augen nicht sehen, da er eine Sonnenbrille trug, aber sie war sicher, dass er ihr ihren grünen Badeanzug im Geiste auszog. Wieder musste sie an damals denken.

Sie hatte für das Fest ein Kleid von ihrer Mutter geborgt, die meinte, sie könne nicht in Jeans auf der Feier erscheinen. Die meisten Kleider von Kimberly waren für Orlas Geschmack zu offenherzig gewesen, aber dann fand sie ein dunkelgrünes Seidenkleid, knielang und mit schmalen Trägern. Dazu trug sie Ballerinas. Ihr Haar steckte sie zu einem lockeren Knoten hoch. Kimberly lieh ihr noch ein Paar Smaragdohrringe, die sie von Giuseppe bekommen hatte, doch aus Furcht, sie zu verlieren, nahm Orla sie ab und verstaute sie in ihrer Handtasche.

Normalerweise interessierte sie sich nicht weiter für ihr Aussehen, doch als Torre sie in seinem Schlafzimmer ungläubig betrachtete, kam sie sich unendlich weiblich und schön vor. Genüsslich streifte er die Träger ihres Kleides herunter. Sein heftiger Atem erregte sie.

„Du bist das Schönste, was ich je gesehen habe“, sagte er.

Orla hatte weiche Knie vor Aufregung, und als Torre ihre Brüste streichelte, erbebte sie vor Lust. „Bellissima“, flüsterte er, bevor er sich vorbeugte, um eine ihrer Brustknospen mit den Lippen zu umschließen …

„Orla?“

Wieder riss Jules Stimme Orla aus den Erinnerungen.

„Mist. Das wird wohl warten müssen.“

Orla runzelte die Stirn. „Was wird warten müssen?“

„Unsere Unterhaltung.“ Er sah sie prüfend an. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist ganz rot im Gesicht.“

Sie war total aufgewühlt, weil ausgerechnet jetzt, wo sie gerade an damals gedacht hatte, Torre nur wenige Meter entfernt von ihr saß. Sie wagte es nicht, zu ihm hinzusehen, ahnte aber, dass er ihre Anwesenheit ebenso stark empfand wie sie seine.

„Mir ist heiß“, sagte sie und erhob sich. „Ich gehe noch mal ins Wasser.“

Sie rannte zum Pool und sprang hinein. Das Wasser kühlte sie ab, und sie schwamm Bahn um Bahn, um dieses Verlangen nach Torre loszuwerden. Als sie nicht mehr konnte, ließ sie sich in der Hoffnung, dass Torre gehen würde, noch eine Weile auf dem Rücken treiben. Doch als sie aus dem Wasser stieg, sah sie zu ihrem Entsetzen, dass Jules sich zu Torre und Giuseppe gesetzt hatte.

Es wäre unhöflich gewesen, sich nicht zu ihnen zu gesellen, also schlang sie sich ein Handtuch um und ging zu den Männern hinüber. Dummerweise war nur neben Torre Platz, und Jules und Giuseppe, die auf der anderen Seite des Tisches saßen, waren in ein Gespräch vertieft.

„Du schwimmst wie ein Fisch“, sagte Torre lächelnd und strich ganz leicht mit den Fingern über ihren Oberschenkel, nachdem sie sich gesetzt hatte. Obwohl es nur eine winzige Berührung war, ging sie Orla durch und durch.

Ein verstohlener Seitenblick verriet ihr, dass Jules und Giuseppe nicht mitbekommen hatten, was eben passiert war. Eigentlich war ja auch gar nichts passiert. Torre wollte sie nur aus der Reserve locken.

„Dafür, dass du so schmal gebaut bist, bist du eine starke Schwimmerin.“

„Als ich jünger war, bin ich im Verein geschwommen und habe an Wettkämpfen teilgenommen. Ich hätte gern weitergemacht, um vielleicht irgendwann sogar an einer Olympiade teilzunehmen.“

„Warum hast du es nicht gemacht?“

„Der Mann meiner Mutter besaß ein Hallenbad, in dem ich trainieren konnte. Nachdem sie ihn für einen spanischen Liebhaber verließ, sind wir so oft umgezogen, dass es sich nie gelohnt hat, in einen Verein einzutreten.“

„Was macht deine Mutter jetzt?“, fragte Giuseppe, der sein Gespräch mit Jules beendet hatte. „Man liest gar nichts mehr über sie.“

„Momentan ist sie in den USA“, antwortete Orla ausweichend. Sie wollte Giuseppe und Torre weder davon erzählen, wie abgezehrt und hinfällig ihre Mutter nach dem Schlaganfall war, noch davon, dass sie die großzügige Abfindung von Giuseppe in kürzester Zeit verbraucht hatte, wodurch sich nun die Krankenhausrechnungen stapelten.

„Und du, Orla?“, fragte Giuseppe und sah erst sie und dann Torre an. „Torre, wenn ich das richtig sehe, ist die Stelle, für die Orla sich beworben hat, bereits besetzt. Gibt es nicht einen anderen Posten in der Firma, der zu ihr passen würde?“

„Da gibt es etwas, ja.“

Verwundert wandte sie sich Torre zu. Doch sie durfte sich keine Hoffnungen machen – das war sicher wieder nur eins von seinen Spielchen.

„Es wäre eine befristete Tätigkeit, aber ich sehe es als eine Art Probezeit, und wenn du dich gut machst, kann ich vielleicht eine feste Stelle bei ARC für dich finden“, erklärte Torre. „Du wirst als Assistentin für mich arbeiten, und deine erste Aufgabe wird sein, mich auf eine Geschäftsreise zu begleiten.“

„Aber du hast doch sicher eine Sekretärin?“ Orla versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte ja geahnt, dass er ihr nicht wirklich eine Stelle geben würde.

„Oh ja, ich habe eine ausgezeichnete Sekretärin. Aber Elaine ist Mutter eines fünfjährigen Sohnes und begleitet mich ihrer familiären Verpflichtungen wegen nicht auf Auslandsreisen. Ich habe außerdem noch einen Assistenten namens Renzo, der mich normalerweise auf Reisen zu meinen Bauprojekten begleitet. Renzo ist leidenschaftlicher Radfahrer und kürzlich bei einem Rennen schwer gestürzt. Er hat sich einige Brüche zugezogen und kann zwei Monate lang nicht arbeiten. In Dubai werde ich die offizielle Eröffnung eines Wolkenkratzers besuchen, den ARC gebaut hat. Es wird ein prestigeträchtiges Ereignis, über das breit berichtet werden wird, und damit eine gute Gelegenheit, die Firma bekannter zu machen und neue Aufträge an Land zu ziehen. Da wird deine Erfahrung als Chefsekretärin bei einem Bauunternehmen nützlich sein, und du hast ja schon bewiesen, dass du Ahnung von der Bauindustrie hast.“

Offenbar meinte er es tatsächlich ernst. Orla fragte sich, ob er merkte, dass sie auf einmal Angst bekam.

„Wir fliegen morgen. Du bräuchtest ein Abendkleid für den Empfang, aber das kannst du in Dubai besorgen. Auf dem Flug werde ich dich mit Informationen zu dem Bauprojekt versorgen. Noch Fragen?“

„Ähm …“ Orla wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Torre Hintergedanken hatte.

„Ich nehme an, du möchtest wissen, wie viel ich zahle“, sagte er. „Du bekommst dasselbe Gehalt wie Renzo.“ Er nannte eine Summe, die Orla innerlich jubilieren ließ. So viel hatte sie noch nie verdient, und auch wenn es nur für zwei Monate war, konnte sie damit einen guten Teil von Kimberlys Arztrechnungen bezahlen.

Doch ihr war klar, dass sie als Torres Assistentin zweifelsohne viel Zeit mit ihm verbringen müsste. Wie würde sie damit klarkommen, ihn täglich zu sehen? Sie würde vor ihm verbergen müssen, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte.

„Wo wird Orla denn nach der Dubaireise arbeiten?“, fragte Jules stirnrunzelnd.

„Vorwiegend im Büro in Neapel“, antwortete Torre, ohne seinen Blick von Orla zu wenden. „Aber es stehen noch mehrere Reisen an, bei denen ich dich brauche, bevor ich die Firma übernehme. Oder hast du ein Problem damit?“

Ihr Problem war er – oder vielmehr ihre Reaktion auf ihn. Ihr Herz klopfte wie verrückt, bloß weil er neben ihr saß. Aber sie war fest entschlossen, sich davon nicht beirren zu lassen. Es wäre dumm, sein Jobangebot abzulehnen, zumal die Chance bestand, dass sie weiterbeschäftigt wurde, wenn sie Torre bewies, dass sie qualifiziert und arbeitswillig war.

Sie sah ihm in die Augen. „Ich habe kein Problem damit“, sagte sie ruhig. „Ich weiß dein Angebot zu schätzen und versichere dir, dass ich dich nicht enttäuschen werde.“

„Ja, das wäre nicht besonders clever“, antwortete er und sie fragte sich, ob sie sich den drohenden Unterton nur eingebildet hatte. Es war, als habe sie die Höhle des Löwen betreten, und einen Moment lang war sie versucht, ihre Zusage zurückzunehmen.

Sie sah zu, wie Torre seinem Vater aufhalf und mit ihm zurück ins Haus ging.

„Du musst nicht für Torre arbeiten“, sagte Jules, als sie wieder alleine waren. Er klang eigenartig angespannt – oder bildete sie sich das nur ein?

Sie zuckte mit den Schultern. „Du weißt, dass ich Geld verdienen muss, um die Pflege meiner Mutter zu finanzieren, und ich habe keine der Stellen bekommen, auf die ich mich nach meiner Kündigung beworben habe. Was bleibt mir denn anderes übrig, als den Job anzunehmen, den er mir angeboten hat?“

Sie war wie vom Donner gerührt, als Jules ihre Hand nahm und sagte: „Das geht jetzt vielleicht ein bisschen schnell, aber du könntest mich heiraten und müsstest dir nie wieder Sorgen um Geld machen.“

6. KAPITEL

Torre fand Orla draußen auf der Terrasse, wo man die Musik und die Stimmen der Gäste nur gedämpft hörte. Sie stand allein an der Balustrade und trug ein silbergraues Kleid aus durchscheinendem Gewebe, das ihre überirdische Schönheit betonte. Ihr rotes Haar wallte wie Seide über ihren Rücken, und ihre Arme und Schultern sahen im Licht des Mondes aus wie Porzellan.

Den ganzen Abend lang machte sie ihn schon verrückt. Er hatte pflichtbewusst mit seinen Verwandten und den anderen Geburtstagsgästen seines Vaters geplaudert, sich dabei aber auf nichts anderes konzentrieren können als auf sie. Es hatte ihn wütend gemacht, sie mit anderen Männern tanzen zu sehen, und er hatte sich sehr zusammenreißen müssen, um sie nicht aus den Armen seines gut aussehenden Cousins Fabio wegzuzerren.

Zum Glück neigte sich die Party ihrem Ende zu. Giuseppe hatte sich bereits zurückgezogen. Torre war nun frei von Verpflichtungen, weshalb er Orla hatte folgen können, als sie hinausgegangen war.

Während in ihm ein wildes Gefühlschaos herrschte, als er auf sie zuging, wirkte sie cool und gefasst. Es versetzte ihm einen Schlag, zu bemerken, dass auf ihren Wangen Tränen glitzerten.

„Du weinst, Orla? Ist das nicht ein bisschen übertrieben?“, frage er, verärgert darüber, dass er sie zu gern in die Arme genommen hätte, um sie zu trösten. Es wäre leichter gewesen, sein Verlangen nach ihr im Zaum zu halten, wenn er sie für ebenso geldgierig wie ihre Mutter hätte halten können. Doch die neuesten Entwicklungen deuteten darauf hin, dass er sie vielleicht falsch eingeschätzt hatte. Er hatte ein schlechtes Gewissen deswegen und fragte knapp: „Du willst Jules nicht heiraten. Warum also die Tränen?“

Sie straffte sich, als er vor ihr stehen blieb, und funkelte ihn wütend an. Ihr finsterer Blick gefiel Torre besser als die Leidensmiene vorher, auch wenn diese wohl nicht aufgesetzt gewesen war.

„Woher weißt du, dass Jules mich gefragt hat, ob ich ihn heiraten will?“, wollte sie wissen. „Hat er es dir erzählt?“

„Nein. Aber es muss ja irgendetwas vorgefallen sein, sonst hätte er nicht Giuseppes Geburtstagsfeier sausen lassen, um aus einem angeblich wichtigen Grund nach London zurückzufliegen. Giuseppe hat schon vor eurer Ankunft angedeutet, dass Jules in dich verliebt ist, und ich habe damit gerechnet, dass Jules dir einen Antrag macht, wenn ich dir einen Job anbiete, der dich von London und von ihm entfernt.“

„Mir geht es schlecht damit“, antwortete Orla mit belegter Stimme.

Torre war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich die Verstellungskünstlerin war, für die er sie seit acht Jahren hielt, oder ob ihr die Geschichte mit Jules wirklich so naheging. Dass ihm diese Vorstellung nicht gefiel, machte ihn wütend, weil Eifersucht normalerweise ein Fremdwort für ihn war.

„Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass er in mich verliebt ist“, sagte sie. „Ich dachte, wir wären einfach nur gute Freunde. Und bevor du wieder einen deiner fiesen Kommentare abgibst: Ich habe ihm keinen Grund gegeben, sich falsche Hoffnungen zu machen.“

Torre zuckte mit den Schultern. „Ich gebe zu, dass ich davon ausgegangen bin, dass du seinen Antrag annehmen würdest. Und dann hätte ich ihm gesagt, dass wir vor acht Jahren miteinander geschlafen und uns heute Morgen geküsst haben und dass es noch immer ziemlich knistert zwischen uns.“

Er sah, wie sie errötete. „Außer gegenseitiger Verachtung ist nichts zwischen uns“, erwiderte sie. „Was hast du gegen mich, Torre? Mein einziges Vergehen war, dass ich mit dir geschlafen habe, und das bereue ich zutiefst. Aber ich war jung und naiv, und du …“ Sie verstummte und biss sich auf die Lippe, was dafür sorgte, dass die Glut in Torre entfacht wurde und er vollends entbrannte, weil er sich vorstellen musste, wie er sie küsste. „Du warst unwiderstehlich“, flüsterte sie.

Er schob den Gedanken beiseite, dass auch sie unwiderstehlich gewesen war, als sie heute Vormittag neben seinem Wagen gestanden hatte. „Ich kann nicht leugnen, dass du rein körperlich unschuldig warst“, entgegnete er. „Aber als du mich als deinen ersten Liebhaber auserkoren hast, wusstest du genau, was du tust. Ich bedauere, dass ich nicht so vorsichtig war, wie ich es gewesen wäre, wenn ich gewusst hätte, dass du noch unerfahren warst. Aber du hast mich absichtlich in dem Glauben gelassen, dass du schon Erfahrung hattest. Du warst genauso berechnend wie deine Mutter und hast deine Jungfräulichkeit eingesetzt, um mich unter Druck zu setzen.“ Vor acht Jahren war Torre sicher gewesen, dass es genau so war, und er wollte sich nicht eingestehen, dass er sich geirrt haben könnte. Denn das würde sein Verhalten ihr gegenüber unverzeihlich machen.

„Ich war achtzehn, um Gottes willen. Ich bin mit dir ins Bett gegangen, weil ich dumm war, aber ich habe dich ja nicht gezwungen, mit mir zu schlafen. Weder warst du Opfer, noch war ich die Trickserin, zu der du mich machen willst.“ Sie atmete heftig. „Wäre ich so geldgierig, wie du es mir vorwirfst, hätte ich Jules’ Antrag angenommen. Dass ich Nein gesagt habe, ist doch wohl der Beweis dafür, dass du falsch liegst.“

Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hast du Nein gesagt, weil du hoffst, noch einen besseren Fang zu machen.“ Als sie ihn verdattert ansah, fügte er hinzu: „Mich.“

Autor

Lucy Gordon
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