Julia Extra Band 506

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UNSCHULDIG VERFÜHRT AUF CAPRI von JACKIE ASHENDEN
Lucy will nur eins von Vincenzo de Santi: dass er sie vor ihrem kriminellen Vater beschützt! Bis nie gekannte erregende Gefühle in ihr erwachen …

KÜSS MICH, GELIEBTER KÖNIG von MAISEY YATES
Um ihr Erbe nicht zu verlieren, muss Tinley sich von König Alexius einen passenden Ehemann suchen lassen. Dabei schlägt ihr Herz für Alexius selbst …

NUR EINE HEISSE AFFÄRE AUF HAWAII? von CATHY WILLIAMS
Hoteltycoon Max Stowe ist auf Hawaii, um seine verschwundene Schwester suchen – nicht für eine erregende Affäre mit ihrer Freundin Mia! Oder?

DIE LETZTE NACHT MIT PRINZ DANTE von KIM LAWRENCE
Eine letzte Nacht der Lust, danach will Beatrice ihren lieblosen Ehemann Kronprinz Dante verlassen! Noch ahnt sie nichts von den Folgen dieser Nacht …


  • Erscheinungstag 14.09.2021
  • Bandnummer 506
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500661
  • Seitenanzahl 450
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jackie Ashenden, Maisey Yates, Cathy Williams, Kim Lawrence

JULIA EXTRA BAND 506

JACKIE ASHENDEN

Unschuldig verführt auf Capri

Lucy will nur eins von Vincenzo de Santi: dass er sie vor ihrem kriminellen Vater beschützt! Bis ungeahnt sinnliche Gefühle in ihr erwachen und sie sich insgeheim nach seiner Liebe sehnt. Vergeblich?

MAISEY YATES

Küss mich, geliebter König

Mit ihren roten Locken und den verlockenden Kurven weckt Tinley insgeheim heißes Verlangen in König Alexius. Doch als Verlobte seines verstorbenen Bruders ist sie leider tabu für ihn, oder nicht?

CATHY WILLIAMS

Nur eine heiße Affäre auf Hawaii?

Den Männern hat Mia nach einer Enttäuschung abgeschworen. Aber Hoteltycoon Max will kein Date, sondern zusammen mit ihr seine Schwester suchen. Dumm nur, dass es dabei plötzlich so erregend prickelt …

KIM LAWRENCE

Die letzte Nacht mit Prinz Dante

Zu viel Pflichterfüllung, zu wenig Glück? Kronprinz Dantes Ehe mit Beatrice scheint gescheitert. Da hat eine spontane letzte Liebesnacht überraschend süße Folgen. Gibt es doch noch eine zweite Chance?

1. KAPITEL

Lucy Armstrong hatte ihre Flucht sorgfältig geplant.

Wenn sie ihrem Vater ein für alle Mal entkommen wollte, durfte sie sich keinen Fehler erlauben!

Es würde nicht leicht werden. Sie war für Michael Armstrong einfach zu wertvoll. Aber nicht, weil sie seine Tochter war. Nein, das hatte damit gar nichts zu tun. Ein Hauslehrer hatte vor etlichen Jahren herausgefunden, dass Lucy nicht nur ein Zahlengenie war, sondern auch ein Gespür für Finanzen besaß. Und ihr krimineller Vater hatte sofort gewusst, wozu er die Talente seiner Tochter nutzen konnte: Geldwäsche. Inzwischen war Lucy für ihn unentbehrlich, wenn es darum ging, die Herkunft seines illegal erworbenen Geldes zu verschleiern!

Auf keinen Fall würde Michael Armstrong seine Tochter kampflos gehen lassen. Unablässig überwachte er sie, so wie er früher auch ihre Mutter überwacht hatte.

Lucy brauchte jedoch nur eine einzige Stunde ohne Beaufsichtigung. Das war lange genug, um Stufe zwei ihres Plans umzusetzen: Sie würde sich der Gnade des Feindes ihres Vaters ausliefern.

In Stufe drei würde sie ihn bitten, sie zu verstecken und ihr dabei zu helfen, unterzutauchen …

Es war nicht der beste Plan – Lucy verließ sich nur ungern auf andere Menschen –, doch der Tod ihrer Mutter durfte nicht umsonst gewesen sein. Denn Lucy hatte ihrer Mutter damals versprochen, dass sie ihrem Vater entkommen würde. Koste es, was es wolle.

Sie hoffte, dass ihr Plan gelingen würde. Sie hatte alle möglichen Variablen berücksichtigt, aber sie konnte nicht alles planen.

Die größte unbekannte Variable war er: Vincenzo de Santi. Der Erzfeind ihres Vaters.

Sie hatte Nachforschungen angestellt. Die de Santis waren eine berüchtigte italienische Mafiafamilie, für die ihr Vater einst gearbeitet hatte. Zumindest bis die Matriarchin verhaftet worden war und ihr Sohn Vincenzo das Ruder übernommen hatte. Denn nun begann Vincenzos Kreuzzug gegen die großen Verbrecherfamilien Europas.

Eine nach der anderen hatte Vincenzo sie zu Fall gebracht und aufgeliefert. Es hieß, er sei selbst für die Inhaftierung seiner eigenen Mutter verantwortlich gewesen. Das einst korrupte Geschäftsimperium der de Santis war gesäubert worden. Jetzt war es ein erfolgreiches Vorzeigeunternehmen.

Vincenzo de Santi war in seinem Streben nach Gerechtigkeit skrupellos gewesen und hatte sich viele Feinde gemacht. So auch ihren Vater.

Und genau das machte de Santi zu ihrer perfekten Zuflucht.

Von der Bushaltestelle aus blickte Lucy auf das alte Gebäude. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass de Santi heute in London sein würde, um nach dem Auktionshaus seiner Familie zu sehen. Das kam Lucy gerade recht. Das Auktionshaus war der perfekte Ort, um sich seiner Gnade auszuliefern, denn es lag in einer ruhigen Gegend und war leicht zugänglich.

Trotzdem hatte sie nicht viel Zeit. Die Sicherheitsmänner ihres Vaters, die ihr auf Schritt und Tritt folgten, hatten zweifellos bereits herausgefunden, dass sie sich vorhin in dem Café nicht nur ihre Nase pudern gegangen war.

Und sie würden sie finden, darüber machte Lucy sich keine Illusionen.

Das bedeutete, dass sie zur zweiten Stufe ihres Plans übergehen musste, und zwar schnell.

Mit gesenktem Kopf eilte Lucy über die Straße zum Auktionshaus de Santi und trat ein. An der Rezeption saß ein elegant gekleideter junger Mann. Als sie sich näherte, blickte er auf. „Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?“

Lucy klammerte sich an ihrer unförmigen Handtasche fest. Ihr Herz pochte. „Ich möchte bitte mit Mr. de Santi sprechen.“

„Haben Sie einen Termin?“

Das war die Schwachstelle ihres Plans. Sie hatte nur ihren Namen. Aber Vincenzo de Santi würde ihn sicherlich kennen.

„Nein“, entgegnete Lucy. „Aber er wird mich sehen wollen. Ich bin Lucy Armstrong.“

Dem Rezeptionisten sagte dieser Name offenbar nichts. Sein Lächeln war höflich, aber abweisend. „Es tut mir leid, Miss Armstrong, aber wenn Sie keinen Termin haben, kann ich Sie leider nicht zu Mr. de Santi durchlassen. Er ist ein sehr beschäftigter Mann.“

Sie hatte jetzt noch zwanzig Minuten. Dann würden ihre Bewacher sie finden und zurück nach Cornwall schleppen. Dann wäre ihre Mutter umsonst gestorben.

Sie spürte, wie die Angst eiskalt in ihr aufstieg. Normalerweise war sie eine wahre Meisterin darin, ihre Gefühle zu ignorieren und sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor ihr lag. Für gewöhnlich hatte sie jedoch mit Zahlen auf einem Bildschirm zu tun und nicht mit Menschen aus Fleisch und Blut.

Und jetzt, da die Freiheit zum Greifen nah war, machte sich ihre Angst vehement bemerkbar. Sie hatte Jahre gebraucht, um genug Mut aufzubringen, diesen Plan endlich in die Tat umzusetzen. Es musste einfach klappen. Sie würde keine zweite Chance bekommen.

„Mein Name ist Armstrong“, sagte sie mit fester Stimme. „Lucy Armstrong. Ich bin die Tochter von Michael Armstrong.“

Der Gesichtsausdruck des Mannes änderte sich nicht. Auch der Name ihres Vaters sagte ihm nichts.

Die Angst drohte, sie zu überwältigen, als wieder einmal die schreckliche Erinnerung in ihr aufstieg. In ihrem Geist sah Lucy ihre Mutter in ihrem Blut auf dem Boden liegen und mit letzter Kraft nach ihrer Hand greifen. „Versprich es mir“, hatte die Schwerverletzte mit leiser werdender Stimme gesagt. „Versprich mir, dass du lange genug überlebst, um von ihm wegzukommen. Lebe dein Leben, sei frei, mein Schatz! Ich möchte nicht, dass du so endest wie ich …“

Lucy hatte es versprochen – und ihre Mutter war vor ihren Augen gestorben.

Denk nach!

Okay. Sie durfte nicht erstarren. Sie durfte sich nicht von ihrer Angst überwältigen lassen. Sie musste sich auf das Problem konzentrieren und eine Lösung finden.

Obwohl auf den ersten Blick keine Security zu sehen war, ließ sie sich nicht täuschen. Das Securityteam von de Santi war legendär!

Während sie nachdachte, öffnete sich plötzlich die Tür hinter dem Empfangstresen und ein älterer Mann trat heraus. „Wir sehen uns in der Hölle, de Santi“, rief er wütend über seine Schulter, bevor er in Richtung Ausgang stürmte.

Der Rezeptionist eilte dem Mann hinterher, um ihn zu beschwichtigen. Das war Lucys Chance.

Sie war gut darin, nicht aufzufallen. Und da die Tür zu de Santis Büro offen stand, zögerte sie nicht lange und ging direkt darauf zu.

Niemand hielt sie auf.

Mit wild pochendem Herzen betrat sie das Büro und zog die Tür hinter sich zu. Sicherheitshalber drehte sie noch den Schlüssel um. Sie drehte sich um und blickte sich in dem luxuriös eingerichteten Raum um. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann und sah sie an.

Er sagte nichts.

Lucys Herz schlug ihr bis zum Hals. Minuten vergingen, doch sie war sprachlos. Der Mann hinter dem Schreibtisch hatte ihr die Sprache verschlagen.

Er trug einen dunklen, offensichtlich maßgeschneiderten Anzug. Doch es war nicht der Anzug, der Lucy als Erstes ins Auge fiel. Es war die Größe des Mannes, seine breiten Schultern und seine muskulöse Brust. Er war der Inbegriff von Stärke und Macht. Lässig saß er auf einem großen Ledersessel, wirkte beinahe gelangweilt. Und doch strahlte er Entschlossenheit und Autorität aus. Er wirkte wie ein König.

Lucy blinzelte. Ein Gefühl der Sicherheit durchströmte sie.

Ja, die Entscheidung, hierherzukommen, war richtig gewesen. Wenn es jemanden gab, der sie vor ihrem Vater beschützen konnte, dann war es dieser Mann.

Er sagte noch immer nichts, sondern beobachtete sie nur mit dunklen, beinahe schwarzen Augen. Er war nicht im klassischen Sinne gut aussehend, aber Lucy fand ihn unglaublich attraktiv mit seinem markanten Kinn, den hohen Wangenknochen und der geraden Nase. Er strahlte eine absolut faszinierende Skrupellosigkeit aus.

War es richtig gewesen, hierherzukommen?

Aber Lucy schob diesen Gedanken beiseite. Jetzt war es zu spät, um es sich noch anders zu überlegen! Dies war Vincenzo de Santi höchstpersönlich und es war an der Zeit, die nächste Stufe ihres Plans umzusetzen.

Sie ging nach vorne und blieb nervös vor dem Schreibtisch stehen, als jemand von draußen an der verschlossenen Bürotür rüttelte.

„Mr. de Santi?“, rief eine Stimme.

Lucy schluckte. Sie musste sich beeilen. „Mr. de Santi, mein Name ist Lucy Armstrong und ich bin hier, weil ich Ihren Schutz benötige.“

De Santi ignorierte die aufgeregte Stimme hinter der Bürotür und musterte Lucy mit vorsichtigem Interesse. Und sagte nichts.

„Mr. de Santi!“ Wieder rüttelte es an der Tür. „Ich rufe jetzt die Security!“

„Nicht nötig, Raoul!“, rief de Santi zurück. „Die Security weiß schon Bescheid.“

Er schien nicht sonderlich beunruhigt zu sein, doch sein stechender Blick schien bis in Lucys Innerstes zu dringen.

Er ist gefährlich.

Angst keimte aufs Neue in ihr auf. Das war das Problem mit starken Männern. Stärke bedeutete Sicherheit, aber sie konnte auch Gefahr bedeuten.

Den Gerüchten zufolge ließ de Santi sich nicht beeinflussen und nicht kaufen. Er war unbestechlich und zeigte seinen Feinden keine Gnade.

Du bist seine Feindin.

Das war sie. Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie konnte nicht zu den Behörden gehen, denn sie war selbst eine Kriminelle. Vincenzo de Santi war der Einzige, der sie beschützen konnte. Und gefährlicher als ihr Vater konnte er kaum sein, oder?

„Mr. de Santi“, wiederholte Lucy für den Fall, dass er sie beim ersten Mal nicht gehört hatte. „Mein Name ist …“

„Ich weiß, wer Sie sind“, unterbrach er sie mit ruhiger Stimme.

„Oh.“ Sie war verblüfft. Wenn er wusste, wer sie war, warum verhielt er sich dann so? Warum ließ es ihn kalt, wenn die Tochter seines Feindes einfach so in sein Büro spazierte? Sollte er ihr nicht einen Haufen Fragen stellen? Doch er saß einfach in aller Ruhe da und starrte sie an.

Es war verstörend.

Lucy trat von einem Fuß auf den anderen. Sie war es nicht gewohnt, so angestarrt zu werden. Sie hatte den Eindruck, regelrecht durchleuchtet zu werden.

Du erstarrst schon wieder. Lass dich nicht ablenken und konzentriere dich auf dein Ziel!

Genau, sie musste sich konzentrieren. Die Minuten verstrichen und sie wusste nicht, was passieren würde, wenn die Männer ihres Vaters hereinplatzten. Sie wollte unter keinen Umständen zurück zu ihrem Vater. Sie musste de Santi ihren Vorschlag unterbreiten. Jetzt.

Lucy nahm all ihrem Mut zusammen, schob ihre Brille die Nase hoch und starrte zurück. „Wenn Sie wissen, wer ich bin, wissen Sie auch, wer mein Vater ist. Ich benötige Ihren Schutz, Mr. de Santi, und ich bin bereit, gut dafür zu bezahlen.“

„Ich verstehe.“ Er sah keineswegs überrascht aus, eher gelangweilt. „Dann erklären Sie mir bitte, warum ich irgendetwas für Sie tun sollte.“

Doch Lucy hatte keine Zeit, Fragen zu beantworten. „Ich erkläre es Ihnen, sobald Sie zugestimmt haben, mich zu beschützen. Sie haben wahrscheinlich zehn Minuten, bevor die Männer meines Vaters mich aufspüren und hier eindringen werden.“

Vincenzo de Santi reagierte nicht. Er erinnerte sie an einen großen schwarzen Panther, der bereit zum Sprung war.

Lucy konnte ihre Angst immer schwerer im Zaum halten. Warum sagte er nichts? Wahrscheinlich wollte er sie verunsichern. Doch sie würde nicht in Panik geraten! Sie war schon so weit gekommen und konnte es sich nicht erlauben, zu versagen.

Wenn sie jetzt aufgab, wäre der Tod ihrer Mutter, die gestorben war, um sie vor dem Zorn ihres Vaters zu beschützen, umsonst gewesen. Das würde sie nicht zulassen.

„Bitte!“, rief Lucy. „Ich liefere mich Ihrer Gnade aus.“

Die junge Frau war eindeutig völlig verängstigt. Doch sie versuchte mit aller Macht, es zu verbergen. Sie war sehr blass und klammerte sich krampfhaft an einer schäbigen Handtasche fest. Die Augen hinter ihrer Brille waren sehr groß und grün. Sie trug ein unförmiges schlichtes Kleid.

Vincenzo begutachte sie. Schweigen war eine effektive Verhörtaktik. Es bereitete den Menschen Unbehagen. Es weckte in ihnen das Verlangen, diese schreckliche Stille zu durchbrechen. Dabei gaben sie oftmals allerlei interessante Informationen preis.

Nicht, dass er Miss Lucy Armstrong verhören wollte. Zumindest noch nicht.

„Gnade“, sagte er und ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. „Ich befürchte, wenn Sie nach Gnade suchen, Miss Armstrong, dann sind Sie bei mir an der falschen Adresse.“

Ihr Blick war erstaunlich direkt. Tatsächlich konnte er sich nicht daran erinnern, jemals so angestarrt worden zu sein. Die Menschen hatten in der Regel zu viel Angst vor ihm, um ihm in die Augen zu schauen. Und das meist aus gutem Grund.

Sie sollte auch Angst haben. Sie war Michael Armstrongs Tochter.

Er versuchte nun schon seit Jahren, diesen Drecksack zu Fall zu bringen, doch er kam einfach nicht an den Mann heran. Ein paar Jahrhunderte zuvor waren die Kriege der Verbrecherfamilien noch von brutaler Gewalt bestimmt gewesen. Doch heutzutage wurden ihre Fehden auf den Schlachtfeldern des einundzwanzigsten Jahrhunderts ausgetragen: online, auf den Finanzmärkten, mit Zahlen und Geld.

Vincenzo hatte schon viele Male versucht, das Geldwäschegeschäft von Armstrong zu zerschlagen. Denn wenn er sein Geld nicht mehr verstecken konnte, würde es relativ einfach sein, sein illegales Imperium zu zerstören. Doch jedes Mal, wenn Vincenzo dachte, er hätte Armstrong am Wickel, konnte er irgendwie entkommen. Es war zum Haareraufen.

Armstrong war kein sonderlich scharfsinniger Mann. Vincenzo war sich fast sicher, dass er nicht den erforderlichen Verstand besaß, um Vincenzo durch die Lappen zu schlüpfen. Dennoch gelang es ihm immer wieder. Armstrong hatte Hilfe, soviel stand fest. Und Vincenzo glaubte zu wissen, wer diese Hilfe sein könnte.

Und zwar die Frau, die jetzt vor seinem Schreibtisch stand. Im gesamten europäischen Untergrund kursierten Gerüchte über Armstrongs Tochter. Dass er sie äußerst streng bewachte, da sie das Geheimnis seines Erfolgs war. Dass sie sich mit Zahlen und Geld auskannte und ein Computergenie war. Dass sie die digitalen Spuren ihres Vaters mit Leichtigkeit verwischen konnte …

Sie war eine gefährliche Frau, auch, wenn sie nicht sonderlich gefährlich aussah. Sie war sehr klein und wirkte auf den ersten Blick eher unscheinbar. Ihr Gesicht war unter den dunklen krausen Haaren und hinter der Brille mit den dicken Gläsern verborgen.

Vielleicht war sie gefährlich, vielleicht auch nicht. Er würde es herausfinden. Es war jedoch interessant, dass sie hierher gekommen war. Seine Security hatte ihn über ihre Anwesenheit in Kenntnis gesetzt, sobald sie das Auktionshaus betreten hatte. Eigentlich hätte er sie sofort festnehmen und einsperren lassen sollen. Sie war ein unerwartetes Geschenk, das er sich nicht entgehen lassen konnte. Dennoch hatte er beschlossen, sich erst einmal anzuhören, warum sie hier war.

Lucy Armstrong machte noch einen Schritt nach vorne und hielt seinem Blick stand. An einer anderen Frau hätte er diese Entschlossenheit vielleicht bewundert.

Aber er würde sich nicht dazu herablassen, sie zu bewundern. Sie war Armstrongs Komplizin und an seinen Verbrechen beteiligt. Er würde sie stattdessen benutzen. Sie dazu bringen, die Geheimnisse ihres Vaters zu enthüllen. Und sobald Armstrong im Gefängnis saß, würde sie ihm dort Gesellschaft leisten.

„Mr. de Santi …“ setzte sie wieder an.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Armstrong“, unterbrach er. „Die Männer Ihres Vaters werden nicht einmal durch die Eingangstür kommen. Meine Security ist ausgezeichnet.“

Und das musste sie auch sein. Wenn man einen Kreuzzug gegen die mächtigsten Verbrecherfamilien in Europa führte, standen Mordversuche an der Tagesordnung. Doch das störte ihn nicht. Wenn man versuchte, ihn umzubringen, hieß das, dass er irgendwas richtig machte.

„Sie verstehen nicht“, sagte sie. „Er wird …“

„Nein“, sagte Vincenzo mit ruhiger, kalter Stimme. „Wird er nicht. Nehmen Sie Platz!“

Sie setzte sich zögerlich. Offenbar fürchtete sie sich noch immer. Fast konnte er ihre Angst riechen. Er kannte sich gut mit Angst aus. Er wusste, wie sie funktionierte und wie man sie einsetzen konnte, um Menschen zu manipulieren. Er selbst tat das nicht, denn er verabscheute diese Vorgehensweise zutiefst. Doch er war immer wieder erstaunt darüber, wie sehr sich die Menschen von ihren eigenen Gefühlen manipulieren ließen.

Es war nicht die Pistole, die tötete, es war Angst. Oder Hass. Oder Wut. Oder Liebe. Gefühle waren viel gefährlicher als jede Waffe.

„Erklären Sie es mir“, sagte er und brach damit das Schweigen. „Warum sind Sie hier, Miss Armstrong? Mal abgesehen davon, dass Sie sich meiner nicht vorhandenen Gnade ausliefern wollen?“

Sie saß völlig starr auf dem Stuhl. „Aber die Männer meines Vaters werden jede Minute hier sein.“

Schon wieder Angst. Und sie hatte guten Grund, Angst zu haben. Ihr Vater würde ihr diesen Verrat nicht verzeihen.

Er warf einen Blick auf seinen Computer. Tatsächlich. Sie hatte recht. Einige von Armstrongs Schlägern standen bereits vor der Tür des Auktionshauses.

Vincenzo drückte eine Taste auf der Tastatur und drehte den Bildschirm zu ihr um. „Oben rechts sehen Sie die Überwachungskamera, die den Eingangsbereich des Gebäudes aufnimmt. Wie Sie sehen, sind die Männer Ihres Vaters schon da. Aber man kümmert sich um sie.“

Es war abzusehen, dass er nichts aus ihr herausbekommen würde, bis sie sich davon überzeugt hatte, dass sie sicher vor ihrem Vater war. Er konnte ihr genauso gut zeigen, was vor sich ging. Vielleicht begriff sie dann auch, dass er nicht minder gefährlich war als ihr Vater.

Angespannt sah sie sich die Übertragung der Kamera an. Sie sah aus wie eine kleine braune Eule.

Was für eine seltsame Vorstellung! Die Fantasie ging mit ihm durch. Und für Fantasie hatte er nicht viel übrig. Er hatte auch nicht viel für kleine, unscheinbare Frauen übrig, die in die Verbrechen ihrer Väter verstrickt waren.

Wirklich, er wusste nicht, warum er ihr zeigte, wie sich sein Securityteam um die Männer ihres Vaters kümmerte. Eigentlich hätte er sofort seinen Securitychef rufen und sie der Polizei übergeben sollen.

Andererseits könnte sie ihm noch nützlich werden, insbesondere wenn er Michael Armstrong endlich zu Fall bringen wollte.

„Genug gesehen?“, fragte er.

Sie warf ihm einen Blick zu und nickte.

„Dann hätte ich jetzt gerne Ihre Erklärung, wenn ich bitten darf.“

Sie holte tief Luft. „Okay. Wie ich bereits sagte, bin ich hier, weil ich Schutz vor meinem Vater benötige. Ich bin ihm entkommen, aber er wird mich niemals einfach so gehen lassen. Ich brauche jemanden, der mich vor ihm beschützt. Und da kommen Sie ins Spiel.“

„Ich Glückspilz“, sagte er trocken. „Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, wer ich bin, Miss Armstrong? Ich meine, Sie sind auf der Suche nach einem Versteck nicht zufällig in mein Büro spaziert?“

Sie warf ihm einen fast beleidigten Blick zu. „Natürlich weiß ich, wer Sie sind. Ich habe meine Flucht sorgfältig geplant. Auch, dass ich zu Ihnen komme. Sie sind der Erzfeind meines Vaters. Sie sind mächtig und stark und Ihnen stehen viele Ressourcen zur Verfügung. Sie schulden meinem Vater nichts und sind allem Anschein nach unbestechlich. Und daher sind Sie perfekt.“

Da hatte sie wirklich ihre Hausaufgaben gemacht.

„Ich bin nicht so perfekt, wie Sie es gerne hätten“, gab er zu bedenken. „Was sollte mich zum Beispiel daran hindern, Sie unverzüglich den Behörden auszuliefern? Sie waren an vielen Verbrechen beteiligt, Miss Armstrong, und wie Sie sicherlich wissen, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Menschen wie Sie und Ihren Vater zur Rechenschaft zu ziehen.“

Sie schaute ihn finster an. „Ich bin nicht wie mein Vater!“

„Und doch waren Sie an einer nicht geringen Anzahl illegaler Aktivitäten beteiligt, wenn meine Informationen korrekt sind.“

Sie wurde noch blasser. Die kleine Eule war nicht nur ein wenig verängstigt, sie hatte schreckliche Angst.

Vincenzo hatte den Ruf, skrupellos zu sein. Es gab Menschen, die ihn als grausam bezeichnet hätten, und vielleicht hatten sie recht. In seiner Welt gab es entweder gute oder schlechte Menschen, für Differenzierungen fehlte ihm die Geduld. Er lieferte alle Verbrecher direkt an die Behörden aus, das war seine Lebensaufgabe. Sollten die Behörden doch die Unschuldigen von den Schuldigen trennen!

Manche Menschen mochten das für Grausamkeit halten …, doch das störte ihn nicht. Ihm war es egal, was andere Menschen über ihn dachten.

Und doch war er sich nicht sicher, was dieses beklemmende Gefühl zu bedeuten hatte, das ihn durchströmte, wenn er die verängstigte junge Frau ansah. War das etwa Mitleid?

Dann hob sie ihr Kinn und straffte die Schultern.

„Ja“, sagte sie. „Sie haben recht. Ich bin mitschuldig. Aber als Gefangene hat man keine Wahl. Insbesondere, wenn man bedroht wird. Ich konnte mir den Luxus, mich zu weigern, nicht erlauben. Glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht. Versprechen Sie mir nur, dass Sie mich vor meinem Vater beschützen werden.

Sie hatte unrecht. Jeder hatte eine Wahl, auch wenn einem die Wahlmöglichkeiten nicht gefielen.

„Und warum sollte ich Ihnen auch nur das Geringste versprechen?“

Sie schaute ihn entschlossen an. „Weil ich Ihnen alles geben kann, was Sie brauchen, um meinen Vater zu Fall zu bringen.“

2. KAPITEL

Lucy hatte in ihrem Leben schon mehr als genug Angst gehabt und war an sie gewöhnt. Doch die Angst, die sie jetzt verspürte, als sie Vincenzo de Santi gegenübersaß, war anders. Und sie konnte sich nicht erklären, warum.

Die Männer ihres Vaters waren effizient abgefertigt worden. Das hatte sie auf der Überwachungskamera gesehen. Sie sollte also eigentlich keinen Grund mehr haben, weiterhin solche Angst zu haben. Doch ihre jetzige Angst hatte weniger mit ihrem Vater zu tun als mit dem Mann ihr gegenüber.

Er machte nach wie vor einen gelangweilten Eindruck. Seine Augen jedoch funkelten bedrohlich und ließen nicht von ihrem Gesicht ab.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sie mit ihren eigenen Verbrechen konfrontieren würde. Zumindest nicht so bald. Sie dachte nicht gerne über die Dinge nach, zu denen ihr Vater sie gezwungen hatte. Doch jetzt, da Vincenzo de Santi ihr vorwarf, an den Verbrechen ihres Vaters mitschuldig zu sein, konnte sie es nicht leugnen.

Aber sie hatte die Wahrheit gesagt. Sie hatte keine Wahl gehabt.

Vielleicht würde sie irgendwann für ihre Verbrechen geradestehen. Aber zuerst musste sie dafür sorgen, dass ihr Vater seine gerechte Strafe erhielt.

Dennoch war es nicht ihre Schuld, die sie so in Angst versetzte. Es war etwas anderes. Etwas, das mit Vincenzo de Santi zu tun hatte, aber sie konnte nicht genau sagen, was es war.

Mit Männern kannte Lucy sich nicht gut aus. Ihr Vater hatte sie in Cornwall von allem abgeschottet. Jede ihrer Bewegungen war rund um die Uhr überwacht worden. Außer ihren Wachen sah sie so gut wie nie andere Menschen. Und von den Wachen hielt sie sich fern, denn sie waren ihr unheimlich. Es war ein einsames Dasein gewesen, doch sie erlaubte sich nicht, darüber nachzudenken. Sie durfte sich immer nur auf das konzentrieren, was vor ihr lag, wenn sie nicht den Verstand verlieren wollte.

Sie blickte Vincenzo de Santi hart an und versuchte, dieser neuen Angst keine Beachtung zu schenken.

„Selbstverständlich. Sie werden mir alles erzählen, was es über Ihren Vater zu wissen gibt“, sagte de Santi. „Und zwar sofort, wenn ich bitten darf.“

Lucy beäugte ihn argwöhnisch. „Und danach übergeben Sie mich der Polizei?“

Er zuckte mit seinen kräftigen Schultern.

„Natürlich. Die Polizei würde sich sehr freuen, Sie in die Finger zu bekommen.“

Wahrscheinlich hatte er recht. Aber sie wollte nicht zur Polizei. Sie hatte nicht all die Jahre überlebt, nur um in einen anderen Käfig gesperrt zu werden. Das hätte ihre Mutter nicht für sie gewollt.

Aber du hast Verbrechen begangen. Du verdienst es, im Gefängnis zu landen.

Es stimmte. Auch wenn sie gar nicht so genau wusste, was sie eigentlich getan hatte. Sie hatte sich nie allzu genau erkundigt, wo das Geld ihres Vaters eigentlich herkam. Das hätte ihr Leben nur noch unerträglicher gemacht. Sie stellte keine Fragen, sondern tat nur, was ihr aufgetragen wurde. Sie hatte Geld verschwinden lassen und es in Investitionen gesteckt, um das Vermögen ihres Vaters immer weiter wachsen zu lassen.

Es war eine Frage des Überlebens gewesen. Verdiente sie dafür wirklich das Gefängnis?

Denn Vincenzo de Santi würde sie der Polizei ausliefern, soviel stand fest. Sie konnte es in seinem Gesicht sehen. Er war ihr Richter und ihr Henker.

Sie umklammerte ihre Handtasche mit dem darin verborgenen Laptop noch fester. Auf dem Laptop waren alle Informationen gespeichert, die er brauchte. Was nicht darauf gespeichert war, waren die Passwörter. Die waren nur in ihrem Kopf.

„Wann wollen Sie mich der Polizei ausliefern?“ Es fiel ihr sehr schwer, doch sie hielt seinem Blick stand. Sie hatte gehofft, dass er ihr dabei helfen würde, irgendwo in den USA unterzutauchen. Irgendwo, wo sie sichergehen konnte, dass der Tod ihrer Mutter nicht umsonst gewesen war.

Er musterte sie abschätzig. Lucy hatte den Eindruck, dass er alles sehen konnte. Ihr schlechtes Gewissen und ihre Angst. Jeden Aspekt ihrer erbärmlichen und eingeschränkten Existenz.

„Sie geben mir die Informationen, die ich haben will, und dann benachrichtige ich die Behörden. Wahrscheinlich schon diesen Nachmittag. Je schneller Sie das tun, desto schneller kann ich Ihren Vater endlich unschädlich machen.“

Falls er sie damit ermutigen wollte, so hatte er keinen Erfolg.

Ihr Gesichtsausdruck musste sie verraten haben, denn er sagte: „Das gefällt Ihnen nicht?“ Seine Mundwinkel zogen sich in der Andeutung eines Lächelns nach oben. „Aber, Miss Armstrong, wenn Sie bessere Nachforschungen angestellt hätten, würden Sie wissen, dass ich nichts für Kriminelle übrig habe. Gnade können Sie von mir nicht erwarten.“

Sie hatte ihn unterschätzt. Sie hatte gedacht, dass er sich nur für ihren Vater interessieren würde.

Okay, denk nicht an die Polizei oder an das Gefängnis. Denk nicht daran, wie deine Mutter in einer Blutlache gestorben ist und dich angefleht hat, nicht so zu enden wie sie. Denk nur darüber nach, wie du seine Meinung ändern kannst.

Sie wappnete sich und entgegnete tapfer seinem düsteren Blick. „Es wird einige Zeit dauern, bis ich Ihnen die gesamten Informationen geben kann, da mir noch nicht alle Daten vorliegen. Ungefähr eine Woche.“ Würde das genügen, um seine Meinung zu ändern? Würde er sich darauf einlassen?

„Eine Woche? Verzeihen Sie, Miss Armstrong, aber ich habe die Gerüchte über Sie gehört. Ich weiß, wozu Sie fähig sind. Sie könnten mir diese Informationen innerhalb von zehn Sekunden beschaffen, wenn Sie nur wollten.“

„Aber ich will es nicht“, sagte sie, bevor sie sich selbst aufhalten konnte. „Eine Woche, Mr. de Santi. Eine Woche – und dann geben ich Ihnen alles, was Sie brauchen, um nicht nur meinen Vater zu Fall zu bringen, sondern auch sein ganzes kriminelles Imperium.“

De Santi musterte sie argwöhnisch. „Warum sollte ich eine Woche warten? Ich kann Sie in zehn Minuten dazu bringen, mir alles zu erzählen, was ich wissen will.“

Die eisige Flut der Angst drohte, sie zu überwältigen. Seine Skrupellosigkeit war legendär. Gerüchten zufolge hatte er seine eigenen Eltern den Behörden ausgeliefert. Dieser Mann war zu allem imstande!

Lucy nahm all ihren Mut zusammen. „Sie können mich natürlich unter Druck setzen, Mr. de Santi, aber Sie werden nichts aus mir herausbekommen.“

Vincenzo de Santi blickte ihr ungerührt in die Augen. „Ich bin mir sicher, dass meine Männer einiges aus Ihnen herauskitzeln könnten. Aber ich denke, ich spare mir lieber das Theater und nehme einfach diesen Laptop an mich, den Sie da festhalten.“

„Das könnten Sie“, räumte sie ein. „Aber das würde Ihnen nichts bringen. Alle Informationen auf diesem Laptop sind verschlüsselt und die Passwörter sind nur in meinem Kopf.“

Sein Blick bohrte sich in sie.

Lucy biss die Zähne zusammen. Sie würde nicht wegschauen. Ihre gewöhnliche Taktik, unauffällig und unsichtbar zu bleiben, würde bei ihm nicht funktionieren. Sie würde stark sein und hoffen, dass er Stärke und Entschlossenheit zu schätzen wusste. Denn wenn sie eins war, dann entschlossen. Vielleicht würde er doch noch seine Meinung ändern und sie nicht den Behörden ausliefern.

„Ich werde mich nicht von Ihrem grimmigen Blick erweichen lassen“, sagte sie.

Seine Augen glitzerten bedrohlich. „Da bin ich mir sicher. Aber ich habe schon hartgesottene Kriminelle gebrochen. Und ich glaube kaum, dass eine kleine, nicht ganz so hartgesottene Kriminelle wie Sie ein Problem für mich wäre.“

Machte er sich über sie lustig? Der Ausdruck auf seinem harten Gesicht war unmöglich zu deuten.

Er machte ihr Angst. Und doch war das unangenehme Gefühl, das sie für gewöhnlich überkam, wenn sie an ihren Vater dachte, verschwunden. De Santi hatte ihn in seine Schranken verwiesen. Fürs Erste zumindest war sie sicher.

Dieser Gedanke beruhigte sie.

„Versuchen Sie es doch“, sagte sie und starrte ihn herausfordernd an. „Ich habe keine Angst vor Ihnen.“

„Doch, haben Sie.“ Seine Stimme war kalt. Sein Blick so gnadenlos wie er selbst. „Sie haben sogar eine Heidenangst vor mir.“

Es gefiel ihr offenbar nicht, dass er ihr das so unter die Nase rieb. Wut glitzerte in ihren Augen und ein sturer Ausdruck erschien auf ihrem zarten Gesicht. Sie öffnete den Mund, zweifellos um ihm zu widersprechen, doch er kam ihr zuvor.

„Lügen Sie mich nicht an, Miss Armstrong. Ich kann Lügen eine Meile gegen den Wind riechen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass sie ohnehin keine sonderlich gute Lügnerin sind.“

Sie biss sich auf ihre volle Unterlippe. Aus einem ihm unerklärlichen Grund konnte Vincenzo seinen Blick nicht von ihrem Mund abwenden. Wie konnte eine Frau, die er um jeden Preis hinter Gitter bringen wollte, eine solche Wirkung auf ihn haben?

Er vergnügte sich nur dann mit Frauen, wenn es ihm in den Kram passte. Er ließ es nicht zu, dass sein Körper ihm den Takt vorgab. Tatsächlich war er im vergangenen Monat so damit beschäftigt gewesen, die letzten Reste der St.-Etienne-Familie und ihres Drogenimperium aufzureiben, dass er für weibliche Gesellschaft keine Zeit gehabt hatte.

Und die Frau, die ihm jetzt gegenübersaß, passte ohnehin nicht in sein bevorzugtes Beuteschema. Er bevorzugte Frauen, die ein bisschen weniger … zerzaust waren. Und keine Verbrecherinnen.

Insbesondere keine Verbrecherinnen, die die Dreistigkeit besaßen, ihn der Folter zu bezichtigen. Er würde sich niemals dazu herablassen, die gleichen Methoden anzuwenden wie seine Familie in den letzten Jahrhunderten. Das musste er auch gar nicht. Wenn es darum ging, Informationen zu beschaffen, war sein Team das beste der Welt. Er sammelte die Informationen, übergab sie der Polizei und ließ diese dann den Rest erledigen.

Miss Lucy Armstrong starre ihn weiterhin wütend an. „Also?“, fragte sie. „Geben sie mir eine Woche oder nicht?“

„Warum sollte ich? Ich kann Ihnen den Laptop abnehmen und ihn meinen Spezialisten übergeben. Die können die Verschlüsselung mit Leichtigkeit –“

„Nein, können sie nicht“, unterbrach sie. „Nicht diese Verschlüsselung. Die kann niemand knacken außer mir.“

Ärger keimte in ihm auf. Er war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. Insbesondere nicht von kleinen Frauen, die Angst vor ihm hatten und ihm dennoch die Stirn boten. Sie hatte Mut, das musste er ihr lassen.

„Dann haben Sie ja sicherlich nichts dagegen, wenn meine Spezialisten mal einen Blick darauf werfen.“

„Alle Daten werden automatisch gelöscht, wenn jemand versucht, ohne Passwort auf sie zuzugreifen.“ Sie blickte ihn kühl durch ihre Brillengläser hindurch an. „Wenn Sie also riskieren wollen, dass alles verloren geht, bitte!“

Sie war gerissen. Vincenzos Neugier wuchs. Wie hatte sie es geschafft, ihrem Vater zu entkommen? Und warum war sie ausgerechnet zu ihm gekommen? Ihr musste doch klar sein, dass er sie der Polizei ausliefern würde.

Gib ihr doch die eine Woche. Was macht das schon für einen Unterschied? Danach kannst du sie der Polizei übergeben. Und in der Zwischenzeit wird sie dir alles über Armstrong erzählen, was du wissen musst.

Das wäre möglich. Und sie könnte ihm auch noch auf andere Weise nützlich sein. Wenn sie tatsächlich der Grund dafür war, dass Armstrong all seinen Fallen entronnen war, dann konnte er diese kleine zerzauste Frau vielleicht dazu benutzen, auch andere Verbrecher in die Falle zu locken. Konnte er eine Kriminelle benutzen, um andere Kriminelle dingfest zu machen? Warum eigentlich nicht?

Er war ein geduldiger Mann. Eine Woche war nichts.

Vincenzo musterte sie ausgiebig. Sie saß noch immer zusammengesunken auf ihrem Stuhl und sah aus, als wollte sie sich am liebsten in Luft auflösen.

Es überraschte ihn nicht. Armstrong war ein Mann, der nicht vor Grausamkeit zurückschreckte. Er hegte nicht den geringsten Zweifel, dass Michael Armstrong einer jener Männer war, die Gewalt einsetzten, um ihre Macht zu behaupten. Es hatte viele Gerüchte über den Tod seiner Frau gegeben. Gerüchte, die Vincenzo nur noch entschlossener machten, den Mann zu Fall zu bringen.

Hatte Armstrong etwa seiner eigenen Tochter Gewalt angetan? Saß sie deshalb so geduckt auf ihrem Stuhl und versuchte, sich klein zu machen? War das der Grund, warum sie solche Angst vor ihm hatte?

Was kümmert dich das? Sie ist eine Kriminelle, ein nützliches Werkzeug. Mehr nicht.

Er beugte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch nach vorne. Ihre Augen weiteten sich und ihre Hände krallten sich noch fester um die unförmige Tasche auf ihrem Schoß.

Ja, dieses kleine braune Vögelchen hatte große Angst. Und zwar vor ihm.

Doch trotz alledem musterte sie ihn konzentriert. Als sei er eine große Katze, die sich auf sie stürzen wollte. Ja, Lucy Armstrong hatte Angst, aber er spürte auch, dass sie einen eigensinnigen und entschlossenen Geist hatte und nicht so leicht klein beigeben würde. Sie war wirklich beeindruckend.

„Sie sind risikofreudig, Miss Armstrong. Ich bin beeindruckt. Vielleicht würde Ihre Verschlüsselung meinen Experten standhalten und vielleicht auch nicht. Aber vielleicht sollte ich stattdessen lieber ein Abkommen mit Ihnen schließen.“

Sie blickte ihn eindringlich an. „Was für ein Abkommen?“

„Ihre Fähigkeiten sind offensichtlich sehr nützlich. Ich hätte Verwendung dafür. Und zwar nicht nur, um Ihren Vater zu Fall zu bringen. Es gibt noch eine Menge andere Männer und Frauen, die genau wie er hinter Gitter gehören. Und ich denke, Sie könnten mir dabei sehr behilflich sein, sie zur Rechenschaft zu ziehen.“

Erneut biss sie sich auf die Unterlippe. Ihre Lippen waren sehr rot und sehr voll. Es war ein zarter, lieblicher Mund. Würde er genauso süß schmecken, wie er aussah?

Warum denkst du an ihren Mund, du Schwachkopf?

Vincenzo zog verärgert die Brauen zusammen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was mit ihm los war.

„Warum sollte ich das tun?“, fragte die Geflüchtete erstaunt. „Ich helfe Ihnen in Bezug auf meinen Vater und das war es dann.“

Ärger flammte in ihm auf. „Ich befürchte, Sie haben keine Wahl.“ Er bemühte sich, seine Stimme gelassen und kalt klingen zu lassen. „Wenn Sie wollen, dass ich eine Woche warte, bis ich Sie der Polizei übergebe, dann verbleiben Sie in meiner Obhut und werden alles tun, was ich von Ihnen verlange. Das ist der Preis. Wenn Sie nicht bereit sind, ihn zu zahlen, rufe ich auf der Stelle meine Security.“

Sie sah wütend aus. „Aber Sie werden meinen Vater nicht zu Fall bringen, wenn ich Ihnen nicht helfe.“

„Natürlich werde ich das auch ohne Sie schaffen. Es wird nur länger dauern. Ihre Unterstützung würde den Prozess lediglich beschleunigen.“

„Warum wollen Sie dann überhaupt ein Abkommen mit mir schließen?“

Das war was dran. Sie war wirklich scharfsinnig. Denn er musste kein Abkommen mit ihr schließen. Er konnte sie einfach dazu bringen, das zu tun, was er wollte. Er war es, der am längeren Hebel saß. Aber er würde seine Macht nicht ausnutzen. Denn sonst wäre er nicht besser als diejenigen, der er hinter Gitter brachte.

„Weil Sie sich als sehr nützlich herausstellen könnten“, gab er zu. „Und ein Werkzeug ist nur dann nützlich, wenn es nicht zerbrochen ist. Ich hege nicht den Wunsch, Sie zu brechen, Miss Armstrong.“

„Aber Sie wollen mich benutzen.“ Ihre Stimme war nicht anklagend, nur resigniert. Als sei die Situation, in der sie sich jetzt befand, nichts Neues für sie.

Und das war sie wohl auch nicht. Für ihn wäre sie genauso ein Werkzeug wie für ihren Vater. Aber das störte ihn auch nicht weiter. Nicht in Anbetracht dessen, was auf dem Spiel stand.

Die alten Ganovenfamilien waren wie eine Krankheit, die einen gesunden Körper von innen heraus verfaulen ließ. Er kannte die Geschichte seiner eigenen Familie und die Gräuel, die sie im Laufe der Jahrhunderte begangen hatte. Die Verderbnis war auch ein Teil von ihm, doch würde er nicht zulassen, dass sie sich ausbreitete. Nein, er war ein Chirurg und würde sie herausschneiden. Und ein Chirurg benötigte ein scharfes Skalpell.

„Nein, civetta“, sagte er. „Ich will Sie nicht benutzen. Ich werde Sie benutzen. Wenn Sie eine Woche Freiheit haben wollen, müssen Sie dafür bezahlen. Und das ist mein Preis.“

Sie starrte ihn an und runzelte die Stirn. „Wenn Sie Freiheit sagen, was genau meinen Sie dann damit? Sie würden mich wohl nicht einfach gehen lassen, nehme ich an.“

„Nein, ich fürchte nicht.“

Sie nickte nur. Sie hatte diese Antwort erwartet. „Na ja, ich nehme an, wenn ich tatsächlich frei wäre, würde ich auch schutzlos sein. Und das würde natürlich den Sinn und Zweck dieser ganzen Aktion zunichtemachen.“

Die Falte auf ihrer Stirn wirkte wie eingebrannt, wie ein Makel auf ihrer blassen Haut. Er fragte sich, ob diese Haut wohl so weich war, wie sie aussah. So weich wie ihr bezaubernder Mund …

„Ich würde nicht gerne in einer Zelle sein“, fuhr sie fort. „Mein Vater hat mich in seinem Haus streng bewachen lassen. Das Haus lag am Meer, aber ich konnte das Meer nicht sehen. Ich konnte es nur hören. Ich würde gerne die Wellen sehen können.“ Sie blickte durch ihn hindurch wie in eine weite Ferne. „Ich habe das Meer noch nie gesehen. Lächerlich, nicht wahr? Wo wir doch auf einer Insel leben?“

Vincenzo musterte sie. Sie war fürwahr eine seltsame Kriminelle. Erst entkam sie ihrem Vater, dann lieferte sie sich seiner nicht vorhandenen Gnade aus und verlangte seinen Schutz. Und jetzt sprach sie wehmütig vom Meer.

Vielleicht war all das nur Theater. Mann wusste ja nie. Menschen ihres Schlags waren Lügner durch und durch und benutzten gerne emotionale Tricks, um zu bekommen, was sie wollten. Schon jetzt ertappte er sich dabei, wie er allerlei seltsame Dinge über ihren Mund und ihre Haut dachte! Solche Dinge würde er normalerweise niemals denken. Er hatte schon mit Frauen zu tun gehabt, die versucht hatten, ihn zu verführen, um an ihn heranzukommen. Entweder, um ihn zu ermorden oder um ihn aus irgendeinem Grund zu manipulieren. Frauen, die nicht wussten, dass ihre Masche bei ihm keinen Erfolg zeigen würde. Er würde sich nie manipulieren lassen, insbesondere nicht auf emotionaler Ebene.

Diese Lektion hatte er auf die harte Tour gelernt. Von seiner Mutter. Es war eine Lektion, die diese kleine braune Eule ebenfalls bald lernen würde. Und ebenfalls auf die harte Tour.

Was wirst du mit ihr machen?

Eine gute Frage. Entweder sie war, was sie zu sein schien. In diesem Fall wäre sie, abgesehen von den Informationen in ihrem Kopf, relativ harmlos. Oder sie war viel gefährlicher, als sie den Anschein machte. Wie dem auch sei, er würde genau auf sie achtgeben müssen.

„Gefangene können sich ihre Zelle nicht aussuchen“, sagte er schließlich.

„Ich weiß, was es bedeutet, eine Gefangene zu sein, das können Sie mir glauben. Ich schätze, es wäre zu viel verlangt, wenn ich eine Woche lang … einfach ein normales Leben führen dürfte?“

Vincenzo runzelte die Stirn. „Ein normales Leben? Ist es das, was Sie erwartet haben? Dass ich Sie einfach gehen lassen würde?“

Sie senkte den Blick und ihre Wangen röteten sich. „Ja. Ich hatte gehofft, dass Sie mir dabei helfen würden, unterzutauchen.“

„Unterzutauchen?“

„Dass Sie mir eine neue Identität geben. Mir helfen, in die Staaten zu fliehen. Dort könnte ich untertauchen und niemand würde mich jemals finden.“

Eine Sekunde lang konnte Vincenzo sie nur anstarren. Hatte sie wirklich gedacht, dass er ihr helfen würde? Hatte sie sich in dieser Erwartung in diese schreckliche Gefahr begeben?

Das war wirklich töricht von ihr. Es war nicht seine Aufgabe, Menschen zu retten. Es war seine Aufgabe, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Und wenn sie dachte, dass er für sie eine Ausnahme machen würde, hatte sie sich geirrt. Gnade war ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte.

„Dann befürchte ich, dass ich sie enttäuschen muss“, sagte er mit harter Stimme. „Sie hätten gründlicher mit Ihren Nachforschungen sein sollen, Miss Armstrong. Ich wiederhole, dass ich kein gnädiger Mensch bin.“ Er stand auf und ging zur Tür.

Ihre Augen waren sehr groß geworden. Sie war offensichtlich starr vor Angst. Einem sanftmütigeren Mann hätte sie vielleicht leidgetan, aber in ihm war nichts Sanftes mehr übrig. Und doch …

Er erstickte jeden Hauch dieser seltsamen Empfindung, die wohl Mitleid war, im Keim. Dann schloss er die Tür auf und öffnete sie. „Hol die Security, Raoul“, befahl er lässig. „Diese Gefangene freut sich schon auf ihre Zelle.“

3. KAPITEL

Lucy zitterte. Eine Zelle.

Wenn Lucy sich den Anweisungen ihres Vaters widersetzt hatte, war seine Reaktion immer dieselbe gewesen. Er hatte sie im Keller seines Hauses in Cornwall in einen winzigen, fensterlosen Raum gesperrt. Sie hatte nie gewusst, wie lange er sie dort lassen würde, aber es war immer eine gefühlte Ewigkeit gewesen.

Sie hasste die Dunkelheit. Sie hasste diesen Raum. Wenn ihr Vater sie endlich herausholte, hatte sie ausnahmslos immer das getan, was er von ihr verlangte. Und irgendwann hatte sie gelernt, seinen Anweisungen widerstandslos Folge zu leisten.

Als sie ihre Flucht plante, hatte sie gedacht, dass solch albtraumhafte Erlebnisse bald für immer hinter ihr liegen würden. Anscheinend hatte sie sich geirrt.

Vincenzo de Santi war immer die große unbekannte Variable in ihrem Plan gewesen. Sie war davon ausgegangen, dass er ein gewisses Mitgefühl besaß. Doch das war offensichtlich nicht der Fall. Eigentlich hätte sie es besser wissen müssen.

Die Gerüchte über ihn waren allesamt wahr. Er war kalt, unbestechlich und skrupellos. Und er kannte keine Gnade. Doch Ihre Angst hatte sie dumm gemacht. Sie hatte gedacht, dass ihre eigenen Verbrechen nicht ins Gewicht fallen würden.

Sie hatte sich geirrt.

„Bitte“, krächzte sie heiser. „Keine Zelle.“

Jetzt flehte sie ihn schon an?

Ihre Mutter hatte nicht gefleht. Ihre Mutter hatte keine Angst gehabt. Tapfer hatte sie sich zwischen sie und ihren wütenden Vater gestellt. Hatte klaglos den Hieb aufgefangen, der eigentlich für Lucy bestimmt war.

Lucy konnte nur davon träumen, so mutig und so stark zu sein!

Das Geräusch von Schritten ertönte und zwei schwarz gekleidete Securityleute erschienen in der Tür. Sie saß in der Falle. Es gab kein Entkommen.

Die Angst lähmte ihre Muskeln. Ihr Atem beschleunigte sich. Sie würden sie in ein dunkles Loch stecken. Diese Dunkelheit war wie der Tod. Ein Gewicht, das alles Leben und alle Luft aus ihr herauspressen würde.

Die Wachen kamen auf sie zu. Ihre wurde schwarz vor Augen. Die Dunkelheit würde sie verschlingen.

Sie öffnete den Mund, um zu schreien, doch es war keine Luft in ihren Lungen. Sie stürzte, stürzte in die Dunkelheit immer tiefer nach unten.

„Atmen, civetta“, befahl eine tiefe Stimme. „Atmen!“

Dieser Stimme musste sie gehorchen. Widerspruch war zwecklos. Sie saugte Luft in sich hinein und kämpfte gegen das erdrückende Gewicht auf ihrer Brust und die eindringende Dunkelheit an.

Ein heftiges Schwindelgefühl erfasste Lucy und brachte sie zum Zittern. Ihr war furchtbar kalt.

„Atmen!“, befahl die Stimme erneut. Sie gehorchte.

Das Schwindelgefühl ließ nicht nach. Sie zitterte noch heftiger. Aber da war etwas um sie herum. Etwas Starkes. Etwas Warmes. Es hielt sie fest. Und die Kälte verschwand. Das Zittern ebbte ab.

Ein warmer Duft umgab sie. Sie hätte schwören können, dass sie einen Herzschlag hörte. Er war kräftig, stetig und langsam, und sie versuchte, im selben Rhythmus zu atmen. Tatsächlich merkte sie, wie sich auch ihr eigener Herzschlag langsam beruhigte.

Allmählich entspannten sich ihre verkrampften Muskeln und ihr wurde wieder wärmer. Das schwere Gewicht auf ihrer Brust löste sich. Alles war noch dunkel, doch langsam wurde ihr klar, dass sie nur ihre Augen geschlossen hielt.

Und dann wurde ihr noch etwas klar: eine Person hielt sie und hatte ihre starken Arme um sie geschlungen. Diese köstliche Wärme war die eines anderen Körpers. Sie lag in den Armen eines Mannes und es war sein Herzschlag, den sie hören konnte.

Ein Schock durchfuhr sie.

„Atmen“, erinnerte sie die Stimme.

Also atmete sie und atmete immer weiter. Die Wärme des fremden Körpers half ihr, sich zu entspannen. Seltsam. Die Tatsache, dass sie gehalten wurde, gab ihr Sicherheit. Das war ein völlig ungewohntes Gefühl, denn es war lange her, dass sie sich irgendwo sicher gefühlt hatte. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, denn sie wollte nicht, dass dieses Gefühl wieder verschwand.

Dann wurde ihr mit einem Mal klar, wo sie war. Was passiert war. Wessen Arme es sein mussten, die sie so fest umschlungen hielten.

Vincenzo de Santi. Der Mann, der sie in eine Zelle stecken wollte.

Lucy öffnete die Augen.

Sie befand sich auf einer Couch in seinem Büro. Und zwar auf dem Schoß von Vincenzo des Santi.

Seine starken Arme hielten sie fest gegen seine kräftige Brust gedrückt. Sie musste eine Panikattacke gehabt haben. Wie erniedrigend!

Und dann sah sie, dass noch zwei andere Männer vor der Couch standen. Männer in schwarzen Uniformen. Große, kräftige Männer … Die Wachen, die gekommen waren, um sie zu holen.

Augenblicklich schoss ihr die kalte Angst durch die Adern. Sie krallte sich an de Santis Hemd fest und drückte sich gegen ihn, als könne er sie vor den Männern beschützen.

Du Schwachkopf. Er ist es doch, der dich gefangen nehmen will.

Sie hörte, wie sich ihr Atem wieder rasant beschleunigte.

„Raus hier“, befahl de Santi. Sofort verließen die Wachen das Büro.

„Weiteratmen!“, murmelte er. „Entspannen Sie sich!“

Lucy tat, was er sagte. Sie lehnte sich gegen seine harte Brust. Sein Körper war warm und der Schlag seines Herzens gleichmäßig und unermüdlich. Sie konzentrierte sich darauf. Ihre Atmung wurde wieder langsamer und ihre Muskeln lockerten sich.

Es war seltsam. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so gehalten worden war. Sicherlich nicht, seit ihre Mutter gestorben war. Sie war damals ungefähr sieben gewesen. Und ganz bestimmt war sie noch nie von einem Mann so gehalten worden.

Du bist ein Schwachkopf. Er will dich in eine Zelle stecken.

Der Gedanke ließ sie sich wieder verkrampfen, doch de Santi zog sie fester an sich.

„Schon gut“, sagte er leise. „Seien Sie ganz ruhig.“

Doch obwohl die Panik verflogen war, wollte die Angst nicht weichen. Sie war sich jetzt vollständig dessen bewusst, wer sie da hielt und wo sie war. Und was er tun würde.

„Was ist passiert?“, fragte sie. „Bin ich ohnmächtig geworden?“

„Nur ganz kurz.“

Der Klang seiner Stimme war seltsam tröstlich. „Warum halten Sie mich im Arm?“

„Weil Sie gezittert haben und ganz kalt geworden sind.“

Sie blinzelte. „Wo ist mein Computer?“

„Liegt neben Ihnen auf der Couch.“

Ein kurzes Schweigen senkte sich über den Raum.

„Haben Sie oft Panikattacken, Miss Armstrong?“, fragte de Santi nach einer Weile.

„Eigentlich nicht.“ Nicht seit sie aufgehört hatte, sich ihrem Vater zu widersetzen.

„Was ängstigt Sie so an der Vorstellung einer Zelle?“

„Im Keller unseres Hauses gibt es einen dunklen, fensterlosen Raum. Mein Vater schließt mich manchmal darin ein, wenn ich nicht das tue, was er von mir verlangt.“

„Ich verstehe. Und kommt das oft vor? Dass Sie nicht tun, was er von Ihnen verlangt?“

Als Kind war sie furchtlos und neugierig gewesen und hatte ihre Nase immer in Dinge gesteckt, die sie nichts angingen. Das hatte ihren Vater wütend gemacht. Doch ihre Mutter hatte sie vor den größten Wutausbrüchen ihres Vaters beschützt.

„Früher einmal“, sagte sie. Sie wollte nicht näher darauf eingehen. „Jetzt nicht mehr so häufig.“

„Mal abgesehen davon, dass Sie ihm entkommen sind.“

„Ja, abgesehen davon.“

Nach einer Weile löste de Santi seine Arme von ihr. „Ist Ihnen noch schwindlig?“

„Nein, ich glaube, es geht schon wieder.“

Ohne ein weiteres Wort schob er sie von sich herunter und setzte sie auf die Couch. Augenblicklich vermisste sie seine starken Arme. Plötzlich fühlte Lucy sich schrecklich verletzlich.

De Santi stand auf und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen seinen Schreibtisch. Er sah sie mit seinem beunruhigend eindringlichen Blick an.

Ein Echo ihrer Angst durchströmte sie erneut, doch dann nahm sie sich ein Beispiel am Mut ihrer Mutter und stählte sich. Sie begegnete seinem Blick. „Wenn Sie mich in eine Zelle sperren wollen, müssen Sie mich entweder unter Drogen setzen oder mich bewusstlos schlagen, denn freiwillig werde ich nicht da reingehen.“

„Das ist offensichtlich.“ Er starrte sie noch ein paar Augenblicke länger an. Dann holte er ein Handy aus seiner Hosentasche. Den Blick immer noch auf sie fixiert, begann er schnell, auf Italienisch zu telefonieren.

Was würde er jetzt mit ihr machen? Würde er sie wirklich unter Drogen setzen oder sie bewusstlos schlagen?

Er war vorhin kurz davor gewesen, sie in eine Zelle zu sperren. Und doch hatte er es nicht getan. Sie hatte ihren Panikanfall bekommen, und anstatt sie einfach aufzusammeln und sie bei der Polizei abzuliefern, hatte er sie auf den Schoß genommen. Er hatte sie beruhigt, sie getröstet.

Vielleicht ist er ja gar nicht so gnadenlos, wie er behauptet?

Ein gnadenloser Mann hätte sie sicherlich nicht so gehalten und ihr die Angst genommen. Ein gnadenloser Mann hätte sie in diese Zelle geworfen und dort versauern lassen – Panikattacke hin oder her.

Vielleicht gab es doch noch Hoffnung. Vielleicht würde sie ihn umstimmen können. Vielleicht würde sie das Versprechen an ihre Mutter doch noch einlösen können.

Schließlich hörte er auf zu sprechen und ließ das Handy wieder in seine Tasche gleiten. Der Blick seiner dunklen Augen war undurchdringlich. „Sie können sich entspannen. Es wird keine Zelle für Sie geben.“

Erleichterung durchströmte sie. „Wo werden Sie mich dann hinbringen?“, fragte sie heiser.

„Ich habe ein Haus hier in London. Sie werden dorthin gebracht. Es ist keine Zelle, Miss Armstrong, aber glauben Sie mir, es ist dennoch ein Gefängnis.“

Daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel. Trotzdem war sie erleichtert. Sie würde nicht frei sein, aber zumindest erwartete sie auch kein dunkles Loch.

„Ich dachte nicht, dass Sie doch noch Gnade in sich tragen“, sagte sie, bevor ihr bewusst wurde, dass es wahrscheinlich nicht besonders klug war.

Er sah sie nur an. Sein Gesichtsausdruck war ebenso neutral wie sein Tonfall. „Wie ich bereits sagte, zerbrochene Werkzeuge nutzen mir nichts. Und Sie nutzen mir nichts, wenn Sie verrückt vor Angst sind.“

Vielleicht irrte sie sich doch. Vielleicht handelte er nur aus eigenem Interesse, nicht aus Mitgefühl.

Was kümmern dich seine Beweggründe? Du bist sicher. Das ist das Einzige, was zählt.

Das war richtig. Seine Beweggründe konnten ihr egal sein. Sie wollte nur wissen, ob sie sich Hoffnung machen konnte. Wenn er sie für nützlich hielt, war die Hoffnung, dass er sie nicht der Polizei ausliefern würde, noch nicht gestorben.

Daher würde sie sich so nützlich machen, wie es nur irgendwie ging, und zwar so lange wie möglich.

„Danke“, sagte sie.

„Danken Sie mir lieber noch nicht.“ Er schaute sie eindringlich an. „Sie gehen nicht allein dorthin.“

Vincenzo hatte für die emotionalen Ausbrüche der Menschen nicht viel übrig. Sie ließen ihn kalt. Manche Menschen flehten ihn an, weinten und verloren die Nerven, während andere wütend wurden, versuchten, ihn zu schlagen und wild fluchten. Manche taten sogar, was Miss Lucy Armstrong getan hatte, und brachen vor Angst in sich zusammen, wenn ihr Leben in die Brüche ging.

Es prallte alles von ihm ab. Er ließ sich nicht davon beeindrucken. Oftmals war das alles ohnehin nur Show. Die Menschen dachten, dass sie ihn mit ein paar bewegenden Szenen dazu bringen konnten, seine Meinung zu ändern. Doch damit lagen sie falsch.

Seine Mutter war die Königin der emotionalen Manipulation gewesen. Daher konnte er solche Täuschungen mit Leichtigkeit durchschauen.

Er war sich nicht sicher, warum er Michael Armstrongs Tochter aufgefangen hatte, als sie die Augen verdreht hatte und beinahe vom Stuhl gefallen war. Es war genau die Art Masche, die manche Menschen einsetzten, um sein Mitgefühl zu erregen. Er hätte sie einfach auf den Boden fallen lassen und von seiner Security wegsperren lassen sollen.

Doch das hatte er nicht getan. Er war nach vorne gehechtet und hatte sie aufgefangen. Er hatte sie festgehalten, während sie zitternd und bebend auf seinem Schoß saß. Und dann war sie zu sich gekommen und hatte seine Wachen gesehen. Sie hatte sich in sein Hemd gekrallt, als könne er sie beschützen …

Seine Brust hatte sich seltsam zusammengeschnürt. Bevor er überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte er seine Security fortgeschickt.

Warum? Warum hatte er sie so fest in seinen Armen gehalten? Was in aller Welt war dieses Gefühl, das sich da in ihm regte? Er hätte schwören können, dass er zu so etwas wie Mitgefühl nicht imstande war. Er hätte sie einfach fortbringen lassen sollen.

Und doch hatte ihre Panik ihn nicht kaltgelassen …

Auf der kurzen Autofahrt in sein Haus hatte es keine Zwischenfälle gegeben. Die Bodyguards öffneten die Autotür und Lucy stieg aus. Vincenzo ging ihr voraus die Treppe zur Eingangstür hoch und geleitete sie ins Wohnzimmer. Seine Haushälterin hatte ein Tablett mit Tee und Keksen auf einen Tisch gestellt. Vincenzo führte Lucy zu einem Sessel.

Sie setzte sich und blickte ihn finster an. Sie war eine seltsame Frau. In einem Moment starr vor Angst und im nächsten wütend.

„Nehmen Sie sich eine Tasse Tee“, befahl er. „Und einen Keks. Sie können den Zucker wahrscheinlich gut gebrauchen.“

„Ich möchte keinen Keks. Und auch keinen Tee.“ Sie starrte ihn weiterhin an. „Was werden Sie jetzt mit mir machen?“

Das war eine gute Frage. Er hatte sich immer noch nicht entschieden, was er mit ihr tun würde. Die einwöchige Gnadenfrist, die er ihr gewährt hatte, durchkreuzte seine Pläne. Das Logischste wäre, sie in der nächsten Woche seinem Securityteam zu überlassen. Sein Team würde schon alle Antworten aus ihr herausbekommen. Und doch gefiel ihm dieser Gedanke nicht.

Er hatte ihr gesagt, dass er kein zerbrochenes Werkzeug wollte, und das war keine Lüge gewesen. Das war die naheliegendste Erklärung dafür, dass er sie aufgefangen und gehalten hatte. Wenn sie vor Angst erstarrt wäre, würde er überhaupt keine Informationen aus ihr herausbekommen. Er hatte etwas unternehmen müssen. Sie war das Skalpell, mit dem er Michael Armstrongs Verderbnis herausschneiden würde. Mit zerbrochener Klinge war das nicht möglich. Die Klinge musste scharf und unversehrt sein.

Er ordnete seine zerstreuten Gedanken. Er musste sehr behutsam mit ihr umgehen. Seine gewöhnlichen Methoden würden sie zerbrechen.

Das Beste wäre, wenn er sich der Sache selbst annahm. Auch wenn er eigentlich keine Zeit für ein solch heikles Verhör hatte.

Die Informationen in ihrem Besitz waren wertvoll. Michael Armstrong war in England ein mächtiger Mann und arbeitete eng mit russischen, französischen und italienischen Gangsterfamilien zusammen. Wenn er Armstrong zu Fall bringen konnte, wäre das ein harter Schlag für diese Kriminellen!

Es würde sich definitiv lohnen.

Bist du dir sicher, dass das der einzige Grund ist, warum du dich persönlich mit Armstrongs Tochter befassen willst?

Eine plötzliche Erinnerung erfüllte ihn. Die Erinnerung an ihren weichen Körper auf seinem Schoß und an ihre Finger, die sich in sein Hemd gekrallt hatten. Sie hatte nach süßen, sonnengereiften Äpfeln geduftet.

„Mr. de Santi“, sagte Lucy. „Was werden …“

„Trinken Sie Ihren Tee“, unterbrach er. „Ich möchte nicht, dass Sie mir noch einmal umkippen.“

Es folgte ein verärgertes Schweigen. Dann hörte er das Klirren einer Tasse auf einer Untertasse. Er drehte sich zu ihr um. Sie hielt die Tasse in der Hand und nippte mit gespitzten Lippen an ihrem Tee. Sie sah äußerst verärgert aus. Doch er konnte auch noch immer die Angst in ihren Augen sehen.

Ihr Vater hat sie in einen fensterlosen Kellerraum gesperrt …

Vincenzos Brust schnürte sich zusammen. Es gab viele Wege, den Geist einer Person zu brechen, und jemanden allein in der Dunkelheit wegzusperren, war sicherlich einer davon.

Aber sie war noch nicht völlig gebrochen. Ihre Augen schimmerten herausfordernd und eigensinnig. Eine gebrochene Frau hätte niemals den Mumm aufgebracht, ihrem Vater zu entkommen.

Sie war mutig, das musste er ihr lassen.

„Ich trinke, sehen Sie?“ Sie hob erneut die Tasse an den Mund.

„Gut.“ Er warf ihr einen abschätzenden Blick zu und sah, dass die Farbe auf ihre Wangen zurückkehrte. Sie würde nicht noch einmal ohnmächtig werden. Zumindest nicht, wenn er ihr nicht wieder mit einer Zelle drohte. „Geben Sie mir jetzt die Informationen, die ich haben will?“

„Über meinen Vater?“

„Ja.“

Ihr Blick wurde misstrauisch. „Ich bin mir nicht sicher. Sie könnten mich den Behörden übergeben, wenn ich das tue.“

„Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich Ihnen eine Woche gebe. Und das habe ich auch so gemeint.“

„Eine Woche was?“ Sie blickte zu ihm auf. „Eine Woche in einer Zelle?“

„Es wird keine Zelle geben. Auch das sagte ich bereits.“

„Aber Sie sagten nicht, was die Alternative ist. Ich wüsste gerne klipp und klar, was Sache ist, Mr. de Santi.“

Ärger brodelte in ihm hoch. „Versuchen Sie etwa, mit mir zu verhandeln, civetta? Das steht Ihnen nicht zu. Ich sperre Sie nicht in eine Zelle, weil ich mich dazu entschieden habe, es nicht zu tun. Aber ich kann mich jederzeit umentscheiden.“

Sie starrte ihn weiterhin an, doch ihre Hand mit der Teetasse zitterte leicht. Er verspürte das seltsame Verlangen, seine Hand auf die ihre zu legen, um sie zu beruhigen. Oder sie wieder in den Arm zu nehmen und sie zu halten, bis das Zittern aufhörte. Wie lächerlich. Woher um in alles in der Welt kam dieses Verlangen? Hatte er seine Beschützerinstinkte nicht schon vor langer Zeit hinter sich gelassen? Insbesondere, wenn es um Frauen ging? Frauen waren verräterisch – mehr noch als Männer. Das wusste er aus eigener Erfahrung. Seine Mutter wäre für den Namen de Santi über Leichen gegangen.

Selbst über die ihres eigenen Sohnes.

„Wenn Sie mich einsperren, sage ich Ihnen gar nichts“, stellte Lucy fest. „Und das wollen Sie doch nicht, oder?“

Er biss die Zähne zusammen. „Ich verhandle nicht mit Gefangenen.“

Lucy stellte mit einer ruckartigen Bewegung ihre Tasse ab. Dabei schwappte der Tee über den Tassenrand auf ihre Hand. Sie zischte schmerzerfüllt auf. Vincenzo griff sofort nach einer Serviette, nahm ihre kleine Hand in die seine und tupfte vorsichtig den Tee weg. Sie versuchte, ihre Finger wegzuziehen, doch er hielt ihre Hand fest.

„Lassen Sie mich los“, murmelte sie. „Es ist nicht weiter schlimm.“

Doch er ignorierte sie. Neben der Teekanne stand ein Glas Wasser mit Eiswürfeln. Er nahm einen Würfel, wickelte ihn in eine Serviette und drückte diese dann sanft gegen die gerötete Haut auf ihrer Hand.

„Was wollen Sie?“, hörte er sich selbst fragen, obwohl er vorher entschieden hatte, dass er nicht mit ihr verhandeln würde.

„Wie meinen Sie das?“, fragte sie heiser.

„Sie haben gesagt, dass Sie eine Woche lang ein normales Leben führen wollen. Ist es das, was sie verlangen?“ Ihre Hand sah in seiner sehr klein aus. Er hatte keine Ahnung, warum er wegen ihres Missgeschicks ein solches Aufhebens machte. Warum hatte sie diese Wirkung auf ihn? Sie war weder besonders schön noch sonderlich charmant. Sie klimperte nicht mit den Wimpern und versuchte nicht, ihn zu verführen, so wie andere Frauen. Sie war lediglich verängstigt. Und wachsam.

„Ein normales Leben können Sie mir nicht bieten“, sagte sie. „Nicht, wenn Sie vorhaben, mich der Polizei zu übergeben.“

Er blickte von ihrer Hand auf. „Glauben Sie nicht, dass Sie es verdienen, für Ihre Verbrechen zu bezahlen?“

Ihre Wangen wurden rot und sie senkte den Blick. Offenbar schämte sie sich. Sie hielt sich also doch für schuldig.

Deine Mutter hat sich nie für schuldig gehalten.

Nein, das hatte sie nicht. Nicht einmal, als die Polizei sie schließlich fortgezerrt hatte. Sie hatte ihm immer wieder versichert, dass es ein Krieg war. Und in einem Krieg gebe es eben hin und wieder Verluste.

Aber es war kein Krieg. Wenn es einer gewesen wäre, hätte er sich wie ein Soldat gefühlt, nicht wie ein Mörder.

„Nein“, entgegnete Lucy mit etwas weniger Entschlossenheit in der Stimme. „Ich glaube nicht. Ich meine, ich …“

„Sie haben das Gesetz gebrochen, Miss Armstrong. Nicht nur einmal.“ Sie versuchte erneut, ihre Hand zu befreien, doch er ließ sie nicht los. „Meinen Sie nicht, dass Sie sich dafür verantworten müssen?“

Er konnte sehen, wie die Angst erneut in ihr aufstieg. Doch er verstand nicht, warum ihn das so störte. Sie sollte ruhig Angst vor ihm haben. Das gehörte sich so.

Als ob sie nicht schon mehr als genug Angst in ihrem Leben gehabt hätte!

Und wenn schon! Warum sollte ihn das kümmern? Sie war nicht anders als alle anderen Kriminellen. Ihr Vater hatte sie vielleicht zur Kooperation gezwungen, doch änderte das nichts an der Tatsache, dass sie eine Verbrecherin war.

Deine Mutter hat dasselbe mit dir gemacht. Oder hast du das vergessen?

Nein, das war anders gewesen. Dieser kleine braune Vogel war in ein Zimmer eingesperrt und mit Angst gefügig gemacht worden. Seine Mutter hatte schärfere Geschütze aufgefahren. Seine Mutter hatte seine Liebe zur ihr gegen ihn eingesetzt.

Aber Lucy hat nicht das getan, was du getan hast …

„Ich weiß, dass ich das Gesetz gebrochen habe“, sagte sie leise. „Ich weiß das. Ich habe sein Geld gewaschen und es vermehrt. Und ich …“ Sie hielt inne und Schmerz erfüllte ihr Gesicht. „Ich weiß, dass er mit diesem Geld nichts Gutes getan hat. Aber ich wurde dazu gezwungen. Ich wollte das nicht tun. Nichts davon.“ Sie sackte förmlich in sich zusammen. „Ich will nur wissen, wie es sich anfühlt, frei zu sein.“ Ihre Stimme war ganz weich geworden und ihre Finger lagen schlaff in seiner Hand. Sie starrte in ihren Schoß. All ihre Entschlossenheit war aus ihr gewichen.

Sie sah geschlagen aus.

Es hätte ihn zufriedenstellen müssen, dass er ihren Willen gebrochen hatte. Es hätte sich wie ein Sieg anfühlen sollen. Doch das tat es nicht.

Es fühlte sich an, als hätte er etwas Zerbrechliches und Kostbares zerstört. Doch das ergab überhaupt keinen Sinn. Sie war eine Kriminelle, ganz egal, ob sie dazu gezwungen worden war oder nicht. In seinen Augen war sie schuldig. Sie sollte ihm völlig egal sein. Er konnte sich nicht erklären, warum er diese Enge in seiner Brust und diese Wut in seiner Seele verspürte.

Vielleicht ärgerte er sich nur darüber, wie ungeschickt er sich verhalten hatte. Er durfte sie nicht brechen. Er musste feinfühlig vorgehen. Das war zwar nicht seine übliche Vorgehensweise, doch er würde es wenigstens versuchen müssen. Er wollte nicht, dass sie sich so sehr fürchtete, dass sie nutzlos für ihn wurde. Und wenn er so weitermachte wie bisher, würde genau das passieren.

Es war an der Zeit, die Samthandschuhe auszupacken.

Vincenzo ließ sie los, richtete sich auf, und blickte in ihr blasses Gesicht. „Ich gebe Ihnen eine Woche. Es wird keine völlige Freiheit sein, aber ich gebe Ihnen eine kleine Kostprobe. Der Preis bleibt jedoch derselbe. Sie geben mir alle Informationen über Ihren Vater und helfen mir, seine Verbündeten zu Fall zu bringen.“ Er zögerte kurz. „Wenn Sie dies tun, lege ich bei den Behörden ein gutes Wort für Sie ein. Vielleicht mildert das Ihre Strafe ein wenig.“

Sie legte die Stirn in Falten und blickte ihn misstrauisch an. Doch in ihrem Blick lag auch etwas anderes, etwas, das ein bisschen wie Hoffnung aussah.

Arme civetta! Sie sollte nicht hoffen. Hoffnung war wie eine Droge, die den Schmerz nur vorrübergehend linderte. Wenn ihre Wirkung nachließ, wurde der Schmerz nur noch schlimmer.

„Okay“, sagte sie langsam. „Und woher weiß ich, dass Sie zu Ihrem Wort stehen? Dass Sie mich nicht doch in eine Zelle sperren und der Polizei übergeben, sobald ich Ihnen gebe, was Sie haben wollen?“

„Das wissen Sie nicht. Mein Wort wird Ihnen genügen müssen.“

4. KAPITEL

Als sie mit de Santis Privatflugzeug in Neapel landeten, hatte Lucy kaum Gelegenheit, sich umzuschauen. Ein Hubschrauber wartete bereits auf sie. Und dann waren sie wieder in der Luft und flogen über das tiefblaue Wasser des Meeres.

Lucy konnte ihren Blick nicht davon abwenden. De Santi hatte ihr nicht verraten, wohin die Reise ging, aber es war ihr auch egal. Alles, was zählte, war das weite Blau unter ihr.

Endlich konnte sie das Meer sehen. Sie hatte in ihrem Gefängnis in Cornwall den Wellen gelauscht, doch da das Haus keine Aussicht aufs Meer gehabt hatte, hatte sie nie den Ursprung dieses Geräuschs gesehen. Das unendliche Blau zog sie in seinen Bann.

Auf das Meer hinauszustarren, war unendlich viel besser, als über den Mann neben ihr nachzudenken. Er hatte auf der gesamten Reise kein Wort mit ihr gesprochen, sondern konzentriert auf seinem Laptop gearbeitet. Er war ein viel beschäftigter Mann. Und doch hatte er irgendwie die Zeit gefunden, sie persönlich nach Italien zu bringen.

Sie war sich nicht sicher, warum de Santi seine Meinung geändert hatte. Er hatte so entschlossen gewirkt, sie sofort den Behörden auszuliefern, dass sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte.

Und dann hatte er plötzlich gesagt, er würde ihr eine Woche geben. Es war nicht ganz das, was sie sich erhofft hatte, aber es war besser als nichts. Und vielleicht war das genug Zeit, um ihn doch noch umzustimmen. Denn wenn er seine Meinung einmal geändert hatte, würde er es vielleicht wieder tun.

Du musst nur überzeugend genug sein!

Doch sie schenkte diesem Gedanken keine Beachtung, denn er machte ihr Angst. Sie versuchte, nur das zu sehen, was vor ihr lag. Und das war in diesem Augenblick das Meer.

Allerdings konnte sie die Anwesenheit des Mannes neben ihr nicht einfach ignorieren, so sehr sich auch bemühte. Seine Nähe und seine Wärme lenkten sie ab. Sie konnte das Gefühl nicht vergessen, wie er in dem Haus in London ihre Hand gehalten hatte. Noch immer spürte Lucy die Wärme seiner Haut und den kalten Druck des Eises.

Sie hatte noch immer Angst vor ihm. Und doch fühlte sie sich unerklärlicherweise auch zu ihm hingezogen. Seine Stärke und seine Macht waren anziehend und beängstigend zugleich. Er war skrupellos und kannte keine Gnade. Und doch hatte er sie sanft in seinen Armen gehalten, als sie in Panik geraten war.

Warum fühlte sie sich trotz ihrer Angst so zu ihm hingezogen? Er war wie ein Panther, der sich auf einem Felsen sonnte. Was würde passieren, wenn sie sich näherte und sein schwarzes Fell streichelte?

Du denkst ernsthaft daran, ihn zu berühren?

Lucy starrte das Meer an. Nein, natürlich nicht. Er war ihr Feind. Es war ihm egal, dass ihr Vater sie zu ihren Verbrechen gezwungen hatte. In seinen Augen war sie schuldig. Er würde sie der Polizei übergeben, sobald diese Woche vorbei war …

Der Hubschrauber flog jetzt über eine grüne Insel mit hoch aufragenden Klippen. Zehn Minuten später landeten sie vor einer Villa aus weißem Stein. Die Sonne glitzerte auf dem dahinter liegenden Meer. Ihre Wärme fühlte sich wunderbar auf ihrer Haut an!

De Santi ergriff Lucys Ellbogen und führte sie hinauf zu dem großen Haus und durch die geöffneten Doppeltüren in einen geräumigen Raum mit bequem aussehenden weißen Sofas und schickem Holzfußboden.

Es war kühl und ruhig in dem Raum. Lucy konnte das Rauschen des Meeres hören. Dieses Geräusch hätte sie vielleicht stören sollen, weil es sie an Dinge erinnerte, über die sie lieber nicht nachdachte, doch hier fühlte es sich anders an. Die Luft roch anders. Sie war heißer und trockener. Und sie konnte das Meer sehen. „Wo sind wir?“, fragte sie.

„Auf Capri“, sagte er knapp. „Dies ist die Ferienvilla der de Santis. Das eigentliche Anwesen meiner Familie liegt auf dem Festland in der Nähe von Neapel, aber ich dachte, Sie würden es hier am Meer vorziehen.“ Er deutete auf die Türen. „Sie können sich auf dem Grundstück frei bewegen. Und keine Sorge, Sie sind hier vollkommen sicher. Meine Security ist ausgezeichnet.“

Du wirst ihm niemals entkommen!

Doch eigentlich wollte Lucy diesem Mann auch gar nicht entkommen, zumindest nicht sofort. Sie wollte nur seine Meinung ändern, damit er sie nicht den Behörden übergab.

Obwohl du es verdienst?

Sie schenkte dem Gedanken keine Beachtung. Das war nur ihre Angst, die da sprach. „Aber nur auf dem Grundstück? Sonst darf ich nirgendwohin?“

Seine dunklen Augen waren vollkommen undurchdringlich. „Natürlich nicht, civetta.“

Etwas anderes hatte sie auch nicht erwartet. Es war auf alle Fälle besser als das Haus ihres Vaters. Sie war noch immer eine Gefangene, aber wenigstens konnte sie jetzt das Meer sehen.

„Warum nennen Sie mich eigentlich so? Civetta?“ Sie blickte ihn finster an. „Was bedeutet das? Heißt das etwa ‚dreckige Gefangene‘ auf Italienisch?“

Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Nein. Es bedeutet nichts.“

„Wenn es nichts bedeutet, warum sagen Sie es dann?“

„Es bedeutet ‚kleine Eule‘.“ Er wandte sich abrupt von ihr ab und ging in Richtung Tür. „Wir werden heute auf der Terrasse zu Abend essen. Meine Haushälterin Martina zeigt Ihnen Ihr Zimmer.“

„Kleine Eule?“, fragte Lucy verblüfft.

Doch de Santi war schon zur Tür hinaus verschwunden.

Wie seltsam. Warum nannte er sie so? Sah sie vielleicht aus wie eine Eule? War das ein Schimpfwort?

Doch sie hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn die Haushälterin war gerade gekommen, um sie in ihr Zimmer zu führen. Lucy folgte der Frau durch die hallenden Flure des Hauses. Es war ein wunderschöner Ort. Die Wände waren weiß getüncht und verliehen dem Haus ein leichtes und luftiges Ambiente. Der Duft des Meeres und das Rauschen der Wellen erfüllten das Haus. Lucy spürte, wie sich der Knoten in ihrer Brust etwas löste. Martina brachte sie in ein freundliches Zimmer mit großen Fenstern, die auf das Meer hinausblickten.

Lucy beschloss, im angrenzenden Badezimmer duschen zu gehen. Es war eine lange Reise gewesen!

Eine halbe Stunde später fühlte sie sich schon etwas besser. Sehr viel besser sogar!

Während sie im Bad gewesen war, hatte Martina anscheinend ihre schmutzige Kleidung mitgenommen. Auf dem Bett lag ein Morgenmantel aus glänzend roter Seide, der über und über mit goldenen Drachen bestickt war. Sie hatte sich nie sonderlich für Kleidung interessiert, doch als sie die Robe anzog, fühlte sich die Seide auf ihrer Haut wundervoll an.

Lucy starrte unentschlossen die Tür an. Dann ging sie zu ihr hinüber und probierte vorsichtig, sie zu öffnen. Sie hatte erwartet, dass sie verschlossen sein würde.

Doch die Tür ging auf.

Erleichterung durchströmte sie. Sie war also nicht eingesperrt. Er hatte es wirklich ernst gemeint, als er gesagt hatte, dass sie sich hier frei bewegen dürfe.

Lucy trat von der Tür zurück. Der Knoten in ihrer Brust hatte sich nun beinahe aufgelöst. Sie drehte sich um, ging zurück zum Bett und legte sich auf die weiße Bettdecke. Sie fühlte sich erschöpft. Ihr Verlangen, hinauszugehen und das Haus zu erkunden, war vorerst verschwunden. Sie schloss die Augen und schlief auf der Stelle ein.

Als sie die Augen wieder öffnete, ging gerade die Sonne unter. Es war sicherlich bald Essenszeit. Sie war hungrig.

Sie schaute nach, ob Martina ihre Kleidung zurückgebracht hatte, doch sie war nicht wieder aufgetaucht. Lucy runzelte die Stirn und zog den Seidenmantel fester um sich. Wie ärgerlich. Nur mit einem Morgenmantel bekleidet, fühlte sie sich irgendwie nackt. Doch da ihr keine andere Wahl blieb, machte sie sich schließlich nur in den Morgenmantel gehüllt auf den Weg zum Abendessen.

Die von uralten Olivenbäumen gesäumte Terrasse sah in der Dämmerung wunderschön aus. Ein Tisch war für das Abendessen eingedeckt.

Lucy starrte verblüfft den Tisch an. Kerzen, eine weiße Tischdecke und schöne Weingläser. Das sah nicht wie ein Tisch aus, der für eine Gefangene gedeckt worden war.

War das sein Werk? Oder das von Martina? Wusste die Haushälterin eigentlich, wer sie war? Vielleicht dachte sie, sie sei seine Freundin oder eine Geliebte …

Eine seltsame Hitze stieg in ihr auf. Verwirrt ging Lucy zu einer niedrigen Steinmauer am Rand der Terrasse. Sie setzte sich auf die Mauer und sah aufs Meer hinaus.

Lucy stellte sich vor, wie es wohl wäre, auf einem Boot zu sein. Der untergehenden Sonne entgegenzufahren und einfach hinter dem Horizont zu verschwinden …

Vielleicht würde sie tatsächlich eines Tages entkommen.

Denkst du wirklich, dass du das verdienst? Deine Mutter ist nicht entkommen. Warum sollte es dir besser ergehen?

Ein Schauer fuhr über ihre Haut.

Dann hörte sie Schritte auf den Steinen hinter sich und drehte sich um. Sie war dankbar für die Ablenkung. Natürlich wusste sie bereits, wer es sein würde.

De Santi.

Er hielt vor dem Tisch an und warf ihr einen kurzen Blick zu.

Er hatte sein Jackett ausgezogen. Sein weißes Hemd war am Hals geöffnet, die Ärmel hochgerollt. Doch er wirkte alles andere als entspannt. Er war bereit für die Schlacht.

De Santi setzte sich und sagte nichts. Das Licht der untergehenden Sonne tauchte sein edel anmutendes Gesicht in Gold. Doch auch das ließ ihn nicht weicher wirken. Ganz im Gegenteil. Das Licht betonte seine dunkle Unbarmherzigkeit noch stärker.

Er machte ihr Angst. Und er faszinierte sie. Er zog sie in seinen Bann. Sie wusste nicht, warum. Sie konnte immer noch nicht verstehen, warum sie einen Mann, der ihr solche Angst machte, immer weiter ansehen wollte. Als würde sie etwas verpassen, wenn sie nur einmal blinzelte.

Ihre Mutter hatte Angst vor Lucys Vater gehabt. Lucy hatte sie gefragt, warum sie nicht von ihm fortgehen und irgendwo anders leben konnten. Ihre Mutter hatte sie nur traurig angesehen und gesagt: „Ich liebe ihn.“

Als sei das Erklärung genug.

Lucy hatte das nie verstanden. Alles, was sie daraus gelernt hatte, war, dass man der Liebe besser aus dem Weg ging. Denn sie bedeutete nur, dass man bei jemandem blieb, der einem wehtat.

„Sei nicht wie ich!“, hatte ihre Mutter ihr immer gesagt. Und doch fühlte Lucy sich plötzlich zu einem gefährlichen Mann hingezogen, genau wie ihre Mutter. Und das machte ihr Angst.

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fixierte sie mit einem geradezu hungrigen Blick. Ihre Wangen wurden heiß. Ihre Atmung war seltsam flach und ihr Herz pochte laut in ihrem Kopf. Was geschah mit ihr?

Du bist deiner Mutter ähnlicher, als du denkst, weißt du?

Lucy zwang sich, von ihm wegzusehen, und richtete ihren Blick wieder aufs Meer. Sie spürte ein ungewohntes Flattern im Bauch. Nein, sie wusste nicht, ob sie wie ihre Mutter war. Dafür wusste sie zu wenig über Männer. Woher auch? Sie war von Männern immer nur bedroht worden. Keiner hatte jemals solche Gefühle in ihr hervorgerufen …

„Kommen Sie zu Tisch“, befahl de Santi kühl. „Jetzt gleich, wenn ich bitten darf.“

Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Miss Lucy Armstrong saß auf dem Steinmäuerchen. Das Licht des Sonnenuntergangs umspielte sie. Es entflammte die scharlachrote Seide ihres Morgenmantels und ließ die Drachen, die darauf gestickt waren, tanzen. Die Farbe ließ ihre Haut wie Porzellan aussehen. Sie musste auch etwas mit ihrem Haar gemacht haben, denn anstatt des matten Dunkelbrauns fielen nun üppige rotbraune Locken ihren Rücken hinab. Aus der kleinen, langweiligen Eule war innerhalb nur weniger Stunden eine Göttin geworden.

Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden.

Als sie von der Mauer aufstand, verrutschte ihr Mantel und offenbarte ein Stück ihrer blassen Schulter. Doch das hatte sie offenbar nicht bemerkt, denn sie zog den Stoff nicht zurück. Sie kam zum Tisch herüber und setzte sich. Durch die Bewegung rutschte der Stoff noch ein Stück weiter hinab. Er konnte nun deutlich sehen, dass sie keinen BH trug.

Das war auch kein Wunder. Bis auf dieses schreckliche Kleid, das sie getragen hatte, als sie in sein Büro gekommen war, hatte sie keine Kleidung dabei. Er hatte Kleidung für sie bestellen lassen, aber sie war noch nicht angekommen.

Er wunderte sich immer noch darüber, dass er sie hierhergebracht hatte. Eigentlich wäre der palazzo, der Familiensitz der de Santis auf dem Festland, ein viel besserer Ort für eine Gefangene gewesen. Er ähnelte einer mittelalterlichen Festung und dort wäre sie sicher aufgehoben gewesen. Doch dieser Ort hätte ihr mit seinen alten Mauern und den dunklen Räumen gewiss Angst eingejagt. Die Villa war heller und luftiger. Außerdem war Capri eine Insel. Lucy würde von hier nicht so leicht entkommen können.

Das waren alles sehr gute Gründe dafür, dass er sie hergebracht hatte. Und doch konnte er nur daran denken, dass sie in dem Haus in Cornwall zwar die Wellen hören konnte, aber noch nie das Meer gesehen hatte.

Wirst du vielleicht weich?

Nein, natürlich nicht. Er würde niemals weich werden. Er brauchte sie, brauchte die Informationen in ihrem Kopf. Und daher durfte sie keine Angst vor ihm haben. Das war alles. Er musste dafür sorgen, dass sie sich entspannte. Und wer weiß? Vielleicht konnte er sogar ihr Vertrauen gewinnen.

Lucy Armstrong starrte auf ihren Teller und zupfte immer wieder an ihrer Seidenrobe. Er machte sie nervös, soviel war klar. Als er sie vorhin angesehen hatte, war sie rot geworden und hatte seinen Blick gemieden. Als könnte auch sie die plötzliche Spannung spüren, die zwischen ihnen in der Luft lag.

Lag da etwas in der Luft?

Vincenzo biss die Zähne zusammen und versuchte, diesen Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Zum Glück kam Martina mit dem Essen auf die Terrasse. Sie tischte das Essen auf, schenkte Wein ein und ging dann wieder ins Haus.

Er konnte seinen Blick immer noch nicht von Lucys blasser, unbedeckter Schulter abwenden. Als Lucy nach einem Stück Brot griff, rutschte ihr Mantel noch ein Stück tiefer. Das war zu viel des Guten. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

Sie sah überrascht zu ihm auf. Wahrscheinlich sollte er das nicht tun, aber er konnte sich nicht zurückhalten. Er ging um den Tisch herum und stellte sich neben ihren Stuhl. Dann hob er den heruntergerutschten Stoff der Robe sanft an und zog ihn wieder über ihre Schulter. Ein besserer Mann als er hätte sie nicht berührt. Aber ein solcher Mann war er nicht. Also ließ er seine Finger flüchtig über ihre nackte Haut streichen. Sie war warm und sogar noch weicher als die Seide ihrer Robe.

Ihre Augen weiteten sich und ihr zarter Mund öffnete sich leicht. Röte stieg ihr ins Gesicht. Gänsehaut erhob sich auf ihren Armen.

Es wäre so einfach, die Seide herunterzuziehen anstatt hoch. Freizulegen, anstatt zu bedecken. Die Kurven zu inspizieren, die er gespürt hatte, als sie in seinem Büro in seinen Armen gelegen hatte.

Sie starrte ihn an. Er konnte Angst in ihren Augen lesen. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das er auch in den Augen anderer Frauen gesehen hatte.

Sie fühlte sich zu ihm hingezogen.

Vielleicht konnte er seinen Vorteil daraus ziehen?

Doch so schnell ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, so schnell verwarf er ihn auch wieder. Das wäre etwas, was seine Mutter getan hätte, und dazu würde er sich niemals herablassen. Er würde Verführung nicht als Waffe benutzen!

Vincenzo ging zurück zu seinem Stuhl und ignorierte die Signale seines Körpers.

Vielleicht hatte sie ihre Robe auch mit Absicht verrutschen lassen. Doch ein Blick in ihr Gesicht verriet ihm, dass das nicht sein konnte. An ihr schien nichts Falsches dran zu sein. Das war eine sehr seltene Eigenschaft für eine Kriminelle.

„Warum haben Sie das gemacht?“, fragte sie mit leicht heiserer Stimme.

Er ignorierte ihre Frage. „Ich habe Kleidung für Sie bestellt. Sie sollte morgen ankommen. In der Zwischenzeit müssen Sie sich mit diesem Morgenmantel begnügen.“

Diese gewisse Chemie zwischen ihnen verunsicherte sie offenbar. Interessant. Vielleicht hatte sie keinerlei Erfahrung mit Männern. Das würde ihn nicht wundern, schließlich hatte ihr Vater sie wie eine Gefangene behandelt.

„Warum tun Sie das?“, wollte sie nach einer Weile wissen. „Die Kerzen und das Essen. Dieses schöne Haus.“

„Wie meinen Sie das?“

Sie runzelte die Stirn. „Ich bin eine Gefangene. Eine Kriminelle. Und doch stehen Kerzen auf dem Tisch.“

„Ich sagte Ihnen bereits, dass ich Sie nicht in eine Zelle stecken würde.“ Er nippte an seinem Wein. „Die Kerzen waren Martinas Idee.“

Waren sie nicht. Es war seine Idee gewesen. Er hatte sich Sorgen gemacht, dass sie wieder einen Panikanfall bekommen könnte, wenn es draußen dunkel wurde. Aber das würde er vor ihr nicht sagen. „Gefällt es Ihnen nicht?“

„O doch. Es ist wunderschön. Ich dachte nur …“ Sie unterbrach sich und zuckte dann mit den Schultern.

Vielleicht war es Zeit, das Thema zu wechseln. „Sind Sie schon bereit, mir jetzt einige Informationen zu geben?“

„Gibt es deswegen Kerzen und gutes Essen? Wollen Sie mich bestechen, damit ich Ihnen jetzt schon gebe, was Sie haben wollen?“

Ärger keimte in ihm auf. Sie hatte recht. Er hatte ihr eine Woche versprochen. „Nein. Ich besteche Sie nicht. Sie werden mir ohnehin geben, was ich haben will. Wir haben eine Vereinbarung getroffen.“

Sie nippte an ihrem Wein und blickte ihn finster an. „Warum ist es Ihnen eigentlich so wichtig, meinen Vater zu Fall zu bringen? Hat er jemandem etwas angetan, den Sie kennen?“

„Er ist ein Mörder, civetta, falls Sie das noch nicht wussten. Das ist der einzige Grund, den ich brauche.“

Ein düsterer Ausdruck, den er nicht recht deuten konnte, huschte über ihr Gesicht. „Oh, ich weiß, was er ist, glauben Sie mir. Aber liegt es an ihm persönlich? Oder ist es einfach nur die Tatsache, dass er ein Verbrecher ist?“ Sie sah ihn neugierig an. „Warum überlassen Sie das nicht der Polizei?“

Erwartete sie wirklich, dass er ihr seine Gründe nannte? Dass er sich vor ihr rechtfertigte? Da konnte sie lange warten. Er musste sich vor niemandem rechtfertigen!

Es gab natürlich Gerüchte über ihn. Doch die Wahrheit ging niemanden etwas an! Niemand musste wissen, dass Vincenzos Mutter ihn manipuliert und seine Liebe für sie gegen ihn eingesetzt hatte.

Er war durch und durch der Ihre gewesen. Ihr perfekter Junge. Ihr Werkzeug. Es herrschte Krieg, hatte sie ihm gesagt. Die Familie de Santi hatte Feinde, vor denen sie sich verteidigen musste. Alles Lügen. Lügen, die er nicht als solche erkannt hatte, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, der auserwählte Prinz der Familie de Santi zu sein.

Du wusstest es. Tief in deinem Innern hast du es immer gewusst.

Manchmal lag er nachts wach und ging im Kopf immer und immer wieder seine Erinnerungen an seine Mutter durch und suchte nach Anzeichen, die er irgendwie übersehen hatte. Anzeichen, die er hätte bemerken müssen – ein grausames Glitzern in ihren Augen oder ein verräterischer Gesichtsausdruck. Etwas, das ihm verraten hätte, dass all ihre Geschichten über Kriege und Soldaten Lügen waren.

Aber es hatte keine Anzeichen gegeben. Seine Mutter hatte ihre Lügen perfektioniert. Er hatte voll und ganz unter ihrem Bann gestanden. Von dieser Schuld würde er sich niemals freisprechen können. Jetzt konnte er nur noch alles daransetzen, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen.

Doch auch das konnte er ihr nicht sagen.

„Ich überlasse es ja der Polizei. Ich liefere ihr nur die Beweise, die sie braucht.“

„Aber ist das Sammeln von Beweisen nicht auch deren Job?“

Ärger kochte in ihm hoch. Es gefiel ihm nicht, wie sie ihn ausfragte. „Die Polizei übersieht so manches. Und sie hat nicht die Ressourcen, die ich habe. Manchmal ist die Polizei auch korrupt. Sie wird von jenen, die sie eigentlich hinter Gitter bringen soll, bestochen.“

„Sie vertrauen der Polizei nicht?“

„Man sollte niemandem vertrauen.“

„Niemandem außer Ihnen?“

Vincenzo bemühte sich, gelassen zu bleiben. Er musterte die Frau, die ihm gegenübersaß.

In ihrem Blick lag nichts als Neugier. Sie machte auch nicht den Eindruck, als wolle sie ihn herausfordern. Sie hatte seine Verärgerung nicht bemerkt.

„Höflichkeit ist wirklich nicht Ihre Stärke, oder?“, bemerkte er, um das Gespräch wieder auf sie zu lenken.

Ihr Augen weiteten sich überrascht. „Ist es falsch, Fragen zu stellen?“

„Sie sind meine Gefangene, civetta. Und einer Gefangenen steht es nicht zu, so viele Fragen zu stellen.“

Die Röte auf ihren Wangen verlieh ihr einen rosigen Teint. Sie war wirklich hübsch, jetzt wo er darüber nachdachte. Und das war alles andere als hilfreich.

„Nein, ich nehme an, da haben Sie recht. Die Pferde sind wohl mit mir durchgegangen. Ich habe nicht oft die Gelegenheit, mit Menschen zu sprechen.“

„Warum nicht?“, fragte er. Wenn Lucy Armstrong Fragen stellen konnte, konnte er das schon lange.

Sie antwortete nicht gleich, sondern blickte mit zusammengesunkenen Schultern zu Boden.

Das war offenbar ein wunder Punkt. Kein Wunder. Ihr Vater hatte sie in einen dunklen Keller gesperrt. Wozu war er noch fähig?

Das seltsame Gefühl, das er verspürt hatte, als er ihren zitternden Körper in den Armen gehalten hatte, machte sich wieder bemerkbar. Seine Brust war wie zusammengeschnürt. Wahrscheinlich sollte er dieses Thema einfach auf sich beruhen lassen. Er sollte einfach vom Tisch aufstehen und sie allein lassen. Aber irgendetwas brachte ihn dazu, sitzen zu bleiben. Sie sah klein und verletzlich aus. Und sehr, sehr einsam.

„Er hat Sie gefangen gehalten, nicht wahr?“

Autor

Cathy Williams
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