Julia Extra Band 513

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EIN PALAZZO FÜR UNSERE LIEBE von JULIA JAMES
Wie Cinderella fühlt die junge Nanny Jenna sich, als ihr faszinierender Boss Evandro Rocceforte sie zu einer Liebesnacht in seinem italienischen Palazzo verführt. Doch traurig muss sie erkennen: Bevor Evandro sich nicht der Vergangenheit stellt, gibt es kein Happy End für sie …

BLOSS EINE KÖNIGLICHE AFFÄRE? von DANI COLLINS
König Luca verlangt von PR-Beraterin Amy, ihn in eine skandalöse Affäre zu verwickeln. Natürlich nur zum Schein, um so dem ungeliebten Thron entsagen zu können! Doch dann verfällt er tatsächlich Amys unwiderstehlichem Sex-Appeal – und riskiert bald viel mehr als nur seinen Ruf …

DAS MODEL UND DER PLAYBOY von CAITLIN CREWS
Molly würde alles tun, um ihre geliebte Mutter vor dem Ruin zu retten. Wirklich alles? Wenn sie das unmoralische Hilfsangebot des attraktiven griechischen Playboys Constantine Skalas annimmt, muss sie ihm Tag und Nacht als seine Geliebte zur Verfügung stehen! Was jetzt?

WAS VERBIRGST DU, MEIN GRIECHISCHER GELIEBTER? von SHARON KENDRICK
Am Strand begegnet Hotelmitarbeiterin Marnie dem charmanten Leon. Vom ersten Moment an lässt der geheimnisvolle Grieche ihr Herz höherschlagen. Doch kaum hat sie sich ihm nach einem romantischen Dinner hingegeben, straft er sie jäh mit Verachtung …


  • Erscheinungstag 01.02.2022
  • Bandnummer 513
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512053
  • Seitenanzahl 450
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julia James, Dani Collins, Caitlin Crews, Sharon Kendrick

JULIA EXTRA BAND 513

JULIA JAMES

Ein Palazzo für unsere Liebe

Zwischen der hübschen Jenna und Unternehmer Evandro knistert es so erregend, dass er sie spontan verführt – aber nur zu einer Affäre! Denn der Liebe hat er seit seiner Scheidung abgeschworen …

DANI COLLINS

Bloß eine königliche Affäre?

Sie soll seinen Ruf ruinieren? PR-Beraterin Amy tut, was ihr Klient König Luca von ihr verlangt, und spielt seine Geliebte. Ohne zu ahnen, dass neben ihrem Ruf auch ihr Herz bald auf dem Spiel steht …

CAITLIN CREWS

Das Model und der Playboy

Playboy Constantine Skalas verführt Supermodel Molly nur aus Rache! Doch er hat nicht damit gerechnet, dass sie außer heißem Verlangen auch eine nie gekannte verzehrende Sehnsucht in ihm entfacht …

SHARON KENDRICK

Was verbirgst du, mein griechischer Geliebter?

Die sinnlichen Reize der süßen Engländerin Marnie verlocken Milliardär Leonidas Kanonidou zu einer ungezügelten Nacht der Leidenschaft. Danach muss er feststellen, dass er einen Fehler gemacht hat …

1. KAPITEL

Jenna starrte auf den Brief in ihrer Hand. Er war auf exquisites Papier gedruckt und trug die Unterschrift des Assistenten von Signor Evandro Rocceforte, dem Chef von Rocceforte Industriale SpA in Turin. Angespannt las Jenna das Angebot noch einmal durch, das eine merkwürdige Mischung aus Angst und Genugtuung in ihr auslöste.

Dieselben widersprüchlichen Gefühle hatte sie an dem Tag vor acht Jahren gehabt, als sie die feste Zusage auf ihre Bewerbung um einen Studienplatz in neueren Sprachen erhalten hatte. Ihr Abschluss hatte bewiesen, dass Jenna zu Recht an sich glaubte, ebenso wie ihre danach erreichte Lehrberechtigung. Außerdem hatte sie die letzten vier harten Jahre an einer übergroßen, aber gnadenlos unterbesetzten Grundschule in einem sozial benachteiligten Stadtteil Londons überlebt.

Jetzt war Jenna definitiv bereit für eine Abwechslung! Sie hatte noch nie zuvor als Privatlehrerin für ein siebenjähriges Mädchen gearbeitet. Und in einem italienischen Palazzo hatte sie auch noch nie gewohnt!

Langsam spürte Jenna Vorfreude in sich aufsteigen. Sie war nicht extrovertiert oder charismatisch – und sicher keine große Schönheit. Sie wusste und hatte akzeptiert, dass sie eine Person war, die einen Raum betreten konnte, ohne dass es jemand bemerkte. Aber das würde bei diesem Sommerjob als Privatlehrerin ebenso wenig eine Rolle spielen wie an der Schule, an der sie bisher unterrichtet hatte.

Entschlossen setzte sich Jenna an ihre Tastatur und begann, ihre Zusage zu tippen.

Evandro Rocceforte blickte auf seinen Computerbildschirm, aber er war mit seinen Gedanken nicht bei den Firmenkonten, sondern bei dem jüngsten Gespräch mit seinem Anwalt. Der Jurist war immer noch nicht einverstanden mit der hohen Abfindung, die Evandro seiner Ex-frau zugestanden hatte.

Während des erbitterten, langwierigen Scheidungsverfahrens hatte Berenice mit harten Bandagen gekämpft. Einzig und allein, um ihn zu bestrafen. Nicht nur dafür, dass er es wagte, sich von ihr scheiden zu lassen, sondern auch wegen eines noch größeren Verbrechens.

Dafür, dass er sie durchschaut hatte.

Dafür, dass er den Glamour durchschaut hatte und das glanzvolle Charisma, das sie der Welt zeigte. Ein Charisma, das auch Evandro früher geblendet hatte! Bis er, desillusioniert und verhärtet, nicht zuletzt durch ihre ständigen Seitensprünge, Berenice als die Frau gesehen hatte, die sie wirklich war: selbstsüchtig, manipulativ, narzisstisch.

Eine Frau, die nach dem Motto lebte: ich, ich, ich.

Jeder Mann auf der Welt sollte sie bewundern, auf ihre Launen eingehen, tun, was sie wollte. Früher einmal war er solch ein Mann gewesen – solch ein Idiot.

Aber das war nun vorbei.

Natürlich hatte Berenice alles versucht, um ihn zurückzulocken. Als sie jedoch erkennen musste, dass ihr Charme nicht mehr bei ihm verfing, war sie rasend vor Wut geworden. Und als er schließlich auf die Scheidung gedrängt hatte, war Berenice dazu übergegangen, alle Waffen, die ihr zur Verfügung standen, gegen Evandro einzusetzen.

Einschließlich der stärksten von allen.

Der trostlose Ausdruck in Evandros schiefergrauen Augen wurde härter. Seitdem sie Amelie zur Welt gebracht hatte, hatte Berenice das Kind als Waffe gegen ihn benutzt, und jetzt hatte sie ihn zu einem mörderischen Sorgerechtsstreit mit allen Tricks gezwungen.

Aber Evandro hatte hart zurückgeschlagen, weil dies ein Streit war, den er gewinnen musste. Er musste Amelie vor ihrer toxischen Mutter schützen, die ihre eigene Tochter ebenso wenig lieben konnte wie irgendeinen anderen Menschen, der nicht sie selbst war. Es hatte ihn ein Vermögen gekostet, zusätzlich zur Abfindung, aber Berenice hatte schließlich eingewilligt, ihm Amelie zu überlassen, unter einer weiteren Bedingung …

An diese letzte Bedingung, die Berenice ihm dafür auferlegt hatte, dass er das Sorgerecht für Amelie bekam, wollte er nicht denken. Berenice würde niemals einen Grund finden, ihre Drohung wahr zu machen. Das würde er sicherstellen.

Seit seine Scheidung endlich durch war, hatte er seine schwer erkämpfte Freiheit ausgiebig gefeiert. Seine heiße Affäre im vergangenen Winter mit der kurvenreichen Bianca Ingrani war der Beweis dafür. Bianca – und jede von den anderen Frauen – wäre nur zu gern die nächste Signora Rocceforte geworden. Und warum nicht? Er war seit Kurzem einer der begehrtesten Singles Italiens, megareich, Mitte dreißig und mit einem auffallend guten Aussehen, das schon immer weibliche Blicke auf sich gezogen hatte.

Aber eine Affäre war alles, was Bianca oder irgendeine andere Frau jemals von Evandro bekommen würde.

Der Einwand seines Anwalts gegen den letzten Preis, den Berenice ihm abgerungen hatte, hallte wieder in seinem Kopf, doch Evandro verdrängte das Problem. Es würde niemals eine Rolle spielen, er würde es nicht zulassen.

Mit Bianca hatte er nur Feiern, Ablenkung und sinnlichen Genuss gesucht. Evandro atmete tief ein. Im Brennpunkt seines Lebens stand jetzt etwas anderes. Etwas viel Wichtigeres. Jemand viel Wichtigeres.

Amelie. Das Kind, für das er so unermüdlich gekämpft hatte.

Seine Stimmung verdüsterte sich wieder. Was verstand er eigentlich davon, Vater zu sein? Berenice hatte Amelie bei sich im Ausland behalten und seinen Kontakt mit seiner Tochter auf ein Minimum beschränkt, bis sie schließlich das Sorgerecht abgetreten hatte.

Er würde bei Amelie sein Bestes tun, wie fremd auch immer er ihr war. Seine Tochter war heil in Italien angekommen und in dem ruhigen Palazzo untergebracht, der von jetzt an ihr Zuhause war. Ihre Zukunft sah gut aus.

Nur das zählte.

„Mach die Rechenaufgaben fertig, und dann wird es Zeit fürs Mittagessen“, sagte Jenna freundlich, aber bestimmt zu ihrer Schülerin.

Im Unterricht sprach sie Englisch, wie sie bei ihrer Einstellung gebeten worden war, aber sonst redete sie entweder Französisch oder Italienisch. Ihr Schützling war dreisprachig aufgewachsen, und Jenna wusste, dass sie diesen Job nur bekommen hatte, weil sie selbst alle drei Sprachen perfekt beherrschte – und außerdem Erfahrung als Grundschullehrerin hatte.

Nicht, dass ihre Schülerin versessen auf den Unterricht war. Amelie dazu zu bringen, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren, war eine Herausforderung. Aber das war keine Überraschung.

Erst vor Kurzem war das Mädchen nach Italien gebracht worden, um bei ihrem frisch geschiedenen Vater zu leben, den sie bis jetzt sehr selten gesehen hatte. Und davor war das arme Ding von seiner Schickeria-Mutter sein ganzes Leben lang quer durch Europa und Amerika geschleppt worden. Sie hatten in Luxushotelsuiten gewohnt oder vorübergehend als Gäste in Villen und Ferienhäusern von Beverly Hills bis zu den Hamptons und Südfrankreich, ständig unterwegs. Amelie hatte nie Stabilität oder ein traditionelles Familienleben kennengelernt.

Jenna hatte gehört, dass das kleine Mädchen bestenfalls wie eine elegant gekleidete Puppe behandelt wurde, mit der ihre Mutter vor gurrenden Bekannten angab. Wenn Amelie nicht nützlich war, wurde sie einer endlosen Reihe von Kindermädchen und Hausmädchen übergeben, oft für Tage oder sogar Wochen, während sich ihre Mutter woandershin davonmachte. Unvermeidlich hatte Amelies Bildung gelitten, und Jenna hatte den Auftrag, sie darauf vorzubereiten, im Herbst eingeschult zu werden.

Jenna sah zu den Schiebefenstern des großen Raums, der als Klassenzimmer bestimmt worden war, und blickte hinaus über die Gartenanlage, üppig grün in der Frühsommersonne. Es musste doch wohl helfen, dass das kleine Mädchen hier in diesem schönen Palazzo endlich ein stabiles Familienleben haben konnte.

Bei ihrer Ankunft vor drei Wochen war Jenna sofort von dem prachtvollen Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert bezaubert gewesen. Gebaut als Landsitz für eine inzwischen erloschene Adelsfamilie, war der Palazzo traumhaft schön.

Was für ein unglaubliches Glück ich hatte, diesen Job zu bekommen! dachte Jenna dankbar. Und weil ihr Vertrag nur bis zum Herbst galt, würde sie jede Minute hier auskosten.

Ihre Gedanken kehrten zu ihrer Schülerin zurück, deren blonder Kopf jetzt über ihre Arbeit gebeugt war. Jenna fragte sich, wem die Kleine nachschlug. Sie hatte ein Foto von Amelies Mutter gesehen, das auf dem Toilettentisch des Mädchens stand. Sie sah so glamourös aus, wie es eine High-Society-Frau tun sollte, die etwas auf sich hielt, aber abgesehen von der Gesichtsform und ihren braunen Augen gab es wenig Ähnlichkeit. Amelies Mutter war dunkelhaarig. Hatte das Mädchen das blonde Haar von ihrem Vater?

Nach dem, was Jenna von der Haushälterin Signora Farrafacci, einer Engländerin, die einen Italiener geheiratet hatte, erfahren hatte, stammte Amelies reicher Vater aus einer angesehenen norditalienischen Familie.

„Wird Amelies Vater auch hier wohnen?“, hatte Jenna gefragt, weil seit ihrer Ankunft noch nichts von ihm zu sehen gewesen war. Sie hoffte, dass Amelie nicht einfach von einem abwesenden Elternteil zum anderen geschoben worden war.

Jenna wusste aus Erfahrung, dass Kinder von geschiedenen Eltern nur allzu oft die Leidtragenden waren. Mit am schlimmsten war das Gefühl, keinem wichtig zu sein und den Eltern nur noch zur Last zu fallen Unsichtbar gemacht zu werden.

So, wie es mir passierte …

Sie wollte nicht, dass das Amelies Schicksal war.

„Signor Rocceforte kommt gern zu Besuch, wann immer er kann, aber er hat viel zu tun. Er ist einer der größten Industriellen Italiens!“, hatte die Haushälterin stolz erwidert. „Deshalb ist seine Ankunft nie vorhersehbar. Ich halte alles in gutem Zustand, und es wäre klug von Ihnen, zu berücksichtigen, dass er jederzeit ankommen kann. Er ist ein guter Arbeitgeber, aber er hat keine Geduld mit nachlässigen Leuten. Er wird sehen wollen, was für Fortschritte die kleine Signorina macht.“

Als sie jetzt Amelies Arbeit prüfte, hoffte Jenna, dass ihr Arbeitgeber einsehen würde, dass Mathematik einfach nicht das beste Fach seiner Tochter war …

„Je mehr Rechenaufgaben du löst, desto leichter werden sie“, ermutigte Jenna sie.

„Aber ich habe keine Lust dazu!“, erwiderte Amelie gereizt. „Maman tut niemals irgendetwas, wozu sie keine Lust hat. Sie wird wütend, wenn jemand sie zwingen will. Sie wirft mit Gegenständen! Sie hat mit einem Schuh nach einem Hausmädchen geworfen, weil es ihr den falschen Schal gebracht hatte. Der Absatz war spitz, und die Wange des Hausmädchens hat geblutet. Es ist hinausgerannt, und das hat maman noch wütender gemacht, und sie hat geschrien, dass das Hausmädchen zurückkommen soll. Dann hat sie mich aus ihrem Schlafzimmer geschickt. Sie hat gesagt, ich mache alles noch schlimmer …“

Amelie wurde immer leiser, bis sie verstummte. Sie sah tief unglücklich aus. Mitleid und schmerzende Erinnerungen schnürten Jenna das Herz zu. Erinnerungen an die Ehefrau ihres Vaters, die sie anfuhr, sie solle nicht stören, sie solle aufhören, zu nerven …

„Meinen Sie, mein papà wird auch so schnell wütend auf mich?“, fragte Amelie ängstlich.

„Ganz bestimmt nicht“, sagte Jenna und hoffte, dass es stimmte.

Nach einer reizbaren und launenhaften Mutter war ein Vater, der sie kritisierte, das Letzte, was Amelie gebrauchen konnte.

Jenna legte Amelies Schularbeiten beiseite, und sie gingen gemeinsam nach unten, um zu Mittag zu essen. Wie immer, wenn schönes Wetter war, aßen sie draußen auf der breiten Terrasse. Jenna sah das kleine Mädchen, das sich einen appetitlichen Geflügelsalat schmecken ließ, mit wachsender Zuneigung an.

Sie erkannte so viel von sich selbst in dem Kind. Aus der gewohnten Umgebung herausgerissen, ängstlich und unsicher. Von niemandem erwünscht. Zu einer einsamen Kindheit verdammt. Jenna wollte das für Amelie nicht.

Aber das lag an dem noch immer abwesenden Vater des Mädchens.

Würde er bald nach Hause kommen?

Keiner schien es zu wissen.

Evandro konnte es kaum erwarten, zu landen. Sein überfüllter Terminplan hatte ihn durch ganz Europa geführt. Er hatte verschiedene Millionenprojekte überprüft und über neue mögliche Bauvorhaben verhandelt.

Er hatte eine Geschäftsreise von drei Monaten in drei Wochen gestopft, um seinen Terminkalender freizuräumen und sich in die Lage zu versetzen, zum Palazzo zu fahren. Um das kleine Mädchen zu sehen, das er endlich seiner lieblosen Mutter entzogen hatte. Um ihm ein besseres Leben zu bieten.

Er würde eine gute Beziehung zu Amelie aufbauen, selbst wenn er es von Grund auf lernen musste. Er würde sie vor der dunklen Seite ihrer Mutter beschützen, sie immer beschützen, was auch immer es erforderte.

Plötzlich fiel ihm wieder die Warnung seines Anwalts ein.

„Sind Ihnen die Auswirkungen klar, die die letzte Bedingung Ihrer Ex-Frau haben wird?“, hatte er gefragt.

Evandro hatte ihm in die Augen geblickt. „Sie werden keine Rolle spielen“, hatte er kurz angebunden erwidert. Dann hatte er den Mund verzogen und hinzugefügt: „Nicht, nachdem ich endlich einer zehnjährigen höllischen Ehe entkommen bin. Nein, an erster Stelle steht jetzt Amelie.“

Das Flugzeug setzte auf, und Minuten später war er auf dem Weg zu seinem Büro. Er hatte noch ein paar unbedingt notwendige Debriefings hinter sich zu bringen, bevor er zu seinem Apartment fahren und für den Palazzo packen konnte. Dann würde er die Autostrada nach Süden nehmen.

Zu Amelie.

Jenna blickte hoch zum Himmel, der vom Regen früher an diesem Tag noch bewölkt war. Es dämmerte schon, aber dies war heute ihre erste Gelegenheit, an die frische Luft zu kommen, und sie wollte sie nicht auslassen. Amelie hatte sich entschieden, drinnen zu bleiben. Sie spielte Karten mit der Haushälterin und den beiden Hausmädchen Maria und Loretta.

Ihr Spaziergang führte Jenna den Waldweg entlang, der am oberen Ende der Privatstraße zum Palazzo herauskam, die sich von der öffentlichen Landstraße einen Kilometer bergauf schlängelte. Weiter unten würde ihr ein anderer Weg erlauben, wieder nach oben zum großen Vordereingang des Palazzo zu laufen.

Auf der Strecke nach unten machte die schmale Straße einen Knick um eine Felsnase, und Jenna sah erschrocken, dass es einen Steinschlag gegeben hatte. Schweres Geröll und große Felsbrocken lagen auf der Straße. Jenna vermutete, dass sich durch den starken Regen die Erde am Hang gelöst hatte.

Sie erkannte, dass der Steinschlag gefährlich war. Jeder Fahrer, der sich von der öffentlichen Landstraße näherte, würde ihn erst sehen, wenn er um die Felsnase bog. Dann konnte er nur noch voll dagegenprallen oder zur anderen Seite ausweichen, wo es steil nach unten ins Tal ging.

Plötzlich hörte Jenna ein Auto, das von der Landstraße abbog, mit einem dumpfen Grollen beschleunigte und bergauf donnerte. Es würde im Nu die Felsnase erreichen und die Felsbrocken treffen.

Jenna rannte vorwärts, kletterte über die großen Steine hinweg und umrundete die Felsnase. Es wurde schnell dunkel, und der Fahrer hatte die Scheinwerfer an. Schon erfassten sie Jenna, die wagemutig auf die Straße lief und warnend mit ihren Armen winkte. Eine Sekunde lang hatte sie Todesangst, dann kam das Auto – irgendein flaches Monster von einem Luxusauto – quietschend zum Stehen.

Der Motor ging aus, aber Jenna konnte sich vor Angst nicht rühren. Dann stieg jemand aus und knallte wütend die Fahrertür zu.

Ebenso wütend schrie er Jenna auf Italienisch an. „Idiotin! Was zum Teufel fällt Ihnen ein, mitten auf die Straße zu laufen? Ich hätte Sie totfahren können!“

Er ragte über ihr auf, das grelle Scheinwerferlicht ließ sein markantes Gesicht hervortreten. Sein anthrazitfarbener Anzug umhüllte breite Schultern und lange Beine, der erstklassige Schnitt zusammen mit der grauen Seidenkrawatte und der goldenen Krawattennadel verriet ihr genauso klar wie das teure Auto, dass dieser zornige Mann nur einer sein konnte: Evandro Rocceforte.

2. KAPITEL

Jenna verlor den Mut. Dann fing sie sich wieder und hob das Kinn.

„Mi dispiace!“ Sie klang atemlos und zittrig, aber sie machte weiter. „Ich musste Sie aufhalten!“ Dann kehrte sie instinktiv zur englischen Sprache zurück. „Gleich um die Felsnase hat es einen Steinschlag gegeben.“

Ihr Arbeitgeber runzelte die Stirn. Ohne ein Wort ging er an ihr vorbei, um sich selbst davon zu überzeugen.

Als er zurückkam, war seine Miene nicht mehr wütend, blieb jedoch düster.

Jennas erster überwältigender Eindruck, dass er ein Mann mit einer ungeheuer starken Ausstrahlung war, hatte sich kein bisschen abgeschwächt. Wie groß er war! Und wie kräftig er wirkte!

„So ein Mist“, sagte er ärgerlich. Er ging zu seinem Auto, um die Scheinwerfer auszuschalten, dann holte er sein Telefon heraus und sprach so schnell auf Italienisch hinein, dass Jenna nicht folgen konnte. Er legte auf, steckte das Telefon zurück in die Innentasche seines Jacketts und sah wieder zu ihr hinüber. „Wer sind Sie eigentlich?“, wollte er wissen. Als es ihm klar wurde, beantwortete er seine Frage selbst. „Ah, natürlich, die Lehrerin aus England.“ Er lachte kurz auf. „Sie sehen eher aus wie eine Waldnymphe, die bei Einbruch der Dunkelheit mit der Landschaft verschmilzt.“

Dann schlug Jennas Arbeitgeber einen energischen Ton an. „Gehen Sie zurück zum Palazzo! Passen Sie unterwegs auf. Man kommt gleich hinunter, um mich abzuholen und die Einfahrt zur Privatstraße zu sperren, damit niemand sonst hier sein Leben riskiert. Morgen früh wird der Steinschlag dann weggeräumt.“

Jenna beobachtete, wie er den Kofferraum aufmachte und Gepäck heraushob. Dann dachte sie an seinen Befehl – weil es mit Sicherheit ein Befehl war –, und ging um die Felsnase herum. Vorsichtig kletterte sie über den Steinschlag, um auf den Waldweg zurück zum Palazzo zu gelangen.

Ihre Gedanken rasten.

Das war also Amelies Vater. Er hatte sie angeschrien und ihr Befehle erteilt, und er sah vom Scheitel bis zur Sohle aus wie ein reicher, mächtiger Industrieboss und Besitzer eines historischen Palazzo. Aber in seinem Ton hatte etwas anderes mitgeschwungen. Dieser spöttische Humor, als er sie mit einer Waldnymphe verglichen hatte …

Das war doch sicherlich untypisch?

Aber es war nicht sein Charakter, der ihre Gedanken beherrschte, als Jenna die weitläufigen Gärten an der Rückseite des Palazzo erreichte. Es waren seine Größe, sein muskulöser Körper, die markanten Gesichtszüge und die tiefe, faszinierende Stimme, die sich in ihr Bewusstsein einbrannten.

Als sie hineinkam, summte der Palazzo wegen der Ankunft seines Besitzers wie ein Bienenstock. Die Angestellten liefen geschäftig hin und her, und Signora Farrafacci blieb nur kurz stehen, um Jenna zu informieren, dass Amelie mit ihrem Vater zu Abend essen sollte und man Jenna das Abendessen später nach oben bringen würde.

Dankbar zog sich Jenna in die große, luxuriös ausgestattete Suite zurück, die ihr in einem der oberen Stockwerke des Palazzo zugewiesen worden war. Eine Verbindungstür verband ihr Wohnzimmer mit einem Ankleideraum, der als Amelies Spielzimmer eingerichtet war, das wiederum ins Schlafzimmer des Mädchens führte.

Jenna schob das Fenster in ihrem Wohnzimmer hoch, stützte die Ellbogen auf die Fensterbank und atmete die weiche, milde Luft ein, die nach dem Geißblatt duftete, das darunter wuchs. Es war jetzt völlig dunkel, und sie hörte im Wald hinter den Gärten Eulen schreien.

Vor ihrem geistigen Auge spielte sich ihre aufregende Begegnung mit dem Vater ihres Schützlings noch einmal sehr anschaulich ab. Und nicht nur wegen der Gefahr, die sie heraufbeschworen und zugleich abgewendet hatte, indem sie spontan auf die Straße gelaufen war, um Evandro Rocceforte vor dem Steinschlag zu warnen. Vor ihrem geistigen Auge tauchte immer wieder die imposante Gestalt ihres Arbeitgebers auf. Auch war ihr, als hörte sie noch einmal, wie er sie angeschrien hatte, weil sie ihm vors Auto gelaufen war.

Jenna hob trotzig das Kinn.

Wenn sie es nicht getan hätte, würden sowohl er als auch sein teures Auto jetzt zerschmettert unten im Tal liegen.

Sie ging in ihr Schlafzimmer und beschloss, ein Bad zu nehmen, während sie auf ihr Abendessen wartete. Als sie sich ins Wasser sinken ließ, spielte sie in Gedanken schon wieder diese Begegnung mit ihrem Arbeitgeber durch. Dass er sie beiläufig mit einer Waldnymphe verglichen hatte, wollte Jenna einfach nicht aus dem Kopf kriegen.

Sie so zu beschreiben war ebenso fantasievoll wie unglaubwürdig. Nymphen waren elfenhaft und schön. Jenna war alles andere als das. Sie war mittelgroß, zierlich und hatte mittellange Haare, die immer zu einem ordentlichen Zopf geflochten wurden. Ihre Kleidung wählte sie danach aus, ob sie praktisch und bequem war. Ihr unscheinbares Aussehen war das Gegenteil von einem Blickfang, und sie gab sich mit Make-up nicht ab. Im Klassenzimmer brauchte sie keins, und ihr gesellschaftliches Leben beschränkte sich hauptsächlich auf Schulveranstaltungen mit ihren Kollegen.

Also nein, sie war überhaupt nicht wie eine Waldnymphe. Was in aller Welt hatte Evandro Rocceforte dazu gebracht, so etwas zu sagen?

Jenna glitt tiefer ins warme Wasser und spürte es wie eine Liebkosung um ihren Körper plätschern. Um ihre Schultern trieb ihr offenes Haar, und das Wasser gab ihrem ganzen Körper Auftrieb, fast, als würde sie schwimmen. Es fühlte sich warm und sinnlich an.

Eine seltsam verträumte Stimmung überkam sie, ausgelöst von dem heißen Wasser, der erotischen Atmosphäre in der feuchtwarmen Luft und dem Gefühl absoluter Entspannung.

Jenna schloss die Augen … In der Dunkelheit hinter ihren geschlossenen Lidern tauchte plötzlich ein Bild von Amelies Vater auf, so deutlich, als wäre er hier und würde ihre verletzliche Nacktheit sehen. Er ließ seinen dunklen Blick über sie gleiten – ihm gefiel, was er sah.

Erschrocken öffnete Jenna die Augen und setzte sich auf. Ihre Wangen glühten plötzlich, und nicht von der Hitze des Badewassers. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie das Fantasiebild damit loswerden. Dann griff sie energisch nach der Seife, um sich zu waschen. Deshalb badete sie und nicht, um sich Gedanken hinzugeben, die ebenso unerklärlich wie schockierend waren.

Jenna seifte sich ein, wusch sich die Haare und ließ dann das Badewasser ablaufen. Die Dusche drehte sie so kalt auf, wie sie es aushalten konnte, um nicht nur Seife und Shampoo abzuspülen, sondern auch ihre unerhörten Gedanken.

Zehn Minuten später saß sie in ihrem praktischen Baumwollpyjama und ihrem praktischen Bademantel auf dem Sofa vor dem Fernseher und schaltete den englischen Nachrichtensender ein. Nach dem Abendessen würde sie ihre Unterrichtspläne für den nächsten Morgen überprüfen und einen kurzen Bericht über Amelies Fortschritte schreiben, für den Fall, dass ihr Arbeitgeber danach fragte.

Arbeitgeber.

Jenna sagte sich das Wort energisch vor.

Das Klopfen an der Tür, das ihr Abendessen ankündigte, kam zur rechten Zeit.

Evandro stand draußen auf der Terrasse mit Blick auf die Gartenanlage. Hoch oben am Himmel schien sich der Mond durch die Wolken zu bewegen. Aber das war nur eine Täuschung, wie so vieles im Leben.

Wie es seine Braut gewesen war.

Er runzelte die Stirn. Warum dachte er an seinen Hochzeitstag vor zehn langen, grässlichen Jahren? Ein Tag, der trotz der dafür ausgegebenen riesigen Summen nur schöner Schein gewesen war. Die Hochzeit war wie Evandros Braut gewesen: knallig wie ein Karnevalswagen und genauso kitschig … Es war unecht gewesen, eine Mogelei.

Berenice, verführerisch sinnlich, über und über mit Diamanten behängt, in einem Brautkleid, das so viel wie ein Haus kostete, hatte es genossen, der funkelnde Star der übertriebenen Show zu sein. Alle Promizeitschriften hatten es in großer Aufmachung gebracht, mit ihm in der Rolle des hingebungsvollen Bräutigams, der von ihrer strahlenden Schönheit ganz geblendet war.

Wie hatte er nur so unfassbar dumm sein können?

Seine Kiefernmuskeln spannten sich an. Er wusste genau, wie er so dumm, so leichtgläubig geworden war.

Er war von der Frau, die er geheiratet hatte, an der Nase herumgeführt worden. Und sein Vater hatte ihn dazu getrieben.

„Sie hat alles, wirklich alles“, hatte er begeistert gesagt. „Sie ist hinreißend schön, und jetzt, wo ihr Vater tot ist, erbt sie die stimmberechtigten Aktien an Trans-Montane, die wir benötigen.“

Es schien eine Verbindung zu sein, die im Himmel geschlossen wurde.

Wie sich herausstellte, hatte sie ihren Ursprung in der Hölle.

Aber sie hatte Amelie zur Welt gebracht.

Evandros Stirnrunzeln verschwand. Die Atmosphäre heute Abend beim Essen war gezwungen gewesen. Amelie war schüchtern und zurückhaltend gewesen, genau wie vor drei Wochen, als er sie am Flughafen abgeholt und zum Palazzo gebracht hatte. Das würde sich jedoch mit der Zeit ändern. Zeit, die er ihr widmen würde.

Was die Frau anging, die er als Amelies Lehrerin eingestellt hatte … Vergeblich versuchte Evandro, sich an ihr Gesicht zu erinnern. Nun, sie würde jetzt eben um die Zeiten herum arbeiten müssen, die er mit ihrer Schülerin verbrachte.

Er runzelte wieder die Stirn. Die Frau war ihm direkt vors Auto gelaufen. War das Leichtsinn gewesen oder Mut?

Oder beides?

Jenna ging die breite Marmortreppe hinunter in die große Eingangshalle, Amelies Schulhefte und Bilder hatte sie bei sich. Die erwartete Aufforderung, über die Fortschritte ihrer Schülerin zu berichten, war gekommen. Jenna klopfte an die Tür zur Bibliothek, bevor sie eintrat.

Sie hatte Amelie mit einem Rechtschreibarbeitsblatt oben im Klassenzimmer gelassen. Das kleine Mädchen wirkte heute Morgen, nach der unverhofften Ankunft ihres Vaters am gestrigen Abend, ziemlich verunsichert.

Das konnte Jenna verstehen. Sie war auch nervös und besorgt, als sie den großen, von Büchern gesäumten Raum mit dem imposanten, von tiefen Ledersesseln flankierten Kamin betrat.

Ihr Arbeitgeber saß an einem prachtvollen Schreibtisch, auf dem ein Computer stand und Papiere lagen.

Jenna benutzte in Gedanken bewusst das Wort Arbeitgeber, um gegen das plötzliche Anspannen ihrer Bauchmuskeln anzukämpfen, als Evandro Rocceforte nun zu ihr aufsah. Die starke Wirkung, die er auf sie hatte, stellte sich trotzdem sofort wieder ein, so wie gestern Abend. Der Eindruck von Härte und Macht war ganz genauso überwältigend.

Aber sie durfte sich nicht überwältigen lassen. Sie sollte ihm über ihre Fortschritte mit Amelie Bericht erstatten. Und der Mann, dem sie sich jetzt näherte, machte wahrscheinlich auf jeden Eindruck, der sich ihm aus irgendeinem Grund näherte.

Er strahlte eine vornehme Zurückhaltung und Würde aus, was vermutlich dazugehörte, wenn man der Chef eines internationalen Unternehmens war, das einen riesigen Umsatz machte und eine riesige Anzahl von Leuten beschäftigte. Zweifellos war er ein Mann mit Macht und Verantwortung.

Seine Miene war schwer zu deuten. Tiefe Falten hatten sich um seinen Mund eingegraben.

Wovon hat er diese tiefen Falten bekommen? Was hat er ertragen müssen?

Die Fragen schossen Jenna ungebeten durch den Kopf. Sie presste die Lippen zusammen. Das ging sie nichts an.

Sie blieb vor seinem Schreibtisch stehen. Er nickte knapp und forderte sie auf, sich auf den für sie aufgestellten Stuhl zu setzen.

„Also, Miss Ayrton …“ Er sprach sie auf Englisch an, mit nur leichtem Akzent. „Wie ist es in den ersten Wochen mit Amelie gelaufen? Bitte halten Sie Ihren Bericht so kurz wie möglich.“

Jenna legte die schriftlichen Arbeiten, die sie mit nach unten gebracht hatte, auf den Schreibtisch, und ging ruhig und präzise durch, wie sie Amelies momentanes Bildungsniveau einschätzte. Danach machte sie weiter mit dem, worauf sie ihre Bemühungen konzentrierte, nämlich die Kenntnisse des Mädchens in den Kernfächern zu verbessern.

Sie war mitten im Redefluss, als ihr Arbeitgeber die Hand hob, um sie zum Schweigen zu bringen.

„Genug“, sagte er kurz angebunden. „Zeigen Sie mir ihre Schulhefte.“

Jenna reichte sie ihm. Er blätterte sie durch und gab sie ihr zurück, ohne sich dazu zu äußern.

„Amelie macht gute Fortschritte.“ Jenna wollte, dass er das wusste. „Weil sie bisher nicht systematisch unterrichtet wurde, sind Ausdauer und Fleiß die größten Herausforderungen für sie. Natürlich trifft das auf Kinder im Allgemeinen zu. Spielen wird dem Arbeiten fast immer vorgezogen.“

„Das ist nicht nur bei Kindern so, Miss Ayrton“, bemerkte ihr Arbeitgeber trocken.

Jenna war sich nicht sicher, ob sie lächeln sollte. Vielleicht hatte er das als humorvolle Bemerkung beabsichtig, aber es war unmöglich zu erkennen. Deshalb nickte sie nur und machte weiter. Sie wählte ihre Worte mit Vorsicht.

„Routine und Stabilität sind von größter Wichtigkeit für Kinder, besonders um Fokussierung und Konzentration zu fördern. Ich weiß, dass beides bis jetzt größtenteils gefehlt hat.“

Das Gesicht ihres Arbeitgebers verfinsterte sich. „Sie ist ihr Leben lang durch Europa und die Vereinigten Staaten geschleift worden! Dass das Kind überhaupt lesen kann, ist schon ein Wunder!“

Jenna sagte nichts. Es stand ihr nicht zu, sich zu den Reibereien zu äußern, die zwischen geschiedenen Eltern ausbrechen konnten.

Dann war seine Wut plötzlich wieder verschwunden.

„Gibt es überhaupt irgendetwas, in dem sie gut ist?“

„Ja, natürlich!“, erwiderte Jenna schockiert. „Mathematik wird wohl niemals Amelies starkes Fach sein“, gab sie zu. „Aber Kunst und Kreativität ganz sicher“

Sie zog mehrere Blatt Zeichenpapier heraus und zeigte Evandro Rocceforte das oberste.

„Schauen Sie, wie gut dies ist! Nicht unbedingt, was die technische Ausführung angeht – das wird mit der Zeit noch kommen –, aber was die Vorstellungskraft angeht, und die Verwendung der Farben. Und dieses auch.“ Jenna hielt das nächste Bild hoch. „Und dieses …“

Gleichgültig sah sich ihr Arbeitgeber die künstlerischen Arbeiten seiner Tochter an. Die Bilder stellten Märchenschlösser mit vielen Türmen dar, bewohnt von Fabeltieren und luxuriös gekleideten Prinzessinnen.

„Jede Begabung sollte immer ermutigt und gefördert werden“, fuhr Jenna fort. Plötzlich wollte sie Amelie unbedingt gegen die potenzielle Kritik ihres Vaters verteidigen und war fest entschlossen, ihre Meinung zu sagen. Sie tat es für die kleine Amelie, deren Vater sie loben und schätzen sollte.

Wie meiner es nie getan hat.

Unvergessener Schmerz überkam sie. Ein Schmerz, der Amelie erspart bleiben sollte.

„Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Kinder wissen, dass sie für etwas Talent haben. Keinem Kind sollte jemals das Gefühl gegeben werden, wertlos oder zu nichts nütze zu sein!“

Jenna konnte die Leidenschaft und Heftigkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken, während ihr Erinnerungen durch den Kopf schossen. Schlechte Erinnerungen an die verächtliche Kritik ihres Vaters, an seine Ungeduld und Gleichgültigkeit.

Ihr wurde bewusst, dass Evandro Rocceforte sie musterte. Aber nicht so, wie ein Arbeitgeber seine Angestellte musterte. In seinem abschätzenden Blick lag noch etwas anderes.

Dann war es verschwunden.

Er lehnte sich in seinem großen, modernen Chefsessel aus Leder zurück, der nicht ganz zu dem antiken Schreibtisch passte. Anstatt sich zu dem zu äußern, was Jenna ihm eindringlich klarzumachen versucht hatte, sagte er nur: „Danke für Ihren Bericht. Machen Sie weiter so. Das heißt …“, sein Blick huschte über sie, „… Sie müssen darauf vorbereitet sein, den Unterricht schnell und ohne Vorankündigung zeitlich zu verlegen. Solange ich hier bin, ist er nicht vorrangig. Meine Zeit mit Amelie ist wichtiger. Haben Sie noch Fragen? Wenn nicht, gehen Sie zurück zu Ihrer Schülerin.“

Jenna stand auf und sammelte Amelies Schularbeiten ein. Sie wollte noch eine wichtige Message rüberbringen, um für Amelies Interessen zu kämpfen.

„Obwohl es mir nicht zusteht, das zu sagen, Signor Rocceforte, ich bin ganz einer Meinung mit Ihnen. Der Unterricht ist im Moment für Amelie nicht vorrangig. Weil Sie so lange weg waren, ist es viel besser, dass sie viel Quality Time mit Ihnen hat und …“

„Sie haben völlig recht, Miss Ayrton“, unterbrach er sie schroff. „Es steht Ihnen nicht zu, das zu sagen.“

Eine Sekunde lang erstarrte Jenna. Sie spürte die Wucht seines Missfallens ebenso heftig, wie sie gestern Abend die Wucht seiner Wut gespürt hatte. Aber genau wie gestern Abend fing sie sich wieder. Sie hatte es ihrem Schützling zuliebe gesagt. Für ein kleines Mädchen, das sie so sehr an sich selbst erinnerte, herausgerissen aus allem, was es kannte, um plötzlich bei seinem Vater zu leben, einem Fremden.

Bitte lass es für Amelie besser sein, als es für mich war. Lass ihren Vater eine Bindung zu ihr aufbauen, Zeit mit ihr verbringen. Mach, dass er ein guter, liebevoller Vater werden will!

Jenna sah seine drohende Miene, aber Amelie zuliebe musste sie ihm klarmachen, wie wichtig es für seine Tochter war, dass er für sie da war.

„Als Amelies Lehrerin steht es mir zu, Signor Rocceforte, die Interessen meiner Schülerin zu vertreten“, sagte sie ruhig, den Blick fest auf ihn gerichtet.

Er war ein mächtiger, reicher Mann, aber im Moment war er für sie nur der Vater ihres Schützlings, der Mann, der eine Verantwortung für das seelische Wohl seiner Tochter hatte.

„Amelie ist ein Scheidungskind, und ihr hat jahrelang gefehlt, was sie am meisten braucht: Stabilität und Geborgenheit. Aber was viel wichtiger ist, sie braucht die Gewissheit, dass sie hochgeschätzt wird, erwünscht ist – und geliebt wird. Vor allem das Letztere.“

Ihr war egal, wie ihr Arbeitgeber darauf reagierte. Sie ging aus dem Raum und ließ den eindrucksvollen Italiener hinter sich zurück.

Als sich die Tür schloss und die Engländerin nicht mehr zu sehen war, blickte Evandro den Platz an, wo sie gestanden hatte. Er hatte keine Ahnung, was sie angehabt hatte, wie groß sie war, was für eine Augenfarbe sie hatte.

Aber er konnte Wort für Wort wiederholen, was sie gerade zu ihm gesagt hatte.

Hochgeschätzt, erwünscht … und geliebt.

Der Dreiklang hallte in ihm nach. Das Erste konnte er bezeugen. Das grimmige Gesicht seines Anwalts, als er die Summe gelesen hatte, die sein Mandant Amelies Mutter gezahlt hatte, war der Beweis dafür. Und das Zweite konnte Evandro auch bezeugen. Nachgewiesen durch den erbitterten, ein Jahr lang dauernden Scheidungskrieg.

Das Dritte …?

Er schreckte vor dem Wort zurück. Stattdessen erinnerte er sich an die grausamen Worte, die ihm seine Ehefrau an den Kopf geworfen hatte.

Abrupt schob er seinen Sessel zurück, stand auf, ging zu den Glastüren und stieß sie weit auf. Er brauchte frische Luft.

3. KAPITEL

Jenna und Amelie waren zum Mittagessen sich selbst überlassen. Es wurde im Klassenzimmer serviert und nicht draußen auf der Terrasse, wo sie vermutlich Amelies Vater bei der Arbeit in der Bibliothek gestört hätten.

Amelie war noch immer aus dem Gleichgewicht, und Jenna entschied, dass Ablenkung nötig war. Sie selbst konnte ebenfalls Ablenkung gebrauchen, weil noch immer in ihrem Kopf widerhallte, was sie an diesem Morgen zu Evandro Rocceforte gesagt hatte. War er beleidigt? Wütend? Das kümmerte sie nicht, es kümmerte sie nur, wenn er ihre Worte ignorierte. Weil sie noch immer zu jedem einzelnen stand.

„Wir machen einen Lehrspaziergang!“, verkündete sie, und Amelies Gesicht hellte sich auf.

Gemeinsam gingen sie nach draußen auf die Terrasse, bereit, zu ihrer Wanderung durch die weitläufige Gartenanlage aufzubrechen.

„Da, wo ich in London unterrichtet habe“, sagte Jenna, „gab es keine Wiesen und keinen Wald. Also denk dir nur, was für ein Glück du hast, diese schöne Landschaft und diese schönen Gärten zu haben!“

„Ich bin froh, dass Sie das finden.“

Überrascht drehte sich Jenna um. Evandro Rocceforte kam auf sie zu.

„Ich habe Sie und Amelie durch die Glastüren der Bibliothek gesehen. Wohin gehen Sie?“

Sich bewusst, dass Amelie ihre Hand wie zur Beruhigung in ihre schob, erwiderte Jenna so gelassen sie konnte: „Wir machen einen Lehrspaziergang durch die Gärten.“

„Darf ich mitkommen?“

Sie sah ihn erstaunt an. Nicht nur wegen seiner Frage, sondern auch, weil er in ganz anderem Ton mit ihr sprach als bei ihrem Gespräch mit ihm an diesem Morgen. Dann wurde ihr klar, warum. Es war wegen seiner Tochter, nicht ihretwegen.

Und Jenna war froh darüber. Zum ersten Mal sah sie ihn und Amelie zusammen, und sie war froh, ihn so anders zu erleben als mit ihr am Morgen. Jetzt sprach er im selben freundlichen Ton seine Tochter an.

„Was meinst du, Amelie? Bestimmt gibt es Dinge über die Natur, die ich von Miss Jenna lernen kann, und du auch. Ich zum Beispiel weiß sehr wenig über die Lebensweise von Nacktschnecken.“

Klang da trockener Humor durch? Jenna konnte es nicht entscheiden, ebenso, wie sie nicht wissen konnte, ob seine Bemerkung am Morgen darüber, dass Erwachsene auch lieber spielten als arbeiteten, humorvoll hatte sein sollen.

Sie spürte noch immer die kleine Hand in ihrer und wusste, dass Amelie von Evandros plötzlicher Anwesenheit ebenso verunsichert war wie sie selbst. Ein kleiner dumpfer Schmerz breitete sich in ihr aus. Kein Kind sollte vom eigenen Vater ignoriert werden.

Amelie guckte argwöhnisch. „Ich mag keine Nacktschnecken.“

„Zum Glück mögen sich Nacktschnecken untereinander“, sagte ihr Vater trocken. „Deshalb gibt es im Frühling viele Babynacktschnecken.“

„Nacktschnecken sind Hermaphroditen“, warf Jenna ein.

Das neue Wort weckte Amelies Neugier. „Was bedeutet das?“

„Jede Nacktschnecke ist sowohl ein Mädchen als auch ein Junge“, erklärte Jenna. „Also kann auch jede Schnecke Eier legen. Für uns mag das seltsam scheinen, aber für sie ist es normal.“

„Ich will nicht auch noch ein Junge sein“, verkündete Amelie. „Ich will gar kein Junge sein!“

„Du bist genau richtig so, wie du bist“, sagte ihr Vater. „Und ich bin sehr froh, dass du hierhergekommen bist, um bei mir zu leben.“

Jenna hörte die Wärme in seiner Stimme, und ihre eigene Unsicherheit ließ ein bisschen nach. Er gab seiner Tochter das Gefühl, willkommen zu sein, und das war gut.

„Also? Was ist mit dem Lehrspaziergang? Wohin gehen wir?“, fragte er im selben freundlichen Ton.

„Ich dachte, wir gehen in den Rosengarten, beobachten die Bienen beim Nektarsammeln und finden heraus, wie das den Rosen und anderen Blumen hilft“, erwiderte Jenna.

Sie ging voran und ließ beiläufig Amelies Hand los, als sie den kreisrunden Rosengarten betraten. Die Nachmittagssonne brannte vom Himmel, und sie hoffte, dass es nicht zu heiß wurde. Sie und Amelie trugen Sommersachen, aber ihr Arbeitgeber war im Anzug. Allerdings war er leicht, aus einem erstklassig geschnittenen dunkelgrauen Stoff, der perfekt zu seinen schiefergrauen Augen passte.

Jenna führte die beiden zu einer schönen Strauchrose und begann, die Bestäubung zu erklären. „Jetzt sehen wir mal, ob wir Bienen entdecken, die die Rosen besuchen“, endete sie.

„Da ist eine.“ Evandro zeigte auf eine andere Rose, die gerade von einer dicken Biene untersucht wurde.

„Stimmt! Und schau mal, Amelie, man kann die gelben Pollen von einer vorher besuchten Blume an ihren Beinen sehen.“

Sie beobachteten die Biene, bis sie summend davonflog. Nun erzählte Jenna ihrer kleinen Schülerin spannende Fakten über das Leben der Bienen, während sie gemeinsam weiter nach den emsigen Insekten Ausschau hielten. Dann verließen sie den Rosengarten. Als Jenna den Weg zum Zierteich in der Mitte der Gartenanlage nahm, freute sie sich, zu sehen, dass Amelie jetzt neben ihrem Vater ging.

„Irgendwann in dieser Woche“, sagte er gerade, „setzen wir den Springbrunnen in der Mitte des Teichs in Betrieb.“

Er erklärte ihr den Mechanismus des Springbrunnens, während sie beide auf dem Steinrand des Teichs saßen. Jenna war nicht sicher, wie viel Amelie davon aufnahm. Aber das Wichtige war, dass sie mit ihrem Vater zusammen war.

Jenna hatte es vermieden, ihn direkt anzusehen, seit er sich ihnen angeschlossen hatte, nun blickte sie jedoch zu ihm hin. Ganz erstaunlich, wie anders er jetzt ist, wo er mit seiner Tochter zusammen ist, dachte sie. Oh, diese würdevolle Zurückhaltung war noch da, aber Amelies Vater war jetzt viel lockerer. Jenna merkte, dass ihr Blick auf ihm verweilen wollte …

Dann stand er zum Glück auf. „Wollen wir zurückgehen?“

Sie nickte, ließ die beiden vorangehen und folgte ihnen. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wie schön es war, dass Amelie und ihr Vater so zusammen waren, anstatt darauf, wie breit seine Schultern waren, wie dicht und schwarz sein Haar war, wie tief seine Stimme …

Als sie die Terrasse erreichten, wollte sie Amelie zurück ins Klassenzimmer führen, doch Evandro Rocceforte hielt sie zurück.

„Amelie, bitte Signora Farrafacci darum, dass Erfrischungen nach draußen gebracht werden. Du musst Durst haben, ich habe jedenfalls Durst. Und Miss Jenna zweifellos auch.“ Er zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Als Engländerin finden Sie doch sicherlich, dass es Zeit für den Nachmittagstee ist?“

Froh, die Wiederaufnahme des Unterrichts aufzuschieben, rannte Amelie los, und Jenna war ein wenig verlegen, dass sie jetzt mit ihrem Arbeitgeber allein war.

Aber warum? fragte sie sich. Er war einfach nur der Vater ihrer Schülerin. Und das war sicherlich kein Grund, verlegen und gehemmt zu sein.

„Setzen Sie sich!“ Er zog einen der Stühle um den Tisch unter einem großen Sonnenschirm heraus.

Der Schatten war sehr willkommen. Jenna setzte sich und hoffte, dass Amelie schnell zurückkehren würde.

Evandro nahm ihr gegenüber Platz, aber erst, nachdem er sein Jackett ausgezogen und über die Lehne eines freien Stuhls gehängt und seine Krawatte gelockert hatte. Die Lässigkeit, mit der er das tat, machte die Atmosphäre auf eine Art ungezwungen, die in krassem Gegensatz zu seiner brüsken, geschäftsmäßigen Förmlichkeit an diesem Morgen in der Bibliothek stand.

„Und? Mache ich Fortschritte? Dabei, ein guter Vater zu sein?“, fragte Evandro und lehnte sich zurück.

Er ließ den Blick auf der Frau ruhen, die ihm mutig entgegengetreten war, um ihm zu verdeutlichen, worum es beim Vatersein ging.

„Ja“, antwortete sie schlicht. „Amelie hat sich während unseres Spaziergangs mit der Zeit merklich wohler mit Ihnen gefühlt.“

Er sah sie zögern und nickte ihr aufmunternd zu.

„Ihre Tochter ist zwangsläufig noch ein bisschen schüchtern, aber wenn Sie sie dazu bringen, aus sich herauszugehen, sie loben und ermutigen, wird sie aufblühen. Das wird sie ganz bestimmt!“

Er hörte die Wärme in ihrer Stimme – und noch etwas. Es klang fast beschwörend. Aber warum?

„Ich hoffe, Sie haben nichts gegen meine Idee, Amelie gelegentlich außerhalb des Klassenzimmers zu unterrichten?“

„Wenn heute ein Beispiel dafür war, bin ich damit sehr einverstanden. Überhaupt bin ich mit dem einverstanden, was Sie als Amelies Lehrerin leisten, Miss Ayrton.“

Evandro machte eine Pause. Es gab etwas, was er ihr sagen musste, was er ihr schuldete.

„Ich entschuldige mich, wenn ich heute Morgen etwas schroff zu Ihnen war. Sie müssen verstehen … Das ist alles neu für mich.“ Er heftete die Augen auf ihre, fest entschlossen, ihr seinen nächsten Punkt verständlich zu machen. „Dass ich in Amelies Leben bisher abwesend war, bedaure ich sehr. Aber jetzt wohnt sie endlich hier bei mir, und ich werde mein Bestes tun, um ihr die glückliche Kindheit zu bieten, die sie verdient. Die Art Kindheit, die ihr zu bieten Sie mich so wortgewandt gedrängt haben.“

Sie errötete ein wenig, und Evandro bemerkte, dass es ihr blasses Gesicht hübscher machte. Aus dem Nichts wünschte er, sie würde etwas tragen, was nicht ganz so unscheinbar war wie der knielange beigefarbene Rock und die nicht besonders gut geschnittene beige Bluse, die beide ziemlich unvorteilhaft waren.

Niemand sollte so ohne jeden Schick rumlaufen dürfen, dachte Evandro missbilligend.

Dann dachte er nicht länger an das farblose Aussehen der Lehrerin und konzentrierte sich auf das, was sie sagte.

„Es tut mir leid, wenn ich etwas längst Bekanntes festgestellt habe“, erwiderte sie, „aber wissen Sie, die Kinder von geschiedenen Eltern werden oft …“

Sie verstummte, und Evandro runzelte die Stirn. „Werden was?“

„Unsichtbar“, sagte sie ausdruckslos.

Sie senkte den Blick, die Fingerknöchel ihrer auf dem Schoß verschränkten Hände wurden weiß.

„Sie sagen das, als hätten Sie selbst Erfahrung damit?“

Jenna Ayrton schaute plötzlich auf und richtete haselnussbraune Augen auf ihn.

Nein, nicht allein haselnussbraun. Haselnussbraun mit einem Aufblitzen von Forstgrün in den Tiefen.

„Ja“, antwortete sie. Aber nur dieses eine Wort.

„Erzählen Sie mir mehr!“, befahl Evandro. Es war wichtig, dass er verstand, was negative Auswirkungen auf Amelie haben könnte. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich entschuldige mich. Ich wollte nicht in diesem Ton mit Ihnen sprechen. Aber ich bin es nun mal gewohnt, Befehle zu geben. Trotzdem, bitte erklären Sie es, wenn Sie möchten. Amelie zuliebe.“

„Kinder merken es, wenn sie nicht erwünscht sind“, sagte Jenna Ayrton leise. „Und sie lernen, ihr Benehmen entsprechend anzupassen. Deshalb …“

Sie sprach nicht weiter, und für einen Moment nahm Evandro an, dass sie sich dagegen sträubte, mehr zu sagen. Dann erkannte er, dass sie Amelie gesehen hatte, die aus dem Palazzo auftauchte, gefolgt von einem der Hausmädchen, das ein Tablett mit Erfrischungen trug.

Evandro bedauerte, dass ihr Kommen Miss Ayrton zum Schweigen gebracht hatte. Aber daran war nun nichts zu ändern. Freundlich bedankte er sich bei dem Hausmädchen, als es das Tablett auf den Tisch stellte, und forderte Amelie auf, sich zu setzen.

Es gab eine Kanne Tee für Miss Ayrton, starken Kaffee für ihn und einen Krug frisch ausgepressten Orangensaft für Amelie, dazu einen zweiten mit Wasser für sie alle und einen Teller mit Keksen.

Evandro beobachtete, wie Miss Ayrton ihrer Schülerin Orangensaft einschenkte und ihn stark mit Wasser verdünnte. „Sehr gesund“, sagte er.

„Signorina Jenna sagt, von zu viel Zucker fallen einem die Zähne aus“, informierte ihn Amelie tugendhaft.

Er nickte. „Sehr richtig“, stimmte er zu, ohne eine Miene zu verziehen. „Ich kenne jemanden, dessen Zähne ausgefallen sind, alle auf einmal, genau in der Mitte einer Rede, die er bei einem vornehmen Abendessen gehalten hat. Die Zuhörer waren sehr froh, weil seine Rede so langweilig war. Seitdem muss er falsche Zähne tragen, und weil sie nicht gut sitzen, klicken sie, wenn er spricht. So …“

Evandro machte das passende Geräusch, und Amelie kicherte. Es war ein schönes Gefühl, das zu hören. Er blickte zu ihrer Lehrerin und sah das kleine Lächeln auf ihrem Gesicht, während sie sich eine Tasse Tee einschenkte. Es war überraschend, wie sehr ein Lächeln ihr unscheinbares Aussehen verbesserte.

Er wollte sie wieder lächeln sehen, dann fragte er sich, warum. Jenna Ayrton war hier, um Amelie zu unterrichten. Das war alles.

„Ich freue mich, zu hören, dass du Fortschritte machst, sodass du im Herbst zur Schule gehen kannst. Wie viel lernst du denn über dein neues Heimatland Italien?“ Er lächelte Amelie an, wollte sie dazu bringen, aus sich herauszugehen. Wollte ihrer Lehrerin zeigen, dass er sich bemühte, das zu tun.

„Wir nehmen viel Geschichte durch, und die Berge und Flüsse. Und wo die großen Städte sind.“ Amelie rasselte auf Englisch und Italienisch die Namen von einem halben Dutzend herunter.

„Sehr gut. Und was ist mit der Stadt, in der ich arbeite? Wie heißt die?“

„Turin“, antwortete Amelie. „Torino auf Italienisch.“

„Stimmt genau!“

Evandro machte damit weiter, seine Tochter nach Italiens Bergen zu fragen und erzählte ihr, dass er im Winter gern Ski lief. Dann fragte er, ob sie vielleicht Lust hätte, nächstes Mal mitzukommen, gleich nach Weihnachten.

„Möchtest du das?“, fragte er. „Du könntest Skilaufen versuchen oder Snowboarding. Oder beim Rodeln bleiben.“ Sein Blick huschte zu Miss Ayrton, die schweigend ihren Tee trank, und plötzlich wollte er auch sie dazu bringen, aus sich herauszugehen. „Treiben Sie gern Wintersport, Miss Ayrton?“

Sie sah erschrocken aus, als er sie plötzlich ansprach, aber dann antwortete sie auf die ruhige Art, an die er sich allmählich gewöhnte.

„Ich habe nie Wintersport gemacht.“

„Sie können mit uns kommen!“, sagte Amelie.

Ihre Lehrerin schüttelte den Kopf. „Ich werde im Winter nicht mehr hier sein, Amelie. Sobald du eingeschult bist, gehe ich zurück nach England.“

Evandro sah, wie enttäuscht Amelie war. Unbehagen stieg in ihm auf.

Amelie darf sich niemals zu sehr an irgendeine Frau binden. Es ist zu gefährlich.

Schon wieder hallte in seinem Kopf die Warnung seines Anwalts, die Berenices letzte Gemeinheit betraf. Und sie galt für ihn genauso wie für seine Tochter! Denn auch Evandro durfte sich niemals zu sehr an irgendeine Frau in seinem Leben binden …

Er schüttelte seine beunruhigenden Gedanken ab. Im Allgemeinen war die Warnung vielleicht richtig, aber für die jetzige Situation war sie belanglos. Jenna Ayrton, eine Frau, die kein Mensch überhaupt bemerken würde, wenn sie im Raum war, war vorübergehend Amelies Lehrerin, nichts weiter.

Wenn sie sich erst einmal in der Schule eingewöhnt hatte, würde Amelie ihre Privatlehrerin bald vergessen.

Und Evandro würde dann auch nicht mehr an Miss Ayrton denken …

4. KAPITEL

Jenna prüfte ihr Aussehen in dem eleganten Drehspiegel in ihrem Schlafzimmer. Zu ihrer Überraschung war sie aufgefordert worden, Amelie zum Abendessen mit Signor Rocceforte zu begleiten. Amelie stand neben ihr und musterte ihre Lehrerin zweifelnd.

„Haben Sie kein Cocktailkleid?“, fragte sie, während sie das schlichte, langärmelige marineblaue Kleid kritisch betrachtete.

„Nein. Und selbst wenn ich eins hätte, würde ich es nicht anziehen. Ich bin deine Lehrerin, Amelie. Ich bin eine Angestellte, nicht ein Gast deines Vaters.“

Jenna blickte das kleine Mädchen an und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr war klar, dass das Kind von ihrer Schickeria-Mutter jahrelang wie ein Modepüppchen behandelt worden war, und heute Abend hatte die Kleine sich ziemlich ins Zeug gelegt.

Aus ihrer riesigen Designergarderobe hatte Amelie eine Miniaturausgabe eines Cocktailkleids gewählt. Es war aus rotem Satin, gemustert mit goldenen und schwarzen Strudeln, die die Initialen des Designers ergaben. Für ein Kind ihres Alters war es völlig unpassend, aber als sich Amelie glücklich im Kreis drehte, brachte Jenna es nicht übers Herz, das zu sagen.

Amelies Vater hatte offensichtlich keine solche Skrupel. Als sie ins Esszimmer kamen, runzelte er sofort missbilligend die Stirn über Amelies extravagantes Designerkleid.

„Sie wollte ein Partykleid tragen, um heute Abend besonders hübsch für Sie auszusehen“, warf Jenna schnell ein und war erleichtert, dass er nichts sagte, sondern seinen Blick stattdessen auf sie richtete.

„Anders als Sie selbst, wie ich sehe, Miss Ayrton“, erwiderte er spöttisch, während er ihr sehr schlichtes Kleid musterte.

Sie gab keine Antwort, weil keine nötig war, aber Amelie setzte sich für sie ein.

„Wenn ich größer wäre, würde ich Ihnen eins von meinen Kleidern leihen!“, sagte sie.

Jenna war gerührt.

„Dann kann sie ja dankbar sein, dass du es nicht bist“, murmelte Evandro halblaut.

Anscheinend war das Thema damit für ihn erledigt. Er forderte sie beide auf, sich an den Tisch zu setzen, der edel mit Silberbesteck und Kristallgläsern gedeckt war.

Trotz des förmlichen Rahmens in dem prächtig ausgestatteten Esszimmer war ihr Arbeitgeber eher lässig gekleidet. Er trug eine dunkle Hose und einen grauen Kaschmirpullover. Sogar leger gekleidet hatte er jedoch nichts von seiner imposanten Ausstrahlung verloren, und auch nicht seine beunruhigende Fähigkeit, Jennas Blick auf sich zu ziehen.

Er hob die Weinflasche aus dem silbernen Halter. „Trinken Sie Wein, Miss Ayrton, oder verstößt das gegen Ihre Prinzipien, wenn Sie in Gesellschaft Ihrer Schüler sind?“

Seine Frage hatte einen spöttischen Unterton, aber Jenna ließ sich nicht provozieren. „Wenn Sie nichts dagegen haben, dann ich auch nicht“, erwiderte sie ruhig.

Er füllte ihr Glas, schenkte seiner Tochter Saft ein, dann hob er sein Glas. „Salute!“, sagte er und blickte Amelie an. „Das sagen wir hier in Italien statt Santé! wie in Frankreich oder Cheers! wie in England. Ist das richtig, Miss Ayrton?“

Sie nickte.

„Gut.“ Er trank einen großen Schluck.

Jenna nippte an ihrem Glas. Der Wein war schwer und berauschend, und aus dem Nichts entspannte sie sich. Erst da erkannte sie, wie nervös sie gewesen war. Die Sorge um Amelie hatte sie umgetrieben – und die Verlegenheit, wieder in Gesellschaft ihres atemberaubend attraktiven Arbeitgebers zu sein.

Ich werde nicht schlau aus ihm mit dieser Mischung aus bissigem Humor und guter Laune, dachte sie. Sie stellte ihr Weinglas ab, und ihr Blick huschte zu ihm, während er den beiden Hausmädchen dankte, die das Essen servierten. Jenna vermutete, dass sich die jungen Frauen seiner grüblerischen, starken Männlichkeit ebenso bewusst waren wie sie. Wie es wahrscheinlich alle Frauen waren.

Es war ein beunruhigender Gedanke. Sie hatte nicht das Recht, sich ihres Arbeitgebers bewusst zu sein, außer als Arbeitgeber.

Dann kam ihr ein vertrauter, wenn auch trostloser beruhigender Gedanke. Es spielte überhaupt keine Rolle, was sie über Evandro Rocceforte dachte – oder irgendeinen anderen Mann. Männer sahen sie nie wirklich, und daran war sie gewöhnt. Es war sicherer so.

Vor langer Zeit hatte Jenna versucht, beachtet zu werden, für jemanden gehalten zu werden, der beachtenswert war. Und sie war kläglich gescheitert. Also war es sicherer, es gar nicht erst zu versuchen.

Sie merkte, dass sich Amelie in Gegenwart ihres Vaters nicht ganz wohlfühlte. Er war noch immer solch eine unbekannte Größe für sie, und es war verständlich, dass sie in seiner Gesellschaft unsicher war.

Jenna wollte nicht, dass das kleine Mädchen jemals sehnsüchtig auf die Aufmerksamkeit seines Vaters wartete, dass es den Schmerz der Zurückweisung kennenlernte, die Einsamkeit, zu der er früher sie verdammt hatte.

Die Einsamkeit, zu der sie noch immer verdammt war …

Sie rüttelte sich in Gedanken auf. Selbstmitleid war sowohl widerwärtig als auch sinnlos. Sie hatte vor langer Zeit akzeptiert, dass sie keine Anziehungskraft auf Männer ausübte, und wenn das zu Einsamkeit führte, dann war es zugleich auch in gewisser Weise beschützend.

„Buon appetito!“

Die tiefe Stimme verbannte ihre introspektiven Gedanken, und Jenna begann mit dem ersten Gang: eine Schichtterrine aus Lachs und Meeresfrüchten in einer Hummercremesuppe, garniert mit Radicchio und Rucola, dazu dünner, knuspriger Toast. Jenna sah zu Amelie, für den Fall, dass sie das raffinierte Gericht nicht meistern konnte. Aber das kleine Mädchen benutzte anmutig die richtige Gabel und aß geschickt die Terrine.

„In Italien und Frankreich werden Kinder nicht früh ins Bett geschickt, Miss Ayrton, sondern verbringen den Abend mit ihren Eltern, und dazu gehören auch Restaurantbesuche“, sagte Evandro, als hätte er bemerkt, dass Jenna seine Tochter verstohlen beobachtete.

„Manchmal hat mich maman mit ihr und ihren Freunden ausgehen lassen“, warf Amelie ein. „Ich musste meine besten Kleider tragen! Aber ich durfte nicht quasseln und kleckern, während ich gegessen habe, oder sie ist böse auf mich geworden …“

Sie hatte fröhlich begonnen und verstummte jetzt unglücklich, wie so oft, wenn sie sich an ihre kapriziöse und anspruchsvolle Mutter erinnerte. Das Mädchen tat ihr leid, und Jenna wollte etwas Beruhigendes sagen, aber Evandro kam ihr zuvor.

„Tja, ich kann sehen, dass du ausgezeichnete Tischmanieren hast!“

Bei dem Lob strahlte Amelie vor Freude, und auch Jenna lächelte. Sie freute sich für das kleine Mädchen und spürte trotzdem einen seltsamen Schmerz in ihrem Inneren. Ihr Vater hatte sie nie für irgendetwas gelobt, sosehr sie sich auch nach einem freundlichen Wort von ihm gesehnt hatte.

Sie wusste, dass solche Erinnerungen so sinnlos wie schmerzlich waren, und konzentrierte sich wieder. Ihr wurde bewusst, dass Evandro sie anblickte.

„Stimmen Sie zu?“, fragte er sie mit einem seltsamen Unterton.

„Ich stimme Ihrer Zustimmung zu“, erwiderte sie leise, aber bestimmt.

Denn falls er fragte, ob es ihre Zustimmung fand, wie er gerade seine Tochter gelobt hatte, dann ja, natürlich. Aber warum er sich für ihre Meinung interessierte, wusste sie nicht.

„Ich werde das als ein einzigartiges Kompliment auffassen“, sagte er lächelnd.

Dann redete er wieder mit Amelie.

„Miss Jenna hat mir erzählt, dass du Spaß an Kunst hast, piccola mia. Sie hat mir heute Morgen ein paar von deinen Werken gezeigt. Ich würde gern mehr davon sehen. Würdest du ein Bild für mich malen?“

Amelies Gesicht hellte sich auf. „Oh, ja! Am allerliebsten male ich Mode. Weil Mode so wichtig ist. Maman sagt, es ist von größter Wichtigkeit, toujours à la mode zu sein!“

Trotz seiner sofort angespannten Miene sagte Evandro nur: „Nun, in modebewussten Städten wie Paris und Mailand ja. Aber erst, wenn du erwachsen bist. Oder zumindest ein Teenager.“

Amelie sah verwirrt aus, als würde das, was ihr Vater gesagt hatte, zu allem im Widerspruch stehen, was ihre Mutter sie gelehrt hatte. Jetzt griff Jenna ein. Ja, Amelie hatte wegen des Einflusses ihrer Mutter einen frühreifen, ungesunden Modefimmel, aber das ließ sich in etwas umlenken, was viel harmloser und passender für ein kleines Mädchen war.

„Was in deinem Alter wirklich Spaß macht, ist, sich zu verkleiden! An der Schule, an der ich in London unterrichtet habe, gab es jedes Jahr einen Weltbüchertag, und alle Kinder haben sich als eine Figur aus einem Buch verkleidet, das sie gelesen hatten. Als was würdest du dich verkleiden, Amelie?“, fragte sie, um sie vom Thema Haute Couture abzulenken.

„Als mittelalterliche Prinzessin!“, sagte sie sofort. „Wie Dornröschen. Aber nachdem sie aufgewacht ist!“

„Perfetto!“, verkündete ihr Vater, und Amelie freute sich.

Sein Blick glitt zu Jenna, und er hatte wieder diesen spöttischen Gesichtsausdruck, der ihr inzwischen vertraut war.

„Als die strenge Lehrerin, die Sie sind, Miss Ayrton, welche Figur würden Sie für mich vorschlagen? Soll ich mit dem Schlimmsten rechnen? Oder auf das Beste hoffen?“

Das Funkeln seiner Augen verriet ihr, dass dies eine seiner ironischen Bemerkungen war. „Tja, irgendein Ungeheuer wäre viel zu hart, also vielleicht ein unnachgiebiger König, der Ritter in voller Rüstung auf gefährliche Suche schickt?“

Er lachte, dann verzog er bitter den Mund. „Und ich habe gehofft, Sie würden mir die Rolle des Märchenprinzen geben!“

Jenna runzelte die Stirn, als er den Mund noch mehr verzog. Sie beobachtete, wie er noch einen Schluck aus seinem Weinglas trank.

„Vielleicht sind Sie ja ein Prinz“, hörte sie sich sagen, „aber in der Geschichte stehen Sie unter einem bösen Zauberbann.“

Etwas flackerte in seinen schiefergrauen Augen auf.

„Eine böse Hexe hat mich verzaubert?“, fragte er. Jenna spürte eine Bürde in ihm, die plötzlich erdrückend zu werden schien. „Kann solch ein Zauberbann jemals gebrochen werden?“

„Alle solche Zauberbanne können gebrochen werden“, antwortete sie.

„Aber wie?“, fragte er leise, und irgendetwas in seiner Stimme ließ sie frösteln, trotz dieses spielerischen Gesprächs über Märchen.

Dann sagte Amelie: „Die gute Fee bricht immer den Zauberbann, papà!

Der dunkle Blick wechselte von ihr zu dem kleinen Mädchen, und Jenna merkte, dass sie wieder atmen konnte.

„Und wo finde ich diese gute Fee?“, fragte Evandro seine Tochter.

„Sie schwebt in einer silbernen Seifenblase herab“, informierte ihn Amelie. „Mit silbernem Haar und silbernen Flügeln und einem silbernen Zauberstab und einem silbernen Kleid.“

„Warum malst du für deinen Vater nicht ein Bild von ihr?“, schlug Jenna vor.

„Eine ausgezeichnete Idee“, stimmte Evandro zu, jetzt wieder in heiterem Ton. „Wenn wir alle mit unserem ersten Gang fertig sind, machen wir jetzt mit dem zweiten Gang weiter.“

Er drückte einen Summer neben seinem Gedeck, und einen Moment später kamen die Hausmädchen, um ihre Teller abzuräumen und den zweiten Gang, Lammfilet in einer reichhaltigen Soße, zu servieren.

Evandro fragte seine Tochter, was sie über Italiens Geschichte wusste, und das Thema reichte bis durch den letzten Gang, ein Birnenparfait, das Amelie jedoch Mühe hatte, aufzuessen.

Piccolina, du schläfst ja gleich ein!“, sagte ihr Vater. „Zeit, ins Bett zu gehen.“

Jenna wollte aufstehen, aber er hielt sie zurück.

„Nein. Loretta und Maria können sich um Amelie kümmern. Ich möchte bei meinem formaggio gern noch etwas Gesellschaft haben.“

Als Loretta kam, um Amelie nach oben zu bringen, wünschte er seiner Tochter in so sanftem Ton Gute Nacht, wie Jenna ihn noch nie hatte sprechen hören.

„Schlaf gut, meine Kleine!“ Er lächelte. „Und träum von silbernen Feen.“

Als Amelie mit Loretta gegangen war, wurde eine große Käseplatte auf den Tisch gestellt, und Evandro wandte sich wieder Jenna zu. Sie konnte seinen Blick nicht deuten, und die Situation war ihr plötzlich unangenehm. Mit ihrem Arbeitgeber zu essen, um seiner Tochter Gesellschaft zu leisten, war eine Sache, aber hier allein mit ihm zu sitzen schien etwas ganz anderes zu sein.

Seine nächsten Worte ließen sie erkennen, warum er Amelie von Loretta und nicht von ihr hatte nach oben bringen lassen.

Er schob das Käsebrett zu ihr und forderte sie auf, sich zu bedienen. „Also, Ihr Urteil bitte, Miss Ayrton. Wie habe ich mich bisher gemacht? Erfülle ich halbwegs Ihre Bedingungen, was Amelie betrifft?“

Wollte er wirklich ihre Meinung hören, oder war dies eine weitere ironische Herausforderung? Es war schwer zu sagen.

Aber er erwartete eine Antwort.

„Wenn meine Meinung etwas gilt, Signor Rocceforte, würde ich sagen, dass Sie auf dem besten Wege sind, eine gute Beziehung zu Ihrer Tochter aufzubauen. Ich konnte sehen, wie sich Amelie immer mehr entspannt hat. Besonders, als Sie sie gelobt haben.“

„Es gibt ja auch viel zu loben. Abgesehen von ihrer Kleiderwahl.“

Vorsichtig suchte sich Jenna von den Käsesorten etwas aus, und noch vorsichtiger antwortete sie.

„Ich weiß, dass ein Großteil ihrer Garderobe nicht altersgemäß ist. Wenn sich Amelies Mutter am meisten für Mode interessiert hat, dann ist allerdings zu erwarten, dass Amelie das Wohlwollen und die Anerkennung ihrer Mutter zu gewinnen versucht hat, indem sie dieses Interesse nachahmt. Es wäre unfair, sie zu verurteilen für …“

„Für die Sünden ihrer Mutter“, unterbrach Evandro sie scharf.

Er sah weg, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders. Dann blickte er Jenna plötzlich wieder an, seine Miene finsterer denn je.

„Die Vorliebe meiner Ex-Frau dafür, obszön hohe Summen für Haute-Couture-Kleidung zu verschwenden, war die geringste ihrer Sünden“, stieß er hervor.

Er trank einen Schluck von seinem Wein. Jenna hatte den Eindruck, dass er äußerste Kontrolle über sich selbst ausübte, um seinen Wutausbruch zu bremsen. Starke Emotionen spielten unter diesem Panzer aus Selbstbeherrschung. Wie bitter ist seine Scheidung gewesen? fragte sich Jenna.

Dann, als würde er nur mit Mühe Gedanken verdrängen, die seinen Ärger erregten, sagte er: „Eins ist klar – ich muss Amelie eine neue Garderobe kaufen. Und Sie, Miss Ayrton, müssen bei der Auswahl helfen. Ich verstehe nichts von Kinderkleidung.“

„Wenn Sie es wünschen.“

„Ich wünsche es“, sagte er herrisch. Er runzelte die Stirn. „Heute Nachmittag auf der Terrasse haben Sie mir etwas über Scheidungskinder erzählt. Sprechen Sie weiter, bitte.“

„Kinder können zwischen streitenden Eltern gewissermaßen verloren gehen“, begann Jenna zögernd. „Wie ich sagte, sie können unsichtbar werden. Und manchmal fängt ein Kind an, genau das zu wollen …“

Sie verstummte, sich bewusst, dass sie in einen Bereich geraten war, den sie nicht in Worte fassen wollte. Aber Evandro war anscheinend kein Mann, der Ausweichen erlaubte.

„Ich nehme an, Sie sprechen von sich selbst? Warum sollten Sie unsichtbar sein wollen?“ Seine Miene wurde härter.

„Als meine Mutter bei einem Autounfall starb, wurde ich zu meinem Vater geschickt, um bei ihm und der Frau zu leben, für die er meine Mutter verlassen hatte. Ich war nicht willkommen. Weder meiner Stiefmutter und ihren Kindern, noch meinem Vater.“

Evandros dunkler, unlesbarer Blick ruhte auf ihr. „Wie alt waren Sie?“

„Jünger als Amelie. Gerade sechs Jahre alt.“

Er verzog den Mund.

„Ich habe gewartet. Habe weiter gehofft, dass mein Vater mich eines Tages sehen würde. Dass ich eines Tages nicht mehr unsichtbar für ihn sein würde. Aber es ist nie passiert. Und nach einer Weile schien es besser zu sein, das zu akzeptieren. Sicherer.“

„Sicherer?“

„Sicherer, sich nicht zu wünschen, was nicht sein kann. Sicherer, unsichtbar zu bleiben.“

Evandro nickte. „Und Sie sind noch immer unsichtbar“, sagte er sanft.

Jenna spürte es wie einen Schlag, was seltsam war, weil sie doch sehr wohl wusste, dass sie unsichtbar war. Wusste, dass sie einen Raum betreten konnte, und niemand bemerkte es.

„Wenn das Ihre Sorge um Amelie ist, kann ich Sie beruhigen. Amelie ist sehr sichtbar für mich“, sagte Evandro energisch. „Und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, ihr das Gefühl zu geben, erwünscht und hochgeschätzt zu sein, so, wie Sie es mir heute Morgen geraten haben. Ich verspreche Ihnen, Miss Ayrton, dass nichts sie mir wegnehmen wird. Nichts!“

Seine Erklärung sollte ihre Sorge um Amelie zweifellos zerstreuen, aber für einen Moment machten ihr seine Heftigkeit und wilde Entschlossenheit eher Angst.

Auf die abrupte Art, an die sich Jenna allmählich gewöhnte, änderte sich seine Stimmung.

„Schluss mit düsteren Themen. Schwimmt Amelie gern? Es wird jetzt warm genug für den Pool. Und woran sonst hat sie Freude?“

Dankbar für die Rückkehr zu leichteren Themen, antwortete Jenna auf seine Fragen, und redete weiter, bis das Hausmädchen zurückkam und berichtete, dass Amelie im Bett war und darum bitte, dass ihr die Signorina Gute Nacht sagte.

Jenna nahm es zum Anlass, sich zurückzuziehen. Als sie ihrem Arbeitgeber Gute Nacht wünschte, merkte sie, wie sein dunkler Blick forschend über sie huschte, während er mit einem Nicken antwortete.

Erst später, wieder in ihrem Wohnbereich, als Amelie schlief, fragte sich Jenna, warum sie Evandro Rocceforte so viel von ihrer Kindheit erzählt hatte. Es waren Dinge, über die sie noch nie geredet hatte, geschweige denn mit einem Mann wie ihm.

Ein Mann, dessen sanft gesprochene Worte jetzt von Neuem in ihr widerhallten.

Noch immer unsichtbar.

Sie schüttelte verächtlich den Kopf und erinnerte sich an die bitteren Wahrheiten, die sie nicht vergessen sollte.

Natürlich war sie unsichtbar für ihn. Für einen Mann, der nicht nur reich und mächtig war, sondern umwerfend gut aussah, der von den schönsten und faszinierendsten Frauen umschwärmt wurde. Frauen, zu denen sie in einem krassen Gegensatz stand.

Was sonst außer unsichtbar konnte sie für solch einen Mann sein?

Was sonst könnte sie sein wollen?

Jenna erinnerte sich plötzlich daran, wie sie gestern Abend in diesem sinnlichen, allzu entspannenden warmen Badewasser gelegen und Fantasien gehabt hatte, die zu haben sie kein Recht hatte. Fantasien von seinem Blick, der auf ihr ruhte …

Energisch verdrängte sie die Erinnerung. Es war ebenso unangemessen wie sinnlos, so an diesen beeindruckenden Mann zu denken!

Im Esszimmer schenkte sich Evandro einen Cognac ein, lehnte sich zurück und blickte zum unteren Tischende, wo Miss Ayrton gesessen hatte.

Unsichtbar hatte sie sich genannt.

Er dachte über das Wort nach. Es war das genaue Gegenteil von dem, was Berenice war. Sie war eine selbstsüchtige und narzisstische Frau, die verlangte, dass jeder ihr zu Willen war, sie begehrte, in ihren unheilvollen Bann geriet. Wirklich eine böse Hexe. Sie hatte zerstört, was auch immer er von einem jugendlichen Märchenprinzen an sich gehabt hatte.

Das erinnerte ihn an das Gespräch beim Abendessen über Märchenfiguren. Im Geiste hörte er sich fragen, ob solch ein Zauberbann gebrochen werden könne. Und er hörte Amelies Stimme.

Die gute Fee bricht immer den Zauberbann, papà!

Seine Miene veränderte sich. Existierte solch ein Wesen?

Ihm fiel die achtlos dahingeworfene Bemerkung ein, die er gegenüber der Frau gemacht hatte, die ihm vors Auto gelaufen war.

Sie sehen eher aus wie eine Waldnymphe …

So ihr Leben zu riskieren war wirklich tollkühn gewesen, aber sie schien nichts dabei zu finden.

Genauso, wie sie nichts dabei zu finden schien, ihm mutig entgegenzutreten und ihm ruhig und entschlossen seine Verantwortung für Amelie zu erklären.

Und jetzt, nachdem sie ihm von ihrer traurigen Kindheit erzählt hatte, wusste er auch, warum sie das tat.

Evandro kehrte zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurück.

War Jenna Ayrton unsichtbar?

Es war schwierig, nicht zuzustimmen. Sie hatte nichts an sich, was seinen Blick auf sie zog. Er ging eine Reihe von Punkten durch. Mittelbraunes Haar, zu einem Zopf zurückgebunden. Kein Make-up, um ihr Gesicht zu betonen. Das schlichte Kleid und die flachen Schuhe hatten ihre Figur auch nicht betont.

Sie tat absichtlich nichts, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie wollte tatsächlich unsichtbar sein.

Während Evandro einen Schluck Cognac trank, dachte er wieder, dass sie etwas an sich hatte, nicht nur, wie bescheiden sie wirkte, sondern wie sie mit ihm sprach, ihm antwortete und ihn mit ihren klaren haselnussbraunen Augen anblickte. Etwas, das …

Das was?

Die Frage schwebte unbeantwortet in der Luft.

5. KAPITEL

Wie er zu Jenna gesagt hatte, nahm sich Evandro jeden Tag Zeit, um mit Amelie zusammen zu sein.

Ohne um Entschuldigung zu bitten, unterbrach er den Unterricht, um Amelie zum Schwimmen an den Pool zu entführen, um mit ihr in der nahe gelegenen Kleinstadt den neuesten Kinderfilm zu sehen oder auf Besichtigungstour zu gehen. Von einem Ausflug kehrten sie mit einem pinkfarbenen Fahrrad zurück, auf dem Amelie danach begeistert über die Terrasse und die Gartenwege sauste.

Sooft ihr Unterricht auch gestört wurde, Jenna konnte sich nur für das kleine Mädchen freuen. Es wärmte ihr das Herz, zu sehen, wie viel Mühe sich Evandro gab, um eine liebevolle Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen.

Ihr stockte plötzlich der Atem. Wenn sie beobachtete, wie die Kleine glücklich zu ihrem Vater lief und von ihm umarmt wurde, empfand Jenna tatsächlich auch ein klein wenig Neid.

Und noch etwas anderes. Etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Was sie nicht erklären konnte. Noch nie empfunden hatte.

Ihr ganzes Leben war sie damit zufrieden gewesen, für sich allein zu sein, aber jetzt, als sie Amelie gerade zum Abschied winkte, die zu einem weiteren Ausflug mit ihrem Vater aufbrach, spürte Jenna die Einsamkeit in ihrem Inneren.

Sie wusste, dass sie nicht so empfinden sollte. Sie hatte kein Recht, so zu empfinden. Amelie war ihre Schülerin, und Evandro war ihr Arbeitgeber. Dieser schöne Palazzo war nur ihr vorübergehender Arbeitsplatz. Aber wie auch immer sie sich beschäftigte – im Pool schwimmen, Waldspaziergänge machen, die nächsten Unterrichtseinheiten planen –, wenn Amelie und Evandro unterwegs waren, das Alleinsein war nicht mehr willkommen.

Es war ein beunruhigendes Gefühl, unzufrieden zu sein, wenn sie für sich allein war. Die ständige Gesellschaft des kleinen Mädchens zu vermissen. Zu erkennen, und das beunruhigte sie am meisten, dass das Highlight des Tages inzwischen das Gespräch war, das sie an den Abenden mit Evandro führte, an denen sie ihre Schülerin zum Essen mit ihm begleitete.

Jenna stellte fest, dass sie sich in seiner Gesellschaft immer wohler fühlte. Sie wunderte sich darüber, suchte nach einer Erklärung. Schließlich war ein Mann wie Evandro Rocceforte weit entfernt von ihrer Welt. Reich, kosmopolitisch, ein viel beschäftigter Großunternehmer. Ein Mann, den an einer Frau wie ihr doch wohl wenig interessieren konnte.

Und trotzdem, jeden Abend, nachdem sie gegessen hatten und Amelie nach oben ins Bett gebracht worden war, füllte Evandro ihre Weingläser auf und fing ein Gespräch mit Jenna an, das nichts mit seiner Tochter zu tun hatte. Übers Zeitgeschehen oder italienische Kunst oder literarische Werke oder irgendein anderes Thema seiner Wahl.

„Sprechen Sie ganz offen, Miss Ayrton“, sagte er dann immer. „Ich möchte Ihre ehrliche Meinung hören. Na los, ich weiß, dass Sie eine haben, und wahrscheinlich eine sehr klare.“

Jenna wunderte sich. Sosehr sie sich auch ständig Evandros eindrucksvoller Persönlichkeit bewusst war, genoss sie es zugleich aus tiefstem Herzen, sich mit ihm zu unterhalten. Wenn er sie ansprach, verlangte er von ihr, dass sie ihm antwortete. Zurückhaltung akzeptierte er nicht, und sie merkte, dass sie vielleicht gar nicht zurückhaltend sein wollte.

Die Tage vergingen. Evandro lud Jenna wiederholt ein, mit ihm und Amelie zu Mittag oder zu Abend zu essen oder mit ihnen zusammen einen Waldspaziergang zu machen.

Jenna gelangte zu einer weiteren Erkenntnis. Eine Erkenntnis, die alle ihre Grenzen verschob, alle ihre Erwartungen, und die eine tiefe Sehnsucht in ihr weckte.

Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sich Jenna, nicht mehr unsichtbar zu sein.

Nicht für Evandro Rocceforte.

Piccolina, Signora Farrafacci sagt, sie will dir heute Nachmittag beibringen, Kekse zu backen“, verkündete Evandro beim Mittagessen. „In der Zeit werden Miss Ayrton und ich einen flotten Waldspaziergang machen. Bei unserem nächsten Spaziergang zu dritt können wir dann wieder ganz gemütlich gehen, so wie es dir am besten gefällt. Alles klar?“ Er lächelte Amelie an. „Viel Spaß beim Keksbacken!“

Jenna wollte gegen den Spaziergang protestieren, aber Evandro setzte sich über sie hinweg.

„Nein, ziehen Sie sich bitte nicht in Ihr Wohnzimmer zurück. Ich brauche sowohl Bewegung als auch gute Konversation, und nur Sie eignen sich für beides.“

Warum nur sie sich eignete, wollte er zum jetzigen Zeitpunkt nicht analysieren. Zwar war Jenna Ayrton schlecht angezogen, fest entschlossen, ihr Aussehen herunterzuspielen, und ihr fehlte jeglicher Sexappeal, aber das hatte nichts damit zu tun, warum er Zeit mit ihr zusammen verbringen wollte. Auch wenn die kleine Amelie im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stand, bereitete es ihm doch überraschend großes Vergnügen, in Gesellschaft ihrer Lehrerin zu sein. Gesellschaft, die er immer mehr suchte.

Er merkte, dass er sich auf die Gespräche mit ihr freute. Gespräche mit einer Frau, wie er noch nie zuvor einer begegnet war. Einer Frau, die, so zurückhaltend sie auch war, mit jedem Tag unbefangener in seiner Gegenwart wurde. Und er war froh darüber.

Nicht jeder fand es leicht, mit ihm zusammen zu sein. Die Jahre mit Berenice hatten ihn gezeichnet, ihn verbittert. Der Märchenprinz war vor langer Zeit verloren gegangen. Jetzt konnte er schroff und ungeduldig sein, herrisch und zynisch. Aber aus irgendeinem Grund schien er bei Jenna Ayrton heiterer und entspannter zu sein.

Vielleicht lag es daran, dass sie sich nicht von ihm einschüchtern ließ, wenn sie sich für Amelie einsetzte, um sie vor den Qualen zu schützen, die sie selbst in ihrer traurigen Kindheit ertragen hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass sie instinktiv seinen sarkastischen Humor zu verstehen schien und mit schlagfertigen Antworten darauf einging.

Und vielleicht lag es daran, dass sie ihm immer offen und ehrlich antwortete. Er konnte dem trauen, was sie sagte. Sie trimmte ihre Antworten nicht, damit sie zu seinen Ansichten passten, und sie versuchte auch nicht, seine zu ändern. Sie akzeptierte einfach ruhig und gelassen die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen.

Jenna Ayrton behauptete sich gegen ihn, sie gab nicht nach. Sie sagte, was sie dachte. Sie täuschte nichts vor. Sie hatte nichts Verschlagenes an sich.

Evandros Miene verfinsterte sich. Das genaue Gegenteil von der Frau, die er geheiratet hatte.

War das der Grund für die Anziehungskraft, die Jenna Ayrton auf ihn ausübte? Und wenn es so war, dann …

Für einen Moment war ihm unbehaglich zumute, dann tat er das Gefühl ab. Warum sollte er sich an die Warnung seines Anwalts erinnern? Wie könnte sie hierfür gelten? Jenna Ayrton war Amelies Lehrerin, sie war nur für den Sommer im Palazzo.

Jetzt, als Evandro am steilen, bewaldeten Hang ein strammes Tempo vorgab, blickte er sich zu der Frau um, die so anders war als seine toxische Ex-Frau. Anders als die Frauen, mit denen er nach seiner Scheidung von Berenice seine Freiheit gefeiert hatte. Sie war ein paar Schritte hinter ihm, blieb aber nicht zurück.

„Als Junge hatte ich ein Baumhaus, in dem ich mich versteckt habe“, sagte er. „Ich könnte es für Amelie wieder aufbauen. Glauben Sie, das würde ihr gefallen?“

„Sie würde es lieben“, erwiderte Jenna. „Jedes Kind würde gern eins haben.“

„Und Sie? Hätten Sie gern ein Baumhaus gehabt?“

„Oh, ja.“

Evandro blieb stehen und ließ sie ihn einholen. „Sie wissen, dass ich mit einsilbigen Antworten nicht zufrieden bin.“

Sie seufzte. „Ein Baumhaus wäre ein guter Platz gewesen, um mich vor meinen Stiefgeschwistern zu verstecken. Ich musste mich hinter den Gartenschuppen kauern, wo überall Brombeergestrüpp und Brennnesseln waren. Manchmal habe ich mich stundenlang dort versteckt und hatte Angst, dass sie mich finden und verspotten und quälen.“

Ihre Miene war trostlos, als Jenna Ayrton in ihre unglückliche Kindheit zurückblickte. Sie hatte befürchtet, dass Amelie in ähnlicher Weise zu einer unglücklichen Kindheit verdammt sein könnte, wenn sich herausgestellt hätte, dass er aus demselben Holz geschnitzt war wie ihr gefühlloser Vater.

Evandro presste die Lippen zusammen. Also Amelies Kindheit war jetzt gesichert. Darüber gab es überhaupt keinen Zweifel. Aber was ihre Lehrerin anging …

Der seelische Schmerz, den sie ertragen hatte, verfolgte sie noch immer. Zerstörte ihr Leben.

Evandro blickte sie an. Das tanzende Sonnenlicht spielte mit ihrem hellbraunen Haar, von dem sich durch das stramme Gehen ein paar zarte Strähnen aus dem Zopf gelöst hatte. Ihre Gesichtszüge wirkten viel weicher. Ihre Wangen waren von der Anstrengung gerötet, und in ihren haselnussbraunen Augen glänzten hier unter dem Blätterdach der Bäume noch mehr grüne Lichter als sonst. Ihre kleinen Brüste hoben sich bei jedem schnellen Atemzug. Evandro dachte wieder daran, wie er sie während der ersten dramatischen Begegnung genannt hatte.

Eine Waldnymphe … Eine Sylphe des Walds, die in den Tiefen des Walds verschwinden könnte, ungesehen.

Unsichtbar.

So unsichtbar, wie ihr herzloser Vater sie sich hatte fühlen lassen.

So unsichtbar, wie sie sich noch immer fand.

Evandros Augen funkelten plötzlich vor Entschlossenheit.

Ich will nicht, dass sie unsichtbar ist! Nicht für sich selbst.

Und auch nicht für mich.

Der letzte Gedanke stieg völlig überraschend in ihm auf, begleitet von einem unerklärlichen Gefühl.

Evandro runzelte die Stirn und bemühte sich, an etwas anderes zu denken …

6. KAPITEL

Evandro stützte den Ellbogen lässig auf den Rand des offenen Fensters der silbergrauen Limousine, in der sie es zu dritt viel bequemer hatten als in dem Superauto, in dem er angekommen war. Er wartete darauf, dass seine Mitfahrerinnen aus dem Palazzo auftauchten, und er freute sich auf den Tag, der vor ihm lag.

Angeblich machten sie den Ausflug, um neue Kleidung für Amelie zu kaufen, aber Evandro wollte heute noch etwas anderes erreichen.

Die Vordertür öffnete sich, und die beiden kamen heraus. Amelie, in einem paillettenbesetzen Top in grellem Pink und einem signalgelben Ballonrock, rannte fröhlich auf ihn zu, als Evandro ausstieg, um die hintere Tür für sie zu öffnen. Über ihren grässlichen Look sagte er nur, sie sähe so blendend aus, er brauche eine Sonnenbrille.

Amelie kletterte hinein und setzte sich in den Kindersitz. Evandro überprüfte, dass sie sicher angeschnallt war, bevor er sich zu Jenna umdrehte.

Sofort bemerkte er, dass sie an diesem Morgen weniger schlicht aussah. Vielleicht, weil sie heute ausgingen.

Das hellblaue Hemdblusenkleid sah überraschend klasse an ihr aus. Der Gürtel betonte ihre schmale Taille, und die Kragenaufschläge – ob sie sich dessen bewusst war oder nicht, und Evandro vermutete, sie war es nicht – lenkten die Aufmerksamkeit dezent auf ihre Brüste unter dem Baumwollstoff des Oberteils.

Wie üblich war sie völlig ungeschminkt, aber ihre Augen und ihr Teint strahlten, vielleicht auch wegen der Aussicht, mal einen Tag herauszukommen.

Was auch immer der Grund für ihr gutes Aussehen war, Evandro begrüßte es.

Energisch schloss er die hintere Tür der Limousine. Er hatte nicht die Absicht, Jenna auf dem Rücksitz neben Amelie sitzen zu lassen.

„Ich möchte Sie hier vorn neben mir haben“, erklärte er und deutete auf den Beifahrersitz. „Damit ich auf die Sehenswürdigkeiten hinweisen kann. Sie sind viel zu lange eingesperrt gewesen, deshalb werden wir heute Shopping mit Sightseeing verbinden.“ Er warf ihr einen zufriedenen Blick zu, als sie sich seinen Wünschen fügte und vorn einstieg. „Es wird Zeit, dass Sie etwas von der Region sehen.“

„Es ist wirklich nicht nötig, mich auf eine Besichtigungstour mitzunehmen …“, begann Jenna.

„Wir werden auch eine nahe gelegene römische Villa besuchen, eine bedeutende Ausgrabungsstätte, die für Amelie lehrreich sein wird, falls Sie Bedenken haben, sich einen Tag freizunehmen.“ Er ließ den Motor an und lenkte das Auto langsam über die Auffahrt. Die Erinnerung daran, wie Jenna ihm vors Auto gelaufen war, damit er nicht gegen den Steinschlag krachte, wurde in ihm wach.

Er wandte ihr das Gesicht zu. „Ich habe Ihnen nie für das gedankt, was Sie damals getan haben. Ich habe Sie nur angeschrien. Höchstwahrscheinlich haben Sie mir das Leben gerettet.“

Ihm wurde plötzlich kalt. Wenn er damals in den Tod gerast wäre, dann wäre Amelie zurück zu Berenice gebracht worden, dazu verdammt, völlig verkorkst aufzuwachsen. Entweder wäre sie so selbstsüchtig und narzisstisch wie ihre Mutter geworden, oder sie wäre über alle Maße verletzt und geschädigt worden, weil sie sich immer nach einer Liebe gesehnt hätte, zu der seine Ex-Frau nicht fähig war.

Es war ein unerträglicher Gedanke.

„Deshalb danke ich Ihnen jetzt“, sagte er.

Ihre Blicke trafen sich, und der Moment hatte eine unvermutete Intensität, selbst wenn es nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte.

Als sich Evandro wieder auf die schmale Privatstraße konzentrierte, wirkte dieser Moment noch in ihm nach.

„Lasst uns Pasta essen!“, verkündete Evandro, als sie sich draußen vor einer Trattoria an einen Tisch setzten. Sie hatten für ihr Mittagessen in einer malerischen kleinen Stadt angehalten, der Blick über den mittelalterlichen Marktplatz war ganz bezaubernd.

Der Tag war bisher wundervoll gewesen. Jenna hatte alles genossen. Zuerst hatten sie die römische Villa besichtigt, dann waren sie weiter durch die hügelige Landschaft gefahren, vorbei an Getreidefeldern und Weinbergen. Evandro hatte auf historisch und geografisch interessante Sehenswürdigkeiten hingewiesen, ihnen etwas darüber erzählt, wie Wein hergestellt wurde und wie die Menschen früher gelebt hatten.

Jenna konnte nicht leugnen, wie schön es war, die Landschaft dieses Teils Italiens zu sehen, den sie noch nie zuvor besucht hatte. Und sie konnte auch nicht leugnen, wie schön es war, einbezogen zu werden. Oder wie schön es war, sich mit Evandro so wohlzufühlen.

In Gedanken ging sie noch einmal durch, wie er ihr dafür gedankt hatte, dass sie ihn davor bewahrt hatte, mit seinem Auto in den Steinschlag zu krachen. Wie er sie dabei angesehen hatte. Der Moment hatte eine Intensität an sich gehabt, die sie ganz still hatte werden lassen.

Ihr Blick glitt jetzt zu ihm, während er mit Amelie besprach, welche Pasta sie wählen sollten, die Köpfe über der Speisekarte zusammengesteckt, einer so hell und einer so dunkel. Jenna fiel ein, dass sie sich schon einmal gefragt hatte, von wem in der Familie Amelie ihr blondes Haar und den hellen Teint hatte. Aber wie wichtig war das? Jennas Miene wurde weicher, während sie die beiden beobachtete, die so normal, so völlig unbefangen miteinander umgingen.

Ihre Sorgen um Amelie waren ausgeräumt.

Sie wird niemals die einsame Außenseiterin sein, die ich als Kind war, dachte Jenna. Es schnürte ihr die Kehle zu. War sie es nicht noch immer? Wie wundervoll es auch war, zu diesem Ausflug eingeladen zu sein, sich so gut mit ihrem Arbeitgeber zu verstehen und ihre Schülerin so gernzuhaben, sie selbst war nur eine Außenseiterin, eine Zuschauerin.

Ich werde im Herbst weg sein, und wahrscheinlich werde ich die beiden nie wiedersehen.

Der Gedanke tat weh, und es schockierte sie, wie heftig der Schmerz war.

Jenna zwang sich, konzentriert die Speisekarte zu lesen. Ja, ihre Zeit in Italien würde enden, ihre Zeit mit Amelie in dem schönen Palazzo, ihre Zeit mit Evandro.

Autor

Julia James
<p>Julia James lebt in England. Als Teenager las sie die Bücher von Mills &amp; Boon und kam zum ersten Mal in Berührung mit Georgette Heyer und Daphne du Maurier. Seitdem ist sie ihnen verfallen. Sie liebt die englische Countryside mit ihren Cottages und altehrwürdigen Schlössern aus den unterschiedlichsten historischen Perioden...
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