Julia Extra Band 475

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SÜSSES GESCHENK ZUM FEST DER LIEBE von LEAH ASHTON
Prinzessin Ana flieht vor einer Pflichtheirat - direkt in die Arme von sexy Bodyguard Rhys North. Auf seinem Luxusanwesen prickelt es so erregend zwischen ihnen, dass sie sich ihm hingibt. Nur für eine Nacht! Doch ausgerechnet kurz vor Weihnachten bemerkt sie die süßen Folgen …

DER MILLIONÄR UND DIE EISPRINZESSIN von DONNA ALWARD
Vor der romantischen Kulisse der tief verschneiten Rocky Mountains begegnet Millionär Dan Brimicombe seiner Ex Adele. Obwohl sie einst seine Liebe verriet, begehrt er die schöne Eisprinzessin gegen jede Vernunft immer noch heiß. Ein Fehler, der sein Herz erneut in Gefahr bringt?

KÜSS MICH, MEIN WEIHNACHTSENGEL von BARBARA WALLACE
Noelle sollte James Hammond hassen! Schließlich hat der Unternehmer gedroht, ihren geliebten Spielzeugladen samt Weihnachtsschloss und Zuckerstangenwald zu schließen. Trotzdem fühlt sie sich bald ungewollt zu James hingezogen. Ist er doch nicht so skrupellos, wie sie gedacht hat?

SINNLICHE KÜSSE UNTERM CHRISTBAUM von DANI COLLINS
Ihre heimliche Ehe ist längst gescheitert, trotzdem eilt Milliardär Travis Sanders seiner Ex-Frau Imogen zur Hilfe, als sie in Not ist - und wird prompt von Paparazzi erwischt. Um einen Skandal zu vermeiden, müssen Imogen und er ein glückliches Paar spielen, und das am Fest der Liebe!


  • Erscheinungstag 12.11.2019
  • Bandnummer 475
  • ISBN / Artikelnummer 9783733713027
  • Seitenanzahl 450
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Leah Ashton, Donna Alward, Barbara Wallace, Dani Collins

JULIA EXTRA BAND 475

LEAH ASHTON

Süßes Geschenk zum Fest der Liebe

Nur eine einzige heiße Liebesnacht verbringt Bodyguard Rhys North mit Prinzessin Ana – sie passt nicht in seine Welt! Doch kurz vor Weihnachten taucht sie mit einem unerwarteten Geschenk bei ihm auf …

DONNA ALWARD

Der Millionär und die Eisprinzessin

Als Hochzeitsplanerin macht Adele Liebesmärchen wahr, privat blieb ihr das Glück verwehrt. Da weckt ihr attraktiver Ex Dan erneut ihr Verlangen. Aber wird sie ihm jemals geben können, was er ersehnt?

BARBARA WALLACE

Küss mich, mein Weihnachtsengel

Warum verzehrt James Hammond sich so nach Noelles Küssen? Die entzückende Spielzeugverkäuferin würde am liebsten jeden Tag Weihnachten feiern. Er jedoch hasst das Fest der Liebe aus tiefstem Herzen!

DANI COLLINS

Sinnliche Küsse unterm Christbaum

Verzweifelt fragt Imogen sich: Wird ihr Ex-Mann Travis ihr verzeihen, dass sie ihn einst belügen musste? Sehnsüchtig hofft sie auf ein Weihnachtswunder. Denn sie hat nie aufgehört, ihn zu lieben …

PROLOG

Ein Jahr zuvor

Die Stadtbücherei von Vela Ada war an Mittwochnachmittagen üblicherweise gut besucht. Heute, am Heiligabend, aber war sie bereits geschlossen.

Nur Ana Tomasich befand sich noch in der Bibliothek. Sie stand am Informationsschalter und drehte einen offenen Umschlag aus teurem Papier in den Fingern. Ab und zu strich sie mit dem Daumen über das verschnörkelte Siegel.

Es war schon dunkel. Auf der kleinen Insel in der Adria ging die Sonne im Winter bereits gegen vier Uhr unter. Die Straßen waren mit Lichterketten geschmückt, montiert zwischen den schmiedeeisernen Laternen, die entlang den gepflasterten Straßen der malerischen kleinen Hauptstadt der Insel Vela Ada standen.

Vor dem Rathaus, nur wenige Minuten zu Fuß von der Bücherei entfernt, stand ein riesiger glitzernder Weihnachtsbaum. Auch der Yachthafen war aufwendig mit Weihnachtslichtern geschmückt: mit Engeln und Sternen, die über dem dunklen Wasser schwebten.

Von der Decke der Bibliothek hingen Papierengel, die mit Anas Hilfe von einer Gruppe Sechsjähriger gebastelt worden waren. Und es gab vier verschieden große Weihnachtsbäume, mit großem Vergnügen von den Bibliotheksangestellten geschmückt. Die hatten auch Weizenkörner in flachen Schalen zum Keimen angesetzt. Wenn sie bis Weihnachten grünten, bedeutete das Glück im neuen Jahr. Je höher die Halme, desto mehr Glück und Wohlergehen, so hieß es. Sie hatten sich gut entwickelt.

Momentan hatte Ana allerdings nicht das Gefühl, vom Glück begünstigt zu sein. Eigentlich konnte sie nicht genau sagen, was sie gerade empfand.

Ihre Kollegen waren bereits nach Hause gegangen, denn sie hatte sich freiwillig gemeldet, alle Lichter auszuknipsen und die Türen abzuschließen. Da sie keine Last-minute-Geschenke kaufen musste, hatte sie es nicht eilig.

Als Einzelkind hatte sie nicht viele Verwandte zu beschenken, nur ihre Mutter und deren Eltern. Die Geschenke für sie hatte sie schon lange vorher besorgt und musste nur noch ein, zwei Kleinigkeiten einpacken. Dazu war vor der Christmette um Mitternacht noch genug Zeit.

Zum Glück bin ich noch geblieben, sonst hätte ich den Kurier verpasst, dachte Ana nun. Es war nicht der übliche Bücherlieferant gewesen, sondern ein besonderer Kurier, der in einer schwarzen Limousine mit dunkel getönten Scheiben vorgefahren war. Er hatte ihr den Brief mit dem verschnörkelten Siegel überreicht und angeboten, ihr alle Fragen zu beantworten, die sich aus der Lektüre des Schriftstücks ergeben mochten.

Sie wusste, von wem der Brief kam. Den Inhalt hatte sie freilich nicht erwartet. Nun tat es ihr fast leid, den mysteriösen Überbringer gleich weggeschickt zu haben. Jetzt hatte sie doch viele Fragen!

Aber die konnten warten. Erst einmal musste sie die Neuigkeiten verarbeiten – und zu verstehen versuchen, welche Folgen das alles für sie hatte. Würde sie weiter hier arbeiten können? Weiterhin in ihrer kleinen Wohnung bleiben dürfen, die nur etwa zweihundert Meter entfernt war? Ließ man ihr überhaupt eine Wahl?

Ana spürte einen seltsamen Druck in der Brust, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Warum das denn?

Wie konnte sie um einen Mann trauern, den sie nie getroffen hatte?

Lautes Hämmern an der Eingangstür ließ sie hochschrecken. Draußen stand ihre Mutter, in der Hand einen Umschlag genau wie der, den man ihr überreicht hatte.

Ana eilte zur Tür und ließ ihre Mutter herein. Draußen war es bitterkalt.

Die beiden Frauen umarmten sich.

„Endlich!“, rief die ältere. „Endlich, mein Kind!“

Als sie sich schließlich voneinander lösten, war Anas Bluse feucht von Tränen.

Das ist nicht verwunderlich. Schließlich hat meine Mutter den Mann verloren, den sie einmal geliebt, ja geradezu vergöttert hat, dachte Ana einfühlsam.

Nun erhielt ihre Mutter das, was sie sich immer gewünscht hatte: offizielle Anerkennung durch den Mann, den sie nie aufgehört hatte zu lieben – selbst nicht in den Momenten, in denen sie ihn gehasst hatte.

Und ich? dachte Ana. Ihr Vater hatte in ihrem Leben keine Rolle gespielt. Dass er sie nie hatte sehen wollen, hatte ihr kein Kopfzerbrechen bereitet. Dass er stets geleugnet hatte, dass sie seine Tochter war, auch nicht. Solche Grübeleien waren sinnlos.

Ihre Mutter nahm eine Handvoll Papiertücher aus der Box auf dem Tresen und reichte sie ihr. Da erst merkte Ana, dass sie ebenfalls weinte.

Wie ärgerlich! Rasch wischte sie die Tränen ab. „Prinz Goran ist tot“, stellte sie leise fest.

„Dein Vater ist tot“, korrigierte ihre Mutter sie. „Und du bist jetzt Prinzessin. Prinzessin Ana von Vela Ada.“

Kastelruth, Italien, Südtirol

Rhys’ Handy vibrierte, was ihn sofort weckte. Es war erst zwei Uhr morgens. Adrenalin flutete seinen Körper. Mitten in der Nacht erhielt man selten gute Nachrichten.

Rhys wusste das. Man vergaß nie, wie man wachgerüttelt worden war, wie man schreckliche Nachrichten gehört hatte, die zuerst keinen Sinn ergaben. Die nicht möglich zu sein schienen.

Die Worte, die sein ganzes Leben verändert hatten, hatte er niemals vergessen. Worte, die er kurz vor drei Uhr morgens in einem Militärcamp in der Wüste gehört hatte: „Tut mir so leid, Kumpel. Da war nichts zu machen.“

Inzwischen hatte das Handy aufgehört zu vibrieren. Er sah auf das Display, und seine Anspannung ließ nach. Da war nur eine SMS seiner Mutter gekommen.

Frohe Weihnachten, mein Lieber! Ich hoffe, du hast einen schönen Tag. Wir alle wünschten, du wärst jetzt hier bei uns. Alles, alles Liebe. Deine Mum.

Wie üblich hatte sie den beträchtlichen Zeitunterschied zwischen seinem Zuhause in Norditalien und ihrem in Australien nicht bedacht.

Rhys schwang die Beine über die Bettkante und fuhr sich durchs Haar. Jetzt war er richtig wach und würde so bald nicht mehr einschlafen können, wenn er sich nicht körperlich verausgabte.

Genau deshalb hatte er ein Laufband im Wohnzimmer seiner Villa aufgestellt, deren hohe Fenster tagsüber einen herrlichen Blick auf das grandiose Panorama der Dolomiten boten.

Nun allerdings herrschte draußen völlige Dunkelheit, nirgendwo schimmerte Licht. Es war sehr abgelegen hier, deshalb brauchte er auch keine Vorhänge. Als Chef seiner eigenen Sicherheitsfirma sorgte er natürlich dafür, dass niemand nahe genug kam, um durchs Fenster hineinschauen zu können.

Er wärmte sich kurz auf, dann stellte er das Laufband auf bergauf, und zwar auf die stärkste Steigung. Nun lief er, bis es wehtat, dann machte er noch ein Weile weiter und torkelte schließlich fast vom Band, außer Atem und schweißgebadet.

Nach einer kühlen Dusche legte er sich wieder ins Bett. Seine Haut war nach der Anstrengung noch immer heiß.

Was hatte seine Mutter vorhin geschrieben? Frohe Weihnachten, ich hoffe, du hast einen schönen Tag.

Er antwortete nicht. Das würde sie auch gar nicht erwarten.

Schließlich schrieb er nie zurück.

Trotzdem rief sie immer wieder an, schickte SMS, manchmal sogar Briefe.

So als hoffte sie, er würde sich eines Tags in den Sohn zurückverwandeln, der er einmal gewesen war.

Vor jener Nacht, in der man ihn wachgerüttelt hatte.

Vor den Panikattacken.

Bevor er sich in die Einsamkeit der Südtiroler Berge zurückgezogen hatte.

Einen schönen Tag? Den würde er sicher nicht haben. Den hatte er seit vier Jahren nicht mehr gehabt … seit man ihn geweckt und ihm mitgeteilt hatte, dass seine junge, gesunde Frau völlig unerwartet gestorben war.

Seither war auch Heiligabend nur ein Tag wie jeder andere. Einer, den es zu überstehen galt.

1. KAPITEL

Krampfhaft umklammerte Ana – seit fast einem Jahr Prinzessin von Vela Ada – mit der rechten Hand den Brautstrauß. Die linke hatte sie so fest geballt, dass sich ihr die frisch manikürten Fingernägel in die Handfläche bohrten.

Plötzlich schien alles um sie her zu verstummen: das Kichern der Brautjungfern, die auf den Kirchenstufen standen, die Rufe der Paparazzi hinter den Sperrgittern, das unaufhörliche Klicken der Kameraverschlüsse, das Flattern der Fahnen und die Schreie der Möwen über dem nahen Strand.

Die leise innere Stimme, die Ana viel zu lange nicht beachtet hatte, war allerdings nicht verstummt.

Du machst einen Fehler, sagte diese eindringlich.

Ana löste die Finger und ließ den Strauß zu Boden fallen. Zum ersten Mal, seit sie Prinzessin war, hatte sie das Gefühl, wieder selbst über ihr Leben bestimmen zu können.

Nun nahm sie erneut die Geräusche wahr: den anschwellenden Lärm, der aufbrandete, als sie den Strauß nicht aufhob, so als hätte sie ihn unabsichtlich fallen lassen. Im Gegenteil, sie stieß ihn mit dem Fuß beiseite.

Die Brautjungfern – frühere Kolleginnen aus der Stadtbücherei – eilten sichtlich besorgt zu ihr.

Kopfschüttelnd hob Ana die Hand und glitt auf den Sitz der Limousine, die sie gerade erst verlassen hatte. Hastig zog sie die Tür zu.

„Königliche Hoheit!“ Ihr Chauffeur sah sie im Rückspiegel an, sein Blick war völlig ausdruckslos. „Wohin soll es gehen?“

„Egal. Irgendwohin. Hauptsache schnell.“

Ja, das ist die einzig richtige Entscheidung, sagte Ana sich.

Mit quietschenden Reifen fuhr das Auto los.

Stunden später landete der Privatjet der königlichen Familie Vela Adas auf einem kleinen Flughafen im Norden Italiens. Ana wusste nicht genau, wo, und es war ihr auch herzlich egal. Hauptsache, sie war weit weg von zu Hause.

Sehr weit weg von den Medien. Und von Petar.

Sie konnte sich vorstellen, wie wütend er war, nachdem er entdeckt hatte, dass sie ihn vor dem Altar hatte stehen lassen.

Nein, eigentlich konnte sie das nicht! Sie wusste nicht, ob er eher toben und brüllen oder alles mit stoischer Ruhe hinnehmen würde, ob er sie verteidigen würde oder ob er ihr an allem die Schuld gab. So wenig kannte sie ihren Verlobten!

Er hatte sicher nicht erwartet, dass seine Braut ihm im letzten Moment weglaufen würde. Sie selbst ja auch nicht …

Allerdings hätte sie erwartet, ihr Zukünftiger würde es merken, dass sie in der letzten Zeit vor der Hochzeit nicht ganz sie selbst gewesen war. Es hätte ihm doch auffallen müssen, dass sie zwar die richtigen Dinge sagte, im Innersten aber nicht davon überzeugt war. Ein Mensch, der einen liebte, müsste doch merken, wenn etwas nicht stimmte … auch wenn man es selbst noch gar nicht registriert hatte.

Na ja, mit so was habe ich keine Erfahrung, gestand Ana sich ein. Sie hatte nur eine Vorstellung davon, was Liebe bedeutete. Die hatte sie vor allem bei ihren Großeltern beobachten können.

Sie und Petar hatten sich nicht geliebt. Dumm von ihr, dass sie es sich eingeredet hatte.

Und nun war sie hier.

Die Formalitäten an der Grenze waren schnell erledigt, sie brauchte nicht wie ein normaler Mensch auf die Abfertigung zu warten. So ging es einem, wenn man Prinzessin war. Seit dem Tod ihres Vaters Prinz Goran war sie noch nicht oft gereist, und anfangs war sie sich wie eine Hochstaplerin vorgekommen.

Immerhin hatte sie neunundzwanzig Jahre als gewöhnliche Bürgerin gelebt. Eine mit nicht allzu viel Geld, also war sie eher Billigflieger als Privatjets gewöhnt, hatte keine eigenen Bodyguards gehabt und war nie als VIP behandelt worden.

Jetzt war sie froh über die Bevorzugung. Dank eifriger und eiliger diplomatischer Gespräche wusste niemand, dass sie in Italien war, abgesehen von vertrauenswürdigen Palastangestellten und ausgewählten Mitgliedern der italienischen Regierung.

Hier kann mich niemand finden, weder Petar noch die Medien, dachte Ana erleichtert. Inzwischen saß sie in einem unauffälligen Auto, einer ihrer beiden Wachmänner am Steuer, der andere neben ihm.

Mehr als zwei gestand man ihr nicht zu, denn sie war ja nur die Nichte des verstorbenen Königs Josip, die Cousine seines Sohns Lukas, der nun regierte. In der Thronfolge rangierte sie sozusagen bloß unter „ferner liefen“.

Zur Familie gehörten neben der Mutter des Königs noch Königin Petra und der kleine Kronprinz Filip, ferner Lukas’ Bruder Marko und dessen Frau Jasmine. Die beiden waren noch nicht lange verheiratet. Ana verstand sich gut mit ihren neuen Verwandten.

Sie konnte nicht sagen, ob es ihrem Vater etwas ausgemacht hatte, immer nur die zweite Geige zu spielen, oder ob er vielmehr froh gewesen war, nicht im Zentrum des öffentlichen Interesses zu stehen. Ihre Mutter hatte über ihn nie viel erzählt … vermutlich nach dem Motto: Wenn man nichts Gutes über jemanden zu berichten hat, sollte man lieber gar nichts sagen.

„Alles in Ordnung, Hoheit?“, erkundigte sich der Fahrer und musterte sie im Rückspiegel.

Sie nickte nur. Dann bemerkte sie ihrerseits im Spiegel, wie verschmiert ihr Make-up war. Morgens hatte eine Profistylistin sie für die Hochzeit geschminkt. Das schien eine halbe Ewigkeit her zu sein.

Immerhin hatte Ana das Hochzeitskleid gegen Jeans, Pullover und Mantel tauschen können, trug darunter aber noch die luxuriösen Dessous. Ihre Haare waren zu einem aufwendigen Knoten gesteckt worden, aus dem nun allerdings einzelne Strähnen heraushingen, nachdem sie die mit Brillanten besetzten Kämme herausgezogen hatte.

Ihr Spiegelbild bot keinen schönen Anblick, also sah sie lieber nach draußen. Da war nichts als stockdunkle Nacht zu erkennen. Ende November ging die Sonne ja schon recht früh unter. Wo auch immer sie gerade waren, hier gab es keine Straßenbeleuchtung, und der Mond war nur eine schmale Sichel.

Ana schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Scheibe.

„Alles in Ordnung, Hoheit?“, fragte nun auch der zweite Wachmann.

„Ja, danke.“

Es gab da also Menschen, deren Job es war, sich ihretwegen Sorgen zu machen! Als ob sie das verdiente. Sie war doch nur eine kleine Bibliothekarin.

Allerdings auch eine Prinzessin. Aus dem Brief ihres Vaters – der ihr letztes Jahr zu Weihnachten überbracht worden war – hatte sie erfahren, dass er sie schließlich als Tochter anerkannt und von König Lukas erbeten hatte, ihr den rechtmäßigen Titel zuzuerkennen. Zuerst hatte sie überlegt, ihn abzulehnen. Er passte doch gar nicht zu ihr!

Schließlich mochte sie ihr Leben, so wie es war. Sie liebte ihren Beruf, ihre Freunde und ihre kleine Wohnung. Weshalb hätte sie all das aufgeben sollen? Weshalb sich den Augen der Öffentlichkeit aussetzen und Kritik riskieren? Manche Inselbewohner sahen in ihr nur die uneheliche Tochter des Prinzen, die es nicht wert war, Prinzessin zu heißen.

Sicher, sie würde Geld und Chancen haben, von denen sie nie zu träumen gewagt hätte … aber sie würde ihre Privatsphäre verlieren und das Leben aufgeben müssen, das sie seit neunundzwanzig Jahren geführt hatte.

Also wäre es nur logisch gewesen, das „Geschenk“ ihres Vaters abzulehnen, vor allem da er es ihr erst nach seinem Tod hatte zukommen lassen. Das gab ihr das Gefühl, klein und bedeutungslos zu sein. Ihr Vater hatte sich nicht mit ihr abgeben wollen, hatte sich den Fragen entzogen, die sie ihm gern gestellt hätte. Sie würde darauf keine Antworten bekommen. Nie mehr.

Also wäre ein „Nein danke“ das Richtige gewesen, wenn es da nicht auch noch ihre Mutter gegeben hätte. Die hatte jahrzehntelang energisch dafür gekämpft, dass Ana vom Königshaus anerkannt wurde.

Zudem hatte sie immer erwartet, Ana würde sich als Erwachsene der Sache selbst annehmen. Doch das hatte Ana nicht getan. Mein Vater will mich nicht, also welchen Sinn hat es zu kämpfen? hatte sie sich immer gesagt und ihre Mutter damit schwer enttäuscht.

Dann hatte er sie schließlich doch anerkannt, und ihre Mutter hatte – nach neunundzwanzig langen Jahren – endlich die ersehnte Wiedergutmachung erfahren.

Also hatte Ana sich in ihr Schicksal gefügt. Trotz all der Ereignisse seitdem – die in ihrer Flucht vor dem Traualtar gegipfelt hatten – bedauerte sie die Entscheidung nicht.

Das Auto fuhr nun langsamer und bog in eine unbeleuchtete Schotterstraße ein. Hohe Bäume flankierten die schmale, kurvige Fahrspur. Ana hatte noch immer keinerlei Anhaltspunkte, wohin die Fahrt ging.

Das war auch gut so. Je abgelegener das Ziel, desto mehr Privatsphäre!

Seit sie vor der Trauung geflüchtet war, wollte Ana nur noch eins: weit, weit weg von allem sein. Es war dumm von ihr gewesen, Petars Antrag anzunehmen, anstatt schon vor Monaten zur Besinnung zu kommen. Sie hätte sich am besten gar nicht erst auf ein Date mit ihm einlassen sollen. Aber er war attraktiv und charmant, also wäre es ihr verrückt vorgekommen, Nein zu sagen, auch wenn sie keine echte Verbundenheit mit ihm gespürt hatte.

Das Auto hielt an – etwas unterhalb eines modernen Bungalows, der fast nur aus riesigen Fenstern zu bestehen schien. Kleine Lampen waren entlang der Dachtraufe befestigt, ein helleres Licht über der Tür beleuchtete zusätzlich die Stufen im Hang, die zum Eingang hinaufführten.

Oben stand ein Mann, eine Schulter an den Türrahmen gelehnt. Er rührte sich nicht, auch nicht, als die Wachmänner ausstiegen und Ana aus dem Auto halfen.

Bewegungslos blieb er dort stehen und sah ihr entgegen. Besser gesagt, er musterte sie. Eindringlich.

Wie sehr sich ihr Leben geändert hatte, merkte sie daran, dass ihr auffiel, wenn jemand ihr nicht sofort zu Diensten eilte.

Allerdings fand sie es irgendwie angenehm, dass der Mann sich nicht überschlug, um sie zu beeindrucken. Dass er sie behandelte wie eine ganz normale Person.

Erst als sie die unterste Stufe betrat, kam er herunter, geschmeidig wie ein Raubtier. Wie ein Panther?

Nein, der Vergleich war albern. Ana lächelte … zum ersten Mal an diesem Tag. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen.

Als der Unbekannte schließlich vor ihr stand, lächelte sie immer noch. Kurz erwiderte er das Lächeln.

Mit den etwas zu langen Haaren, dem Dreitagebart und den markanten Zügen war er ausgesprochen attraktiv.

Ana spürte, wie sie rot wurde, während ein Prickeln sie überlief – das unverwechselbare Symptom spontaner Anziehungskraft.

Der Mann hörte zu lächeln auf, und es war, als hätte er es nie getan.

Nun schämte sie sich, während sie noch immer dieses Prickeln verspürte. Welche Frau ließ ihren Verlobten vor dem Traualtar stehen und fand wenige Stunden später einen völlig Fremden echt heiß?

Ana verging das Lächeln. Der Mann sah sie leicht gelangweilt an. Oder war er sogar genervt? Da es zu dunkel war, konnte sie die Farbe seiner Augen nicht erkennen – nur, dass sie hell waren. Auch seine Haare waren hell. Blond?

Und er war groß und athletisch. Sie reichte ihm nur bis zur Schulter, dabei war sie wirklich nicht klein. Also war er schätzungsweise eins fünfundachtzig.

Ana fühlte sich ihrerseits von ihm taxiert: Kamelhaarmantel, karierter Schal, Jeans, flache Stiefel. Ihre zerzausten dunkelbraunen Haare. Ihr verwischtes Make-up.

Vielleicht machte sie das so verlegen, dass sie unnötig scharf fragte: „Und wer sind Sie?“

2. KAPITEL

Prinzessin Ana funkelte Rhys aus schmalen Augen an. Die Hände hatte sie in die Hüften gestützt, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst.

Obwohl das Licht gedämpft war, konnte er erkennen, dass diese Prinzessin attraktiver war, als er erwartet hatte. Natürlich hatte er gewusst, dass sie hübsch war, aber so von Angesicht zu Angesicht war sie irgendwie … lebendiger. Umwerfend. So umwerfend, dass er sie erst einmal wie ein Dummkopf angrinste … bis ihm einfiel, dass es ihm eigentlich gar nicht gefiel, eine Prinzessin bei sich unterzubringen.

Jedem anderen als Prinz Marko hätte er die Bitte abgeschlagen. Rhys mochte seine Privatsphäre, besser gesagt, er brauchte sie. Um sie zu gewährleisten, hatte er seine ausgefeiltesten Security-Systeme um sein Grundstück herum angebracht.

Er hatte nie Gäste.

Und er brauchte das Geld nicht, das ihm vom Königshaus angeboten worden war, denn seiner Firma North Security ging es glänzend.

Trotzdem hatte er zugestimmt, die Prinzessin bei sich aufzunehmen. Marko bat üblicherweise nicht um einen Gefallen. Dass er es jetzt getan hatte, verriet, wie wichtig ihm die Angelegenheit war. Wenig überraschend war, dass ausgerechnet Prinzessin Ana Hilfe brauchte.

Rhys erinnerte sich an den Skandal um sie nach Prinz Gorans Tod. Marko hatte Schuldgefühle gehabt, weil er von seiner Cousine nichts gewusst hatte, dabei war er bei ihrer Geburt noch keine zehn Jahre alt gewesen.

Wie auch immer, Marko hatte eine Schwäche für Ana. Deshalb hatte er sich an die Person gewandt, die einen absolut sicheren, privaten Ort weit weg von Vela Ada bieten konnte: an seinen alten Freund Rhys North.

Da Marko ihm in seiner schwersten Stunde damals in der Wüste beigestanden hatte, konnte Rhys ihm den Gefallen natürlich nicht abschlagen.

Prinzessin Ana seufzte frustriert, und ihr Atem bildete eine kleine Wolke vor ihren Lippen.

„Wir sollten reingehen“, schlug Rhys vor, weil er plötzlich merkte, wie kalt es war. „Folgen Sie mir.“

Sie tat es, leise vor sich hin murmelnd.

Drinnen half der eine Wachmann ihr aus dem Mantel, dann setzte sie sich im Wohnzimmer aufs Sofa. Rasch blickte sie sich um. Die Einrichtung war bewusst minimalistisch gehalten, und es herrschte eine penible Ordnung – genau wie der Innenarchitekt das vor fünf Jahren geplant hatte.

Rhys hatte nur das Laufband zur Einrichtung beigetragen.

„Ich bin Rhys North“, stellte er sich vor. „Ein Freund von Marko aus der Zeit, als er in Australien ein Training bei einer militärischen Spezialeinheit absolviert hat. Ich habe mein Regiment inzwischen verlassen und eine Security-Firma aufgebaut. Marko meint, Sie wären hier sicher, Hoheit. Damit hat er recht. Beantwortet das Ihre Frage, wer ich bin?“

Sie sah ihm in die Augen und nickte.

„Man hat Sie doch über alles informiert, oder?“, hakte er nach.

„Ja, das haben wir“, bestätigte der eine Wachmann. „Es war allerdings ein langer und anstrengender Tag, sodass …“

„Was? Ich wurde informiert?“, unterbrach Prinzessin Ana ihn. „Tut mir leid, aber ich erinnere mich an kaum etwas, seit ich vor der Kirche wieder ins Auto gestiegen bin. Danke, dass Sie dafür Verständnis haben. Ich fürchte, ich habe nichts von dem mitbekommen, was Sie zu mir gesagt haben. Ich bin wirklich schlimm: Erst lasse ich meinen Verlobten einfach stehen, dann ignoriere ich alle anderen.“ Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Rhys unterbrach ihre Selbstkritik mit der Frage, ob sie etwas trinken wolle.

„Ja, bitte!“ Sie lehnte sich zurück und blickte zur Decke.

Rhys nahm die beiden Wachmänner mit in die Küche, wo er ihnen etwas zu trinken und zu essen anbot, dann ging er mit einem Glas Gin zurück ins Wohnzimmer.

Ana richtete sich wieder auf. Sie wirkte erschöpft, körperlich und seelisch.

„Hier bitte, Hoheit!“

„Nennen Sie mich Ana“, bat sie.

„Gut. Und Sie können mich mit Mr. North anreden“, erwiderte er scheinbar ernst.

Sie musterte ihn, um festzustellen, ob er einen Scherz machte. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. „Das tue ich gern, Mr. North“, sagte sie im selben Ton wie er.

Rhys freute sich, dass er ihr diese Reaktion hatte entlocken können. „Nein, Sie können natürlich Rhys zu mir sagen.“

„Ich bestehe auf Mr. North.“ Sie nahm das Glas, das er ihr reichte, und trank einen großen Schluck. Sofort musste sie husten und griff sich an die Kehle. „Was ist das denn?“

„Gin pur. Sie sehen aus, als könnten Sie einen starken Drink gebrauchen.“

Wieder lächelte sie. „Da haben Sie absolut recht, Mr. North“, stimmte sie zu und trank noch einen Schluck, diesmal vorsichtiger.

Ana sah Rhys nach, als er in die Küche ging, um dort mit den Wachmännern zu reden. Es überraschte sie nicht, dass er beim Militär gewesen war. Tatsächlich wirkte er noch fit genug für den aktiven Dienst. Fit und muskulös. Petar sah sehr gut aus, schlank und elegant in seinen maßgeschneiderten Anzügen. Rhys hingegen wirkte stark und pragmatisch: wie ein Mann, der einen mühelos aus einem brennenden Gebäude tragen konnte …

Unsinn! schalt sie sich und trank rasch noch einen großen Schluck Gin, der ihr die Kehle zu verbrennen schien. Da war sie erst wenige Stunden zuvor ihrem Verlobten weggelaufen, und schon verglich sie ihn – zu seinem Nachteil – mit einem anderen Mann. Was war sie doch für eine grässliche Person!

Ana wusste jetzt mit Bestimmtheit, dass sie Petar nicht liebte und ihn nie geliebt hatte. Trotzdem hatte er es nicht verdient, vor dem Altar zu stehen und auf seine Braut zu warten, die nie kommen würde. Es war eine Demütigung, und alle Hochzeitgäste in der Kirche waren Zeuge davon geworden.

Da die Feierlichkeiten im Fernsehen hatten übertragen werden sollen, war auch ganz Vela Ada inzwischen informiert, dass Petar auf öffentliche und äußerst kränkende Weise von ihr, Prinzessin Ana, sitzen gelassen worden war.

Nun saß sie hier in einem luxuriösen Haus auf einem Berg bei einem absolut tollen Mann, der ihr Drinks servierte und sie zum Lächeln brachte. Sie bedauerte ihre Entscheidung überhaupt nicht.

Und was sagte das über ihren Charakter?

Jedenfalls brauchte sie jetzt Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen und zu analysieren, wie sie an diesen Punkt in ihrem Leben gelangt war.

Petar verdiente eine Entschuldigung, eine, die weiterging als die knappe SMS „Tut mir leid“, die sie noch aus der Limousine an ihn geschickt hatte.

Ana stand auf und schlenderte in die offene Küche, die sich ans Wohnzimmer anschloss. Die drei Männer wandten sich ihr sofort zu. Das war einer der Annehmlichkeiten, wenn man eine Prinzessin war: Die Leute schenkten einem Aufmerksamkeit. Früher als Bibliothekarin hatte man ihr bei Meetings oft nicht zugehört, Buchvertreter hatten sie nicht beachtet.

Ja, es war angenehm … und unfair, dass nicht jeder Mensch so zuvorkommend behandelt wurde.

„Wo ist mein Gepäck?“, erkundigte sie sich bei den Wachmännern.

„In Ihrem Zimmer, Hoheit.“

„Ich zeige es Ihnen“, bot Rhys an und ging ihr durch den Flur voraus.

Gleich die erste der wenigen Türen öffnete er ihr. Dahinter lag ein ausreichend großes Zimmer mit einem breiten Bett, einem bequemen Sessel und einem schmalen Schreibtisch mitsamt Stuhl.

„Da ist das Bad“, erklärte Rhys und wies auf die Tür in der Ecke. „Ich habe Handtücher bereitgelegt. Wenn Sie sonst noch was brauchen, melden Sie sich. Ich bin es nicht gewohnt, Gäste zu haben, also gibt es keine exquisite Seife, keine Kerzen und keine Duftpotpourris. Tut mir leid.“

Er sah nicht aus, als bedauere er die Mängel tatsächlich.

„Kein Problem. Ich komme schon klar“, versicherte Ana ihm und lächelte schon wieder.

Wie schaffte Rhys das bloß? Wenn sie mit ihm sprach, vergaß sie alles, was an diesem grauenvollen Tag passiert war. Genau genommen alles, was in diesem Jahr passiert war.

Plötzlich war ihr bewusst, wie dicht beieinander sie beide standen. Sie musste den Kopf heben, um Rhys in die Augen blicken zu können, und nahm den frischen Duft seines Rasierwassers wahr.

Nun konnte sie auch feststellen, welche Farbe seine Augen hatten: blaugrau. Seine Haare waren dunkelblond und von ersten grauen Strähnen durchzogen.

Wie alt mochte er sein?

Seine Brauen waren gerade und dicht, seine Lippen relativ voll, aber kein bisschen feminin. Bartstoppeln bedeckten sein markantes Kinn, und er war der Typ Mann, bei dem das durchaus gut aussah.

Ja, er wirkte wie ein Filmheld, der einen retten konnte, und dazu … gefährlich. Der stählerne Blick in seinen Augen, der harte Zug um den Mund …

Plötzlich fiel Ana auf, wie sie ihn anstarrte. Und er erwiderte ihren Blick unverwandt.

Ich sollte wegsehen, ermahnte Ana sich. Aber sie tat es nicht. Sie schaffte es nicht.

Rhys betrachtete sie eindringlich, ließ den Blick von ihren Haaren über ihre Augen zu ihren Lippen gleiten.

Was dachte er jetzt wohl?

Erneut trafen sich ihre Blicke, und Ana wurde ganz heiß. Überall.

Habe ich jemals etwas Ähnliches empfunden? fragte sie sich. Habe ich jemals so auf einen Mann reagiert? Sie erinnerte sich nicht.

Sie konnte nicht mehr klar denken. Es war zu schockierend, sich derart stark zu einem Mann hingezogen zu fühlen, den sie erst seit ein paar Minuten kannte.

Trotzdem drängte es sie, ihn zu berühren. Bisher haben wir uns noch nicht mal zur Begrüßung die Hände geschüttelt, fiel ihr jetzt ein. Wie sich seine Haut wohl anfühlte? Heiß, so wie ihre? Wie wäre es, sich an diesen festen, starken Körper zu schmiegen?

Rhys’ Blick veränderte sich, wurde leer und ausdruckslos. Es war, als hätte er einen Schalter umgelegt und damit die Verbindung zwischen ihnen unterbrochen.

Das brachte sie abrupt in die Wirklichkeit zurück.

„Danke, dass Sie mir mein Zimmer gezeigt haben, Mr. North“, sagte Ana und ging weiter in den Raum, um ausreichend Abstand zu schaffen.

Ich werde ihn weiterhin so formell anreden, nahm sie sich vor. Und nicht zum Spaß wie bisher! Es ging nicht, dass sie mit diesem Mann flirtete! Er arbeitete für Marko und somit für das Königshaus. Da kam eine engere Beziehung überhaupt nicht infrage. Das wäre völlig unangemessen.

„Ich muss meinen Verlobten anrufen“, informierte Ana ihren Gastgeber.

Der sah sie weiterhin ausdruckslos an. Wahrscheinlich wollte er die vergangenen Momente vergessen.

Oder hatte sie sich die nur eingebildet?

Wie auch immer, sie würde sie vergessen. Sie waren nur ein kurzer Augenblick zwischen all den katastrophalen Ereignissen der vergangenen vierundzwanzig Stunden.

Ohne noch etwas zu sagen, verließ Rhys das Zimmer.

3. KAPITEL

Ana war schon mehr als eine Stunde in ihrem Zimmer. Rhys nutzte die Zeit, um ihre Wachmänner in sein ausgeklügeltes Sicherheitssystem einzuweisen. Als sie schließlich wieder auftauchte, schaute er gerade in den Kühlschrank und fragte sich, was er einer Prinzessin zum Abendessen anbieten konnte.

„Entschuldigung, Mr. North …“, begann sie höflich.

Er trat einen Schritt zurück, um sie besser ansehen zu können. Sie hatte sich die Haare zu einem Pferdeschwanz frisiert, alles Make-up entfernt und kein neues aufgelegt. Trotzdem war sie noch genauso hübsch wie zuvor, was er frustrierend fand.

Er fühlte sich unbehaglich in ihrer Nähe, verunsichert. Okay, welchen Mann würde eine so attraktive Frau wie die Prinzessin schon kaltlassen? Aber vorhin in ihrem Zimmer … da hatte ihn ein sehr intensives Gefühl befallen. Das konnte er nicht einfach ignorieren.

Ja, er hatte Ana begehrt! Es war ein ganz urtümliches Verlangen gewesen, wie er es lange nicht empfunden hatte. Er hatte gedacht, er könnte es gar nicht mehr spüren.

Natürlich hatte er seit Jessicas Tod andere Frauen angesehen, sich aber nie zu einer von ihnen hingezogen gefühlt. Ganz sicher hatte Rhys nicht bewusst geplant, derartig lange wie ein Mönch zu leben, aber flüchtiger Sex interessierte ihn nicht. Er wäre sich Jessica gegenüber treulos vorgekommen, wenn er mit einer beliebigen Frau ins Bett gestiegen wäre.

Dabei hätte sie – sachlich und praktisch, wie sie gewesen war – bestimmt nicht von ihm erwartet, dass er den Rest seines Lebens Single blieb.

Aber der Sex mit Jessica war etwas ganz Besonderes gewesen. Er hatte vor ihr mit einigen anderen Frauen geschlafen, doch mit keiner war es so schön gewesen. Vergnügen, ja, aber nicht dieses Einswerden, dieses Verschmelzen mit einem anderen Menschen. Seitdem er das erfahren durfte, würde er sich mit weniger nicht mehr zufriedengeben.

Die wenigen Momente mit Ana eben hatten sich allerdings nach mehr angefühlt. Anders als bei Jessica, aber ebenso intensiv. So intensiv, dass es ihm einen Schock versetzt hatte.

Wollte er überhaupt eine andere als Jessica begehren? War er nach fünf Jahren schon bereit dafür?

„Mr. North?“, hakte Ana nach.

„Zu Diensten, Hoheit“, erwiderte er und lächelte. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Forschend sah sie ihn an. Anscheinend war sein Lächeln nicht völlig überzeugend.

„Wo sind Adrian und Dino?“, wollte sie wissen.

„Im Gästehaus.“

„Wozu haben Sie das denn?“, fragte sie. „Sie haben doch behauptet, Sie hätten nicht oft Gäste.“

„Ich habe nie welche. Das Nebengebäude war schon da, als ich das Anwesen gekauft habe. Das Haus selber hat nur zwei Schlafzimmer. Wahrscheinlich hat mein Vorbesitzer seine Privatsphäre ebenso geschätzt, wie ich es tue.“

„Wir beide sind hier also ganz allein?“ Ihre Stimme klang höher als sonst.

Dass auch Ana die Situation offensichtlich nicht so recht behagte, half ihm, sich zu entspannen. Sie hatte einen ereignisreichen Tag hinter sich. Womöglich hatte sie die Beziehung zu ihrem Verlobten noch nicht völlig aufgegeben, da sie ihn noch immer als Verlobten, nicht als Ex bezeichnete.

Wie auch immer, es wäre extrem unangebracht, etwas mit ihr anfangen zu wollen.

Also brauchte Rhys sich nicht länger den Kopf über seine Bedürfnisse und Begehrlichkeiten zu zerbrechen.

Zwischen mir und Ana wird absolut nichts passieren, schwor er sich.

Ana hatte nicht erwartet, dass Rhys mit ihr zu Abend essen würde. Er blieb ziemlich schweigsam, was ihr zusagte. In der Stille konnte sie die Ereignisse des Tages verarbeiten.

Rhys hatte sich entschuldigt, dass er ihr nichts „Aufwendiges“ zum Essen anbieten konnte. Er hatte Lasagne aufgewärmt, die er in Kastelruth gekauft hatte, dem Ort, der dem Anwesen am nächsten lag.

Insgeheim fragte Ana sich, was aus dem exquisiten Hochzeitsessen geworden war, nachdem der Empfang nicht stattgefunden hatte. Hoffentlich hatte man es nicht einfach weggeworfen, sondern dem Obdachlosenasyl gespendet oder dem Personal gegeben, das zusätzlich für den Empfang engagiert worden war. Sie hatte vergessen, Petar danach zu fragen, als sie ihn vorhin angerufen hatte.

Naiv hatte sie gehofft, alle Gäste wären in den Palast marschiert und hätten ohne sie eine tolle Party gefeiert, zu Livemusik getanzt und den teuren Champagner getrunken.

„Was hätten sie denn feiern sollen?“, hatte Petar fassungslos gefragt.

Dass ich rechtzeitig meinen Irrtum bemerkt habe … hatte sie natürlich nicht erwidert.

Ana malte sich den Ballsaal voller Menschen aus, die die Flucht der Prinzessin feierten, und musste bei dem Gedanken lächeln.

„Darf ich fragen, weshalb Sie lächeln?“, erkundigte sich Rhys.

Kurz legte sie sich die Hand auf die Lippen. „Eigentlich sollte ich das nicht. Lächeln, meine ich. Immerhin habe ich heute viele Menschen verletzt.“

Petar. Ihre Mutter. Ihre Großeltern. Ihre Freunde.

„Sie lächeln aber schon einige Minuten“, hielt er ihr vor.

Was sollte sie da antworten? Ihr war klar, dass sie sich nicht glücklich fühlen dürfte, sondern von Schuldgefühlen geplagt werden müsste.

„Ich möchte es lieber nicht sagen.“ Sie wechselte das Thema. „Woher aus Australien kommen Sie genau?“

„Melbourne.“

Das war alles, was er antwortete. Danach herrschte wieder Schweigen, aber das gefiel ihr. Er war nicht verpflichtet, den aufmerksamen Gastgeber zu spielen, da sie doch so kurzfristig bei ihm aufgetaucht war.

Im ersten Moment hatte sie der Gedanke, allein mit ihm im Haus zu sein, entsetzt, aber nun war ihr klar, dass nichts zwischen ihnen passieren würde. Als sie vorhin in die Küche gekommen war, hatte nichts mehr von heißem Verlangen in Rhys’ Blick gelegen.

Er hatte eher traurig gewirkt.

Oder hatte sie sich das nur eingebildet?

„Mein Verlobter glaubt, ich hätte bloß die Nerven verloren und kalte Füße bekommen“, sagte Ana plötzlich.

„Sie wollen mit mir über Ihren Verlobten sprechen?“ Rhys wirkte, als wäre ihm unbehaglich zumute.

„Sie haben doch gefragt, warum ich lächle, also habe ich angenommen, es interessiert Sie.“

„Schon, aber ich wollte nicht über die Einzelheiten Ihrer Beziehung aufgeklärt werden.“

„Ich habe gelächelt, weil seine Überlegung absurd ist. Er muss sich doch denken können, dass ich etwas so Dramatisches nicht aus einer flüchtigen Laune heraus tun würde. Er war vorhin am Telefon unglaublich ruhig. Komisch. Ich wäre fuchsteufelswild, wenn man mich vor dem Altar stehen ließe. Sie nicht auch, Mr. North?“ Ihre guten Vorsätze, die Distanz zwischen ihnen zu wahren, schienen vom Erdboden verschluckt.

Er zuckte nur mit den Schultern.

„Petar war freundlich und verständnisvoll. Seltsamerweise schien er gar nicht verletzt zu sein. Er sprach mehr über mich, wie gestresst ich mich gefühlt habe nach allem, was mir im letzten Jahr widerfahren ist und bla, bla, bla.“ Ana seufzte tief. „Es macht mich tatsächlich ein bisschen wütend, wie ruhig er geblieben ist. Wenn ihm etwas an mir läge, wäre es ihm doch nicht so egal!“

„Vielleicht zeigt er einfach nicht gern seine Gefühle“, meinte Rhys.

„Oder er spielt weiterhin den perfekten Verlobten“, mutmaßte sie.

„Wollen Sie denn keinen perfekten Verlobten?“ Erstaunt sah er sie an.

„Niemand ist perfekt. Petar hat alles in seiner Macht Stehende getan, um diesen Eindruck trotzdem zu erwecken. Heute habe ich aufgehört, mich selbst zu belügen, und mir eingestanden, dass es ihm nur darum geht, Mitglied des Königshauses zu werden. Er liebt mich nicht und hat es nie getan.“

Sie liebte ihn auch nicht, trotzdem tat es irgendwie weh. Tränen brannten ihr in den Augen.

„Es war immer zu schön, um wahr zu sein“, erklärte sie weiter. „Petar hätte sich niemals für mich interessiert, wenn ich nicht Prinzessin geworden wäre. Sogar nach allem, was ich ihm angetan habe, versucht er mich umzustimmen. Er tut verständnisvoll und romantisch, aber das ist nur Theater.“

„Sie haben sich richtig entschieden, finde ich“, bemerkte Rhys. „Ihr Verlobter sitzt noch immer auf Vela Ada, statt alles zu tun, um Sie zu finden und Sie zum Umdenken zu bewegen. Da kann er nicht der Richtige für Sie sein.“

Nach diesem Tag – und dem verwirrenden Chaos von Schuld, Gekränktheit und Enttäuschung, das noch immer in ihr herrschte – tat es ihr richtig gut, so etwas zu hören.

Rhys hatte recht: Sie konnte bedauern, anderen wehgetan zu haben, aber sie sollte nicht bereuen, endlich zur Vernunft gekommen zu sein.

„Danke“, sagte sie und sah ihm tief in die Augen. Dann stand sie auf und verließ die Küche.

4. KAPITEL

Stundenlang lag Ana wach und dachte vor allem an ihre Familie. Was mochten ihre Mutter und ihre Großeltern jetzt empfinden?

Ihre Mutter hatte mehrere SMS geschickt, Ana hatte nur eine zurückgeschrieben: Es gehe ihr gut, und sie würde in wenigen Tagen wieder nach Hause kommen.

Ihre Mutter war bestimmt am Boden zerstört. Da hatte sie jahrelang darum gekämpft, dass die Tochter vom Königshaus anerkannt wurde, und als es endlich so weit war, hatte sie gedacht, Anas Leben wäre perfekt. Die Verlobung mit Petar war die Krönung des Ganzen gewesen, ein wahr gewordener Traum.

Mittlerweile war Ana klar, dass sie sich davon hatte blenden lassen und sich wie im Märchen gefühlt hatte. Dabei hatte sie nur den Traum ihrer Mutter gelebt und sich trotz ihrer – gut verdrängten – Vorbehalte vielleicht deshalb so weit mitreißen lassen. Sie hatte ihre Mutter glücklich machen wollen.

Nein, das ist eine dumme Ausrede, tadelte Ana sich dann. Sie war ganz allein dafür verantwortlich, dass sie sich mit Petar eingelassen und seinen Antrag angenommen hatte.

Aber warum? Nun, das war eine andere Frage. Eine, über die sich vergeblich den Kopf zerbrach.

Endlich nickte sie ein und wachte morgens nach einem traumlosen Schlaf auf. Sie duschte und zog sich an, dann ging sie in die Küche. Es war bereits Vormittag, die Sonne schien, und vor den großen Fenstern erstreckte sich das beeindruckende Panorama schneebedeckter schroffer Gipfel über leuchtend grünen Nadelwäldern.

Allerdings bewunderte Ana die Aussicht nur kurz, denn links von ihr bot sich ein anderer imposanter Anblick: Rhys auf seinem Laufband. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und konzentrierte sich auf die Aussicht vor ihm. Sein ärmelloses T-Shirt enthüllte muskulöse Arme und Schultern, die kurze Jogginghose brachte seine durchtrainierten Beine bestens zur Geltung.

Anscheinend hatte er sie gehört, denn er schaltete das Band langsamer und blickte dann über die Schulter. „Moment, ich muss nur kurz auslaufen.“

Ana ging zu ihm. „Guten Morgen.“

Er lächelte. „Ihnen auch einen guten Morgen.“

„Tut mir leid wegen gestern Nacht“, sagte sie unvermittelt. „Ich hätte Ihnen nicht mit meinen Problemen in den Ohren liegen sollen. Sie sind doch mein Leibwächter oder mein Gastgeber oder sonst etwas.“

„Sicherheitsberater“, erklärte er und grinste.

„Na gut, dann das, jedenfalls nicht mein Psychiater oder Seelsorger. Sie wollten sicher nicht die schaurigen Einzelheiten meiner Beziehung wissen.“

Rhys zuckte mit den Schultern. „Es hat mich nicht gestört.“

Lächelnd schaltete er das Laufband aus und zog das T-Shirt hoch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Dabei enthüllte er seinen Bauch mit den ausgeprägten, durchtrainierten Muskeln.

Was für ein Sixpack!

Rhys hatte sich ganz automatisch die Stirn abgewischt. Als er sah, wie Ana beim Anblick seiner Muskeln rot wurde, freute er sich. Er war schließlich ein Mensch, besaß ein Ego und arbeitete hart daran, fit zu bleiben. Also fühlte es sich gut an, wenn man von einer Frau bewundernd betrachtet wurde.

Deshalb trocknete er sich länger als nötig das Gesicht ab. Vermutlich machte ihn das zu einer schlechten Person, denn nichts hatte sich an der Situation zwischen ihm und Ana geändert. Sie hatte eine Beziehung beendet. Er beschützte sie.

Ana wandte den Blick von ihm ab nach draußen. „Herrlich“, bemerkte sie leise.

„Oh, vielen Dank für das Kom…“

„Ich meinte die Aussicht, Mr. North“, unterbrach sie ihn energisch.

Ihm gefiel es, dass sie ihn hartnäckig mit seinem Nachnamen anredete. Es war beinah wie ein Scherz. Ganz sicher schuf es keinen Abstand zwischen ihnen, was sie eigentlich beabsichtigte.

„Weihnachten muss hier ganz wundervoll sein“, bemerkte sie dann.

„Weihnachten?“, wiederholte er, verblüfft über den Themenwechsel.

„Ja, genau. Kastelruth ist doch berühmt für seinen Weihnachtsmarkt. Als ich letzte Nacht nicht schlafen konnte, habe ich mich im Internet über die Gegend hier informiert. Ist der Ort im Advent tatsächlich so bezaubernd, wie die Webseite behauptet?“

„Keine Ahnung“, antwortete er brüsk.

Er ging in die Küche, um Wasser zu trinken.

Ana folgte ihm. „Da müssen Sie sich aber Mühe geben, dem Markt auszuweichen. Der Ort ist doch recht klein.“

„Ich weiche dem Markt nicht aus. Ich achte nur nicht wirklich auf Weihnachten und alles, was damit zu tun hat.“

Neugierig sah sie ihn. Er hätte zu einer Notlüge greifen und behaupten sollen, der Markt wäre tatsächlich bezaubernd. Dass er den gar nicht kannte, hätte Ana bestimmt nicht gemerkt.

„Ich liebe Weihnachten“, gestand sie. „Haben Sie denn keine Familie, mit der Sie feiern können?“

Rhys füllte ein Glas mit Wasser und trank es in tiefen Zügen aus. Dabei hoffte er, Ana würde die Küche verlassen, was sie natürlich nicht tat. Nun hätte er wieder lügen können, entschied sich aber dagegen.

„Ich habe eine große Familie in Australien. Eltern, eine Schwester, einen Bruder, beide verheiratet. Als ich Kind war, haben wir unglaubliche Weihnachten gefeiert. Im Garten meiner Eltern gibt es einen riesigen Swimmingpool, an dem wurde für die ganze Familie gegrillt – und für Freunde und Bekannte, die sonst niemanden hatten. Ja, das war toll, und ich mochte es sehr.“

Wieso erzähle ich ihr das eigentlich? fragte er sich und wartete auf die naheliegende Frage, die auch prompt kam.

„Was ist passiert?“, erkundigte Ana sich sanft und sah ihn mitfühlend an.

Beinah hätte er wortlos die Küche verlassen. Mitleid war ihm zuwider. Aber Ana hatte ihm gestern ihre Verletzlichkeit offenbart, da musste er heute ehrlich zu ihr sein.

„Meine Frau ist gestorben“, antwortete er sachlich. „Ab dem Zeitpunkt war nichts mehr wie vorher.“

5. KAPITEL

Ana wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Ich geh dann mal duschen“, verkündete Rhys und verließ die Küche.

Es war dumm von mir, ihn zu fragen, was passiert ist, tadelte Ana sich. Er hatte seine Kindheit als idyllisch beschrieben, also musste später eine Katastrophe geschehen sein, wenn er seine Meinung über Weihnachten so grundlegend geändert hatte.

Ja, seine Frau war gestorben!

Ana setzte Wasser auf und nahm einen Becher und Pulverkaffee aus dem Schrank. Sie hätte nicht gedacht, dass Rhys verheiratet gewesen war. Er strahlte dieses ungenierte Selbstbewusstsein des überzeugten Junggesellen aus, der nicht daran dachte, bald eine Familie zu gründen. Außerdem lebte er in einem Haus mit nur zwei Schlafzimmern mitten im Nirgendwo. Einem sehr spektakulären Nirgendwo, das gab sie gern zu.

Sie machte sich einen starken Kaffee und setzte sich damit an die Frühstückstheke. Von hier aus konnte sie kein anderes Haus sehen, nur den Hang mit einer Wiese, auf der noch kleine gelbe Blumen blühten. Dann kamen dichter Wald und darüber die schroffen, schon teilweise verschneiten Berge.

Es war der perfekte Ort für eine Braut auf der Flucht. Oder einen trauernden Ehemann. Ihr wurde die Kehle eng.

Plötzlich kam Rhys zurück in die Küche. „Tun Sie mir einen Gefallen, und bemitleiden Sie mich nicht.“

Ana nickte nur.

„Meine Frau hieß Jessica. Sie ist vor fünf Jahren gestorben. Ganz plötzlich, an einer Gehirnblutung. Nun wissen Sie es.“

Ja, sie war neugierig gewesen. Doch bevor ihr etwas Mitfühlendes zu sagen einfiel, brachte er sie mit einem Blick zum Schweigen.

Nun erst bemerkte sie, dass er sich einen kleinen Rucksack über die Schulter gehängt hatte. „Ich gehe spazieren“, informierte Rhys sie, trat in den Flur und zog Bergschuhe an.

„Darf ich mitkommen?“, bat Ana.

Rhys hatte diese Bitte nicht erwartet und hätte beinah Nein gesagt. Stattdessen zuckte er mit den Schultern. „Wenn Sie möchten.“

Seit er die Armee verlassen hatte, war er hier auf der Seiser Alm viel gewandert, immer allein, mit seinen Gedanken beschäftigt … und der Trauer um Jessica.

Auf einer dieser Wanderungen hatte er die Idee gehabt, eine Security-Firma zu gründen und so die Fähigkeiten zu nutzen, die er als Soldat entwickelt hatte. Den Kopf voller Pläne, war ihm schließlich aufgefallen, dass er die ganze Zeit nicht an Jessica gedacht hatte.

Seine Schuldgefühle deswegen hatten ihn zum Weinen gebracht … so sehr, wie er seit der Nachricht von ihrem Tod nicht mehr geweint hatte.

Später war ihm klar geworden, dass dies ein Wendepunkt für ihn gewesen war. Er liebte Jessica immer noch, er trauerte weiterhin um sie, und manchmal konnte er an nichts anderes denken als an sie. Aber es gab eben auch Zeiten, in denen seine Trauer nicht alles überlagerte und er an etwas anderes dachte.

Allerdings niemals an eine andere Frau. Bis jetzt. Jetzt ging diese Frau neben ihm über die Wiese auf den Wald zu.

„Es ist herrlich hier“, bemerkte sie bewundernd. „Ich bin noch nie in einer solchen Gegend gewesen.“

„Waren Sie nie Skifahren in den Dolomiten?“, fragte er erstaunt.

Er selbst hatte Kastelruth entdeckt, als er mit Marko im nahe gelegenen Cortina d’Ampezzo Skiurlaub gemacht hatte, kurz nach dem abrupten Ende seiner militärischen Laufbahn. Marko hatte ihn aufmuntern wollen, was ihm allerdings nicht gelungen war.

Ana lächelte. „Ich bin doch erst seit Kurzem Prinzessin. Tatsächlich war ich noch nie Skilaufen. Das letzte Mal, als es auf Vela Ada geschneit hat, war ich noch nicht geboren. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Schnee gesehen, keinen Schneemann gebaut oder einen Schneeengel gemacht.“

„Also auch keine Schneeballschlacht.“

„Richtig.“ Ihre Augen leuchteten. „Aber das würde ich gern nachholen. Überhaupt möchte ich alles versuchen, was man mit Schnee anstellen kann.“

„Ich hatte ganz vergessen, dass Sie nicht immer Prinzessin waren“, gestand Rhys.

„Ich vergesse das nie. Irgendwie erwarte ich, dass ich eines Morgens aufwache und mich wie eine Prinzessin fühle, aber bis jetzt ist das noch nicht passiert.“

„Wie soll eine Prinzessin sich denn fühlen?“, wollte Rhys wissen.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich wünschte, ich wüsste es. Jedenfalls nicht so, wie ich mich fühle.“

„Warum?“

Sie blieb stehen und lauschte dem leisen Rauschen der hohen Tannen.

„Es ist doch verrückt, wenn eine Person zufällig all dieses Prestige hat und schöne Häuser und Geld, nur weil die Eltern aus königlichem Haus sind, und andere Menschen bekommen nichts.“

„Sie meinen, Sie verdienen all diese Vorteile nicht“, stellte er fest.

Ana nickte und ging weiter. Es wurde jetzt felsiger, und man musste aufpassen, wohin man seine Füße setzte.

„Was ist denn mit all dem Guten, das die königliche Familie auf Vela Ada bewirkt?“, meinte Rhys. „Zum Beispiel hat sie nach einer Zeit voller Unruhen für politische Stabilität gesorgt.“

Ana sah aus, als wolle sie widersprechen, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Marko denkt übrigens ähnlich wie Sie, wie Sie vermutlich wissen, Ana. Auch er fühlt sich unbehaglich wegen seiner Privilegien, die er nur dem Zufall seiner Geburt verdankt. Aber er ist nun mal ein Prinz. Und Sie sind eine Prinzessin. Statt darüber zu jammern, sollten Sie Ihre Position lieber nutzen, um Positives zu bewirken.“

Abrupt blieb sie stehen und wandte sich zu ihm um. „Nur zu Ihrer Information, Mr. North“, begann sie kalt. „Ich nutze meine Position durchaus, um Gutes zu bewirken. Vor allem deswegen habe ich diesen Titel überhaupt akzeptiert. Mir liegt besonders am Herzen, möglichst vielen Menschen Literatur zugänglich zu machen. Darum habe ich einen mobilen Bücherservice ins Leben gerufen, der Bücher in Altenheime bringt. Dazu möchte ich mehr Hörbücher produzieren lassen und …“

Sie holte tief Luft und schob die Hände in die Jackentaschen. Dann seufzte sie. „Aber Sie haben recht, Rhys, ich sollte einfach damit weitermachen, Prinzessin zu sein, statt mich zu fragen, ob ich diese Rolle verdiene. Es ist nur … Verdiene ich es, dass man mich durch halb Europa kutschiert, damit ich vor meiner Hochzeit flüchten kann … wenn mein eigener Vater mich neunundzwanzig Jahre meines Lebens nicht für würdig befunden hat, Prinzessin zu sein?“

Ana drehte sich wieder um und eilte den steilen Weg hoch.

Rhys folgte ihr im selben Tempo. „Ana, warten Sie. Es tut mir leid. Ich hätte Ihnen nicht …“

„Doch, hätten Sie.“ Sie atmete nun schwerer. „Sie haben recht: Ich sollte das alles nicht zergrübeln. Ich bin nun mal Prinzessin, daran lässt sich nichts ändern. Ich sollte mich mit den guten Seiten abfinden: die karitative Arbeit, die ich erledigen kann. Dass meine Mutter keine finanziellen Sorgen mehr haben wird. Dass es einen eigenen königlichen Frisör gibt und meine Haare noch nie so toll ausgesehen haben.“

Ihre Lippen zuckten ganz kurz bei dieser humorvoll gemeinten Bemerkung.

„Den Rest sollte ich einfach nicht beachten“, sagte sie weiter. „Dass man ständig von der Öffentlichkeit und den Medien beobachtet wird. Dass ich einen Beruf aufgeben musste, den ich wirklich geliebt habe, dazu meine Wohnung, für die ich lange gespart hatte. Ich habe die Chance aufgegeben, ein ganz normales Leben zu führen.“

Rhys kannte hier quasi jeden Stock und Stein, aber er war so auf Ana konzentriert, dass ihm – wenig überraschend – ein Missgeschick passierte. Er trat auf einen lockeren Stein, verdrehte sich den Knöchel und stürzte zu Boden.

Aufstöhnend landete er nur wenige Meter von ihren Füßen entfernt.

„Rhys!“, rief sie, kam zu ihm geeilt und kauerte sich neben ihn.

Zum ersten Mal hatte sie ihn beim Vornamen genannt. Ihm gefiel es, wie sie ihn aussprach, mit einem leichten Akzent, dunkel und rau.

Sofort wurde ihr der Fehler bewusst. „Mr. North, haben Sie sich sehr wehgetan?“

Er checkte Arme und Beine und stellte fest, dass nichts Schlimmeres passiert war als eine Prellung an der Hüfte, auf der er gelandet war. Nicht zu vergessen natürlich der Schaden, den sein Stolz erlitten hatte!

„Alles in Ordnung.“

Ana setzte sich neben ihn auf den kalten Boden.

„Tut mir leid, dass ich Ihnen die Leviten gelesen habe“, entschuldigte er sich. „Ich bin seit zehn Jahren mit Marko befreundet und weiß, welchem Druck Angehörige von Königshäusern ausgesetzt sind. Das ist wirklich hart – für Sie besonders wegen der besonderen Umstände. Ich hätte Ihnen nicht vorwerfen dürfen, dass Sie jammern. Es war nicht fair von mir.“

„Wieso? Es ist doch die Wahrheit. Ich bin Prinzessin. Vielleicht glaube ich das irgendwann sogar selbst.“

„Wenn es Ihnen hilft, Hoheit, ich habe nie bezweifelt, dass Sie eine Prinzessin sind.“

„Oh, danke, Mr. North.“ Strahlend lächelte sie ihn an.

6. KAPITEL

Beim Weitergehen sprachen Rhys und Ana nicht mehr viel, was ihr durchaus behagte. Es war ein angenehmes Schweigen, und außerdem brauchte sie ihren Atem, da sie nicht besonders fit war. Das Gelände war ziemlich anspruchsvoll, steil und steinig.

Schließlich kamen sie ohne weitere Zwischenfälle zum Haus zurück. Sie duschte, zog sich etwas Bequemes an und kuschelte sich auf das Sofa, um eins der vielen Bücher auf ihrem E-Reader zu lesen. Obwohl Sonntag war, hatte Rhys sich in seinem Arbeitszimmer verschanzt, aus dem er immer wieder auftauchte, um frischen Kaffee zu brühen.

Nachdem Ana ein halbes Buch gelesen hatte, ohne viel vom Inhalt mitzubekommen, beschloss sie, mit ihrer Mutter zu telefonieren. Was war denn das Schlimmste, was passieren konnte?

Wie sich herausstellte, war es schlimm genug.

„Ana, wie konntest du nur?“, war der durchgehende Tenor des Gesprächs.

Wie hatte Ana den Mann, der sie liebte, so demütigen können?

Ana bezweifelte Petars Gefühle, aber davon wollte ihre Mutter nichts hören.

Wie hatte Ana die Chance wegwerfen können, Petar Kovacic zu heiraten?

Als wäre er der perfekteste aller Männer, dachte Ana boshaft.

Und wie hatte Ana das vor den Augen aller Welt tun können? Zumindest vor den Augen aller auf Vela Ada?

Ana merkte, wie verletzt ihre Mutter war, und bekam deswegen Schuldgefühle. Nur deswegen, nicht weil sie vor Petar geflüchtet war …

„Alles in Ordnung, Ana?“

Rhys’ Frage riss sie aus ihren Grübeleien. Sie hatte das Display ihres Handys angestarrt und nicht bemerkt, dass er ins Zimmer gekommen war.

Rasch stand sie auf. „Ja, alles in Ordnung.“

Sie ging in die Küche. Dino hatte im Ort Vorräte besorgt. Ana hatte mittags eine Käseplatte hergerichtet, von der sie und Rhys sich im Lauf des Tags immer wieder bedient hatten. Nun schnitt sie ein Stück Taleggio ab und legte es auf einen Cracker.

Rhys folgte ihrem Beispiel. „Ist wirklich alles okay? Ganz ehrlich?“, fragte er.

Es wäre so verlockend, mit ihm zu reden, aber …

„Wir haben doch schon festgestellt, dass Sie nicht mein psychologischer Berater sind und sich deshalb meine Klagen nicht anhören müssen“, erwiderte Ana abweisend.

„Schon, aber … ich hatte nicht erwartet, eine Prinzessin zu beherbergen, und Sie haben sicher nicht erwartet, bei einem Witwer zu landen, der Weihnachten verabscheut. Es ist also für uns beide eine ungewöhnliche Situation. Darüber könnten wir reden.“

„Sie wollen meine Probleme bestimmt nicht hören“, wehrte sie ab.

„Das lassen Sie mal mich entscheiden.“ Er ging zu einem der Wandschränke und nahm eine Flasche Wein heraus. „Möchten Sie ein Glas Chianti zu dem Käse, den Sie da nicht essen?“

Nickend legte sie den Käsecracker auf die Platte. Ihr war der Appetit vergangen.

Rhys goss zwei Gläser Wein ein und schob das eine zu ihr. Dann lehnte er sich entspannt an den Küchentresen, sein Glas in der Hand. Er war ganz nah, weniger als einen Meter entfernt.

Ana war sich dessen überdeutlich bewusst und erschauerte.

Noch immer hatten sie sich nicht berührt. Sie hatte ihm nach seinem Sturz beim Wandern die Hand hingehalten, um ihm aufzuhelfen, aber er hatte die Hilfe verschmäht.

Ana blickte auf seine Finger und fragte sich, wie die sich auf ihrer Haut anfühlen mochten.

Nein, an so etwas wollte sie gar nicht erst denken! Welches Thema könnte sie von Rhys ablenken? Davon ablenken, wie groß, stark und attraktiv er war?

Ihre Mutter.

„Meine Mutter hat viel mitgemacht wegen meiner Geburt“, begann Ana unvermittelt. „Von den Einzelheiten ihrer Beziehung zu Prinz Goran weiß ich nicht viel, nur dass sie ihn wirklich geliebt hat. Er war älter als sie und verheiratet. Sie wusste, dass sie sich nicht in ihn hätte verlieben dürfen, aber sie tat es trotzdem. Als er sich weigerte, mich als seine Tochter anzuerkennen, hat es meine Mutter tief getroffen.“

Ana trank einen Schluck und schloss kurz die Augen, um ihre Gedanken zu sammeln.

„Er behauptete, das Baby könne nicht von ihm sein, aber da meine Mutter nie einen anderen Liebhaber gehabt hatte, wusste sie es besser. Zuerst wahrte sie Schweigen, aber als Prinz Goran nicht mal mehr auf ihre Anrufe reagierte, wandte sie sich an die Presse.“

Nun trank sie noch einen großen Schluck, denn in ihr kämpften noch immer Wut und Enttäuschung über das, was ihrer Mutter angetan worden war. Wie hatte der Prinz nur so kaltherzig reagieren können?

„Damals war das ein riesiger Skandal, der in allen Klatschblättern breitgetreten wurde. Meine Mutter gab sogar einige Interviews im Fernsehen. Sie wollte einen Vaterschaftstest erzwingen, aber der Prinz konnte sich dem entziehen, weil es keine Beweise für seine Beziehung zu meiner Mutter gab. Keine Fotos oder Ähnliches. Es muss ganz schrecklich für sie gewesen sein.“

Sie merkte, dass ihr Glas leer war, und stellte es auf den Tresen.

„Viele haben meiner Mutter geglaubt, aber der tadellose Ruf des Prinzen ließ ihn als einen Mann dastehen, dem man eine Affäre nicht zutraute. Das Königshaus verbreitete erfolgreich die Ansicht, meine Mutter wäre von Wahnvorstellungen getrieben. Also gab sie schließlich auf.“

Im Gegensatz zu ihr hatte Rhys nur wenig von seinem Wein getrunken. Am liebsten hätte sie ihn um ein weiteres Glas gebeten. Sie trank normalerweise nur selten und wenig, aber der Chianti schmeckte köstlich, und eine tröstliche Wärme breitete sich in ihr aus.

Ana entschloss sich allerdings gegen mehr Wein. Es war bestimmt keine gute Idee, in Rhys’ Nähe die Hemmungen zu verlieren. Er war zu attraktiv und verlockend und …

Besser, sie erzählte die Geschichte ihrer Mutter weiter!

„Dass Prinz Goran mich schließlich doch als Tochter anerkannte und mich zur Prinzessin machen ließ, bedeutete meiner Mutter unendlich viel. Es war die Wiedergutmachung für alles, was man ihr angetan hatte. Ja, es war ihr Sieg.“

„Und deshalb haben Sie den Titel akzeptiert?“, fragte Rhys scharfsinnig.

„Ja.“

„Sie wollten ihn also nicht für sich selbst?“

„Richtig.“ Sie hatte, ohne es zu merken, einen Cracker genommen und drehte den nun zwischen den Fingern hin und her. „Wahrscheinlich war es das, was so vieles im letzten Jahr hat schiefgehen lassen: dass es nicht wirklich meine Entscheidung war, Prinzessin zu werden. Daraus ergaben sich andere Entscheidungen, die auch nicht wirklich meine waren.“

Bewusst hielt sie nun die Hände ruhig und straffte sich.

„Ich wollte eine Prinzessin für meine Familie sein, aber doch auch für mich. Ich wollte aller Welt zeigen, auf was mein Vater verzichtet hatte, indem er meine Existenz abstritt. Dazu musste ich perfekt sein. Aber perfekt sein passt nicht zu mir. Das bin nicht ich.“

Plötzlich zerbrach der Cracker, und sie starrte auf die Krümel in ihrer Hand.

„Jetzt habe ich meiner Mutter nur noch mehr Schande gemacht, indem ich einfach weggelaufen bin. Sie hatte keine Ahnung, was ich wirklich für Petar empfinde … besser gesagt, nicht empfinde. Oder wie ich zu meiner Rolle als Prinzessin stehe. Meine Flucht kam völlig überraschend für sie. Ich habe sie in aller Öffentlichkeit in Verlegenheit gebracht. Das hat sie nicht verdient.“

„Sie konnten keinen Mann heiraten, den Sie nicht lieben“, meinte Rhys leise und rückte ein Stück näher.

„Wieso nicht? Ich hatte doch auch Dates mit ihm und habe seinen Antrag angenommen. Ich hätte ihm Hunderte Male den Laufpass geben können und habe es doch nicht getan. Was sagt das wohl über mich aus?“

„Dass Sie ein verwirrendes Jahr hinter sich haben“, antwortete Rhys.

„Das ist eine Ausrede.“

„Nein, eine Erklärung“, widersprach er. „Ihr Leben ist auf den Kopf gestellt worden, und Sie haben eine Menge Druck erfahren.“

Ana ließ die Krümel auf die Arbeitsplatte rieseln und wischte sich die Hände an der Jeans ab. „Ich bin wütend auf mich, weil ich diese Ereignisse zugelassen habe. Als hätte ich so gern die perfekte Prinzessin sein wollen, dass ich nicht Nein sagen konnte, als der – vermeintlich – perfekte Prinzgemahl auftauchte.“

Sie rieb sich den Ringfinger der linken Hand, wo vier Monate lang der Verlobungsring geprangt hatte. Der wurde jetzt irgendwo im Palast in einem Safe verwahrt.

„Normalerweise lasse ich mich nicht so mitreißen und ignoriere mein inneres Alarmsystem. Ich bin eher superzynisch bei neuen Beziehungen – wegen all der negativen Dinge, die meine Mutter erfahren musste. Wie erklären Sie also, dass ich beinah einen Mann geheiratet hätte, den ich nicht liebe und der mich nicht liebt?“

Rhys war inzwischen noch näher gerückt. Auch er hatte nach der Wanderung geduscht und sich umgezogen. Jetzt trug er ein dunkelgrünes T-Shirt, das seine Schultern und Oberarme betonte und seine Augen mehr blau als grau wirken ließ.

„Man muss doch nicht alles erklären, Ana. Aber wenn Sie meine Interpretation hören wollen: Für mich klingt es, als hätten Sie so verzweifelt versucht, das Richtige zu tun – und zwar für alle Beteiligten –, dass Sie aus den Augen verloren haben, was Sie selbst wollen.“

„Heute denke ich, ich will wieder Bibliothekarin sein und in meiner Wohnung leben. Und vor allem will ich wissen, was ich will! Momentan habe ich keine Ahnung, was das ist.“

Sie sah ihm in die Augen, dankbar, weil er ihr so geduldig zuhörte. Dabei musste sie sich eingestehen, dass es nicht diese Fähigkeit war, die sie gerade am meisten bewunderte.

Dass es nur das war, was sie wollte …

Einen derart intensiven Blick hatten sie schon bei ihrer Ankunft getauscht. Und als Rhys ihr das Zimmer gezeigt hatte. Beide Male hatte er sich dann innerlich wieder von ihr zurückgezogen und die Hitze in seinem Blick so effizient gelöscht, als hätte sie nie existiert.

Doch diesmal verschloss Rhys sich nicht. Und er würde es weiterhin nicht tun, da war sie sich sicher. Oder er konnte es nicht.

„Ana …“ Er schluckte mühsam. „Ich meine, Königliche Hoheit, es …“

„Nein, nein, Ana ist schon richtig … Rhys!“ Sie betonte seinen Vornamen. Der klang sehr nett. Wieso hatte sie bisher auf Mr. North bestanden?

Ach ja, wegen des nötigen Abstands.

„Ich denke nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn wir beide …“ Er schüttelte den Kopf. „Sie haben aufregende Tage hinter sich … und Wein getrunken.“

„Ein einziges Glas, Rhys! Ich bin nicht mal beschwipst. Ja, ich habe aufregende Tage hinter mir, und ich denke nicht nur, ich weiß, dass das mit uns beiden keine gute Idee ist. Aber das wusste ich auch über andere Dinge im letzten Jahr, und was hat es mir gebracht? Diese schlechte Idee fühlt sich zumindest im Moment ziemlich gut an. Findest du nicht auch, Rhys?“

Langsam nickte er. So als wolle er es nicht, könnte es aber nicht verhindern.

Dass ein so willensstarker Mann sich ihretwegen so fühlte, löste in Ana ein herrlich prickelndes Gefühl aus.

„Ich bin ein einsiedlerischer Witwer, der Weihnachten verabscheut“, stieß Rhys rau hervor. „Ich werde nicht dein Prinz sein. Niemals.“

Sie lachte laut. „Ein Prinz ist das Letzte, was ich will. Heute Nacht möchte ich nicht mal Prinzessin sein.“

Irgendwie waren sie sich inzwischen noch näher gekommen. So nahe, dass es ein Leichtes wäre, die Hand auszustrecken und …

„Ist dir auch schon aufgefallen, dass du mich noch nie berührt hast?“, fragte Ana eindringlich. „Es macht mich fast verrückt.“

„Ja, es ist mir aufgefallen.“ Plötzlich legte er ihr die Hände auf die Hüften und ließ sie weiter zu ihrer Taille gleiten.

Bewegungslos genoss Ana diese Berührung, die sie zu elektrisieren schien. Die Wärme seiner Haut, spürbar selbst durch den Stoff, befeuerte sie, und sie hatte das Gefühl, förmlich dahinzuschmelzen.

Nur leider ließ er die Hände jetzt ruhen. Es war frustrierend.

„Was ist denn, Rhys?“

Sein Blick sagte alles. Rhys begehrte und wollte sie. In einer Weise, die sie noch nie erlebt hatte.

„Bist du ganz sicher?“, fragte er heiser.

Kaum hatte sie ein Ja geflüstert, presste er ihr die Lippen auf den Mund. Der Kuss ließ keinerlei Zweifel aufkommen. Ihre Reaktion auch nicht.

Seufzend ließ Ana die Hände zu seinen Schultern gleiten und griff ihm ins Haar. Sie zog seinen Kopf dichter zu sich und erwiderte den Kuss leidenschaftlich. Wie herrlich Rhys sich anfühlte und schmeckte!

Sie musste ihm so nahe sein wie nur möglich.

Vielleicht fühlte er dasselbe, denn er ließ die Hände unter ihr T-Shirt gleiten und auf ihrer nackten Haut ruhen. Nur die Taille berührte er, und das war Ana nicht genug.

Nicht annähernd genug.

Während der Kuss immer intensiver wurde und ihre Zungen sich zu einem erotischen Tanz trafen, ließ Ana die Hände nun über seine Schultern weiter nach unten gleiten und entlang der ausgeprägten Muskeln an seinem Rücken.

Es gefiel ihm, das verriet sein lustvolles Stöhnen. Sie lächelte an seinen Lippen, und er erwiderte das Lächeln.

So standen sie einige Momente lang bewegungslos da. Dann schob sie die Hände unter sein T-Shirt. Ihr Atem ging schwerer. An Rhys’ Gürtel hielt sie einen Augenblick inne, verführerisch, erregend … bevor sie die Fingerspitzen über seine heiße, glatte Haut und die festen, durchtrainierten Muskeln gleiten ließ.

Als sie bei seiner Brust angekommen war, trat Rhys einen Schritt zurück. Sie wollte protestieren, aber er zog sich hastig sein Shirt über den Kopf.

Ja, das war besser. Viel besser! Rhys sah umwerfend aus.

Sekundenbruchteile später lag sie wieder in seinen Armen. Er hob sie so mühelos hoch, als wäre sie federleicht, und setzte sie auf den Tresen.

Dann drängte er sich zwischen ihre Beine und küsste sie erneut. Nicht mehr spielerisch oder forschend, sondern voll unbändiger Leidenschaft. Das war kein lockeres Vorgeplänkel mehr, sondern unverhohlenes Begehren. Sie konnte an nichts anderes denken als an ihn, seine Lippen auf ihren, seine Hände auf ihrem Körper. Seine Hände, die ihren BH hochschoben – heiß, begehrlich und verlangend.

Es war herrlich und genau das, was sie wollte. Sie wollte ihn, Rhys North.

Er war nicht ihr Prinz und sie nicht seine Prinzessin.

Aber sie brauchten einander.

Wenigstens für diese Nacht. Nur diese eine Nacht.

7. KAPITEL

Als Rhys aufwachte, war es noch dunkel. Und er lag in Anas Bett.

Völlig unerwartet …

Nein, er sollte sich nichts vormachen! Von dem Moment an, als Prinzessin Ana bei ihm aufgetaucht war, hatte die Luft zwischen ihnen förmlich geknistert. Zwischen ihm und Ana herrschte eine einzigartige Chemie, daran gab es nichts zu deuten.

Die Ereignisse der vergangenen Nacht waren unvermeidlich gewesen. Von Anfang an war alles darauf hinausgelaufen.

Rhys blickte zur Zimmerdecke hoch. Nun war es also passiert: Er hatte mit einer anderen Frau als Jessica geschlafen.

Es hatte sich richtig angefühlt. Das tat es noch immer. Trotzdem war es eine große Sache.

Ana bewegte sich. Er wandte sich ihr zu und betrachtete sie.

In ihrem Eifer hatten sie in der Küche das Licht nicht ausgemacht, und der Lichtschein fiel bis ins Gästezimmer. Anas Haare waren wie ein Fächer übers Kissen gebreitet, ihre Hände lagen entspannt neben ihrem Körper.

Sie war wirklich schön.

Und er mochte sie.

Diese Erkenntnis erschütterte ihn. Ihre Schönheit zu bewundern war eines, aber Anas Persönlichkeit zu schätzen war etwas ganz anderes.

Plötzlich fühlte Rhys sich unbehaglich. Er fühlte sich … treulos.

Das war, vernünftig betrachtet, natürlich unsinnig. Seit Jessicas Tod hatte er aus einem einzigen Grund mit keiner Frau geschlafen – egal, wie attraktiv er sie fand –, nämlich weil er mehr wollte als flüchtigen Sex. Er wollte innere Verbundenheit, etwas Bedeutsames.

Jetzt hatte er es bekommen. Er hatte eine fantastische Nacht mit einer hinreißenden Frau verbracht, die er gern mochte.

Plötzlich hielt er es in ihrem Bett nicht länger aus, setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante.

Da spürte er Anas Finger auf seinem Rücken, spürte, wie sie ihm mit den Nägeln sanft über die Haut strich.

Er blickte über die Schulter. Ana war schläfrig, ihre Lider waren schwer.

„Rhys?“ Fragend sah sie ihn an.

„Ja, Königliche Hoheit?“ Bewusst vermied er ihren Namen.

Sie sah gekränkt aus, verstand aber sofort. Rasch zog sie die Hand zurück und drehte sich so zur Seite, dass sie ihm den Rücken zuwandte.

„Ich möchte noch etwas schlafen, Mr. North“, sagte sie ausdruckslos.

„Wünsche wohl zu ruhen, Hoheit“, erwiderte er.

Dann stand er auf und ging aus dem Zimmer.

Ana stand früh auf. Nachdem ihr klar geworden war, was sie zu tun hatte, hatte sie nicht mehr schlafen können. Sie musste umgehend nach Vela Ada zurückkehren.

Nachdem sie die Rückreise mit ihren Bodyguards arrangiert hatte, ging sie in die Küche, um zu frühstücken. Sie hatte Lust auf Toast mit Erdnussbutter. Ob Rhys so etwas hatte?

Zuerst suchte sie im Schrank, dann in der Speisekammer. Dort entdeckte sie ein Glas auf einem der obersten Regalbretter. Als sie es nehmen wollte, stieß sie einen Schuhkarton an, der herunterfiel. Beim Landen wurde der Inhalt auf dem Boden verstreut. Es handelte sich offensichtlich um Post.

Rasch bückte sie sich, sammelte die Umschläge und Karten ein und legte sie in den Karton zurück. Nahezu alle Briefmarken waren australisch, fast alle Absender trugen den Namen North.

Und kein einziges Kuvert war geöffnet.

Ana legte den Deckel auf den Karton und stellte ihn aufs Regal zurück. Rhys’ Post ging sie nichts an.

Aber warum hortete er sie ungelesen in seiner Speisekammer?

Ana machte sich Frühstück und merkte dabei, wie hungrig sie war. Gestern hatten sie und Rhys ja aufs Abendessen verzichtet. Und das aus gutem Grund. Bei dem Gedanken lächelte sie und dachte nicht weiter über seine Post nach.

Die letzte Nacht war gut gewesen. Großartig sogar. Besser als alles, was sie in der Hinsicht jemals erlebt hatte.

Alle ihre Zweifel waren wie weggeblasen. Es war richtig gewesen, Petar vor dem Altar stehen zu lassen. Schließlich wollte sie nicht den Rest ihres Lebens auf das verzichten, was sie letzte Nacht erfahren hatte: unbändiges Verlangen, Leidenschaft und eine tiefe innere Verbundenheit.

Ja, das brauchte sie, um glücklich bis an ihr Lebensende mit einem Mann zusammenbleiben zu können!

Mit Petar hatte sie nicht ein einziges Mal geschlafen, weil sie das für altmodisch und romantisch gehalten hatte. Aber im Grunde war das verrückt. Immerhin war sie ja keine Jungfrau mehr.

Ihr Jahr als Prinzessin hatte sie dazu gebracht, sich selbst neu erfinden zu wollen. Prinzessin Ana hatte keinen Sex vor der Ehe … aber sie war bloß eine Figur in einem Theaterstück.

Letzte Nacht war sie Ana Tomasich gewesen – eigentlich das ganze Wochenende über. Genau genommen von dem Moment an, als sie ihren Brautstrauß hatte fallen lassen.

„Guten Morgen.“ Rhys kam in die Küche und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Er trug eine Jogginghose zu einem T-Shirt und sah etwas verschlafen aus – und unglaublich sexy.

„Guten Morgen, Rhys“, erwiderte Ana.

Den Unsinn mit der formellen Anrede konnte sie sich heute sparen. Vergangene Nacht hatte Rhys deutlich seinen Standpunkt klargemacht, indem er ihr Bett verlassen hatte. Ab sofort hieß es Abstand halten.

Okay, die letzte Nacht war großartig gewesen, aber sie würde sich nicht wiederholen.

Wie könnten wir denn eine Beziehung führen, wenn ich Prinzessin auf einer Adriainsel bin und er ein Einsiedler in Südtirol? dachte Ana wehmütig.

Dazu kam, dass sie beinahe den falschen Mann geheiratet hatte. Eine neue Beziehung war das Letzte, was sie jetzt wollte.

Ich bin froh, dass Rhys den Rest der Nacht in seinem eigenen Bett geschlafen hat, redete sie sich ein.

Er nahm einen Becher aus einem der Hängeschränke, wobei sein T-Shirt ein Stück nach oben rutschte und ein Stück gebräunte Haut enthüllte.

Nicht daran denken, wie sich die unter deinen Fingerspitzen angefühlt hat, warnte eine innere Stimme sie eindringlich.

„Heute fliege ich nach Hause zurück“, verkündete Ana ohne Vorwarnung. „Ich habe schon alles mit Adrian und Dino arrangiert.“

„Oh, gut“, meinte Rhys. „Schön, dass du dich nach all dem Wirbel wieder so weit gefangen hast, dass du eine Entscheidung treffen kannst.“

„Ich gehe nicht zu Petar zurück“, erklärte sie, ohne zu wissen, warum sie das für nötig hielt.

„Ich weiß, Ana.“

Sah er sie jetzt etwa amüsiert an?

„Ach, du bist dir also sicher, dass ich nicht zu ihm zurückgehe … nach der einen Nacht mit dir?“ Es klang eher schnippisch als neckend, aber das hatte sie gar nicht beabsichtigt.

„Du wärst so oder so nicht zu ihm zurückgegangen. Du liebst ihn nicht.“

Sie nickte. „Stimmt. Ich hatte wohl vergessen, dass Liebe ein wesentlicher Bestandteil einer Ehe ist.“

„Richtig. Also sieh zu, dass du das nächste Mal aus Liebe heiratest“, empfahl er ihr.

Bevor sie etwas sagen konnte, wurde an die Tür geklopft.

Zeit, zum Flughafen zu fahren, dachte Ana. Sie ging zu Rhys.

„Ich werde daran denken“, versprach sie ihm.

Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Das hätte genug sein sollen, aber plötzlich fiel es ihr schwer, einen Schritt zurückzutreten. Ihre Lippen verharrten ganz dicht vor seinem Gesicht.

Vor seinem Mund.

Und plötzlich küssten sie sich. Wer hatte angefangen? Er oder sie? Aber war das nicht egal?

Es war ein ganz anderer Kuss als der, mit dem gestern Nacht alles angefangen hatte. Dieser hier würde zu nichts führen, nicht in ein Schlafzimmer und schon gar nicht in eine gemeinsame Zukunft.

Es war ein langer, intensiver Kuss, bei dem sie gegenseitig ihre Lippen und Münder erkundeten, sich aber sonst nicht berührten.

Wahrscheinlich hatte es ein Abschiedskuss werden sollen, aber irgendwann fühlte er sich anders an. Er fühlte sich … zärtlich an. Innig.

Da traten sie beide gleichzeitig einen Schritt zurück.

Das kurze Intermezzo war vorbei.

„Danke für deine Gastfreundschaft … und dieses Wochenende, Rhys“, sagte Ana.

„Leb wohl, Ana“, verabschiedete er sich.

Kurz danach saß sie in dem Auto, das sie erst zwei Tage vorher hergebracht hatte.

Sie würde Rhys nie mehr wiedersehen, da war sie sich sicher.

8. KAPITEL

Vier Wochen später

Während des Sonntagsbesuchs bei ihren Großeltern, die etwas außerhalb der Hauptstadt wohnten, wurde Ana bewusst, dass ihre Regel ausgeblieben war.

Sie stand in der Küche und legte Schmalzgebäck, das sie zum Dessert gemacht hatte, auf einen Teller. Aus dem Esszimmer klangen die Stimmen ihrer Großeltern, ihrer Mutter und Dinos zu ihr herüber, der heute Dienst als Leibwächter versah und zum Essen eingeladen war.

Nach dem anfänglichen Wirbel um „die Braut, die sich nicht traut“ – wie die Klatschpresse sie genannt hatte – war die Aufmerksamkeit der Medien endlich abgeflaut. Ana war zum ersten Mal wieder bei ihren Großeltern. Bisher war ihre Luxusvilla am Hafen – die dem Königshaus gehörte und in die sie als Prinzessin hatte einziehen müssen – von Paparazzi belagert gewesen.

Aber von Tag zu Tag hatten die Leute immer mehr das Interesse an der Geschichte verloren, vor allem da sowohl Ana als auch Petar keine Interviews gegeben hatten. Stattdessen waren Pressemitteilungen verschickt worden, in denen auf Einzelheiten verzichtet und nur darüber informiert wurde, dass die Prinzessin und ihr Verlobter die Beziehung beendet hätten, aber hofften, gute Freunde zu bleiben.

Freunde? Ana war sich mittlerweile ganz sicher, dass Petar sie nur ihres Titels wegen hatte heiraten wollen. Insgeheim war sie sogar überzeugt, dass Petar hoffte, sie würde noch zur Vernunft kommen, wie er es formulierte. Ganz so, als wäre sie nur ein rebellischer, launischer Teenager und keine Erwachsene, die endlich wieder die Kontrolle über ihr Leben übernahm. Regelmäßig rief er sie an und hielt ihr lange Monologe. Aus mehr bestand ihre Verbindung nicht mehr.

Ana war es recht. Ihre Mutter war enttäuscht – immer noch –, und es herrschte eine gewisse Spannung zwischen ihnen, aber Ana wusste, dass sie das Richtige getan hatte.

Heute hatte sie sich ziemlich gut gefühlt. Normal. So als hätte sie sich mit ihrer Rolle als Prinzessin abgefunden. Schließlich lag es an ihr, wie sie ihr neues Leben gestaltete.

Also hatte sie mit Freude das Gebäck gemacht, zum ersten Mal, seit sie Prinzessin geworden war. Das Herumwerkeln hatte sich ganz normal angefühlt, abgesehen von der spektakulären Aussicht, die sich aus der Luxusküche ihrer Villa bot.

Ja, sie hatte sich wohlgefühlt.

Nun allerdings fühlte sie sich alles andere als wohl. Sie hatte Angst.

„Brauchst du Hilfe, Kindchen?“, rief ihre Großmutter im Esszimmer.

„Nein danke, bin gleich fertig“, erwiderte Ana und streute Puderzucker über die Kringel.

Dabei rechnete sie im Kopf nach, wie lange ihre letzte Regel zurücklag. Mehr als fünf Wochen! Überlegte, wann es das letzte Mal passiert war, dass die sich verspätete. Überlegte, welche Erklärungen es dafür gab … außer der naheliegendsten.

Ihr fiel keine ein.

Mach einen Schwangerschaftstest, riet ihr eine innere Stimme.

Ana rang sich ein Lächeln ab, als sie ins Esszimmer ging. Die anderen unterhielten sich angeregt weiter und merkten nicht, wie bedrückt sie war.

Das war ihr nur recht. Sie brauchte Zeit, um das alles zu verarbeiten. Noch konnte sie ja nicht ganz sicher sein.

Ihre Großmutter wollte ihr Wein nachschenken, aber Ana lehnte ab. Habe ich im letzten Monat mehr als das halbe Glas heute getrunken? überlegte sie.

Nein. Sie trank sehr wenig Alkohol – gar keinen, wenn sie allein zu Hause war. Den letzten Wein hatte sie … mit Rhys getrunken.

Wie so oft in den letzten Wochen überkamen sie die Erinnerungen. Plötzlich war sie wieder in der Küche in Kastelruth, genoss die Küsse, die nach Chianti schmeckten, den Rücken an den Küchentresen gepresst, die Brüste an Rhys’ harte Muskeln geschmiegt.

„Alles in Ordnung, Ana?“, erkundigte sich ihre Mutter. „Du siehst aus, als wäre dir heiß. Du bist ganz rot im Gesicht.“

„Ich fühle mich tatsächlich nicht wohl“, gab Ana ehrlich zu. „Macht es euch was aus, wenn ich nach Hause gehe?“

Niemand hatte etwas dagegen, und so saß sie fünf Minuten später in der Limousine und überlegte, wie, um Himmels willen, sie es schaffen sollte, sich einen Schwangerschaftstest zu besorgen, ohne dass es gleich die ganze Welt erfuhr.

Es war nicht leicht, aber Ana schaffte es.

Das Palastpersonal war absolut diskret, aber das Problem bestand darin, dass niemand von der Schwangerschaft erfahren sollte: nicht ihre Familie, nicht die königliche Familie – und die Öffentlichkeit schon gar nicht.

Mehrere Stunden täglich beschäftigte Ana eine Haushälterin. Und so kam es, dass Martha vorerst die Einzige war, die ihr Geheimnis kannte.

Martha hatte nämlich eine Tochter in Anas Alter, also besorgte Martha den Test und gab ihn scheinbar erst einmal ihrer Tochter. Am nächsten Tag brachte sie ihn dann mit zur Arbeit in die Villa.

Ana war inzwischen völlig verspannt vor Nervosität. Sie musste endlich wissen, was mit ihr los war.

Rasch machte sie den Test und hatte Gewissheit.

Ihr wurden die Knie weich, und sie fühlte sich völlig hilf- und nutzlos.

Fragend sah Martha sie an, doch Ana bedeutete ihr, sie in Ruhe zu lassen. Sie wollte nicht die Unterstützung ihrer Angestellten, sondern die ihrer Mutter.

Aber wie soll ich ihr sagen, dass ich schwanger bin, wenn sie sich noch nicht mal von dem Skandal wegen der abgesagten Hochzeit erholt hat? schoss es Ana durch den Kopf.

Sie erwartete ein Kind, und das von einem Mann, den sie so gut wie gar nicht kannte.

Verzweifelt ließ sie sich aufs Bett fallen und brach in Tränen aus.

Irgendwann schlief sie in, und als sie aufwachte, hatte sie einen Plan.

Die Sonne ging gerade unter, als Rhys’ Überwachungssystem ein sich näherndes Auto anzeigte. Rhys saß in seinem Büro, umgeben von Monitoren, auf die Kamerabilder von all seinen Grundstücksgrenzen übertragen wurden.

Er lehnte sich zurück und musterte das herankommende Auto auf dem Bildschirm, einen kleinen Mittelklassewagen, sehr unauffällig. Den hatte er sicher noch nie gesehen.

Da er niemanden erwartete, nahm er an, es wären Touristen in einem Mietwagen, die sich verirrt hatten. Das war schon einmal passiert, und er hatte den Betreffenden präzise Anweisungen gegeben, die sie sicher in den Ort zurücklotsten.

Die Leute jetzt würden sich freilich beeilen müssen. Erste Schneeflocken segelten vom Himmel, für den Abend war heftiger Schneefall vorhergesagt. Dabei war jetzt schon alles mit Schnee bedeckt. Es würde weiße Weihnachten geben, wie immer in Kastelruth. Der Heilige Abend war nur noch eine Woche entfernt.

Das Auto hielt am Tor an, das Fenster auf der Fahrerseite wurde heruntergelassen. Jemand sagte etwas in die Gegensprechanlage. Im Auto war nur eine Person zu sehen, eine Frau mit langen blonden Haaren.

Rhys aktivierte das Mikrofon der Anlage. „Kann ich Ihnen helfen?“, erkundigte er sich höflich.

Beim Klang seiner Stimme zuckte die Frau zusammen, dann lachte sie.

Das Lachen kannte er! Er zoomte die Überwachungskamera näher auf das Gesicht der Fahrerin.

Ja, auch das Gesicht kannte er, allerdings ohne blonde Locken und lila Brille.

„Rhys“, begann Prinzessin Ana. „Ich …“

Plötzlich schwieg sie und wandte den Blick ab.

„Ana!“ Was sollte er sagen? Er hatte nicht erwartet, sie jemals wiederzusehen. Was wollte sie hier?

Natürlich hatte er die Nacht mit ihr nicht vergessen. Immer wieder stand sie ihm in allen Einzelheiten vor Augen, wie die Dauerschleife eines Videos. Aber es war doch nur diese eine Nacht gewesen.

Mehr hatte er nicht gewollt. Und Ana auch nicht.

Sie blickte hoch, direkt in die Kamera. „Kann ich reinkommen?“

Ohne zu antworten, öffnete er per Fernbedienung das Tor.

Am Fuß der Treppe wartete Rhys auf Ana. Sie stieg aus dem Auto – in einem unerwartet seltsamen Outfit: einem lindgrünen Mantel mit schwarz-weißem Webpelz an Kragen, Manschetten und Saum, dazu hautenge weiße Jeans, rosa Moonboots mit noch mehr Webpelz, ebenfalls in Rosa. Über die Schulter hatte sie eine geräumige Patchworktasche gehängt, die Lippen hatte sie hellrot geschminkt.

„Ich habe mich verkleidet“, erklärte sie.

„Warum?“, fragte er verständlicherweise.

„Kann ich es dir drinnen erklären?“

Er nickte und ging mit ihr ins Haus, wo sie die Stiefel und den Mantel auszog. Darunter trug sie einen normalen blauen Pullover.

Sie wirkte nervös und konnte kaum stillstehen.

„Möchtest du einen Drink?“, bot Rhys an.

„Keinen Gin!“, antwortete sie energisch. „Hast du Tee da?“

Wenige Minuten später stellte er einen Becher mit dampfendem Tee vor sie hin. Sie saß am Esstisch und hatte der spektakulären Aussicht auf die Dolomiten den Rücken zugewandt.

Er selbst nahm diesen Anblick kaum noch wahr, da er seit Jahren mit ihm vertraut war. Mit Ana im Vordergrund fiel ihm die Schönheit der Berge jedoch wieder auf. Jetzt, da die Sonne unterging, erglühten die Felswände in Orange und Rosa.

„Also, warum hast du dich so kostümiert?“ Rhys setzte sich ihr gegenüber. „Vor wem versteckst du dich? Und wieso hast du deine Leibwächter nicht mitgebracht?“

Autor

Barbara Wallace
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