Julia Extra Band 490

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NUR EIN ZÄRTLICHER WINTERTRAUM? von LOUISE FULLER

Fassungslos erkennt Lottie den attraktiven Milliardär im TV: Mit ihm hat sie eine leidenschaftliche Nacht verbracht, er ist der Vater ihrer kleinen Tochter! Jetzt weiß sie endlich, wo sie ihn finden kann. Doch wie wird Ragnar auf ihre Enthüllung reagieren?

MEIN KRONPRINZ UNTERM MISTELZWEIG von BARBARA WALLACE

Kronprinz Armando muss dringend heiraten! Eine geeignete Kandidatin aus dem Hochadel hat er bereits gefunden. Doch glücklich würde er nur mit seiner Assistentin Rosa werden, die er unterm Mistelzweig heiß geküsst hat - aber die er aus Standesgründen niemals zur Frau nehmen darf …

EIN FEST DER LIEBE IN NEW YORK von SUSAN MEIER

Sie soll die Erbin eines Vermögens sein? Ungläubig lauscht Leni dem gut aussehenden Nick Kourakis. Gemeinsam fliegen sie ins weihnachtliche New York, wo er ihr alles näher erklären will. Aber ihr neues Leben ist für Leni ebenso beunruhigend wie Nicks maskuline Anziehungskraft …

WIEDERSEHEN MIT DEM WEIHNACHTSENGEL von CAITLIN CREWS

Sechs Jahre ist es her, seit sie Pascal das letzte Mal gesehen hat - da taucht er unerwartet wieder in ihrem Heimatdorf auf. Doch jetzt braucht Cecilia den sexy Playboy-Milliardär garantiert nicht mehr! Auch wenn bald Weihnachten ist, das Fest der Wunder und der Liebe?


  • Erscheinungstag 13.10.2020
  • Bandnummer 490
  • ISBN / Artikelnummer 9783733714901
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Louise Fuller, Barbara Wallace, Susan Meier, Caitlin Crews

JULIA EXTRA BAND 490

LOUISE FULLER

Nur ein zärtlicher Wintertraum?

Mit seiner Dating-App hat Ragnar Stone ein Vermögen gemacht. Ihm selbst hat sie eine unvergessliche Nacht mit einer Fremden beschert – die plötzlich vor ihm steht! Und sie ist nicht allein …

BARBARA WALLACE

Mein Kronprinz unterm Mistelzweig

Kronprinz Armando soll eine Prinzessin heiraten? Die Nachricht stürzt seine Assistentin Rosa in ein Gefühlschaos. Denn insgeheim träumt sie selbst davon, die Winterbraut ihres geliebten Prinzen zu sein!

SUSAN MEIER

Ein Fest der Liebe in New York

Bleib cool, beschwört sich Nick Kourakis. Er ist nach Kansas gekommen, um Leni Long mitzuteilen, dass sie geerbt hat. Und bestimmt nicht, um sich in diese Kleinstadt-Schönheit zu verlieben …

CAITLIN CREWS

Wiedersehen mit dem Weihnachtsengel

Süße Cecilia, halb Krankenschwester, halb Engel! Nie hat Pascal vergessen, wie sie seine schweren Verletzungen versorgt hat. Er will sie wiedersehen – und macht dabei eine schockierende Entdeckung …

1. KAPITEL

Lottie Dawson rieb sich die Augen, bevor sie die Gardine ihres Schlafzimmerfensters zurückzog und hinaussah. Der Garten war noch in Dunkelheit gehüllt, aber sie konnte das gleichmäßige Prasseln des Regens hören. Die Fensterscheibe war mit dicken, glänzenden Wassertropfen bedeckt.

Gähnend warf Lottie einen Blick auf den Wecker neben ihrem Bett. Es war erst halb sechs – viel zu früh, erst recht an einem kalten, nassen Novembertag auf dem Land in Suffolk. Doch heute war das frühe Aufwachen ihrer elf Monate alten Tochter ausnahmsweise einmal von Vorteil, denn sie wollten nach London.

Lottie drehte sich zu Sóley um, die mit platt gedrückten blonden Locken in ihrem Bettchen stand, ihren Lieblingsteddy an sich gepresst. Als Lottie auf sie zuging, streckte die Kleine die rundlichen Ärmchen nach ihr aus und tanzte auf der Stelle.

„Hi.“ Lottie bückte sich und nahm ihre Tochter auf den Arm. Wie jedes Mal ging ihr dabei das Herz auf. Sóley war so niedlich, einfach bildhübsch. Am kürzesten Tag des Jahres geboren, hatte sie eine so warme und goldene Ausstrahlung wie die Sonne, die zu Ehren ihres Geburtstags zum Vorschein gekommen war und ihren Namen inspiriert hatte.

„Gehen wir dir mal deine Milch heiß machen“, murmelte Lottie und atmete den sauberen, süßen Duft ihrer Tochter ein.

Als sie im Erdgeschoss die Küchenlampe anknipste, runzelte sie irritiert die Stirn. In der Spüle lag eine benutzte Bratpfanne, und auf dem vollgekrümelten Tisch waren die Überreste eines Sandwiches mit Speck zu sehen. Daneben befanden sich eine offene Werkzeugkiste und eine Tattoomaschine.

Sie wohnte gern mit ihrem Bruder Lucas zusammen, und er kümmerte sich wirklich rührend um Sóley, aber mit seinen Einsfünfundneunzig nahm er einfach zu viel Raum in ihrem kleinen Cottage ein. Zumal seine Vorstellung von Häuslichkeit daraus bestand, die Stiefel zum Schlafen auszuziehen.

Missbilligend schnalzte Lottie mit der Zunge, setzte sich Sóley auf die Hüfte und sah ihrer Tochter in die großen blauen Augen. „Sieh nur, welche Unordnung Onkel Lucas hier gemacht hat.“ Aber sie hatte jetzt keine Zeit, das Chaos zu beseitigen. Nicht, wenn sie um elf in London sein wollte.

Als sie den Wasserkessel füllte, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Die Galerie in Islington war zwar nur klein, aber Lottie hatte dort ihre erste Einzelausstellung seit Sóleys Geburt. Zu ihrer eigenen Überraschung waren ein paar von ihren Stücken bereits verkauft.

Es war ein tolles Gefühl, dass ihre Arbeit so viel Anklang fand, aber noch mehr freute sie sich darüber, dass die Barker-Stiftung heute über einen Auftrag mit ihr reden wollte. Das wäre ein gewaltiger Schritt nach vorn. Der Vorschuss würde ihr erlauben, sich ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren, ohne abends unterrichten zu müssen. Vielleicht könnte sie sogar ihre Werkstatt erweitern.

Beim Anblick der dunklen Umrisse ihres Bruders auf dem Sofa im Wohnzimmer konnte sie sich schon vorstellen, wie er auf ihren Pragmatismus reagieren würde. Seit Lottie das Cottage gekauft hatte, machte er sich über ihren „Verrat“ lustig und frotzelte, dass eine Hypothek der erste Schritt auf die dunkle Seite der Macht war. Soweit er und ihre Mutter Izzy wussten, stammte das Geld für das Haus aus einem Privatauftrag, und für Lucas waren Privatkunden Menschen, die sowieso kein echtes Interesse an Kunst hatten, sondern sie vor allem als Investition betrachteten.

Schuldbewusst biss Lottie sich auf die Unterlippe. Sie hatte ihre Familie angelogen, aber die Wahrheit zu sagen – dass die Anzahlung für das Cottage von ihrem biologischen Vater stammte, einem Mann, von dessen Existenz sie bis vor zwei Jahren keine Ahnung gehabt hatte – kam nicht infrage.

Sie prüfte die Temperatur der Milch, gab Sóley das Fläschchen und ging wieder mit ihr nach oben. Als sie ihre Tochter ins Bettchen gesetzt hatte und ihre Kleidungsstücke zusammensuchte, dachte sie an den Augenblick, als sie Alistair Bannon an einer Autobahntankstelle begegnet war.

Bei der Erinnerung daran verkrampfte sich ihr Magen. Als Kind hatte sie oft in den Spiegel gesehen und sich vorgestellt, welche Gesichtszüge sie wohl von ihm geerbt hatte. Doch noch bevor er bei ihrer Begegnung den Mund aufgemacht hatte, war offensichtlich gewesen, dass er kein Interesse an einer Beziehung mit seiner erwachsenen Tochter hatte. Nicht, dass er die Vaterschaft leugnete. Er hatte nur kein Bedürfnis, Lottie kennenzulernen. Das Treffen war daher enttäuschend und ernüchternd gewesen und ihr kurzes Gespräch steif und verkrampft.

Von unten hörte Lottie Stiefelschritte. Lucas war anscheinend aufgestanden.

Was ihr Bruder wohl zu dem Brief sagen würde, den ihr Vater ihr danach geschickt hatte? Es waren höfliche, vorsichtig formulierte Zeilen gewesen – keine wirkliche Zurückweisung, aber es hatte auch kein Anlass zur Hoffnung bestanden. Die Kernbotschaft war eindeutig gewesen: Er hielt sie für eine bemerkenswerte junge Frau und wünschte ihr alles Gute für die Zukunft. Er hatte einen Scheck beigefügt – in der Hoffnung, dass der fehlende Unterhalt ihrer Kindheit und Jugend damit ausgeglichen war.

Beim Anblick seiner Unterschrift war ihr fast schlecht geworden. Lottie hatte sich auf eine bloße vierstellige Zahl reduziert gefühlt. Die Versuchung, den Scheck zu zerreißen, war groß gewesen.

Doch dann war sie schwanger geworden.

Sie zog ihren Schlafanzug aus und betrachtete ihren nackten Körper – die silbrigen Dehnungssteifen, die immer noch auf ihrem Bauch zu sehen waren. Damals hatte Lottie nicht im Traum daran gedacht, Mutter zu werden, sodass sie die Schwangerschaft anfangs gar nicht bemerkt hatte. Erst als ihre vermeintlichen Magenbeschwerden nicht verschwunden waren, war sie zum Arzt gegangen. Eine Urinprobe später war sie offiziell schwanger gewesen.

Genau wie Lottie selbst würde ihre Tochter ohne Vater aufwachsen. Manchmal konnte sie immer noch nicht fassen, dass das tatsächlich passiert war. Sie hatten zwar verhütet, aber anscheinend hatte eins der Kondome versagt.

Zitternd vor Kälte zog sie sich an und versuchte, ihren beschleunigten Herzschlag zu ignorieren. Sie konnte sich nämlich nur allzu gut an die Nacht erinnern, in der ihre Tochter gezeugt worden war.

Lottie bezweifelte sogar, dass sie diese Nacht je vergessen würde. Es war wie ein chronisches Fieber. Die Ungeduld und Leidenschaft waren längst verblasst, aber die Erinnerungen daran steckten Lottie immer noch in den Knochen. Manchmal, wenn sie einen männlichen blonden Hinterkopf über breiten Schultern sah, blieb sie abrupt stehen und schloss die Augen, so heftig kehrte das Verlangen dann zurück.

Ragnar Steinn …

Auch ihn würde sie nie vergessen.

Das war ausgeschlossen.

Es wäre, als würde man versuchen, die Sonne zu vergessen.

Doch obwohl er den muskulösen Körper und das scharf geschnittene Profil eines nordischen Gottes hatte, war sein Verhalten nur allzu menschlich gewesen, denn er hatte sich einfach davongeschlichen, bevor sie aufgewacht war.

Aber so demütigend diese Erinnerung auch war – damals war Sóley entstanden, und weder Ragnars Verhalten noch Lotties erschwerte Lebensumstände oder ihre Einsamkeit konnten sie dazu bewegen, die Existenz ihrer süßen Tochter zu bereuen.

„Sieht so aus, als würden wir Schnee bekommen“, sagte Lucas, als sie mit Sóley auf der Hüfte das kleine Wohnzimmer betrat. Er hatte den alten Fernseher eingeschaltet und verschlang die Überreste seines Speck-Sandwiches.

Beim Anblick ihres genervten Gesichtsausdrucks grinste er schief. „Sorry wegen der Unordnung. Ich mache alles sauber, versprochen, und hacke und staple das Feuerholz, bevor der Frost kommt. Soll ich heute auf den kleinen Sonnenschein aufpassen?“

Lottie schüttelte den Kopf. „Nein, aber du könntest uns zum Bahnhof fahren.“

„Okay, aber nur, wenn ich eine Umarmung kriege.“ Er streckte die Arme nach seiner Nichte aus, und die Kleine beugte sich lachend vor. Als er sie auf den Arm nahm und seine Gesichtszüge dabei ganz weich wurden, verblasste Lotties Ärger.

Lucas löste die Hände seiner Nichte aus seinem Haar, gab ihr ein Stück Banane und sah seine Schwester an. „Du könntest nicht zufällig den Kessel aufsetzen, wenn du schon stehst …?“

Lottie warf einen Blick auf die Wanduhr. Sie hatte noch etwas Zeit, bis sie losmusste. „Okay, ich mach uns einen Tee“, sagte sie seufzend, ging in die Küche, spülte die Teekanne aus und setzte den Kessel auf.

„Weißt du, ich glaube, Sóley ist viel weiter als die meisten Kinder in ihrem Alter“, hörte sie Lucas nebenan sagen.

Lächelnd goss sie das kochende Wasser in die Kanne. „Findest du?“ Für jemanden, der so unkonventionell war wie ihr Bruder, war er ganz schön voreingenommen, wenn es um seine Nichte ging.

„Klar. Sie schaut sich gerade die Nachrichten an, als wüsste sie genau, was vor sich geht.“

„Gut. Dann können wir dich in Zukunft ja überstimmen, wenn du Football sehen willst.“

„Im Ernst, sie ist total fasziniert von diesem Typen! Sieh doch nur!“

„Okay, ich komme.“

Lottie kehrte ins Wohnzimmer zurück und betrachtete ihre Tochter, die sich am Fernseher hochgezogen hatte. Lucas hatte recht, die Kleine wirkte total fasziniert vom Geschehen auf dem Bildschirm – einem Interview. Eine Frau stellte einem Mann Fragen und sah ihn dabei genauso fasziniert an wie Lotties Tochter. Im ersten Moment registrierte Lottie nur, dass er blond war und gletscherblaue Augen hatte, bevor sie sein gesamtes Gesicht erfasste.

Prompt klappte ihr die Kinnlade herunter.

Das war er.

Ragnar.

Sie hatte ihn aufsuchen wollen, nachdem sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte – und auch nach der Geburt. Aber sie beide hatten ihre Profile auf der Dating-App, über die sie sich kennengelernt hatten, bereits gelöscht, sodass es keine Spur mehr von ihm gab – und im Internet hatte sie keinen Ragnar Steinn gefunden, der so aussah wie er.

Lottie presste die Lippen zusammen. Nicht, dass eine Begegnung mit ihm etwas geändert hätte. Sein Verhalten hatte offensichtlich gemacht, dass er nur an einem One-Night-Stand interessiert gewesen war. Die Neuigkeit, Vater zu werden, hätte ihn bestimmt nicht gerade begeistert.

Als sie beobachtete, wie Sóley gegen den Bildschirm klopfte, machte ihr Herz einen Satz. „Wer ist das? Ich meine, warum wird er im Fernsehen interviewt?“, fragte sie möglichst beiläufig, doch ihre Stimme klang verräterisch dünn und atemlos.

Gott sei Dank war Lucas zu zerstreut, um etwas zu merken. „Ragnar Stone. Ihm gehört anscheinend diese erfolgreiche Dating-App. Er will jetzt eine VIP-Version rausbringen.“

„Welche Dating-App?“, fragte sie hölzern.

Aber im Grunde war diese Frage völlig überflüssig. Sie kannte die Antwort bereits. Damals hatte sie nur gedacht, Ragnar sei wie sie – jemand, der die App nutzte, um Menschen kennenzulernen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass die App ihm gehörte, und er hatte das ihr gegenüber auch mit keinem Wort erwähnt, da war sie sich ganz sicher.

„Du weißt schon – ice/breakr.“ Lucas sah seine Schwester an. „Sorry, natürlich weißt du das …“

Schließlich war ihr Bruder derjenige gewesen, der sie bei der App angemeldet und sie dazu überredet hatte, die Fragen zu beantworten. Es war um alles Mögliche gegangen – von Politik bis hin zu Urlaub. Nicht alle Fragen waren tiefgründig gewesen, aber so formuliert, dass einem spontan etwas dazu einfiel, was anscheinend dabei half, Paare treffsicherer zusammenzubringen als Fotos und Listen mit Vorlieben und Abneigungen.

Lottie wusste, dass Lucas sich verantwortlich für das fühlte, was anschließend passiert war, stand aber noch zu sehr unter Schock, um ihn zu beruhigen.

Ragnar Stone!

Also hatte er gelogen, was seinen Nachnamen anging. Und er hatte die App nicht nur benutzt – sie gehörte ihm!

Langsam ausatmend, versuchte sie, die Neuigkeit zu verdauen. Gut, dass Lucas immer noch auf den Bildschirm starrte und ihr keine Beachtung schenkte.

Und dass sie ihm damals nicht Ragnars Profil gezeigt hatte, denn sie zitterte gerade am ganzen Körper.

„Ist er in London?“, fragte sie.

„Ja, für die Eröffnung. Er hat dort ein Büro.“ Lucas wischte Sóleys Mund mit dem Saum seines T-Shirts ab. „In einem dieser umgebauten Lagerhäuser in den Docklands. Du kennst doch Nick?“

Sie nickte. Ja. Nick war einer von Lucas’ Freunden. Er spielte Schlagzeug in seiner Band und war tagsüber Graffiti-Künstler.

„Er hat das Fassadendesign für Ragnar Stones Bürogebäude entworfen. Sieht echt krass aus. Er hat mir mal ein paar Fotos gezeigt …“

Lottie räusperte sich. „Ist er ihm schon mal begegnet?“

Lucas schüttelte den Kopf. „Nee, bei Typen wie Stone kann man froh sein, wenn man in ihrem Windschatten mitsegelt.“

Sie blinzelte. Ja, wahrscheinlich hatte er recht. Im Grunde war genau das vor zwanzig Monaten in ihrem Hotelzimmer passiert. Und sollte ihr das bisher nicht klar gewesen sein, brachten die Worte ihres Bruders sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Für sie und Sóley gab es keinen Platz in Ragnars Leben.

„Wann soll ich euch am Bahnhof absetzen?“

Lottie richtete den Blick wieder auf den Fernsehbildschirm und betrachtete Ragnars Gesicht. Die Künstlerin in ihr sprang sofort auf seine symmetrischen Gesichtszüge an. Unwillkürlich musste sie an das Gefühl seiner Lippen auf ihren denken. Er war so attraktiv und seiner blonden, blauäugigen Tochter so unglaublich ähnlich. Bis auf die Grübchen. Die hatte Sóley von Lottie geerbt.

Etwas in ihr zog sich schmerzlich zusammen. Was war, wenn die Ähnlichkeit über bloßes Aussehen hinausging? Für sie war es immer schrecklich gewesen, in der Ungewissheit aufzuwachsen, wo eine Hälfte ihrer DNA herstammte. Irgendwie hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass ihr ein wesentlicher Teil von sich fehlte.

Auch die Begegnung mit ihrem Vater hatte nichts daran geändert. Für sie war es zu spät für eine Beziehung gewesen.

Ob alles anders gekommen wäre, wenn ihr Vater von ihr erfahren hätte, als sie noch ein Baby gewesen war? Und noch viel wichtiger: Durfte sie ihrer Tochter die Chance versagen, das zu bekommen, was sie sich selbst immer so verzweifelt gewünscht hatte?

Mehrere Sekunden verstrichen, in denen Lottie innerlich hin- und hergerissen war. Wenn sie versuchte, Ragnar anzurufen, würde sie bestimmt nicht zu ihm durchgestellt werden, und selbst wenn – würde sie wirklich den Mut aufbringen, ihm am Telefon mitzuteilen, dass er Vater war? Unschlüssig biss sie sich auf die Unterlippe.

Schließlich räusperte sie sich. „Ehrlich gesagt, wäre ich doch froh, wenn du mir Sóley heute abnehmen könntest. Ich muss was erledigen. Allein.“

Ragnar Stone hasste Interviews, aber leider blieb ihm als Geschäftsführer einer weltweit bekannten Dating-App nichts anderes übrig, als dieser lästigen Pflicht ab und zu nachzukommen.

Er stand auf und schüttelte dem ernsten jungen Mann ihm gegenüber die Hand. Irgendwie war es immer das Gleiche, die meisten Antworten könnte sogar das neueste Mitglied seiner PR-Abteilung geben. Doch laut seiner PR-Chefin brannte die Öffentlichkeit nun einmal darauf, mehr über den Menschen hinter der Marke zu erfahren, sodass Ragnar heute pflichtbewusst zweiundzwanzig Interviews über sich hatte ergehen lassen, lediglich unterbrochen von einer halbstündigen Mittagspause.

Gott sei Dank war er jetzt endlich fertig.

Er zog sein Jackett aus, lockerte die Krawatte und streifte sich ein schwarzes Kapuzenshirt über den Kopf, als sein Assistent Adam den Raum betrat. „Wann kommt morgen früh der Wagen?“, erkundigte Ragnar sich und griff nach seinem Laptop.

„Um halb sieben. Um sieben haben Sie ein Meeting mit James Millner, und um acht treffen Sie sich mit dem Design-Team und frühstücken anschließend mit Caroline Woodward.“

„Okay, dann bis morgen.“ Er lächelte seinem Assistenten flüchtig zu. „Und danke für den reibungslosen Ablauf heute, Adam.“

Als Ragnar kurz darauf den Fahrstuhl betrat, fuhr er sich erschöpft mit der Hand über das Gesicht. Nur eine Woche noch. Sobald die neue App lief, würde er sich endlich eine lang verdiente Auszeit gönnen. Sein letzter Urlaub war schon viel zu lange her. Aus zwei Wochen jährlich waren nur wenige Tage geworden. Seit er ice/breakr vor zwei Jahren auf den Markt gebracht hatte, überstürzten sich die Ereignisse.

Seitdem arbeitete er praktisch von morgens bis abends durch, aß und schlief in immer neuen Hotels. Und dann hielt ihn natürlich auch noch seine wundervolle, verrückte, gestörte Familie mit ihrer modernen nordischen Saga von Verrat und Erpressung in Atem.

Ragnar warf einen Blick auf sein Handydisplay und verzog das Gesicht. Drei verpasste Anrufe von seiner Halbschwester Marta, vier von seiner Mutter, sechs Nachrichten von seiner Stiefmutter Anna und zwölf von seinem Stiefbruder Gunnar.

Er dehnte seinen Nacken und die Schulter und steckte sein Handy in die Tasche seines Hoodies. Keiner dieser Anrufe und nicht eine dieser Nachrichten waren dringend, das waren sie sowieso nie. Aber wie alle Dramaqueens brauchten seine Familienmitglieder ein Publikum.

Ausnahmsweise würden sie sich bis morgen gedulden müssen. In diesem Augenblick wollte Ragnar nur noch ins Fitnessstudio und dann ins Bett fallen.

Als die Fahrstuhltür aufglitt, setzte er seine Kapuze auf und nickte im Vorbeigehen den Leuten am Empfang zu, bevor er in die abendliche Dunkelheit hinaustrat. Da vernahm er plötzlich eine weibliche Stimme – so deutlich, als käme sie direkt aus seinem Kopf.

„Hallo, Ragnar.“

In den nächsten Sekunden wurden ihm zwei Dinge bewusst: Erstens kannte er die Stimme, und zweitens schlug sein Herz plötzlich hart und schnell.

Als er sich umdrehte, registrierte er im Schein einer Straßenlaterne zunächst nur eine schmale, angespannte Gestalt, bevor die Gesichtszüge in den Fokus gerieten.

Ihr hellbraunes Haar war länger, ihr Blick etwas wachsamer, aber ansonsten sah sie noch genauso aus wie vor zwanzig Monaten. Trotzdem wirkte sie irgendwie anders. Jünger vielleicht? Aber wahrscheinlich lag das nur daran, dass sie ungeschminkt war.

„Ich komme gerade zufällig hier vorbei. Ich habe eine Ausstellung ein Stück weiter …“ Vage deutete sie nach links. „Und dann habe ich dich rauskommen sehen.“ Sie zögerte. „Erinnerst du dich noch an m…?“

„Ja, ich erinnere mich“, schnitt er ihr das Wort ab, aber nur, weil ihn die unerwartete Begegnung aus dem Konzept brachte. Ihre Stimme hatte er nie vergessen.

Plötzlich waren ihre Augen so dunkel, dass auch sie wahrscheinlich gerade daran dachte, was sie damals in dem Hotelzimmer, keine Meile von hier entfernt, getrieben hatten. Für einen Moment sahen sie einander nur stumm an, während die Erinnerung an ihre gemeinsame Nacht zwischen ihnen in der Luft hing. Dann beugte Ragnar sich vor und umarmte sie flüchtig.

Seine Umarmung hatte neutral wirken sollen, doch als seine Wange ihre Haut streifte, die nach einem blumigen Parfum duftete, beschleunigte sich sein Herzschlag. Gezwungen lächelnd, trat er einen Schritt zurück. „Natürlich erinnere ich mich an dich. Du bist Lottie – Lottie Dawson.“

„Ja, so heiße ich“, erwiderte sie spitz.

Schuldbewusst dachte er an den falschen Nachnamen, den er ihr genannt hatte. Es fiel ihm nicht schwer, sich daran zu erinnern. Da Ragnar in einer Familie aufgewachsen war, die es mit der Wahrheit nicht so genau nahm, hegte er eine tiefe Abneigung gegen Lügen, aber jene Nacht war eine Ausnahme gewesen – aus gutem Grund. Als Erfinder und Eigentümer der App, über die er Lottie kennengelernt hatte, war Anonymität eine reine Vorsichtsmaßnahme.

Doch er hatte sie nicht nur belogen, um ihr seine wahre Identität zu verheimlichen. Seine chaotische, melodramatische Familie hatte ihm auch eine tiefe Abneigung gegen Liebesbeziehungen eingepflanzt. Als er sich daher beim Aufwachen bei dem Wunsch ertappt hatte, den Tag mit Lottie zu verbringen, war er leise aufgestanden und davongeschlichen – weil es nun einmal nicht seine Art war, einen Tag mit einer Frau zu verbringen.

So etwas tat er grundsätzlich nicht.

Schließlich war sein Leben auch so schon kompliziert genug. Er hatte Eltern, Stiefeltern und insgesamt sieben Geschwister, Halbgeschwister und Stiefgeschwister, von denen nicht einer zu einer längeren Beziehung fähig war. Ihre ständigen Affären und Trennungen mitsamt ihrem unvermeidlichen Schmerz und Kummer hatten Ragnar schon lange jeglichen Wunsch nach einer eigenen Beziehung ausgetrieben.

Daher zog er unkomplizierten, ehrlichen Sex vor und war lieber allein. Und genau aus diesem Grund hatte er ice/breakr überhaupt erst ins Leben gerufen. Wozu das Kennenlernen unnötig verkomplizieren, wenn man seine Erwartungen genauso gut schon vorher miteinander abgleichen und so unnötige emotionale Traumata vermeiden konnte?

Zumindest in der Theorie. In seinem Fall hatte dieses Konzept eindeutig versagt.

Du heißt nämlich nicht Steinn.“

Ragnar erwiderte Lotties Blick. Sie war keine klassische Schönheit, aber trotzdem faszinierend. Durchschnittlich und außergewöhnlich zugleich. Ihre Haare und Augen waren hellbraun, doch ihr Gesicht war total lebendig und ausdrucksvoll.

Und erst ihre Stimme …

Nicht nur den heiseren Klang fand er erregend, sondern auch Lotties Art, manche Silben zu dehnen, ähnlich wie eine Blues-Sängerin. Ihre Stimme legte einen entsprechenden Lebensstil nahe – zu lange Nächte und zu viele gebrochene Herzen –, doch während ihrer gemeinsamen Nacht war sie derart unsicher und ungeschickt gewesen, dass man eher vom Gegenteil ausgehen musste. Nicht, dass ihn das gestört hatte. Ehrlich gesagt, hatte ihre fiebrige Hast ihn nur umso mehr angetörnt.

Als Ragnar spürte, dass er körperlich sofort wieder auf die Erinnerung reagierte, verdrängte er sie rasch. „Im Grunde nicht“, sagte er achselzuckend. „Steinn heißt Stone auf Isländisch. Das war nur eine Art Wortspiel.“

„Ach, so wie bei ice/breakr?“

Dann wusste sie also inzwischen, dass die App ihm gehörte. „Ich wollte meine App selbst ausprobieren. Ein Testlauf, wenn du so willst.“

Angewidert verzog sie das Gesicht.

„Ich hatte nie die Absicht, dich zu täuschen.“

„Was die App anging? Oder deinen Namen?“ Wütend funkelte sie ihn an. „Wäre es mir gegenüber nicht fairer und ehrlicher gewesen, wenn du mir einfach gesagt hättest, dass du mich nicht mehr sehen willst?“

Ragnar biss die Zähne zusammen. Ja, das wäre es. Aber andererseits auch wieder nicht.

Zu lügen fiel ihm nicht leicht – seine Familienmitglieder verdrehten ständig die Fakten, was ihn schon als Kind genervt hatte. Doch in jener Nacht hatte er sich von Anfang an untypisch verhalten – von dem Moment an, als er mit dem amerikanischen Namen seines Vaters gespielt und einen Tisch als Mr. Steinn reserviert hatte.

Als er dann am Morgen danach mit seiner heftigen körperlichen Reaktion auf Lottie und seinem ungewöhnlichen und verstörenden Wunsch, ihre gemeinsame Zeit noch etwas länger auszudehnen, konfrontiert worden war, hatte er sich völlig irrational verhalten und war verschwunden. „Ich wollte nicht …“

Genervt winkte sie ab. „Spar dir die Erklärungen. Deshalb bin ich nicht hier.“ Sie sah an ihm vorbei die Straße entlang. „Ein paar Meter weiter ist noch ein Café offen …“

Ragnar kannte das Café. Es war einer jener schicken, hell erleuchteten Coffeeshops mit bärtigen Baristas und blitzsauberen Holztheken. Ganz anders als die dunkle, diskrete Bar, in der sie sich damals getroffen hatten.

Bei dieser Erinnerung beschleunigte sich sein Herzschlag erneut. Ragnar wusste noch, wie Lottie die Bar betreten hatte. Es war einer jener bitterkalten Märzabende gewesen, die ihn an seine Heimat erinnerten, sodass der Raum voller Menschen gewesen war, die dem kalten Wind hatten entkommen wollen. Ragnar war drauf und dran gewesen, wieder zu gehen.

Damals hatte sein Privatleben lediglich aus frühmorgendlichen Terminen mit seinem Trainer und gelegentlichen Abendessen mit Investoren bestanden. Als ihm eines Abends bewusst wurde, dass seine App schon seit fast drei Monaten auf dem Markt war, beschloss er aus einer Laune heraus, sie auszuprobieren. Doch beim Anblick der Paare in der Bar spürte er wieder jenes vertraute Unbehagen in sich aufsteigen, sodass er es sich fast anders überlegt hätte.

Doch dann trat Lottie durch die Tür, und er konnte an nichts anderes mehr denken. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, und sie sah aus, als würde sie nichts weiter tragen als hochhackige Stiefeletten und einen kurzen schwarzen Trenchcoat.

Zu seinem Bedauern hatte sie zwar doch etwas darunter angehabt, trotzdem hatte er sich mit ihr an den reservierten Tisch gesetzt – froh, doch nicht durch den Hinterausgang verschwunden zu sein.

„Du willst, dass wir dort hingehen?“, fragte er jetzt.

Lottie nickte zögernd.

Sein Puls beschleunigte sich. Seit jenem Abend waren fast zwei Jahre vergangen. Er war total erschöpft, und sein Sicherheitschef würde schockiert sein.

Dennoch sah er auf ihre vollen Lippen …

2. KAPITEL

Im Coffeeshop war noch ziemlich viel los, sodass Lottie und Ragnar sich für ihren Kaffee anstellen mussten, aber es gelang ihnen, einen freien Tisch zu finden.

Nachdem sie sich gesetzt hatten, deutete er auf seinen Espresso. „Danke.“ Er hatte seine Brieftasche schon in der Hand gehabt, doch sie hatte sich vorgedrängt und ihn mit einem Blick davor gewarnt zu widersprechen.

Jetzt jedoch wich sie seinem Blick aus. Zum ersten Mal, seit sie ihn angesprochen hatte, fragte er sich, warum sie ihn eigentlich aufgesucht hatte. Er trank einen Schluck und genoss die Wirkung des Koffeins. „So, jetzt bin ich ganz für dich da“, sagte er.

Sofort versteifte sie sich. „Wohl kaum.“

Er seufzte tief. „Geht es darum? Dass ich dir damals einen falschen Namen genannt habe?“

Aus zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an. „Nein, natürlich nicht! Ich wollte nicht …“ Sie verstummte und runzelte die Stirn. „Ehrlich gesagt, bin ich nicht zufällig hier vorbeigekommen, und ich bin auch nicht meinetwegen hier.“ Sie holte tief Luft. „Sondern wegen Sóley.“

Ihre Gesichtszüge wurden für einen Moment so weich, dass es Ragnar schwerfiel, sie nicht zu berühren. „Das ist ein hübscher Name.“

Sie nickte. Ihr Lächeln war erloschen.

Es war ein hübscher Name – einer, der ihm schon immer gefallen hatte. Außerhalb von Island hörte man ihn nicht oft. Aber was hatte er damit zu tun? Als er sah, dass Lotties Hände zitterten, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. „Wer ist Sóley?“

Ihr Schweigen dauerte eine gefühlte Ewigkeit – lange genug zumindest, dass er im Geiste sämtliche möglichen Antworten durchspielen konnte. Auch die naheliegendste.

Sie straffte die Schultern. „Sóley ist deine Tochter. Unsere Tochter.“

Schockiert starrte er sie an, während tausend Fragen durch seinen Kopf wirbelten. Nicht wie oder wann oder wo, sondern warum. Er hatte schließlich Kondome benutzt … Aber das erste Mal hatte er es ziemlich eilig gehabt. Was ihm auch durchaus bewusst gewesen war. Warum hatte er sich eigentlich nie vergewissert, ob alles gut gegangen war? Warum hatte er in der Hitze des Augenblicks einfach seinen gesunden Menschenverstand ausgeschaltet?

Aber die Antworten auf diese Fragen mussten warten.

„Okay …?“

Irritiert runzelte sie die Stirn. „‚Okay‘?“, wiederholte sie. „Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?“

Er nickte. „Ja. Dass ich dich geschwängert habe.“

Verblüfft sah sie ihn an. „Das scheint dich nicht zu überraschen.“

Er zuckte mit den Achseln. „So was kommt vor.“ Zumindest bei seinen Geschwistern und Halbgeschwistern, sogar bei seiner Mutter. Aber bei ihm eigentlich nicht.

Bis jetzt.

„Und du glaubst mir?“

Gelassen erwiderte er ihren Blick. „Willst du eine ehrliche Antwort?“

Verächtlich verzog sie die Lippen. „So wie die Dinge zwischen uns gelaufen sind, rechne ich nicht mit einer ehrlichen Antwort.“

„Ich habe dich nicht bewusst belogen.“

„Klar, vermutlich weil du automatisch lügst.“

„Du drehst mir das Wort im Mund herum.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ähnlich wie wenn man Steinn statt Stone sagt?“

Allmählich ärgerte ihn ihre Feindseligkeit. „Okay, es war falsch von mir, dich zu belügen – aber wenn Ehrlichkeit dir wirklich so wichtig ist, warum hast du dann so lange damit gewartet, mir zu sagen, dass ich eine Tochter habe?“

„Ich wollte es dir ja erzählen“, widersprach sie steif. „Ich habe versucht, dich ausfindig zu machen, als ich schwanger war – und nach der Geburt. Aber die einzigen Ragnar Steinns, die ich im Internet finden konnte, waren nicht du. Ich hätte dich wahrscheinlich nie gefunden, wenn ich dich nicht zufällig im Fernsehen gesehen hätte.“

Trotz seiner Wut merkte er ihr ihre Nervosität und die Anstrengung an, die ihr selbstsicheres Auftreten sie kostete. Kein Wunder – es erforderte großen Mut, einem Mann gegenüberzutreten und ihm mitzuteilen, dass man ein Kind von ihm hatte.

Sein Herzschlag beschleunigte sich. All die Jahre, in denen er den Dramen seiner Familie ausgesetzt gewesen war, hatten ihn gelehrt, seine Gefühle im Zaum zu halten, doch aus irgendeinem Grund ging ihm ihre Angst unter die Haut.

Leider halfen ihnen Emotionen jetzt nicht weiter, schon gar nicht seiner Tochter.

Er beschloss, sich auf die Fakten zu konzentrieren: „Jetzt hast du mich ja gefunden.“ Sie schob ihm gerade etwas hin, während er hinzufügte: „Und jetzt willst du vermutlich über Geld reden, oder?“

In diesem Augenblick betrat eine Gruppe junger Männer und Frauen das Café und gab so lautstark ihre Bestellungen auf, dass Lottie im ersten Moment glaubte, sich verhört zu haben, aber sie hatte ihn offensichtlich richtig verstanden.

Seit ihrer Ankunft heute Morgen in London hatte sie sich gefragt, ob sie das Richtige tat. Die Vorstellung, Ragnar wiederzusehen, hatte sie so nervös gemacht, dass sie innerlich zwischen Wut und Panik hin- und hergeschwankt war. Als er dann sein Bürogebäude verlassen hatte, waren ihre Emotionen schlagartig von Begierde verdrängt worden.

Sollte sie gedacht haben, dass das Fernsehinterview sie auf die Begegnung mit ihm vorbereitet hatte, hatte sie sich gründlich geirrt. Im Licht der Straßenlaterne war seine Attraktivität so erschreckend rau gewesen wie das Vulkangestein seiner Heimat. Außerdem sah seine Tochter ihm beinah unerträglich ähnlich.

Aber anscheinend schien für Ragnar schon festzustehen, welcher Art seine Beziehung zu Sóley sein würde – wie bei Lotties eigenem Vater nämlich.

„Geld?“, wiederholte sie verächtlich. Das Wort hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Mund. „Ich bin nicht gekommen, um mit dir über Geld zu reden, sondern über unsere Tochter!“

Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Warum musste ihr das nur immer wieder passieren? Warum schienen die Männer in ihrem Leben alle zu glauben, dass sie sich auf irgendeine beliebige Geldsumme reduzieren ließ?

Ruhig erwiderte er ihren Blick. „Kinder kosten nun mal Geld. Du hast Sóley bislang offensichtlich allein finanziert, und das will ich wiedergutmachen. Ich muss zwar erst mit meinen Anwälten reden, aber du sollst wissen, dass du dir in dieser Hinsicht keine Sorgen mehr zu machen brauchst.“

Ich mache mir keine Sorgen! hätte sie am liebsten gebrüllt. „Ich bin nicht allein“, erwiderte sie stattdessen steif. „Meine Mutter hilft mir, und mein Bruder Lucas wohnt mit mir zusammen. Er ist Tätowierer und kann seine Arbeitszeit daher frei einteilen …“

„Tätowierer?“

Ragnar sah sie so regungslos und nüchtern an, als wäre sie irgendein fehlerhafter Algorithmus. Im Angesicht dieses kühlen Fremden, der so ganz anders war als der Mann, der sie in dem Hotelzimmer leidenschaftlich geliebt hatte, wurde ihr übel.

Doch was diese seltsame Distanz zwischen ihnen umso verstörender machte, war die Erkenntnis, dass sie sich offensichtlich falsche Hoffnungen gemacht hatte, was dieses Treffen anging. Die Ähnlichkeit zwischen seiner Tochter und ihm war so frappierend, dass sie davon ausgegangen war, er würde sich mehr für sie interessieren als ihr eigener Vater für sie selbst.

Doch die Tatsache, dass er sofort von Geld sprach, zeigte ihr, dass er glaubte, sich damit seiner väterlichen Verantwortung entziehen zu können.

„Ich weiß, dass du reich bist, Ragnar, aber ich bin nicht hier, um dich um Geld zu bitten.“ Vergeblich versuchte sie, ihre Enttäuschung hinunterzuschlucken. „Das hier war anscheinend ein Fehler. Aber keine Sorge, es wird sich nicht wiederholen. Kehr also ruhig zu dem zurück, was dir am meisten zu bedeuten scheint – Geld zu scheffeln!“

Ragnar sprang auf und versuchte, Lottie aufzuhalten, doch sie hatte schon nach ihrem Mantel gegriffen und floh aus dem Café. Fassungslos starrte er ihr hinterher.

Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, ihr nachzulaufen, aber sie war bestimmt schon bei der U-Bahn-Station um die Ecke angekommen.

Frustriert setzte er sich wieder hin. Ihr Verhalten – ein Kind von einem Fremden zu bekommen, es geheim zu halten, dann unangemeldet aufzutauchen und dem Erzeuger von dem Kind zu erzählen, um daraufhin wieder davonzustürmen, passte nur allzu gut in das chaotische Drehbuch seiner Familien-Soap.

Zum ersten Mal fiel sein Blick auf den Gegenstand, den sie ihm vorhin über den Tisch hinweg zugeschoben hatte. Es war das Foto eines kleinen Mädchens.

Eines Mädchens, das genauso aussah wie er – Sóley.

Langsam streckte er die Hand aus und berührte sanft das Gesichtchen. Sie war so klein und goldig – genau wie ihr Name. Auf keinen Fall würde er sie unter dem alleinigen Einfluss ihrer chaotischen Mutter und ihrer schrägen Familie aufwachsen lassen. Er wusste schließlich, wie es war, in instabilen, chaotischen Verhältnissen aufzuwachsen. Das wollte er seiner Tochter unbedingt ersparen.

Es mussten Arrangements getroffen werden.

Er nahm das Foto, steckte es in die Brieftasche und zog sein Handy aus der Tasche.

Lottie schob ihre schlafende Tochter höher auf die Schulter und betrachtete die Besucher der Galerie, die in kleinen Grüppchen durch den Raum schlenderten und ab und zu stehen blieben, um sich Lotties Skizzen, Collagen und Kunstharzskulpturen anzusehen. Sie war zufrieden mit den Besucherzahlen, aber auch erschöpft.

„Fast geschafft.“

Lächelnd drehte sie sich zu der Frau neben sich um, die ihr verschwörerisch zuzwinkerte. Georgina Hamilton war schlank, blond und hatte die Art Wangenknochen, die Männer zum Schwärmen brachten. Sie war die glamouröse und unglaublich kompetente Miteigentümerin der Galerie und nicht nur Lotties begeisterte Förderin, sondern inzwischen auch ihre Freundin, obwohl sie beide kaum unterschiedlicher sein könnten.

Reumütig verzog Lottie das Gesicht. „Sehe ich so fertig aus?“

Ihre Freundin musterte sie. „Nur für mich. Für alle anderen wirkst du wahrscheinlich eher kunstvoll zerzaust.“ Sie richtete den Blick auf die schlafende Sóley. „Soll ich sie dir abnehmen?“

„Nein, schon gut, ich will nicht riskieren, sie zu wecken.“ Liebevoll betrachtete Lottie die goldenen Locken ihrer Tochter. „Sie war die letzten Nächte ziemlich unruhig.“

Und da war sie nicht die Einzige. Auch Lottie hatte nicht gut geschlafen. Die Gedanken an Ragnar hatten sie lange wach gehalten.

Das war jedoch nicht nur dem Schock ihres Wiedersehens geschuldet oder seiner enttäuschenden, aber vorhersehbaren Reaktion auf die Nachricht, dass er eine Tochter hatte, sondern auch der kühlen Distanz zwischen ihnen.

Sie schmiegte das Gesicht an das weiche Haar ihrer Tochter. Bei ihrem Gespräch im Coffeeshop war er so ganz anders gewesen als in ihrer gemeinsamen Nacht – einerseits vertraut und dann doch wieder völlig fremd. Keine Spur mehr von Leidenschaft und fiebrigem Hunger. Stattdessen hatte er sie so nüchtern, fast klinisch kalt angesehen, dass sie sich gefühlt hatte wie auf dem Prüfstand – mit negativem Ergebnis.

Bei der Erinnerung verkrampfte sich ihr Herz.

Und doch hatte sie während ihrer steifen Unterhaltung ein unterschwelliges Verlangen zwischen ihnen gespürt – so intensiv, dass ihre Hände gezittert hatten, als sie nach ihrem Kaffee gegriffen hatte.

Blinzelnd verdrängte sie die Erinnerungen. Was vor zwanzig Monaten zwischen ihnen passiert war, war offensichtlich nur ein Ausrutscher gewesen. Ragnar war jemand, der das menschliche Bedürfnis nach Nähe einem milliardenschweren, weltweiten Unternehmen hintangestellt hatte. Für Empathie oder Leidenschaft gab es offenbar keinen Platz mehr in seinem Leben.

Sie presste die Lippen zusammen. Was hatte er noch mal über jene Nacht gesagt? Ach ja, dass sie ein „Testlauf“ für seine App gewesen sei. Wie dumm von ihr zu glauben, er hätte vielleicht echtes Interesse an seiner Tochter! Nie wieder würde sie versuchen, für die falschen Menschen das Richtige zu tun! Von jetzt an würde sie nur noch Personen an sich heranlassen, denen sie vertrauen konnte – wie der Frau vor ihr.

„Danke, dass du noch geblieben bist, Georgina. Ich weiß auch nicht, wo mein Bruder steckt. Danke auch für alles, was du für mich getan hast. Ohne dich hätte ich bestimmt nicht so viel verkauft.“

Lächelnd warf Georgina das blonde Haar über die Schultern. „Ach Süße, dafür brauchst du dich nicht bei mir zu bedanken. Erstens ist das mein Job, und zweitens ist es für die Galerie ein toller Erfolg, eine ausverkaufte Ausstellung zu haben.“

Lottie blinzelte überrascht. „Ausverkauft? Ich dachte, es sind noch Skizzen und Collagen übrig.“

Ihre Freundin zuckte mit den Achseln. „Jetzt nicht mehr. Rowley’s hat mich heute Mittag angerufen und alles aufgekauft.“

Lotties Herz machte einen Satz. Rowley’s war ein renommierter Kunsthändler mit einer Adresse in Mayfair und einer Kundenliste reicher Investoren, die ihre Zeit zwischen Peking, New York und London aufteilten und Millionen für Häuser, Autos und aufstrebende junge Künstler ausgaben. Daher war Rowley’s auch für seine absolute Diskretion bekannt.

Als Lottie den Mund öffnete, um zu fragen, wer ihre Werke gekauft hatte, schüttelte Georgina bedauernd den Kopf. „Sorry, sie haben mir keine Namen genannt.“ Sie hob eine Augenbraue. „Du scheinst dich ja gar nicht zu freuen.“

„Doch, tue ich. Ich ziehe es nur vor, selbst mit den Käufern zu reden.“

„Verständlich, aber du weißt ja, wie diese Sammler sind. Sie brüsten sich gern damit, einen bedeutenden Künstler entdeckt zu haben, aber ihre Anonymität ist ihnen noch wichtiger.“ Sie sah an Lottie vorbei. Plötzlich wurden ihre Augen so schmal wie die einer Raubkatze, die Beute erspäht. „O mein Gott …“

„Was ist los?“

„Sieh nicht hin, aber ein unglaublich scharf aussehender Typ hat gerade die Galerie betreten. Er hat die tollsten Augen, die ich je gesehen habe.“

Belustigt schüttelte Lottie den Kopf, zuckte jedoch zusammen, als Georgina sie heftig am Arm packte und zischte: „Er kommt direkt auf uns zu!“

„Du meinst wohl, auf dich“, gab Lottie trocken zurück. Sie war es gewohnt, dass die Männer in Georginas Gegenwart durch sie hindurchsahen.

„Er schaut aber nicht mich an …“, sagte Georgina gedehnt. „Er will zu dir!“ Sie klang überrascht.

Lottie lachte. „Vielleicht hat er heute Morgen ja vergessen, seine Kontaktlinsen einzusetzen. Oder er …“ Sie drehte sich um, verstummte mitten im Satz – und erstarrte. Denn wer da auf sie zukam und sie mit seinem Blick fixierte, war kein Geringerer als Ragnar Stone.

Wie betäubt starrte sie ihn an, als er vor ihr stehen blieb. Er hatte eine solche Präsenz, dass die Galerie plötzlich viel kleiner wirkte. Verstohlen musterten ihn die anderen Besucher.

Seine Augen sind wirklich unglaublich blau, dachte Lottie benommen.

Doch Georgina hatte sich geirrt – er sah nicht sie an. Er hatte den Blick auf seine Tochter gerichtet und musterte sie teilnahmslos, bevor er sie, Lottie, fixierte.

„Hallo, Lottie.“

Seine tiefe Stimme ging ihr durch und durch, sodass sie immer noch kein Wort herausbrachte. Das Herz hämmerte ihr in der Brust. Instinktiv hielt sie ihre Tochter fester, so albern das auch war. „Hallo, Ragnar“, sagte sie steif. „Ich habe nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen.“

Er gab keine Antwort.

„Ihr kennt euch?“, fragte Georgina munter.

„Ja.“

„Nein!“

Sie antworteten beide gleichzeitig – er ruhig, Lottie etwas lauter.

Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. „Wir sind uns vor zwei Jahren begegnet“, erklärte sie.

„Vor knapp zwei Jahren“, korrigierte Ragnar sie und sah sie durchdringend aus seinen blauen Augen an.

Ein kurzes, angespanntes Schweigen folgte, bevor Georgina sich verlegen räusperte. „Tja, dann lass ich euch mal allein, damit ihr euch austauschen könnt.“ Sie lächelte Ragnar zu und schlenderte blind für Lotties flehentlichen Gesichtsausdruck auf ein teuer gekleidetes Paar auf der anderen Seite des Raums zu.

Nun richtete Lottie die Aufmerksamkeit wieder auf Ragnar. „Wie hast du mich gefunden?“ Noch immer hatte sie sich nicht von ihrem Schreck erholt, sodass ihr Herz unregelmäßig schlug.

Er erwiderte ihren Blick. „Oh, ich kam gerade zufällig hier vorbei“, sagte er lässig.

Wütend funkelte sie ihn an. „Bist du mir etwa gefolgt?“

Etwas blitzte in seinen blauen Augen auf. „Das nicht, aber ich habe meinen Sicherheitschef gebeten, die Ausstellung ausfindig zu machen, die du erwähnt hast.“

Ihr Kopf begann, schmerzlich zu pochen. Sein Auftauchen kam so unerwartet. Fast so unerwartet wie das alberne Glücksgefühl, das in ihr aufstieg.

„Willst du mich nicht vorstellen?“

Für einen Moment sah sie Ragnar verwirrt an. Meinte er Georgina? Plötzlich empfand sie eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Eifersucht. „Das ist Georgina. Sie ist …“

Er presste die Lippen zusammen. „Nicht ihr. Meiner Tochter.“

Lotties Herz machte einen Satz.

Seit sie das Café vor vierundzwanzig Stunden verlassen hatte, spielten ihre Emotionen verrückt, sosehr sie sich auch dagegen wehrte. Sie hatte mit der gleichen Wut und der gleichen Enttäuschung zu kämpfen wie nach dem Treffen mit ihrem Vater. Aber Alistairs Widerstreben hatte sie wenigstens noch nachvollziehen, wenn auch nicht entschuldigen können. Eine erwachsene Tochter zu treffen, von deren Existenz man keine Ahnung gehabt hatte, war nicht einfach. Sóley hingegen war noch nicht einmal ein Jahr alt.

Sie räusperte sich. „Was willst du, Ragnar?“

„Genau das, was ich auch schon gestern Abend wollte“, antwortete er ruhig. „Bevor du wutentbrannt aus dem Café gestürmt bist, anstatt mir eine Chance zu geben, mich zu erklären.“

Lottie wurde wütend. „Ich habe dir sehr wohl eine Chance gegeben, aber du hast sofort von Geld gesprochen! Wenn du deshalb hier bist, verschwendest du nur deine Zeit. Ich habe dir gesagt, dass ich dein Geld nicht will, und daran hat sich auch nichts geändert!“

„Diese Entscheidung betrifft dich nicht allein.“ Er erwiderte ihren Blick. „Welche Mutter lehnt finanzielle Unterstützung für ihr Kind ab?“

Wieder wurde ihr Gesicht ganz heiß. Er drehte ihr das Wort im Mund herum. Sie hatte sein Geld nicht abgelehnt. Oder vielleicht doch, aber es war ihr nicht darum gegangen. Vielmehr hatte sie ihm zu vermitteln versucht, dass sie ihn nicht aus finanziellen Gründen kontaktiert hatte.

„Ich habe nicht dein Geld zurückgewiesen, sondern deine Unterstellung, dass es mir allein darum geht. Du hast mir das Gefühl vermittelt, dass du mich für geldgierig hältst.“

Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. „Was willst du dann von mir?“

Diese Frage überrumpelte sie etwas. Teils hatte sie einfach das Richtige tun und teils ihrer Tochter ersparen wollen, sich als Kind und Jugendliche so zu fühlen, wie sie es selbst getan hatte – als ob irgendetwas Wesentliches fehlte. Aber irgendwie widerstrebte es ihr, das jemandem anzuvertrauen, der praktisch ein Fremder für sie war. Das war ihr irgendwie zu persönlich.

„Du bist ihr Vater, und ich wollte, dass du das weißt“, antwortete sie stattdessen steif und senkte den Blick zu ihrer noch immer schlafenden Tochter. „Sie ist so fröhlich und lieb – so interessiert an allem, was um sie herum vorgeht.“

„Hast du sie deshalb in die Galerie mitgenommen?“

„Ja, genau“, sagte sie verstimmt.

Vielleicht wollte er ja nur höflich Konversation machen, aber in seiner Stimme schwang ein Unterton mit, der sie an den Augenblick erinnerte, als sie erwähnt hatte, dass Lucas Tätowierer war. Doch wie sollte ein Mann wie Ragnar ihre etwas unkonventionelle Familie verstehen? In seinem Job hatte er die Chemie zwischen zwei Menschen in ein Flussdiagram übertragen. „Ich bin Künstlerin und Mutter und will nicht so tun, als wäre meine Tochter nicht Teil meines Lebens!“

In seinen Augen flackerte etwas auf. Oder lag es daran, dass sich die Lichtverhältnisse in der Galerie für einen Moment veränderten, weil ein Bus vor dem Fenster vorbeifuhr?

„Sehe ich genauso.“ Er sah von seiner Tochter auf eine von Lotties Kunstharzskulpturen. „Mutter zu sein definiert dich nicht komplett, bringt aber neue Konturen in deine Werke. Nicht buchstäblich“, fügte er lächelnd hinzu. „Aber es prägt dich als Künstlerin.“

Lotties Herz machte einen Satz. Damals hatten sie kaum über ihre Arbeit geredet. Was vielleicht seltsam war in Anbetracht dessen, was danach passiert war, aber obwohl sie nichts Persönliches besprochen hatten, hatten sie sich gut unterhalten.

Vor ihm hatte sie andere Männer gehabt – nichts Ernstes oder Längeres, nur flüchtige Schwärmereien, auf die unweigerlich die Ernüchterung gefolgt war. Schon nach kurzer Zeit hatte sie nicht mehr gewusst, was sie am jeweiligen Objekt ihrer Begierde je attraktiv gefunden hatte.

Nach ihrer Begegnung mit Alistair war sie dann sehr verletzlich gewesen. Vielleicht wäre diese Reaktion weniger heftig ausgefallen, wenn sie mit ihrer Mutter oder ihrem Bruder darüber gesprochen hätte, aber sie hatte sich sowieso schon als Verräterin gefühlt, weil sie hinter ihrem Rücken gehandelt hatte. Und wozu die beiden verärgern, wenn sowieso alles umsonst gewesen war?

Ihr biologischer Vater hatte es so eilig damit gehabt, zu seinem eigentlichen Leben zurückzukehren, dass sie sich hinterher für ihre Naivität geschämt hatte. Anscheinend war sie nicht gut genug für seine Liebe gewesen – etwas, das sie von da an Männern gegenüber tief verunsichert hatte.

Bis sie Ragnar begegnet war.

Beim Betreten der Bar war sie total unruhig gewesen, doch als er vom Tisch aufgestanden war, hatte ihre Nervosität schlagartig nachgelassen. Für einen Moment war sie so von seinem Blick gebannt gewesen, dass sie kaum das laute Stimmengewirr der Menschen um sich herum wahrgenommen hatte. Es war, als seien sie beide allein auf der Welt gewesen.

Nie zuvor hatte sie sich so spontan mit jemandem verbunden gefühlt – schon gar nicht mit einem Mann. Für sie war ihre anschließende gemeinsame Nacht nur eine Bestätigung dieses Gefühls gewesen. Und damals hatte sie geglaubt, dass er genauso empfunden hatte. Gefangen in ihrer unbeschreiblichen Leidenschaft, hatte sie sich endlich wieder stark und begehrenswert gefühlt.

Jetzt hingegen kam Ragnar ihr völlig fremd vor. So fremd, dass sie sich kaum vorstellen konnte, ein Kind mit ihm zu haben.

Sie zuckte zusammen, als Sóley sich plötzlich in ihren Armen aufrichtete, bevor sie einen Daumen in den Mund steckte und sich wieder entspannte. „Warum bist du hier?“

„Ich will Anteil am Leben meiner Tochter nehmen. Nicht nur finanziell – ich will mich auch um sie kümmern.“

Plötzlich bekam Lottie keine Luft mehr, obwohl sie selbst nicht genau verstand, warum. Schließlich war das doch genau das, was sie sich immer für ihre Tochter gewünscht hatte, oder?

Als Sóley sich wieder regte, wurde Lotties Panik noch größer. Schockiert wurde ihr bewusst, dass sie bisher nicht über Ragnars erste Reaktion auf die Tatsache, dass er eine Tochter hatte, hinausgedacht hatte. Und dank dieser Dummheit oder Kurzsichtigkeit hatte sie jemanden in ihr Leben gelassen, den sie kaum kannte oder mochte und der vielleicht ganz andere Vorstellungen als sie hatte.

„Ich weiß nicht, wie das funktionieren soll …“

Doch Ragnar hörte ihr gar nicht zu, so fasziniert war er vom Anblick seiner Tochter. Zu Lotties Bestürzung sah sie, dass Sóley wach war und ihren Vater aus großen Augen ansah. Ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen. Die beiden hatten die gleichen blauen Augen.

„Hey“, sagte er sanft zu seiner Tochter, bevor er Lottie mit einem flüchtigen Blick streifte. „Darf ich?“

Sie nickte zögernd und hielt nervös die Luft an, als er die Hand nach Sóley ausstreckte.

Beim Anblick von Sóleys kleinen Fingern um seinen Daumen verspürte sie den gleichen Anflug von Stolz und Panik in sich aufsteigen wie im Cottage, als ihre Tochter so fasziniert von Ragnars Gesicht im Fernsehen gewesen war. Was auch immer sie empfand – Fakt war, dass die beiden Vater und Tochter waren.

„Wir sollten uns hinsetzen und besprechen, wie wir weiter vorgehen“, schlug er vor.

„Weiter vorgehen …?“, wiederholte Lottie verwirrt.

Er nickte. „Wir brauchen offenbar eine gerichtliche Regelung, aber ich will, dass wir uns vorher einig sind.“

Von draußen drang unkontrolliertes weibliches Gelächter in die stille Galerie. Als die Besucher sich neugierig in Richtung Treppe umdrehten, entdeckte Lottie den Mantel ihrer Mutter und die vertrauten schwarzen Stiefel ihres Bruders auf den Galeriestufen und bekam solche Panik, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Das hier war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um Ragnar ihrer Familie vorzustellen. Sie war noch nicht so weit, und außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, wie die drei aufeinander reagieren würden.

Obwohl – das konnte sie nur allzu gut. Daher musste sie eine Begegnung um jeden Preis verhindern. „Na schön“, antwortete sie hastig. „Ich gebe dir meine Handynummer, dann kannst du mich anrufen.“

„Ich glaube, es wäre besser, jetzt gleich ein Treffen zu vereinbaren.“

Lottie fühlte sich in die Ecke gedrängt, aber was blieb ihr anderes übrig? „Okay. Wie wär’s mit morgen Nachmittag?“

Er nickte. „Soll ich zu dir kommen?“

„Nein!“, protestierte sie. „Bei uns kommt ständig jemand vorbei. Es ist besser, wenn wir ungestört sind.“

„Gut. Ich schicke dir meinen Wagen.“

„Das wird nicht …“

„… nötig sein?“, ergänzte er ihren Satz. „Mag sein.“ Stirnrunzelnd griff er in sein Jackett und zog eine Visitenkarte heraus. „Tu mir trotzdem den Gefallen. Hier ist meine Privatnummer. Schick mir deine Adresse, und ich lasse euch abholen.“

Lottie zögerte einen Moment. Es gefiel ihr überhaupt nicht, wie eine Sonderlieferung behandelt zu werden, aber so schienen die Dinge bei Ragnar nun mal zu laufen, und sich zu weigern wäre vermutlich kindisch angesichts dessen, was hier auf dem Spiel stand.

„Also gut, aber jetzt solltest du wirklich gehen. Die Ausstellung schließt in zehn Minuten, und Sóley muss nach Hause ins Bett.“ Zu ihrer Erleichterung sah sie Georgina auf ihre Mutter und ihren Bruder zueilen, um die beiden aufzuhalten. „Wenn es dir also nichts ausmacht …?“

„Natürlich nicht.“ Sein Lächeln wirkte etwas gezwungen. „Bis morgen.“ Sanft löste er Sóleys Finger von seinem Daumen. Für einen Moment zögerte er, bevor er sich umdrehte und zur Tür ging. Nervös beobachtete Lottie, wie er an ihrer Mutter und Lucas vorbeiging, die auf sie zusteuerten.

„Tut mir leid, dass wir so spät kommen!“ Theatralisch fuhr ihre Mutter sich mit der Hand durch das lange dunkle Haar. „Wir sind noch Chris über den Weg gelaufen, und dein Bruder hat darauf bestanden, ihm einen auszugeben.“ Neugierig sah sie Ragnar hinterher. „Wer war denn das?“

Lottie zuckte mit den Achseln.

„Kenne ich den nicht irgendwoher?“, fragte Lucas stirnrunzelnd.

„Eher unwahrscheinlich“, antwortete Lottie kurz angebunden. „Ich glaube kaum, dass ihr in denselben Kreisen verkehrt.“ Sie hob eine Augenbraue. „Du wolltest doch schon vor einer Stunde hier sein, um uns abzuholen. Kannst du mir bitte Sóley abnehmen, jetzt, wo du endlich hier bist?“

Erleichtert atmete sie auf, als Lucas seine Nichte auf den Arm nahm. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass ihr Bruder nicht darauf kam, wer Ragnar war, und eins und eins zusammenzählte. Das konnte sie jetzt weiß Gott nicht gebrauchen!

3. KAPITEL

Ist das etwa Lotties Familie?

Als Ragnar die Galeriestufen hochstieg, verspürte er jenes Unbehagen, das ihn auch immer im Beisein seiner eigenen Familie überkam – das Gefühl, in einen Strudel mit hineingerissen zu werden.

Der Mann mit den Totenkopf-Tattoos am Hals und die dunkelhaarige Frau mit dem auffälligen roten Kunstpelz schienen Lotties Bruder und Mutter zu sein, was nicht gerade beruhigend war. Aus Erfahrung wusste Ragnar, dass Exzentrizität nach außen hin manchmal ganz charmant wirken konnte, exzentrische Menschen aber leider eine Neigung zur Selbstsucht und zum Drama hatten, was für ihre Mitmenschen sehr anstrengend sein konnte.

Aber bei seiner eigenen Familie wusste man wenigstens, woran man war.

Die Erinnerung daran, wie seine Tochter seinen Daumen umklammert hatte, bestätigte ihn in seinem Entschluss. Sollte er bisher Zweifel gehabt haben, ob er wirklich eine Rolle in ihrem Leben spielen wollte, war das spätestens seit diesem Erlebnis vorbei. Kinder brauchten Stabilität und keine Dramen, und er konnte sich gut vorstellen, welches Chaos Lotties Mutter und Bruder verbreiteten.

Kein Wunder, dass Lottie ihn gar nicht schnell genug hatte loswerden können.

Er riss die Tür zu seinem Wagen auf und warf sich auf den Rücksitz. „Bring mich nach Hause, John“, sagte er.

Nach Hause …

Fast hätte er laut aufgelacht. Wo war er schon zu Hause? Während seiner Kindheit und Jugend hatte er in so vielen verschiedenen Häusern und Ländern mit unterschiedlichen Eltern- und Stiefelternkonstellationen gelebt, dass er nirgendwo wirklich heimisch geworden war. Und jetzt, da sein Vermögen groß genug war, um von anderen verwaltet zu werden, besaß er überall auf der Welt Häuser. Doch nirgendwo fühlte er sich wirklich wohl, ganz egal, wie exklusiv und chic seine Umgebung war.

Nein, es gab nur einen Ort, an dem er sich je zu Hause gefühlt hatte, und ironischerweise war die Familie, die dort gelebt hatte, weder blutsverwandt noch angeheiratet. Daher wollte er unbedingt, dass seine Tochter das Zuhause bekam, das ihm verwehrt geblieben war!

Wenn er doch auch im Hinblick auf Lottie nur so klar wüsste, was er wollte! Doch was sie anging, war die Situation viel komplizierter. Anfangs hatte er es ihr verübelt, sein Leben einfach so auf den Kopf zu stellen und ihm so lange die Wahrheit verheimlicht zu haben, aber mit welchem Recht? Schließlich war er für diese Situation genauso verantwortlich wie sie.

Im Grunde konnte er ihr noch nicht einmal verdenken, sein Geld zurückgewiesen zu haben. Nachdem sie fast zwei Jahre lang allein zurechtgekommen war, musste sie sein Angebot als beleidigend empfunden haben. Trotzdem fand er ihr Verhalten total stur und irrational!

Irritiert presste er die Lippen zusammen. Ihre Fehler zu erkennen änderte leider nichts an den Fakten – dass es ihm in ihrer Nähe schwerfiel, klar zu denken. In ihrer Gegenwart verspürte er wieder den gleichen rastlosen, unstillbaren Hunger wie in jener Nacht. Einen Hunger, den er bei anderen immer verurteilt hatte und daher normalerweise unterdrückte …

Am nächsten Tag sah Ragnar Lottie vor seinem Herrenhaus, in dem er wohnte, wenn er geschäftlich in London zu tun hatte, aus seiner dunkelblauen Limousine steigen. Sie trug eine Jeans und einen cremeweißen Pullover. Ihre Wangen waren gerötet, und ihr Haar war mit etwas zusammengebunden, das wie der schwarze Schnürsenkel eines Männerschuhs aussah. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hoffte er, dass es sich bei dem Eigentümer dieses Schuhs um ihren Bruder handelte.

„Danke fürs Kommen“, begrüßte er sie in der Eingangshalle, nachdem er John weggeschickt hatte.

Sie nickte verkrampft. „Danke, dass du mir den Wagen geschickt hast.“ Für einen Moment wich sie seinem Blick aus. „Und was passiert jetzt?“

Es war nicht nur ihre sexy Stimme, die seinen Herzschlag beschleunigte. Ihre Worte weckten Erinnerungen, die er nie ganz vergessen hatte.

Und was passiert jetzt?

Genau diese Frage hatte sie ihm vor zwanzig Monaten vor der Bar gestellt. Er wusste noch genau, wie ihre Lippen dabei gezittert hatten und wie ihr Haar ihr über ihren Mantelkragen gefallen war … und wie er den Kopf gesenkt und sie geküsst hatte.

Bei der Erinnerung schoss ihm sofort wieder das Blut in die Lenden. Es war alles so einfach gewesen, so natürlich. Lottie hatte sich so warm und anschmiegsam angefühlt, hatte Nähe ohne Drama versprochen. Aber natürlich war das nur eine Illusion gewesen.

Mühsam verdrängte er die Erinnerung an ihren hellen Körper auf der dunklen Bettwäsche …

„Wir reden“, antwortete er schlicht, als er sie ins Haus und in die Küche führte. „Lass uns dabei etwas trinken.“ Seine Haushälterin Francesca hatte Tee, Kaffee und selbst gebackene Kekse auf den Frühstückstresen gestellt. „Setz dich.“ Er zeigte auf einen ledergepolsterten Barhocker. „Tee oder Kaffee?“

„Tee, bitte. Und gern schwarz.“

Er schenkte ihr eine Tasse ein und reichte sie ihr. Gezwungen lächelnd nahm sie sie. Als sie einen Schluck trank, reagierte sein Körper schon wieder – diesmal auf den Anblick ihrer sich öffnenden Lippen –, so unpassend es auch war, dass Ragnar gerade jetzt daran dachte, wie er mit ihr geschlafen hatte. Und vor allem, dabei das Bedürfnis zu verspüren, es erneut zu tun.

Verlegen räusperte er sich. „Ich erkenne Sóley als meine Tochter an. Aber da das meinen Anwälten vermutlich nicht reichen wird, wird leider ein DNA-Test erforderlich sein.“

Ein paar Sekunden verstrichen, bevor sie nickte. „Okay.“

„Gut. Langfristig will ich das gemeinsame Sorgerecht, aber zunächst möchte ich ein bisschen Zeit mit meiner Tochter verbringen.“

Ihre Augen blitzten wütend auf. „Und wie genau stellst du dir das vor?“

Ihr Blick verriet die gleichen Emotionen wie ihre zusammengepressten Lippen, doch er ignorierte beides. „Seit die App läuft, versuche ich, zwei Wochen im Jahr freizunehmen – höchstens drei –, um meinen Akku wieder aufzuladen.“

„Und?“

„Und jetzt scheint der Zeitpunkt dafür günstig zu sein. Natürlich ist das nur eine kurzfristige Lösung, aber ich hätte eine Chance, Sóley kennenzulernen und herauszufinden, was das Beste für sie ist.“

Lotties Schultern versteiften sich. „Ich weiß, was das Beste für sie ist.“

„Natürlich. Aber die Umstände haben sich verändert.“ Er wartete einen Moment. „Das wäre nur ein erster Schritt. Ich weiß, dass es noch eine Menge zu klären gibt, aber Sóleys Wohlergehen hat für mich Vorrang.“

Ein paar Sekunden sah Lottie ihn stumm an. „Wenn das so ist, ist es vermutlich das Einfachste, du kommst zu mir. Der Weg hier raus ist ganz schön weit für einen Tagesausflug.“

Er runzelte die Stirn. „Ich habe nicht von dir verlangt herzukommen, und ich spreche auch nicht von einem Tagesausflug.“

„Ich verstehe nicht …“

„Dann lass es mich erklären. Sinn und Zweck meines Urlaubs ist, den Kopf freizubekommen. Deshalb fahre ich immer nach Island, dort ist das Leben ruhiger und entspannter. Ich will Sóley mitnehmen.“

Schockiert starrte Lottie ihn an. „Aber sie hat keinen Ausweis.“

„Kein Problem, ich habe gute Kontakte, die das erledigen können.“

„O nein!“, protestierte sie. „Das werde ich nicht zulassen! Sie kennt dich noch gar nicht, und bisher war sie noch nirgendwo ohne mich!“

Ragnar spürte, dass sie Angst hatte. Vor ihm. Davor, dass er Anspruch auf ihre Tochter erheben würde. Er konnte ihr das nicht verdenken. Schließlich hatte sie sich bisher ganz allein um Sóley gekümmert, und plötzlich platzte er in ihr Leben und stellte es komplett auf den Kopf.

Er wusste selbst, wie sich so etwas anfühlte – das Unbehagen, die Verwirrung, die Zugeständnisse … Für den Bruchteil einer Sekunde war er drauf und dran, sie in die Arme zu nehmen, um sie zu trösten, aber …

Aber es war ratsam, sie nicht noch mehr zu verwirren. Irgendwann würde sie sich schon an die neue Situation gewöhnen. „Ich bin natürlich davon ausgegangen, dass du mitkommst.“

Doch anstatt sie zu beruhigen, hatten diese Worte die gegenteilige Wirkung auf sie: „Ich? Mit dir wegfahren?“ Entschlossen schüttelte sie den Kopf. „Vergiss es!“

„Warum? Ich habe schon mit der Frau in der Galerie gesprochen. Du hast dort demnächst keine Ausstellungen.“

„Du hast mit Georgina gesprochen?!“, schrie Lottie hysterisch. „Wie kannst du es wagen, hinter meinem Rücken mit ihr zu reden?“

Der vorwurfsvolle Unterton in ihrer Stimme passte ihm gar nicht. „Du überreagierst.“

„Und du bist total übergriffig! Du kannst doch nicht von mir erwarten, einfach alles stehen und liegen zu lassen, nur weil du das so bestimmst!“

„O doch, das kann ich. Und wenn du dich weigerst, kann ich gern etwas Druck ausüben.“

„Was willst du dann machen, Ragnar?“, zischte sie, stand auf und ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Wangen waren vor Wut gerötet. „Willst du uns vielleicht von deinem Sicherheitschef entführen lassen?“

Wie hatte dieses Gespräch nur so schnell aus dem Ruder laufen können? Ragnar spürte eine nur allzu vertraute Mischung aus Frustration und Erschöpfung in sich aufsteigen. „So kommen wir nicht weiter. Und falls du es vergessen hast – du hast mich aufgesucht.“

Ihr Pferdeschwanz hatte sich fast aus dem Haarband gelöst. Ragnar widerstand dem Impuls, ihr Haar ganz zu öffnen, sodass es ihr in weichen Wellen über die Schultern fiel.

Er ließ sich einen Moment Zeit, bevor er es noch einmal versuchte: „Hör mal, Lottie, du gehst, wohin Sóley geht, so ist das nun mal. Und mit Druck meine ich Anwälte. Ich will selbst nicht, dass das hier eskaliert. Ich möchte nur das Beste für meine Tochter, und ich glaube, das willst du auch. Deshalb hast du mich vorgestern schließlich aufgesucht.“

Sie zögerte. „Klar will ich das Beste für sie, aber … aber mit dir … äh … wegzufahren …“, stammelte sie. „Ich meine, drei Wochen sind eine lange Zeit, um sie mit einem Fremden zu verbringen.“

Sein Herzschlag beschleunigte sich. „Aber wir sind keine Fremden, nicht wahr, Lottie?“, fragte er sanft.

Beim Anblick ihrer sich verdunkelnden Augen stockte ihm der Atem. Eine Sekunde verstrich und dann noch eine. Sie standen so dicht voreinander, dass er sie berühren könnte. Sie an sich ziehen und …

Er hörte sie schlucken. „Okay. Sóley und ich werden dich nach Island begleiten.“ Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Aber danach werden wir wieder nach Hause zurückkehren! Ohne dich.“

In einer Woche würde Lottie mit ihrer Tochter und Ragnar nach Reykjavík fliegen. Bei der Vorstellung, drei Stunden, geschweige denn drei Wochen mit Ragnar zu verbringen, wurde ihr schlecht.

Sie wollte nicht nach Island, aber was blieb ihr schon anderes übrig? Wenn sie sich weigerte, würde er seine Drohung wahrmachen und seine Anwälte einschalten. Natürlich könnte sie auch mit Sóley untertauchen. Izzy kannte jede Menge Leute, die ungemeldet auf Hausbooten oder in Künstler-WGs wohnten, aber sie konnte sich nicht für immer verstecken. Anscheinend würde sie ihr Schicksal wohl oder übel akzeptieren müssen.

Wenn nur nicht alles so schnell gehen würde! Es war ja nicht so, dass sie Ragnar vorwarf, die Dinge vorantreiben zu wollen. In seiner Situation würde sie vermutlich genauso handeln. Sie bereute auch nicht ihre Entscheidung, ihm von Sóley erzählt zu haben. Aber obwohl sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte, wurde ihr jedes Mal ganz anders zumute, wenn sie die beiden zusammen sah.

Dann verspürte sie immer den Impuls, ihm ihre Tochter wegzunehmen und sie an sich zu pressen, aber zugleich auch die Sehnsucht dazuzugehören. Es war alles so verwirrend! Sie sollte sich für ihre Tochter freuen, anstatt ängstlich und neidisch zu sein. Ihr war nur allzu bewusst, wie irrational sie sich benahm, aber trotzdem wurde sie immer ein kleines bisschen eifersüchtig.

Und kam sich dann vor wie eine Außenseiterin.

So wie bei ihrem leiblichen Vater. Ihr war es nicht gelungen, eine Verbindung zu ihm aufzubauen, während Sóley Ragnars Herz im Sturm erobert zu haben schien.

Und dann war da auch noch diese körperliche Anziehung zwischen Ragnar und ihr. Sie hatte ihre gemeinsame Nacht nie vergessen können. Am liebsten wäre sie damals für immer mit ihm in dem Hotelzimmer geblieben, so wohl und geborgen hatte sie sich in seinen Armen gefühlt. Für sie hatte es nur noch ihn gegeben, seinen Körper, seine Nähe. Nichts anderes hatte mehr eine Rolle gespielt. Und sie war sich so sicher gewesen, dass es ihm genauso gegangen war.

Inzwischen wusste sie jedoch, dass sie sich nur etwas vorgemacht hatte.

Würde wieder das Gleiche passieren, wenn sie mit ihm nach Island ging? So stark und echt Leidenschaft sich auch anfühlte – es war riskant, etwas so Unbeständigem und Flüchtigem wie körperlicher Anziehung zu viel Bedeutung beizumessen. Und wenn sie wieder mit Ragnar ins Bett ging, würde sie höchstwahrscheinlich nicht mehr klar denken können.

Sie beide hatten ihre Chance gehabt und sie nicht genutzt. Und nichts, noch nicht einmal die Tatsache, dass sie eine elf Monate alte Tochter hatten, konnte etwas daran ändern.

Island war ganz anders, als Lottie es sich vorgestellt hatte.

Seit ihrer Ankunft in Reykjavík vor zwei Stunden hatte der Himmel die Farbe so oft gewechselt, dass sie nicht mehr mitzählen konnte. Bleigraue dicke Wolken waren immer wieder blendendem, alles in goldenes Licht tauchendem Sonnenlicht gewichen, nur um kurz darauf von Nebelschleiern vertrieben zu werden.

Doch trotz des launischen Wetters war das Land selbst fast unwirklich schön. Durch das Hubschrauberfenster sah die Landschaft fast wie ein fremder Planet aus. Riesige glatte Felsen standen in leuchtend gelbem Moos, durch das sich ein wilder Fluss schlängelte. Es war schön und fremd und irgendwie einschüchternd.

Ein bisschen wie Ragnar selbst, dachte sie und drückte ihre Tochter instinktiv an sich, die auf ihrem Schoß saß. Nur dass Felsen und Flüsse nichts taten, das man ständig hinterfragen musste.

Sie versuchte, sich auf die Szenerie unter ihr zu konzentrieren, doch die Angst, die sie seit ihrer Landung mit dem Flugzeug in Reykjavík nicht mehr losließ, schnürte ihr die Kehle zu.

Naiverweise war sie davon ausgegangen, dass Ragnar in der Nähe der Hauptstadt wohnte, obwohl er nichts dergleichen gesagt hatte. Andererseits hatte er auch keinerlei Hinweise darauf gegeben, dass sein Zuhause am Ende der Welt lag.

Ihre verstohlene Internetrecherche auf ihrem Handy hatte ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Er wohnte auf Tröllaskagi – der Troll-Halbinsel –, hinter der sich das Meer bis zu einer Inselgruppe erstreckte, auf der ungefähr so viel Menschen wie Eisbären lebten, gefolgt von offenem Meer bis zur Antarktis.

Genauso gut hätte er zum Mond mit ihr fliegen können.

Nervös streifte sie ihn mit einem Blick. Seine blauen Augen leuchteten blau im Sonnenlicht. Er trug eine Jeans, eine Art wattiertes Jackett und gut eingetragene Wanderschuhe – gewöhnliche Winterkleidung auf dem Land. Aber ansonsten war an Ragnar nichts gewöhnlich – und das hatte nichts mit seinem Reichtum oder seiner eisigen Schönheit zu tun. Er hatte ein solches Charisma, dass man seine Präsenz sogar dann noch spürte, wenn er entspannt dasaß.

Aber er war nicht immer so lässig und entspannt.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie wieder an ihre gemeinsame Nacht dachte. So wenig Zeit sie damals auch miteinander verbracht hatten – die Erinnerungen an jene wenigen fieberhaften Stunden waren nie verblasst.

Sie ballte die Hände zu Fäusten, als sie das gleiche Verlangen nach ihm in sich aufsteigen spürte wie damals.

Vor ihrer Abreise nach Island hatte sie Panik bei der Vorstellung bekommen, drei Wochen lang mit ihm allein zu sein, und jetzt ließ seine ständige Nähe ihre Sinne verrücktspielen. Sie wollte das nicht, aber das schien ihren Körper leider nicht zu interessieren.

Sie musste an ihren Flug nach Reykjavík denken, bei dem Ragnar und sie sich wieder einmal gestritten hatten und sich die aggressive Spannung zwischen ihnen plötzlich in gegenseitige unwiderstehliche Anziehung verwandelt hatte.

Bei der Erinnerung erschauerte sie. Jetzt steckten sie zusammen in dieser Wildnis fest, wo nichts außer schierer Willenskraft sie davon abhielt, mit ihm zu schlafen. Am liebsten würde sie ihm sagen, dass sie zurück nach Hause wollte – oder zumindest zurück ins zivilisierte Reykjavík –, doch sie bezweifelte, dass er auf sie hören würde. Außerdem wollte sie ihm keine Gelegenheit geben, ihr einen weiteren Wutanfall vorzuwerfen.

Erneut sah sie aus dem Hubschrauberfenster. Die Landschaft unter ihr wurde immer weißer und der Himmel dunkler – und dann waren sie plötzlich da.

Sóley dicht an sich gepresst, stieg Lottie hinaus in den Schnee und betrachtete stumm das Haus vor sich. Ohne den Lärm des Hubschraubers war die Stille hier draußen so massiv, dass sie ihr förmlich in den Ohren dröhnte.

„Willkommen in meinem Zuhause.“

Sie hob den Blick zu Ragnar, der neben ihr stand. Sein blondes Haar wehte im Wind, und die für einen Moment durch die Wolken dringende Sonne erhellte sein Gesicht, sodass sie die sich unter seiner Haut abzeichnenden Konturen seiner Wangenknochen erkennen konnte. Er wirkte unerschütterlich und entschlossen – eher wie ein Krieger als ein Manager.

Ein paar ihr endlos vorkommende Sekunden sah er sie intensiv an, bevor er sagte: „Lass uns reingehen, ich zeige dir eure Zimmer.“

„Zuhause“ trifft es eigentlich nicht, dachte sie kurz darauf. Das hier war eher ein persönliches Reich, Meilen von jeglicher Zivilisation entfernt. Mit den weißen Wänden und der verwitterten Holzfassade fügte sich sein Haus perfekt in die schneebedeckte Landschaft ein.

Auch das Innere trug nicht gerade dazu bei, ihre Panik zu verringern, was zum Teil an den unfassbar großen Zimmern lag – schon allein die Eingangshalle hatte die gesamte Grundfläche ihres Cottages. Aber es lag auch an der kühlen, minimalistischen Einrichtung. Hier war kein Raum für Babykleidung, die über dem Ofen trocknete, oder Stapel von Zeitungen, die darauf warteten, zum Altpapiercontainer gebracht zu werden.

Doch das Schlimmste war, dass sich ihre Befürchtungen bestätigten: Von hier gab es kein Entrinnen. Sie saß buchstäblich in der Falle.

In England hatte sie sich damit zu beruhigen versucht, dass sie sich einfach ein Taxi bestellen konnte, wenn sie ihre Meinung ändern sollte, doch hier draußen gab es nur einen Hubschrauber, den sie nicht fliegen konnte. Und mit einem Baby konnte sie schlecht zu Fuß in die Zivilisation zurückkehren.

Sie betrachtete die riesige Fensterfläche, die im Wohnzimmer eine ganze Wand einnahm. In der Ferne ragten schneebedeckte Gipfel in den Himmel. Es gab keine anderen Gebäude, keine Straßen, keine Telegrafenmasten. Nur Himmel und Schnee und totale Einsamkeit.

„Das hier ist Sóleys Zimmer“, sagte Ragnar, nachdem er sie eine Treppe hoch in den ersten Stock geführt hatte. „Hier ist das Licht indirekter, und man hat einen schönen Blick auf die Berge.“

Zögernd näherte Lottie sich der Tür, die Ragnar ihr aufhielt. Als sie an ihm vorbeiging und dabei aus Versehen seinen Arm streifte, versuchte sie die Hitze zu ignorieren, die sie erfasste.

Es war ein schönes Zimmer – minimalistisch eingerichtet, so wie man es in teuren Babyzeitschriften sehen konnte. Es gab ein Bettchen und einen Schaukelstuhl und einen mit Spielzeug gefüllten Korb. Anders als im restlichen Haus waren die Wände nicht in einem gebrochenen Weißton, sondern zart lavendelfarben gestrichen – die gleiche Farbe wie der Lavendel auf der Wiese hinter ihrem Cottage.

Doch es war nicht die plötzliche Erinnerung an ihr Zuhause, die sie erstarren ließ, sondern die beiden gerahmten Drucke an der Wand.

„Das sind ja meine“, sagte sie tonlos. Für einen Moment war sie zu schockiert, um mehr zu sagen, doch dann begann ihr Gehirn wieder zu funktionieren. „Hast du die bei Rowley’s gekauft?“

Ragnar nickte.

Wie betäubt betrachtete sie die Drucke. Es war seltsam, sie hier, in diesem Haus, zu sehen. Und noch seltsamer, dass er sie gekauft hatte.

Georginas Stimme hallte in ihrem Hinterkopf wider. „Du weißt ja, wie diese Sammler sind. Sie brüsten sich gern damit, einen bedeutenden Künstler entdeckt zu haben, aber ihre Anonymität ist ihnen noch wichtiger.“

Georgina hatte recht. Viele reiche Käufer betrachteten Lotties Kunst nur als Ware und freuten sich, wenn ihre Investition sich bezahlt machte, aber … Erschauernd drückte sie ihre Tochter enger an sich.

… aber sie hatten keinen One-Night-Stand mit der Künstlerin gehabt und sie geschwängert.

Es überlief sie heiß und kalt zugleich. Sie wusste, dass Ragnar ihre Werke nicht als Investition gekauft hatte. Nein, seine Beweggründe waren viel hinterhältiger. Nachdem sie sich geweigert hatte, sein Geld anzunehmen, hatte er einfach einen anderen Weg gesucht, um sich durchzusetzen. Und dabei zugleich ein kleines Stück von ihr in seinen Besitz gebracht.

„Ich zahle dir das Geld zurück“, sagte sie. Ihre Stimme war ganz heiser vor Wut, aber das war ihr egal. Sie musste ihm unbedingt begreiflich machen, dass sie sich weder von ihm noch von seinem Reichtum austricksen lassen würde.

Als er ihren Blick erwiderte, zuckte ein Muskel in seinem Unterkiefer. „Wie bitte?“

„Für die Drucke. Ich habe dir schon gesagt, dass ich dein Geld nicht will, aber deine Almosen will ich genauso wenig. Ich bin keine hungerleidende Künstlerin, die in irgendeiner unbeheizten Mansarde haust.“

Sóley wand sich auf ihrem Arm und streckte die Arme nach dem Spielzeugkorb auf dem Fußboden aus. Ihr war ein bunter Oktopus ins Auge gefallen, den sie näher inspizieren wollte. Dankbar für einen Grund, den Blickkontakt mit Ragnar abzubrechen, setzte Lottie ihre Tochter auf dem Fußboden ab.

„Ich verstehe …“, sagte er langsam. „Darf ich dich mal was fragen? Wird es zwischen uns immer so sein, oder besteht zumindest eine kleine Chance, dass du mir irgendwann nicht mehr irgendwelche Hintergedanken unterstellst, wenn ich etwas Harmloses sage oder tue?“

Verwirrt sah sie ihn an. „Wie meinst du das?“

„Dass ich deine Arbeiten nicht aus Wohltätigkeit gekauft habe. Am Tag, als ich dich in der Galerie aufgesucht habe, war ich vormittags schon einmal da gewesen. Und weil du nicht da warst, habe ich mich ein wenig umgesehen. Ich hatte nicht die Absicht, etwas zu kaufen, habe meine Meinung aber geändert, als ich die Drucke sah.“

Während sie die Ereignisse jenes Tages Revue passieren ließ, starrte Lottie Ragnar an. Wegen einer Signalstörung auf der Bahnstrecke war sie verspätet in der Galerie eingetroffen, und bei ihrer Ankunft hatte Georgina es eilig gehabt, zum Brunch mit ihrem neuesten Freund aufzubrechen …

Ragnar lächelte grimmig, als wisse er genau, was gerade in ihrem Kopf vorging. „Ich rief Rowley’s auf dem Rückweg zum Büro an“, fuhr er fort. „Danach hatte ich den ganzen Nachmittag Meetings und konnte erst abends zur Galerie zurückkehren.“

Er senkte den Blick zu Sóley, die auf einem Bein des Oktopus herumkaute. „Nicht, dass ich von dir erwarte, mir zu glauben, aber ich habe die Drucke aus zwei Gründen gekauft: Zum einen finde ich sie schön, aber vor allem wollte ich, dass Sóley etwas von dir hier hat. Ich weiß, dass sie deine Werke wahrscheinlich noch nicht erkennt, aber irgendwann wird sie es, und dann werden sie ihr etwas bedeuten.“

Vor Scham brannte Lottie das Gesicht. Sie war so sicher gewesen, dass er nur an sich selbst gedacht hatte, während in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall zu sein schien.

Aber woher hätte sie wissen sollen, dass er so aufmerksam sein konnte? Bisher hatte sie ihn nur im Bett und bei einigen Auseinandersetzungen erlebt und wusste daher, dass er ein guter Liebhaber war, aber auch eine eiserne Entschlossenheit an den Tag legen konnte, die ihr manchmal Angst machte.

Er war so widersprüchlich – so schwer zu durchschauen. Was jedoch nichts an der Tatsache änderte, dass sie voreilige Schlüsse gezogen und sich geirrt hatte.

Tief Luft holend, hielt sie seinem Blick stand. „Es tut mir leid, und du hast recht – ich habe überreagiert.“ Verlegen räusperte sie sich. „Glaub mir, ich versuche nicht, die Situation absichtlich schwieriger zu machen, als sie ist … autsch!“ Als sie den Blick nach unten richtete, sah sie, dass Sóley den Oktopus liegen gelassen hatte und jetzt versuchte, sich an ihrem Bein hochzuziehen.

„Kann sie schon laufen?“, fragte Ragnar.

Lottie schüttelte den Kopf, erleichtert, dass er das Thema gewechselt hatte. „Nein, nur wenn man sie dabei an den Händen festhält.“

Wie zum Beweis hob Sóley einen Fuß und stand wacklig auf einem Bein, bevor sie Lotties Bein losließ und versuchte, einen Schritt zu machen. Sofort fiel sie auf den Po und verzog den Mund.

„Komm her“, sagte Lottie liebevoll. Sie wollte ihre Tochter auf den Arm nehmen, doch Sóley hatte andere Vorstellungen – sie krabbelte auf Ragnar zu und schlang ihm die Ärmchen um die Beine. „Ich nehme sie schon“, brachte Lottie krächzend hervor. Ihr schlug das Herz bis zum Hals.

„Schon okay“, erwiderte er sanft. „Darf ich?“

Als er seine Tochter auf den Arm nahm, spürte Lottie eine Mischung aus Panik und Stolz in sich aufsteigen. Sóley sah Ragnar für einen Moment verunsichert an, bevor sie das Gesichtchen an seine Brust schmiegte und ihm die Arme um den Hals schlang.

Lotties Herz machen einen Satz. Ihr wurde ganz heiß. Wie oft hatte sie sich diesen Augenblick ausgemalt, wie der Vater zum ersten Mal seine Tochter umarmte. Doch nichts hatte sie auf das Gefühlschaos vorbereitet, das dieser Anblick in ihr auslösen würde … oder auf Ragnars halb ehrfürchtigen, halb sehnsüchtigen Gesichtsausdruck.

Oder die Tatsache, dass dieser Ausdruck genau die Gefühle widerspiegelte, die sie gehabt hatte, als sie ihre Tochter zum ersten Mal im Arm gehalten hatte.

Er zeigte auf eine Tür in der Wand. „Dahinter liegt dein Zimmer.“

Sie nickte benommen.

„Ich dachte, du willst nachts vielleicht in ihrer Nähe sein.“

„Danke.“

Es fiel ihr schwer, Dankbarkeit zu zeigen. Sie wusste, dass sie dankbar sein sollte – das Zimmer, das er ihr zugeteilt hatte, war wunderschön, wie sie von der Tür aus sah –, doch ihre Angst überschattete alle anderen Emotionen.

Er folgte ihr und fixierte sie mit seinem Blick. „Ich bin unten, falls du mich brauchst.“

Ihr wurde schwindelig, und sie verspürte einen Kloß im Hals. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Er hatte sie lediglich informiert, wo er hinging, doch in seinem Blick lag etwas, das ihr Herz schneller schlagen ließ – ein Aufflackern der Erinnerung an eine andere Art „brauchen“.

Um sich nicht zu verraten, nickte sie nur kurz und wandte erleichtert den Blick von ihm ab, als Sóley die Arme nach ihr ausstreckte. Sie nahm die Kleine auf den Arm. „Gut zu wissen“, murmelte sie, bevor sie an Ragnar vorbei in ihr Zimmer ging. Es war eine wahre Wohltat, für einen Moment seiner Gegenwart zu entfliehen.

4. KAPITEL

Nachdem Lottie ausgepackt hatte, verlief der Rest der Führung ohne unangenehme Zwischenfälle – zum Teil deshalb, weil sie noch immer zu sprachlos war, um viel zu sagen. Es fiel ihr schwer, all die neuen Eindrücke zu verdauen, und sie hatte noch nicht einmal den von einer heißen Quelle gespeisten Pool oder die mehreren Tausend Hektar Land gesehen, die zum Haus gehörten.

Unter dem Vorwand, müde von der Reise zu sein, zog sie sich in ihr Zimmer zurück und ließ Sóley den Inhalt des Spielzeugkorbs erkunden, während sie den dunkler werdenden Himmel vom Fenster aus betrachtete – froh, der erzwungenen Nähe der letzten Stunden und der ständigen unterschwelligen sexuellen Spannung zwischen Ragnar und ihr zu entfliehen.

Aber nur allzu bald wurde es Zeit für Sóleys Abendessen, und da Lottie die Routine ihrer Tochter beibehalten wollte, wenn sich sonst schon so viel veränderte, ging sie mit Sóley nach unten, auch wenn es sie große Überwindung kostete, die Küche zu betreten.

Ragnars Haushälterin Signy zeigte ihr, wo alles war und wie der glänzende Profiherd funktionierte. „Sagen Sie Bescheid, wenn etwas fehlt, dann werde ich es sofort bestellen“, sagte die Frau lächelnd und in fehlerlosem Englisch.

„Danke, aber Sie scheinen alles dazuhaben.“ Signys Speisekammer war so gut gefüllt, dass Lottie sich ihrer nur spärlich bestückten Schränke beinahe schämte.

Sóley hingegen war nicht so eingeschüchtert von ihrer schicken Umgebung wie ihre Mutter. Sie saß in ihrem brandneuen Hochstuhl und benahm sich genauso wie zu Hause, indem sie ein Trommelsolo mit ihrem Trinkbecher hinlegte und unkontrolliert lachend Erbsen ausspuckte.

Auch Lottie musste lachen, sodass ihr gar nicht auffiel, dass Ragnar sich zu ihnen setzte. Erst als er sagte: „Ich wusste gar nicht, dass Gemüse so viel Spaß machen kann“, drehte sie sich erschrocken zu ihm um.

Ihr Herz machte einen Satz, doch das vertraute Ritual des Fütterns beruhigte sie wieder. Sie wusste selbst nicht, warum Ragnars Gegenwart sie immer so aus der Fassung brachte, aber es war nun mal verstörend, plötzlich mit einem fast fremden Mann in einer völlig neuen Umgebung zusammen zu sein. Bestimmt würde sie sich schon bald daran gewöhnen, und dann würde es ihr auch egal sein, dass er aussah wie Thors Doppelgänger.

Sie lächelte gezwungen. „Nein. Das wusste sie bis letzte Woche auch nicht. Das hier ist neuester Trick.“

Lottie fiel es schwerer als gedacht, Ragnar auszublenden. Er war so präsent – nicht nur körperlich, sondern auch wegen seiner Selbstsicherheit, die ihr völlig abging. Sie kam sich plump und ungeschickt vor, als er ihr beim Füttern zusah.

„Kriegt sie auch einen Nachtisch? Oder ist das nicht erlaubt?“

„Doch, klar.“ Lottie nickte widerstrebend, als er einen Joghurt aus dem Kühlschrank nahm und sie fragend ansah. Sie versuchte, keine Abneigung zu empfinden oder, schlimmer noch, sich verraten zu fühlen, als er nach einem Löffel griff und begann, Sóley zu füttern, die gehorsam jeden Löffel schluckte, den er ihr in den Mund schob.

Sie hatte sich doch gewünscht, dass die beiden sich näherkamen. Warum verletzte der Anblick sie dann so? Wegen Alistair? Oder weil Ragnar ihr nicht seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, nachdem sie sie damals nur so kurz genossen hatte?

Sie fand es schrecklich, dass sie so empfand … und hasste ihn dafür, so widersprüchliche und verstörende Emotionen in ihr zu wecken. Plötzlich wollte sie nur noch weg.

Sie schnallte Sóley ab und nahm sie aus dem Hochstuhl. „Ich bringe sie hoch und mache sie bettfertig.“

Sie spürte, dass Ragnar auf ihre Aufforderung wartete, sie zu begleiten, aber das brachte sie einfach nicht fertig, so gemein das auch von ihr war. Für einen Moment hatte sie den Eindruck, dass er etwas sagen wollte, doch dann nickte er nur.

„Ich komme gleich nach und sage Gute Nacht.“

Normalerweise liebte Sóley es zu baden, doch heute fielen ihr schon die Augen zu, als Lottie sie auszog, und kaum hatte sie ihr Fläschchen Milch ausgetrunken, schlief sie auch schon ein.

Lottie knipste das Licht aus und trug ihre schlafende Tochter vorsichtig zum Bettchen. Aber wo war Sóleys Bär? Mr. Schischkin war ein Geschenk von Lucas – Sóley konnte nicht ohne ihn schlafen.

Das Stofftier lag auch nicht im Bad oder auf Lotties Bett.

Als Lottie ins Zimmer ihrer Tochter zurückkehrte, stieß sie auf Ragnar, der sich über das Bettchen beugte. „Was machst du da?“, fragte sie scharf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Er richtete sich auf und erwiderte ihren Blick. „Ich habe ihn unten gefunden.“ Sie erkannte sofort, was er in der Hand hielt. „Mir ist aufgefallen, dass Sóley ihn während des Flugs im Arm hielt. Ich dachte, sie braucht ihn vielleicht zum Schlafen. Oder ist es eine Sie? Ich habe nicht nachgesehen.“

Lottie zögerte. Als sie das schwache Lächeln sah, das seine Lippen umspielte, wusste sie plötzlich, was man mit der Redewendung „Schmetterlinge im Bauch“ meinte, denn genau die fühlte sie gerade wild herumflattern. Ihr wurde ganz warm ums Herz.

„Nein, es ist ein Er. Er heißt Mr. Schischkin.“ Unter Ragnars Blick errötete sie. „Nach Iwan Schischkin, dem russischen Künstler. Als ich vierzehn war, fuhr Lucas mit ein paar Freunden nach Russland und schickte mir eine Postkarte mit einem Gemälde Schischkins, auf dem Bären in einem Wald rumklettern. Und als er Sóley zur Geburt den Bären geschenkt hat …“ Sie räusperte sich verlegen. „Wie dem auch sei – danke, dass du ihn hochgebracht hast.“

Verkrampft lächelnd, ging sie um Ragnar herum und schob Sóley behutsam den Bären in den Arm.

„Gern geschehen. Eigentlich sollte ich mich eher bei dir bedanken.“

Verwirrt sah sie ihn an. „Wofür?“

Er hielt ihr die Tür auf und zog sie sanft hinter ihnen ins Schloss. „Dafür, dass du mich teilhaben lässt. Ich weiß, dass dir das nicht leichtfallen kann – Sóley mit mir zu teilen und mich an sie heranzulassen, meine ich. Ich wollte mich auch dafür bedanken, dass du mir von ihr erzählt hast, weil ich bisher noch nicht dazu gekommen bin. Hättest du das nicht getan … hättest du deine persönlichen Gefühle nicht außen vor gelassen … hätte ich nie von ihr erfahren.“

Er meinte es ernst, das hörte sie an seinem Tonfall. Aber nicht nur deshalb begann ihre Haut zu prickeln. „Was meinst du damit – meine persönlichen Gefühle?“

Ruhig sah er sie an. „Ich meine, dass du mich nicht besonders magst.“

„Ich … äh … Es ist nicht so, dass ich dich nicht mag“, stammelte sie verlegen. „Eher, dass …“ Sie stockte.

„… du mir nicht traust?“, vollendete er den Satz für sie.

Kurz folgte angespanntes Schweigen. „Wahrscheinlich nicht.“

Er ließ sich einen Moment Zeit mit seiner Antwort. „Das kann ich gut nachvollziehen. Aber wenn das hier funktionieren soll – du und ich und Sóley –, muss sich das ändern. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dein Vertrauen zu gewinnen. Und ich glaube, das erreichen wir am besten, indem wir ganz offen und ehrlich miteinander sind.“

Stumm sah sie ihn an. Seine blauen Augen waren so klar, und sein Blick war so direkt, dass sie fast darin versank.

„Warum fangen wir nicht beim Abendessen damit an?“, schlug er vor.

Ihr Herz machte einen Satz. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück.

Abendessen …

Das Wort hallte verführerisch in ihrem Kopf wider – ließ sie an gedämpftes Licht denken, an Rotwein, seine Hände in ihrem Haar, seine Küsse …

„Eigentlich wollte ich heute früh zu Bett“, antwortete sie errötend. „Es war ein langer Tag.“

Ruhig erwiderte er ihren Blick. „Bitte, Lottie. Wir können uns doch beim Essen unterhalten. Signy hat schon alles vorbereitet.“

Lottie zögerte, aber wie sollte sie einer so verlockenden Einladung widerstehen?

Autor

Barbara Wallace
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