Julia Extra Band 540

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KALTE RACHE, HEISSES BEGEHREN von LORRAINE HALL
Vergeltung! Das ist es, was Milliardär Lysias Balaskas will! Um Zugang zum Palast des Königs zu erhalten, der seiner Familie Unrecht antat, lässt er die schöne Spionin Al seine adlige Verlobte spielen. Ein Fehler? Plötzlich begehrt er Al wirklich, da entdeckt er ihr Geheimnis …

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  • Erscheinungstag 12.09.2023
  • Bandnummer 540
  • ISBN / Artikelnummer 9783751518208
  • Seitenanzahl 450
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lorraine Hall, Joss Wood, Jennifer Faye, Lucy King

JULIA EXTRA BAND 540

1. KAPITEL

Natürlich wusste Al, dass sie früher sicher einen richtigen Vor- und sogar einen Nachnamen gehabt hatte, aber sie kannte weder den einen noch den anderen. Vage erinnerte sie sich, als Kleinkind Alexandra genannt worden zu sein. Verschiedene Leute auf der Straße hatten ihr beigebracht, wie man überlebte. Manche waren nett gewesen, manche grausam, manche gleichgültig. Aber sie hatte überlebt, und das war alles, was zählte.

An eine Zeit vor dem Leben auf der Straße konnte sie sich nicht erinnern, also nahm sie an, dass ihre Eltern tot oder zumindest unbekannt waren. Genau wie bei den meisten anderen Straßenkindern. Nicht, dass es darauf ankam.

Eine der besten Überlebenschancen in den gefährlichen Straßen von Athen war, sich als Junge auszugeben. Selbst jetzt, mit vierundzwanzig, konnte sie aufgrund ihrer schmalen Gestalt und mittleren Größe immer noch als Junge durchgehen. Sie musste sich nur so kleiden und verhalten.

Und genau das tat sie. Sie zog ausgebeulte Hosen an, die den Schwung ihrer Hüften verbargen. Über ihren Hemden trug sie einen übergroßen Mantel, der ihre Schultern breiter machte. Dazu noch die abgewetzten Stiefel, eine Kappe und das mit einem schmalen Band zurückgehaltene struppige Haar, und niemand stellte ihr männliches Geschlecht infrage.

An eine Hausecke gelehnt musterte sie die Menge in der Straße, die vor Touristen nur so wimmelte.

Sie war mit jemandem verabredet, und für solche Treffen zog sie belebte Straßen vor, was es ihr ermöglichte, im Zweifelsfall schnell zu entkommen. Beim Handel mit Informationen konnten so manche Geschäftspartner unangenehm werden, besonders jene Männer, die sich selbst als mächtig betrachteten.

Normalerweise nahm Al keine Aufträge von Leuten an, die sie nicht im Vorfeld sorgfältig überprüft hatte. Sie war stets vorsichtig und wollte alles über einen Klienten wissen, bevor sie sich mit ihm traf. Doch an diesem besonderen Nachmittag wusste sie nicht wirklich, mit wem sie es zu tun hatte. Aber der versprochene Lohn war einfach viel zu hoch, um widerstehen zu können.

Er reichte, um das Spionagegeschäft vielleicht für immer hinter sich zu lassen. Anfänglich hatte sie dieses Geschäft spannend gefunden. Niemand achtete auf einen kleinen Bettler auf der Straße, und so war ihr klar geworden, dass sie viele Dinge hörte und sah, die für andere Leute nützlich waren.

Und für die sie bezahlten.

Aber seit sie nicht nur Informationen verkaufte, die sie zufällig hörte, sondern auch Aufträge annahm, um andere auszuspionieren, war das Leben komplizierter geworden. Genau wie heute.

Es war möglich, dass dieses ganze Treffen eine Falle war. In letzter Zeit waren die Dinge gefährlicher geworden. Vielleicht hatte sie die Missetaten von einem wichtigen Mann zu viel aufgedeckt, und dieser war jetzt auf der Suche nach einem Jungen, der in Athens Straßen spionierte. Und so ein Mann würde Al lieber tot sehen.

Sie konnte natürlich die Identität des Straßenjungen ablegen und als die junge Frau leben, die sie war. Oder in einer anderen Stadt als Junge weitermachen. Doch diese Optionen schienen genauso gefährlich wie die Männer, die hinter ihr her waren.

Denn diese waren zumindest die Feinde, die sie bereits kannte.

Solange Al denken konnte, hatte sie auf der Straße überlebt, doch sie war die Täuschungen und Lügen, die Geheimnisse und die Gefahr leid. Sie wollte ein Leben, das angenehmer war. Entspannter.

Sicherer.

Dieser Lohn konnte ihr all das verschaffen. Um ihn zu bekommen, musste sie nur ein paar ihrer eigenen Regeln beugen und hoffen, dass der geheimnisvolle Auftraggeber, der einen Boten zu ihr geschickt hatte, ihr Fahrschein in ein besseres Leben war.

Also wartete sie auf den Mann. Das war alles, was sie über ihren Klienten wusste. Sein Angestellter – ein wortkarger Riese – hatte gesagt, sie solle am verabredeten Treffpunkt auf seinen Boss warten.

Aufmerksam beobachtete sie die Menge. Nur wenige Leute schauten in ihre Richtung, normalerweise leicht unbehaglich. Frauen umklammerten ihre Taschen etwas fester, wenn Al sich bemühte, möglichst finster dreinzusehen. Doch die meisten sahen geradewegs an ihr vorbei und kümmerten sich um ihren eigenen Kram oder hielten nach Sehenswürdigkeiten Ausschau.

Al wurde langsam nervös, als die vereinbarte Zeit verstrich. Mit gerunzelter Stirn musterte sie noch einmal die Leute. Da entdeckte sie einen hoch gewachsenen, weiß gekleideten Mann. Er schien sich den Weg durch die Menge zu bahnen wie der Erzengel persönlich. Die Menschen machten ihm Platz, ohne dass er jemanden darum bitten musste.

Er war beeindruckend. Wie ein zum Leben erweckter Gladiator. Sein dunkles Haar war zurückgekämmt, sein Gesicht markant und gebräunt, perfekt, um die Aufmerksamkeit auf den scharfen Blick seiner goldbraunen Augen zu richten. Offensichtlich war er gefährlich.

Und er kam geradewegs auf sie zu.

Al befahl sich, ihre gelassene Haltung und ihren finsteren Gesichtsausdruck beizubehalten, doch das wurde immer schwieriger, je näher der Mann kam.

Das musste der Klient sein, der sie treffen wollte. Man hatte ihr seinen Namen nicht genannt, doch sie wusste, wer er war. Es war praktisch unmöglich, in Athen zu leben und sein Gesicht nicht zu kennen.

Lysias Balaskas. Selfmade-Milliardär. Seine Geschichte gehörte zu jenen, die man erzählte, um zu beweisen, dass jeder alles erreichen konnte, da Balaskas angeblich selbst auf der Straße groß geworden war. Man erzählte sich, er habe sich nach oben gearbeitet, weil er nicht nur brillant, charmant und entschlossen war, sondern auch hart arbeitete.

Al wusste, dass ein solcher Erfolg zwar all das erforderte, jedoch auch jede Menge Glück. Sonst wäre sie selbst jetzt auch irgendwo ganz an der Spitze. Schließlich arbeitete sie ebenfalls hart, war tatkräftig und konnte sogar charmant sein.

Doch leider hatte sie niemals eine solche Chance bekommen.

Der Mann musterte sie jetzt durchdringend.

„Al, nehme ich an?“, sagte er und klang fast amüsiert, auch wenn sie nicht wusste, was an der Situation amüsant sein sollte.

Sie bemühte sich, in ihrem üblichen sorglosen Ton zu antworten, musste jedoch feststellen, dass ihre Stimme plötzlich höher war als sonst. „Ja, ich bin Al.“

Er lächelte zufrieden. „Sehr gut.“

Lysias Balaskas war sich ganz und gar nicht sicher, was er von diesem Al halten sollte. Auch wenn er von dem Jungen nur Positives gehört hatte und dieser angeblich auch die verborgensten Geheimnisse enthüllen konnte, lag etwas in seinem Blick, was Lysias aufmerksamer werden ließ, als er sowieso schon war.

Als ein Mann, der auf Rache aus war, war er immer vorsichtig und sich bewusst, was die Leute über ihn dachten. Denn anders als die meisten Leute hatte Lysias ein einziges Ziel in seinem Leben.

Und er gestattete keine Ablenkungen.

„Warum gehen wir nicht ein Stück, mein Junge?“, schlug er nun vor. Er wusste, dass die Leute in seiner Anwesenheit anfänglich meist um Worte verlegen waren, da er gut aussah und obendrein Geld und Macht besaß.

„Sie haben einen Job für mich?“, fragte Al und ging neben ihm. Lysias bemerkte, dass der Junge weiter die Menge beobachtete. Ruhig und gelassen war er auf der Hut.

Das war verständlich, nachdem er die Geheimnisse von sehr mächtigen und gefährlichen Männern in Griechenland enthüllt hatte. Offensichtlich wusste er, wer Lysias war.

„Es gibt ein altes Gerücht, dem du für mich nachgehen sollst“, sagte Lysias und schritt durch die Menge, als wäre ihm alles andere egal. Dabei achtete er jedoch genau auf Al und dessen Reaktionen. „Es geht um das Königreich von Kalyva.“

Darauf erfolgte nur ein Schulterzucken.

„Das ist eine kleine Insel. Abgelegen und unabhängig. Sie wird von König Diamandis regiert.“ Und Lysias wollte diesen König vernichten. Mit seinen bloßen Händen. Aber da dies keine Option war, würde er seine Rache durch eine List bekommen.

„Und was wollen Sie damit anfangen?“

„Das braucht dich nicht zu kümmern. Du sollst lediglich alles herausfinden, was die Ermordung von Prinzessin Zandra Agonas von Kalyva vor zwanzig Jahren betrifft.“

„Sie wollen, dass ich Ihnen Informationen über einen alten Mord beschaffe, der auf einer abgelegenen Insel passiert ist?“, fragte Al misstrauisch.

„Die ganze Königsfamilie wurde bei einem blutigen Anschlag ermordet, außer dem heutigen König. Es geht das Gerücht, dass die Leiche von Prinzessin Zandra nie gefunden wurde“, fuhr Lysias unbeirrt fort. „Ich muss sicher sein, dass dies stimmt. Es erfordert, dass du einen Weg findest, König Diamandis nahe genug zu kommen, um die Wahrheit zu erfahren oder zumindest das, was er für die Wahrheit hält. Zusätzlich zu dem großzügigen Honorar werde ich sämtliche Unkosten tragen, die dabei entstehen.“

Der Junge verzog nachdenklich das Gesicht und wirkte, als würde er etwas verheimlichen. Aber es hieß, dass er sehr geschickt war. Außerdem würde Lysias dafür sorgen, selbst die Oberhand zu haben. Wie immer. Seine Rachepläne an König Diamandis existierten bereits seit zwanzig Jahren – und egal, was Al herausfand oder auch nicht, Lysias würde niemals aufgeben.

Der König war schuld am Tod seiner Eltern und der Grund, weshalb Lysias sich nach seiner Verbannung von Kalyva den Rest seiner Kindheit auf der Straße hatte durchschlagen müssen.

Der König würde bezahlen. Für alles.

„Noch heute Abend wirst du mit einem meiner Männer nach Kalyva reisen und herausfinden, was der König weiß. Das berichtest du Michalis, der wiederum mir berichten wird. Niemand sonst darf von unserer Verbindung erfahren, sobald du in Kalyva bist. Glaub mir, wenn ich sage, das wäre für dich genauso schlecht wie für mich.“

Der Junge schob gedankenvoll die Lippen vor und ging weiter. Er sah sich kurz um, entsprechend tat Lysias es ihm nach und fragte sich, wen der Junge fürchtete. Einen Verfolger? Die Polizei?

„Reisen kostet extra“, sagte Al schließlich.

„War mein ursprüngliches Angebot nicht großzügig genug?“

Al blieb stehen und wich geschickt dem Strom von Touristen aus. Er sah Lysias frech an. „Das ist keine Großzügigkeit, sondern eine Entschädigung. Außerdem weiß ich, wie viel Sie wert sind.“

„Du weißt, was die Leute glauben, wie viel ich wert bin.“ Er grinste Al an. „Die Wahrheit können sich die meisten gar nicht vorstellen.“

Die Augen des Jungen wurden einen Moment lang groß, dann musterte er wieder seine Umgebung und schien dabei das Angebot zu bedenken. „Ich möchte einen Vorschuss.“

„Um damit abzuhauen?“

Al zuckte mit den Schultern. „Nennen Sie es Versicherung.“ Er wollte weitergehen, doch Lysias fasste ihn am Arm und zog ihn näher zu sich, um seinen Standpunkt zu unterstreichen.

„Pass gut auf, mein Junge. Falls du mein Geld nimmst und untertauchst, finde ich dich. Egal wo du bist. Niemand kommt mir in die Quere.“

Der Junge sah ihn aus großen dunklen Augen an. Er war von schlanker Gestalt, mit relativ weichen Gesichtszügen. Lysias war es ein Rätsel, wie er so lange auf der Straße überlebt hatte. Seine eigene Verteidigung als Jugendlicher war seine Größe und Stärke gewesen. Seine Fähigkeit, aus jedem Kampf als Gewinner hervorzugehen.

Al wäre dazu jedenfalls nicht in der Lage.

Der Junge zog seinen Arm weg. „Ich will einen Vorschuss“, forderte er erneut und deutete mit einem Nicken auf die Uhr an Lysias’ Handgelenk. „Die dürfte reichen.“

Lysias hob eine Augenbraue. „Hast du eine Ahnung, was diese Uhr wert ist?“

Al grinste großspurig, und zum ersten Mal hatte Lysias den Eindruck, dass er einen hervorragenden Spion abgeben konnte. „Oh, ich habe sogar eine ziemlich gute Ahnung, reicher Mann.“

Lysias merkte zu seiner eigenen Überraschung, dass er die Frechheit des Jungen genoss. Er nahm die Uhr ab und ließ sie in dessen Hand fallen. „Die Uhr aufzuspüren wäre leicht, falls du mich abhängen willst.“

„Klar doch“, stimmte Al mit einem Schulterzucken zu. Er steckte die Uhr ein und überflog erneut die Menge um sie herum. „Wann und wo?“

„Mitternacht. Mein privater Jachthafen. Ich nehme an, du findest ihn selbst.“

„Klar doch.“

„Ich bin mit meinem Mittelsmann dort, damit du sicher sein kannst, die richtige Person zu treffen. Ich werde mich überzeugen, dass du auf dem Schiff und auf dem Weg nach Kalyva bist. Michalis wird dein Kontaktmann sein und deine Ausgaben decken, während du auf der Insel bist. Wenn du die Informationen, die ich will, nicht innerhalb einer Woche erhältst, müssen wir neu verhandeln.“

Al erwiderte nichts und zuckte nur mit den Schultern. „Alles klar.“ Ohne einen Handschlag oder Gruß lief er davon. Im nächsten Moment war er in der Menge verschwunden.

Lysias sah ihm nach. Er glaubte nicht, dass der Junge vor ihm davonlief. Er machte einen fähigen Eindruck auf ihn. Aber irgendetwas stimmte nicht ganz.

Dafür hatte Lysias einen siebten Sinn.

Und so folgte er ihm.

2. KAPITEL

Al wusste, dass sie beobachtet wurde – und zwar nicht nur von dem attraktiven Lysias. Nein, jemand in der Menge hatte es auf sie abgesehen. Sie hatte denselben Mann heute an zu vielen Orten gesehen.

Sie musste ihn abschütteln.

Allerdings war dies nicht der einzige Grund für ihren schnellen Aufbruch eben. Lysias Balaskas war … ein Problem. Sie schien ihn nicht ansehen zu können, ohne rot zu werden, und war viel mehr an seinem schönen Mund interessiert als an dem, was er sagte.

Nichts in ihrem kurzen, aber ereignisreichen Leben hatte sie auf das vorbereitet, was dieser Mann bei ihr auslöste. Sie hatte schon mit einigen wohlhabenden und attraktiven Männern zu tun gehabt, aber Lysias war etwas völlig anderes. Und das machte ihr Angst.

Schlimmer noch, es schien ihr verlockend.

Also musste sie weg von ihm. Natürlich mit seiner Uhr. Aber das bedeutete ja nicht, dass sie sein Angebot annehmen musste. Wenn sie beschloss, ihn nicht am Hafen zu treffen, würde sie ihm die Uhr zurückgeben, ohne dass er es merkte, und ihn heute Abend vergeblich warten lassen.

Der Gedanke, mit irgendeinem Fremden allein auf einem Boot zu reisen, gefiel ihr gar nicht.

Al traute niemandem.

Sie eilte eine schmale Gasse entlang, die Sonne brannte auf sie herab. Sie hatte einen Vorsprung vor ihrem Verfolger, konnte diese schattenhafte Gestalt aber immer noch hinter sich spüren, merkte genau, dass sie verfolgt wurde.

Vielleicht wäre ein Ortswechsel gut für sie. Sie kannte diese Insel nicht, und vielleicht kannten andere sie auch nicht. Das wäre die perfekte Gelegenheit, allen zu entkommen, die ihr hier in Athen im Nacken saßen.

Das konnte funktionieren.

Wenn sie ihrer gegenwärtigen Gefahr entkam.

Sie kletterte eine Leiter hoch auf einen Balkon, dann hinüber zum nächsten und übernächsten. Am Ende des Gebäudes angekommen, sprang sie nach unten und erschreckte ein junges Pärchen auf einer Bank. Sie grinste sie an und eilte dann über die Straße.

Trotz all ihrer Bemühungen war immer noch jemand hinter ihr her. Panik wollte in ihr aufsteigen, aber das wäre ihr Tod. Sie musste vernünftig nachdenken. Da stolperte sie über den Fuß eines Mannes, und auch wenn sie sich abfangen konnte, schrie der Mann ihr wütend hinterher.

Das brachte sie aus dem Konzept, genau wie das Treffen mit Lysias es getan hatte, und so rannte sie weiter, ohne sich genau zu vergegenwärtigen, wo sie war.

Ein böser Fehler, denn sie lief geradewegs in eine Sackgasse. Sie musterte die Mauer vor sich, suchte nach irgendeiner Möglichkeit, hinaufzuklettern und zu entkommen.

Doch die gab es nicht. Sie stieß einen Seufzer aus, als ihre Welt um sie zusammenbrach.

Ihr war immer klar gewesen, dass sie getötet werden konnte. Und doch hatte sie etwas Gutes mit ihrem unbedeutenden Leben angefangen. Missetaten einiger böser Männer aufgedeckt.

Es war nur ein Jammer, dass sie selbst niemals hatte richtig leben können. Aus irgendeinem Grund fiel ihr dabei Lysias mit seinen goldbraunen Augen und dem spöttischen Lächeln ein. Was total albern war, denn sie drehte sich gerade zu ihrem Angreifer um.

Er hatte ein langes Messer. Eine Narbe verlief von seiner Schläfe übers Gesicht, bis sie unter seinem Hemdkragen verschwand.

„Das sieht ja böse aus“, sagte sie und deutete mit dem Kinn auf die Narbe. „Willst du etwa mit mir dasselbe machen?“ Sie musterte das Messer und versuchte, die Angst wegzureden.

Ein Messer bedeutete Schmerzen.

Ihre Beine zitterten, doch sie sagte sich, dass sie sich herauskämpfen würde. Sie würde verletzt werden, klar, doch wenn sie schnell rannte, konnte sie am Leben bleiben. Vielleicht. Wenn sie nicht verblutete. Wenn er sie nicht völlig überwältigte.

Also lief sie los. Rannte geradewegs in den Mann hinein und hoffte, ihm so das Messer aus der Hand schlagen zu können. Das schaffte sie zwar nicht, aber sie überraschte ihn so, dass er nach hinten fiel. Natürlich stolperte sie dann über seinen Körper. Aber sie kam an ihm vorbei.

Sie rappelte sich hoch und sah die Freiheit schon vor sich, die Gasse, die sich wieder für sie öffnete. Doch als sie es fast geschafft hatte, erwischte die Hand des Mannes sie am Knöchel und schickte sie bäuchlings auf die heiße, festgebackene Erde. Al kämpfte verzweifelt, doch sie hatte keine Chance gegen den Mann, der sich auf sie setzte.

Sie schlug und stieß um sich, konnte ihn aber nicht von sich abschütteln. Er schlitzte mit dem Messer ihr Hemd auf. Panik erfasste sie. Sie erkannte in seinem Gesicht, wie ihm klar wurde, was er sah, noch während sie gegen ihn ankämpfte, im verzweifelten Versuch zu überleben.

„Du bist ja eine Frau! Ein Jammer, dass wir keinen Spaß miteinander haben können, aber mein Auftrag ist klar. Betrachte das als ein Geschenk von Pangali“, sagte er und erwähnte einen der mächtigen Männer, die sie als Verbrecher und Mörder entlarvt hatte.

Langsam, als genieße er den Schmerz, den er ihr zufügte, begann ihr Angreifer, die scharfe Messerspitze durch die Binden zu ziehen, die ihre Brüste verbargen. Dann führte er das Messer wieder nach oben, um nicht nur die Bandagen zu zerschneiden, sondern auch ihre Haut. Offensichtlich wollte er ihr die gleiche zackige Narbe von der Brust bis zu den Schläfen verpassen, die er selbst hatte.

Voller Schmerz stöhnte sie unwillkürlich auf, während sie sich mit aller Kraft unter ihm aufbäumte. Zu ihrer Überraschung flog der Messerstecher von ihr herunter und stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, als er schwer gegen die Mauer knallte.

Da Al jetzt die ganze Gasse überblicken konnte, wurde ihr klar, dass nicht sie selbst wundersamerweise ihren Angreifer überwältigt hatte.

Lysias Balaskas war hier.

Einen Augenblick lang war sie wie erstarrt. Er hatte sie gerettet. Sie holte tief Luft, doch alles tat weh. Brennender Schmerz und das klebrig warme Gefühl von Blut aus der Messerwunde lösten ein Schwindelgefühl aus.

Sie musste aufstehen … sie musste …

Lysias beugte sich besorgt über sie und griff nach dem zerrissenen Hemd. „Wo hat er dich verletzt?“

Sie stieß ihn weg, wollte sich aus seinem Griff befreien und vor seinem Blick verbergen.

„Hör auf zu kämpfen, Junge“, mahnte er ungeduldig. „Ich will dir doch helfen!“ Das kam so befehlend, dass sie zögerte.

Und während sie noch zögerte, war alles verloren. Denn er versuchte, ihre Blutung zu stoppen, und das, was sie vor der Welt verbergen wollte, war für ihn offensichtlich.

Er zog den Arm zurück, blickte auf seine blutige Hand und dann auf sie. „Du bist gar kein Junge.“

Sie wollte seine Überraschung zum Entkommen nutzen. Doch er blockierte den einzigen Ausweg. Also stand sie da, während das Blut ihre Brust hinablief und zu viel von ihr entblößte. Entblößte, wer sie wirklich war.

Aber sie würde nicht aufgeben. Er hatte sie vor einer Bedrohung gerettet, aber das bedeutete nicht, dass er nicht selbst eine war. Sie musste weiterkämpfen.

„Du bist auch kein Mädchen“, sagte er und musterte sie kritisch. „Sondern eine Frau.“

Lysias passierte es nicht oft, dass man ihn schockieren konnte.

Jetzt aber hatte es ihn kalt erwischt.

Obwohl er geahnt hatte, dass irgendetwas nicht stimmte, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass Al in Wirklichkeit eine Frau sein könnte.

Sie hob herausfordernd das Kinn, sagte jedoch nichts. Voller Ablehnung sah sie ihn aus ihren dunklen Augen an. Doch er erkannte auch den Schmerz.

Er hatte seinem Bodyguard bereits den Befehl gegeben, sich um den Angreifer zu kümmern, also waren es jetzt nur er und Al, die in dieser schmalen Gasse einer armen, gefährlichen Gegend von Athen standen.

Er umkreiste sie, doch sie bewegte sich ebenfalls und wandte ihm nie den Rücken zu. Kluge Frau.

Sie hatte wohl schon einige Zeit auf der Straße überlebt, indem sie vorgab, ein Junge zu sein, auch wenn sie eben einem schlimmen Ende entkommen war. Faszinierend.

Doch bevor er all das und dessen Bedeutung einordnen konnte, brauchte sie medizinische Versorgung. „Kommen Sie“, sagte er und änderte unwillkürlich die Anrede. Eine erwachsene Frau konnte er nicht duzen. Er streckte ihr eine Hand entgegen.

Sie ergriff sie nicht. Stattdessen hielt sie ihr zerrissenes Hemd zusammen und musterte seine Hand misstrauisch, als ob er das Messer hielte. „Wohin?“

„Irgendwohin, wo wir Sie säubern können.“

„Ich kann mich um mich selbst kümmern“, erwiderte sie.

„Und doch stehen Sie hier verwundet in einer Gasse und wurden im letzten Moment gerettet. Von mir, wenn ich hinzufügen darf.“ Das herablaufende Blut und das schmutzige Hemd waren beunruhigend genug, doch ihr Gesicht war außerdem gefährlich blass, und sie streckte die Hand aus, um sich an der Mauer festzuhalten.

Weshalb Lysias eine Entscheidung traf. Auch wenn sie schon genug über sich hatte ergehen lassen müssen, brauchte sie doch einen Arzt. Er ging auf sie zu und hob sie vorsichtig hoch, obwohl sie protestierte.

Ihr Widerstand erlahmte, als die Schmerzen ihr ihre Situation klarzumachen schienen, und schließlich hielt sie in seinen Armen still.

Seine Gedanken waren düster, als er sie zu seinem Auto trug. Es war für ihn unerträglich, dass brutale Männer mit Messern und mit zu viel Macht versuchten, jemand wie sie zu verletzen.

„Was ist mit dem anderen passiert?“, fragte sie, als sie sich seinem Auto näherten. Sein Fahrer stand ausdruckslos da, die hintere Wagentür geöffnet.

„Mein Bodyguard hat sich darum gekümmert. Der Angreifer wird bei der nächsten Polizeistation abgeliefert.“

„Ohne ein Opfer wird ihm nichts geschehen“, stellte sie ohne jegliche Emotionen fest. „Selbst mit einem Opfer würde es nicht wirklich etwas ändern. Er ist lediglich ein bezahlter Schläger.“

Lysias wusste aus seiner eigenen Erfahrung vom Leben auf der Straße, dass man hier nicht an Recht und Ordnung glaubte. Doch er würde dafür sorgen, dass ihr Angreifer und auch der Mann, der ihn geschickt hatte, ihre gerechte Strafe bekamen.

Lysias hatte sich aus der tiefsten Armut und Verlassenheit hochgearbeitet, um selbst ein Arm der Gerechtigkeit zu werden.

„Ich werde dafür sorgen, dass er bezahlt.“

Sie sah zu ihm hoch. Ihr Blick war ernst und voller Furcht.

Er fand keinen Gefallen daran, einer Frau Angst zu machen, und es frustrierte ihn, dass sie sich vor ihm fürchtete, obwohl er sie gerade gerettet hatte. „Ein Dankeschön wäre nicht fehl am Platze.“

Keine Reaktion.

Fast hätte er verärgert die Stirn gerunzelt, doch er gestattete sich keine solchen Gefühle. Er hatte sie gerettet. Irgendwann würde sie sich bei ihm bedanken. Und er würde das von ihr bekommen, was er brauchte.

Das änderte nichts an ihrer Abmachung.

„Passen Sie auf Ihren Kopf auf“, sagte er, selbst überrascht über seinen weichen Tonfall. Aber schließlich war sie verletzt … und eine Frau.

Er bückte sich, um sie vorsichtig auf den Rücksitz zu setzen, dann ging er um das Auto herum zur anderen Seite und setzte sich neben sie. Seinen Fahrer hatte er bereits angewiesen, sie zu seinem Privathaus außerhalb der Altstadt zu bringen.

Lysias hatte einige Unterkünfte in und um Athen, doch in dieses Haus ging er, wenn er Aufmerksamkeit zu vermeiden suchte. Auch wenn Al ärztliche Versorgung benötigte, war es wichtig, ihre Identität geheim zu halten. Für sie und für ihn – denn er hatte Pläne mit dieser Frau.

Sowohl alte als auch neue Pläne.

Er streckte die Hand aus und zog eine Klappe im Fond des Wagens auf. Er holte den Verbandkasten heraus und außerdem noch eine Flasche Brandy und ein Glas.

Er reichte ihr einen Stoß Wundgaze. „Drücken Sie die hier auf die blutende Wunde. Ich möchte nicht, dass Sie mir meine Sitze ruinieren.“ Dann goss er einen kleinen Schluck Brandy in ein Glas und reichte es ihr.

Sie nahm die Gaze, lehnte das Glas jedoch mit einem energischen Kopfschütteln ab. Er zuckte mit den Schultern und nahm selbst genussvoll einen Schluck.

Telefonisch teilte er seinem Personal alles Nötige über ihre gemeinsame Ankunft im Haus vor. Al beobachtete ihn die ganze Zeit.

Er beobachtete sie ebenfalls und überlegte dabei angestrengt. Diese unerwartete Wendung konnte für ihn sogar sehr gut sein.

Al hielt sich gerade, doch offensichtlich hatte sie Schmerzen. Ohne ihre Kappe, das Haar offen, sah sie etwas weiblicher aus, doch sie hätte das Geheimnis wahren können, wenn ihr Angreifer nicht die Binden durchschnitten hätte, die ihre Brust flach gehalten hatten.

„Wie heißen Sie?“, fragte er.

„Al.“

„Das ist ein Jungenname.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Das Leben auf der Straße ist für einen Jungen leichter.“

„Aber auch nicht gerade leicht.“ Das hatte er im Alter von zwölf lernen müssen. Als man ihn mit nichts als der Kleidung auf dem Leib aus Kalyva verbannt hatte. Auf Befehl des Königs, der kaum älter als er selbst gewesen war.

„Nein, aber leichter schon“, erwiderte sie. Sie rutschte auf dem Sitz ein Stück nach hinten und versuchte dabei, nicht das Gesicht zu verziehen. „Sobald Sie mich bezahlt haben, werde ich leben, wie es mir gefällt“, sagte sie von oben herab. Aber er wusste genug über Verzweiflung, um die Sehnsucht aus ihrem Ton herauszuhören.

„Sobald Sie den Job erledigt und genug Geld haben, werden Sie als Frau leben?“

Sie zögerte. „Ich wüsste nicht, was es Sie angeht, aber ja. Solange es sicher ist.“

„Und wie werden Sie sich dann nennen?“

Sie zögerte, als überlege sie, ob er auch die kleinste Information über sie erhalten dürfe. „Alexandra, denke ich. Auch wenn ich inzwischen schon so lange Al bin, dass ich nicht weiß, warum ich es ändern sollte.“ Sie blickte aus dem Fenster. „Wohin bringen Sie mich?“

„Zu mir nach Hause. Ein Arzt wird Sie behandeln, jemand, den ich dafür bezahle, diskret zu sein. Sobald wir wissen, wie schwer Sie verletzt sind, können wir unsere nächsten Schritte überlegen.“ Er hatte bereits eine Idee. Eine Möglichkeit, seinen Plan zu beschleunigen und seine Rache noch vor Monatsende zu genießen.

Denn Rache war sein einziges Ziel. Es ging nicht darum, dieses Geschöpf der Straße zu verstehen, egal wie interessant diese Frau auch sein mochte. Sie war lediglich ein Werkzeug, um das zu bekommen, was er wollte – und er würde sie gut dafür bezahlen.

Er musterte sie kritisch. Sie hatte die richtige Hautfarbe, zumindest wenn sie nicht vom Überfall leichenblass war. Was an ihren Haaren und ihrem Gesicht nicht passte, konnte leicht in einem Salon, mit Make-up und der richtigen Kleidung behoben werden.

„Mir geht es gut“, sagte Al. „Ich brauche nur einen Verband. Bringen Sie mich zu mir nach Hause. Ich werde schon alles über die Prinzessin herausfinden. Das hier hält mich nicht auf.“

Lysias machte keine Anstalten, sein Vorhaben zu ändern. Er ließ sich keine Befehle erteilen. „Haben Sie denn ein Zuhause?“, fragte er stattdessen.

„Vielleicht nicht so vornehm wie Ihres, aber ganz sicher einen Platz, wo ich mich ausruhen kann.“

Ja, sie würde auf jeden Fall in seinen Plan passen. Dieses hochmütige Heben des Kinns, der herausfordernde Blick. Mit entsprechender Übung konnte das als königlich angesehen werden. „Ich fürchte, unsere Pläne haben sich geändert.“

Ihr Blick wurde panisch. „Das will ich nicht.“

„Dennoch finde ich, dass Sie jetzt zweifachen Nutzen für mich haben.“ Er lächelte sie zufrieden an. Wieder einmal war das Glück auf seiner Seite.

„Asteri mou“, sagte er und lächelte sie gewinnend an. „Und es ist auch Ihr Glückstag. Sie werden meine Braut.“

3. KAPITEL

Al meinte, sich verhört zu haben. Lysias nannte sie asteri mou, was „mein Augenstern“ bedeutete, und sprach davon, sie zu seiner Braut zu machen?

„Wir werden natürlich keine echte Ehe führen“, fuhr er fort, als wäre dieser Vorschlag völlig normal.

Womöglich hatte sie eine Kopfverletzung.

„Aber letztendlich werden Sie auch dafür gut entschädigt werden. Ein gutes Honorar ist doch Ihr Ziel, oder nicht?“

„Geld, kein Ehemann!“ Sie presste ihre freie Hand auf ihre Stirn. Befand sie sich im Fieberwahn?

„Noch nicht einmal einen Milliardär als Ehemann?“, erwiderte er, doch sie glaubte ihm seine gespielte Überraschung keinen Moment lang.

Lysias Balaskas hatte etwas beschlossen – wie merkwürdig es auch erscheinen mochte – und dachte, er könne einfach dasitzen und charmant lächeln und sie würde alles tun, was er verlangte. Er glaubte, dass sie sich nicht mit ihm anlegen und enthüllen würde, was er war.

„Ganz besonders das nicht“, erwiderte sie und versuchte, die Schmerzen ihrer Verletzung zu ignorieren. „Ich habe kein Interesse an wohlhabenden Männern, die nichts als ihre Macht im Sinn haben.“

„Es ist weder Wohlstand noch Macht, was mich antreibt, Alexandra. Auch wenn beides nützlich ist.“

Al versuchte, normal zu atmen und sich nicht von der fast intimen Art beeindrucken zu lassen, wie er ihren Namen ausgesprochen hatte. Sie sah ihn aufgebracht an. „Was treibt Sie denn dann an?“, fragte sie und legte so viel Verachtung wie möglich in das Wort „Sie“, trotz ihrer Schmerzen und ihrer Furcht.

„Rache“, antwortete er. Ganz einfach und fast nüchtern, doch sie bemerkte die Vehemenz in seinem Blick. „Man hat mir vor vielen Jahren ein Unrecht getan. Und ich werde nicht ruhen, bis dieses Unrecht behoben wurde.“

Daran hatte sie keinen Zweifel. Es war klar, dass er ein gefährlicher Mann war, doch sie hatte noch nie Angst vor gefährlichen Männern gehabt. „Vielleicht will ich Ihnen nicht bei Ihrer Rache helfen“, sagte sie.

Er reagierte darauf weder mit Überraschung noch mit Wut, wie sie erwartet hatte. Beide Reaktionen hätte sie verstanden.

Das kalte, schneidende Lächeln war nichts, was sie deuten konnte.

„Lassen Sie mich Ihnen eine kleine Geschichte über das Königreich von Kalyva erzählen.“ Seine goldbraunen Augen funkelten. „Es ist klein und unabhängig, wie ich bereits sagte. Manche würden es vielleicht sogar altmodisch nennen. Damit lägen sie nicht falsch. Der König und die Königin, die ich während meiner Jugend kannte, waren gute Menschen, aber nicht sehr vorausschauend. Sie wollten eine gewisse Unzufriedenheit im Lande nicht wahrhaben. Stattdessen steckten sie ihre Köpfe in den Sand und ignorierten all die Gerüchte und Anzeichen. Und obwohl ein blutiger Aufstand ihr Leben und das Leben der ganzen Familie außer ihrem ältesten Kind beendete, bestand das Königreich fort, da das älteste Kind überlebt hatte.“

Al hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich nach vorne gebeugt und die Luft angehalten hatte, um den Ausgang dieser Geschichte zu hören.

„Der neue König war noch ein Jugendlicher, und doch voller Rachegefühle. Verständlicherweise. Bloß blendeten seine Rachegefühle ihn, und er achtete nicht darauf, wer tatsächlich unschuldig oder schuldig war. Er verurteilte meine unschuldigen Eltern zum Tode und bezeichnete mich als Verräter. Angeblich hatten meine Eltern ein Komplott gegen die Prinzessin geschmiedet und ich nichts dagegen unternommen. Also ließ er mich nach Athen deportieren. Mit nichts als der Kleidung auf dem Leib. Da war ich zwölf Jahre alt.“

Lysias klang kalt und wütend. Vielleicht sollte sie Angst vor ihm haben. Er war ein großer Mann. Ein starker Mann – er hatte ihren Angreifer gegen die Mauer geworfen, als wäre es nichts. Zudem war er voller Wut und Rachedurst.

Doch alles, woran sie denken konnte, war ein zwölfjähriger Junge, der von allem weggerissen worden war, das er kannte. Allein und verloren. Sie selbst war allein, seit sie denken konnte. Es musste viel schwieriger sein, sich mit zwölf an ein solches Leben zu gewöhnen.

„Sie sind selbst eine Rächerin, Alexandra“, sagte er. „Sie haben auf eigene Gefahr die Missetaten von manchem mächtigen Mann enthüllt.“

Er hatte recht, doch ihm zuzustimmen fühlte sich für sie an, als würde sie das bisschen Macht, das sie hatte, auch noch aufgeben. Also straffte sie die Schultern, auch wenn es schmerzte. „Für einen gewissen Preis.“

Lysias lehnte sich zurück, und obwohl noch immer eine gewisse Wut in seinem Blick lag, lächelte er sie an. „Ja, der Preis. Wenn man klug ist, lässt man sich stets für seine Arbeit bezahlen. Aber Bezahlung wird unwichtig, wenn man tot ist, und Sie haben den Tod riskiert. Sie haben beschlossen, dieses Risiko einzugehen, weil Sie Gerechtigkeit wollten, egal, was Sie vielleicht verlieren.“

Dagegen konnte sie nichts einwenden. Es war reine Tatsache. Selbst wenn sie das Geld gebraucht hatte, um zu überleben, war sie große Risiken eingegangen, um gewisse Leute zu Fall zu bringen. Denn sie wollte, dass die Mächtigen, die böse Dinge taten, stürzten. Zu oft hatte sie auf der Straße die Opfer dieser Männer gesehen.

Lysias’ Lächeln vertiefte sich, als sie nicht antwortete. Es war, als könnte er durch sie hindurchsehen, bis in ihr Herz. Weshalb sich diese eigenartige Wärme in ihr aufbaute. Ihr Instinkt riet ihr wegzusehen, aber sein Blick hielt sie gefangen.

„Und deshalb, Alexandra, werden Sie mir helfen, für Gerechtigkeit zu sorgen. Ein für alle Mal.“

Lysias sah die widerstrebenden Gefühle in der jungen Frau. Ja, er würde sie in Alexandra verwandeln, auch wenn sie noch so sehr versuchte, an ihrer Maske festzuhalten, einem jungenhaften Trotz, den sie über die Jahre perfektioniert haben musste.

Doch sie litt auch unter Ungerechtigkeiten und er merkte, dass seine Geschichte sie beeindruckt hatte. Sie betrachtete ihn jetzt anders, mit weniger Abneigung, weniger Misstrauen, auch wenn immer noch genug davon vorhanden war. Aber der Blick ihrer dunklen Augen war weicher.

„Wir sind gar nicht so verschieden, Sie und ich“, sagte er zu ihr. „Wir haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Sobald mein Plan Erfolg hat, können Sie vieles von alldem ebenfalls haben.“ Er deutete auf das luxuriöse Auto, in dem sie saßen.

„Vieles, aber nicht alles?“, fragte sie nach.

„Niemand kann alles haben. Außer mir.“

Sie erwiderte sein Lächeln nicht, doch das Aufblitzen ihrer Augen hätte ihn beinahe zu einem ehrlichen Lächeln verführt – statt des aufgesetzten Lächelns, das er in der Rolle von Lysias Balaskas für die Medien zeigte.

Das Auto wurde langsamer, anscheinend fuhren sie durch das Tor seines riesigen Anwesens. „Ah, wir sind zu Hause. Erst werden wir Sie zusammenflicken, dann den Plan besprechen.“

„Und wenn ich mich weigere, Ihnen zu helfen?“, fragte sie.

Er musterte diese Frau, die sich so lange als Junge ausgegeben hatte und jetzt blutend auf dem Rücksitz seines Wagens saß. Am Leben, weil er sie gerettet hatte. Und sie wagte es, eine Weigerung in Betracht zu ziehen? Das war an sich eine Beleidigung.

Er hatte keine Ahnung, warum er jedoch den Drang verspürte zu lachen. Er unterdrückte diesen Drang und musterte sie weiter mit gezielt ausdruckslosem Gesicht. Denn er hatte sich selbst zu einem Mann gemacht, der bekam, was immer er wollte.

Und er würde seine Rache bekommen.

„Ihre Weigerung interessiert mich nicht. Sie werden alles tun, was ich Ihnen sage, und dafür werden Sie gut bezahlt. Besser als Sie es sich vorstellen können. Das verspreche ich. Aber ich akzeptiere kein Nein. Ich habe Sie gerettet und kenne Ihr Geheimnis. Für die nächste Zeit gehören Sie mir.“

Ihre Wut machte sie tatsächlich schöner. Egal wie verschmutzt und verletzt sie war, ihre Augen blitzten. Die Wut brachte die nötige Farbe in ihre Wangen zurück. Sie konnte tatsächlich hübsch sein.

„Ich habe mich noch niemals einem Mann unterworfen, Lysias Balaskas“, sagte sie und sprach seinen Namen wie einen Fluch aus.

Er merkte, dass ihn das erregte. Interessant, aber nichts, worüber er im Augenblick weiter nachdenken wollte. Al benötigte jetzt erst einmal medizinische Versorgung.

Das Auto hatte angehalten. Der Fahrer öffnete die Tür, und Lysias stieg aus. Der Arzt, der auf seiner Gehaltsliste stand, damit er jederzeit Zugang zu ärztlicher Versorgung unter strengstem Stillschweigen erhalten konnte, wartete bereits am Eingang.

Lysias winkte ihn herbei und öffnete selbst die Tür auf der anderen Seite. Al musterte sie beide mit unverhülltem Misstrauen.

„Lassen Sie mich gleich einen Blick darauf werfen“, sagte der Arzt kurz und knapp.

Sie blickte zum Arzt, dann zu Lysias und wieder zurück. Es schien ihr bewusst zu werden, dass sie gar nichts tun konnte, bevor sich nicht jemand um die Wunde gekümmert hatte, also nahm sie für den Arzt die Gaze weg.

Lysias verließ die beiden. Diese Verletzung zu sehen, löste zu viele widersprüchliche Gefühle in ihm aus. Er hatte in seinem Leben nur Platz für einen einzigen Rachefeldzug. Auch wenn er seinen Bodyguard anrief, um sich nach dem Verbleib des Angreifers zu erkundigen, und dann noch einige weitere Anrufe tätigte, um sicherzustellen, dass dieser Mann nicht mehr aus seiner Zelle kam.

Außerdem leitete er Nachforschungen über den Mann ein, der hinter dem Angriff steckte, damit auch dieser hinter Gitter landete. Al – Alexandra – stand unter seinem Schutz, bis er seine Rache vollendet hatte.

Sein Personal würde dafür sorgen, dass sie nicht fliehen konnte, und er hatte noch viel zu tun, um seinen Plan auf den neuesten Stand zu bringen. Also machte er sich an die Arbeit.

Ein paar Stunden später ging er zum Abendessen. „Wie geht es unserem Gast?“, fragte er die Haushälterin.

„Der Doktor hat die Wunde gesäubert und genäht. Danach konnte sie sich frisch machen. Wir haben vorgeschlagen, dass sie sich ausruht und das Abendessen in ihrem Zimmer einnimmt, doch sie bestand darauf, Sie zu sehen. Also haben wir auch für sie im Esszimmer gedeckt, falls Sie zusammen essen möchten.“

„Ausgezeichnet.“ Lysias ging durchs Haus und merkte verblüfft, dass das fremde Gefühl in seiner Brust Aufregung war. Aber das war schließlich nachvollziehbar. Seine Rache war zum ersten Mal in greifbarer Nähe.

Er betrat das Esszimmer und sah eine junge Frau mit hellbraunem Haar am gedeckten Tisch sitzen. Sie trug ein weites, aber bequem aussehendes Baumwollkleid, das ihr wohl jemand vom Personal gegeben hatte. Ihr Gesicht war sauber und ungeschminkt. Ihr Haar wurde durch ein Haarband zurückgehalten, genau wie vorher, als sie sich als Junge ausgegeben hatte, doch jetzt war es frisch gewaschen und gebürstet.

Sie sah fremd aus.

Bis sie seinem Blick mit dieser hochmütigen Verachtung begegnete, um die sie sich auch im Auto bemüht hatte. Diesen Blick erkannte er wieder.

„Jede Menge Aufwand, nur um zu essen“, stellte sie fest, statt ihn zu begrüßen. „Macht man das, wenn man so viel Geld hat, dass man nicht mehr weiß, was man damit tun soll?“

„Vielleicht mag ich einfach gern eine schöne Umgebung.“ Er musterte sie, während er den Platz ihr gegenüber einnahm. Sie war nicht mehr so bleich und bewegte sich auch nicht mehr, als hätte sie Schmerzen. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er, während das Personal den Hauptgang hereinbrachte.

Al betrachtete das Essen mit unübersehbarem Interesse. „Dieser Doktor hat mich zusammengeflickt und mir etwas gegen die Schmerzen gegeben. Ich soll die nächsten Tage nichts Schweres heben, nicht an Gebäuden herumklettern und auch keine Männer mit Messern abwehren, aber irgendwie werde ich wohl überleben.“

Ihre trockene Beschreibung amüsierte ihn. „Ich warte immer noch auf ein Dankeschön.“

Sie schnappte sich die Gabel und das Messer vor sich neben dem Teller und sah ihn nur düster an, bevor sie wütend das Essen attackierte. Weder bedankte sie sich, noch sagte sie etwas anderes.

Doch er war ein geduldiger Mann. Wenn er wollte. Er nahm einen Schluck Wein und musterte sie. Sie bewegte sich immer noch wie ein schwer zu bändigender Teenager. „Wie oft haben Sie denn versucht zu fliehen?“

Sie zögerte, steckte den nächsten Bissen in den Mund und hatte offensichtlich nicht vor, seine Frage zu beantworten.

„Mein Personal wird es mir sowieso berichten, also können Sie es mir auch selbst sagen.“

„Zwei Mal.“ Sie stach in ihr Fleisch. „Die Tatsache, dass Sie mich entführt haben, trägt nicht gerade dazu bei, dass ich Ihnen bei diesem ganzen Rache-Kram helfen möchte. Ob es nun darum geht, einen mächtigen König zu stürzen oder nicht. Belohnung hin oder her.“

„Ich habe Ihnen das Leben gerettet und Sie zu einem Arzt gebracht. Ich versorge Sie mit Essen und frischer Kleidung. Das ist wohl kaum eine Entführung.“

„Es ist aber auch nicht keine Entführung“, murrte sie und nahm einen Schluck von ihrem Glas. Auch wenn Lysias selbst Jahre auf der Straße zugebracht hatte, war er doch in einem Palast erzogen worden. Zwar als Kind von Dienstboten, doch er hatte gelernt, wie man sich bei Tisch benahm, noch bevor er wohlhabend geworden war.

„Tischmanieren“, murrte er. „Sie müssen noch eine Menge lernen.“ Das war viel Arbeit, wenn er in ein paar Tagen mit ihr abreisen wollte. Denn seit Jahren wünschte er sich, mit einer falschen Prinzessin Zandra am Arm nach Kalyva zurückzukehren. Das wäre die Krönung seiner jahrzehntelangen Bemühungen, um König Diamandis von Kalyva zu stürzen.

Bislang war es ihm nicht möglich gewesen, die passende Frau dafür zu finden. Doch vor ihm saß nun eine Frau ohne eine Vergangenheit, die jemand ausgraben könnte. Ohne einen DNA-Test konnte niemand beweisen, dass Al nicht die Prinzessin war.

Ja, das Glück war wieder einmal auf seiner Seite, denn er konnte den Bluff riskieren. Ein paar Tage Medienzirkus und Interviews, bevor irgendein DNA-Test gemacht werden konnte.

Solange keine Leiche gefunden worden war – und nach allem, was Lysias wusste, konnte er davon ausgehen –, würde er alles bekommen, was er wollte. Solange Al mitspielte.

Also musste sie mitspielen.

„Ich möchte gar nichts lernen“, sagte sie gereizt und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

Wirklich viel Arbeit! „Hier geht es nicht um das, was Sie wollen oder nicht wollen, Alexandra.“

Sie deutete mit der Gabel auf ihn. „Weil Sie mich entführt haben.“

„Und was für eine entsetzliche Entführung. Ein gutes Essen, zubereitet von einem der besten Köche im Land. Ein Bad. Ein weiches Bett zum Schlafen. Der reinste Horror.“

„Aber ich werde nicht hier schlafen.“

„Oh doch, das werden Sie“, sagte er, und nun klang seine Stimme nicht mehr scherzhaft. Die Sache war zu wichtig, und Alexandras Weigerung würde seinen Zeitplan ruinieren. „Falls Sie dies unbedingt als eine Entführung ansehen wollen, dann kann ich dem entsprechen. Sie sind ein wichtiger Teil meines Plans. Ich werde Sie gut bezahlen, aber keinen Widerspruch dulden.“ Er beugte sich vor, um ihr den Ernst der Lage klarzumachen. „Niemand kommt mir in die Quere, Alexandra. Niemand!“

4. KAPITEL

Nun flackerte doch Besorgnis in Al auf. Sie glaubte nicht, dass Lysias ihr etwas tun würde. Wie er immer betonte, hatte er sie gerettet und sorgte für sie. Und der Arzt, der sie zusammengeflickt hatte, war sehr nett gewesen. Das ganze Personal von Lysias war nett und kompetent.

Sie bekam gutes Essen. Das Kleid, das sie trug, war nicht schön, aber hübscher und bequemer als alles, was sie je getragen hatte. Und das Bad, das sie genommen hatte – nachdem sein Personal darauf bestanden hatte –, war eine völlig neue Erfahrung gewesen, warm und entspannend, trotz der frisch genähten Wunde, auf die sie achten musste.

Lysias Balaskas war gewiss kein böser Mann. Aber sie hatte verstanden, dass es ihm nur um seinen Racheplan ging und sie lediglich ein Werkzeug für ihn war. Er hatte sehr deutlich gemacht, dass sie ihm dabei nicht in die Quere kommen durfte.

Und das machte ihr doch ein wenig Angst.

Sie hatte genügend Selbsterhaltungstrieb, um zu verstehen, dass es für sie besser war, bei seinem Plan mitzuspielen und dann mit seiner Belohnung zu verschwinden, als jetzt zu versuchen, ihm zu entkommen oder seine Pläne zu vereiteln. 

Aber sie konnte auch nicht einfach dasitzen und akzeptieren, dass ihre Lebensumstände sich aufgrund der Laune eines Milliardärs änderten. Jemand wollte plötzlich über sie bestimmen.

Selbst wenn sie bei alldem mitspielte – und das Essen und die schöne Umgebung genoss –, bedeutete das nicht, dass sie die ganze Kontrolle aufgeben musste. Schließlich brauchte er sie. Das hatte er selbst gesagt.

„Also erzählen Sie mir von Ihrem Plan“, sagte sie so respektlos wie möglich, während das gute Essen und wahrscheinlich auch die Schmerzmittel sie langsam schläfrig machten. Aber sie war entschlossen, wach zu bleiben. „Nur so kann ich entscheiden, mit welchen Teilen ich einverstanden bin und welche geändert werden müssen. Oder höherer Entschädigung bedürfen.“

Er hob eine Augenbraue. Das sollte sie wohl verunsichern. Doch sie zuckte mit keiner Wimper. Das Schweigen eines gut aussehenden Mannes war wohl kaum geeignet, sie einzuschüchtern.

Als sich dann jedoch seine Überraschung und Herablassung in ein amüsiertes, aber auch gefährliches Lächeln verwandelten, löste das ein merkwürdiges Kribbeln in ihrem Bauch aus. Sie musste die Hand unter dem Tisch zur Faust ballen, um sich weiterhin nichts anmerken zu lassen.

„Zuerst werden wir eine Gala hier in Athen besuchen“, erklärte er und blickte auf sein fein geschliffenes Weinglas. Al vermutete, eine nette Summe dafür bekommen zu können, wenn sie eines mitgehen ließe. „Ich werde Sie den interessierten Medien und den Gästen als meine Verlobte vorstellen.“

Damit hatte er ihre ganze Aufmerksamkeit. „Sie erwarten von mir, die Gala als Ihre Verlobte zu begleiten?“

„Sie werden entsprechend zurechtgemacht.“ Er begegnete ihrem Blick mit diesem amüsierten goldenen Funkeln in den Augen.

Sie versuchte weiter, sich nichts anmerken zu lassen. Offensichtlich passte sie nicht in irgendeine Millionärs-Gala. Sie war selbst nicht sicher, ob sie entsprechend hergerichtet aussehen konnte, als gehöre sie dazu. Das bedeutete aber nicht, dass es ihr gefiel, so spöttisch darauf hingewiesen zu werden.

„Dann sind Sie wohl meine Märchenfee?“, fragte sie zuckersüß.

„Wenn Sie mich so sehen möchten, bitte sehr.“ Er wedelte mit der Hand und tat genauso gleichgültig wie sie.

„Also gut. Gala, meine Vorstellung als Verlobte … was hat das mit diesem König von … wo auch immer zu tun?“

„Von Kalyva. Sie werden sich mit dessen Geschichte beschäftigen müssen, genau wie mit dem Erlernen von Tischmanieren. Nach der Gala werden wir uns auf eine Reise in mein Heimatland begeben. Mit den Medien im Schlepptau. Ich werde behaupten, endlich die lang verloren geglaubte Prinzessin Zandra gefunden zu haben, von der viele glaubten, ja fürchteten, sie sei tot. Es wird ein riesiges Medienspektakel geben. Viel Aufmerksamkeit. Das Timing ist perfekt, da der Frühlingsball des Königs am Wochenende nach unserer Ankunft stattfinden wird. Demensprechend wird bereits jede Menge Aufmerksamkeit auf den Palast gerichtet sein. Am nächsten Morgen findet die jährliche Ratssitzung statt, ein wichtiger Bestandteil meines Plans.“

„Ich dachte, Sie wollen mehr über die verschwundene Prinzessin wissen.“

„Das stimmt. Mein Informant konnte mir diese Information nicht beschaffen, aber da kommt Spion Al ins Spiel. Während wir allen erzählen, dass Zandra am Leben ist, werden Sie spionieren und mehr herausfinden. Unser gemeinsames Auftreten wird für genug Ablenkung im Königspalast sorgen, um uns dafür Zeit zu verschaffen. Selbst wenn es einen Leichnam geben sollte, wären wir in der Lage, ein paar Tage lang zu behaupten, das sei ein Fake.“

„Wird man nicht durch Tests die Wahrheit herausfinden?“

„Ja, aber solche Tests dauern. Falls wir als Betrüger enttarnt werden, bevor ich bekommen habe, was ich will, werde ich sagen, dass ich von einer umwerfenden Schauspielerin verführt wurde.“ Er grinste sie an. „Sie werden wieder Al, und niemand wird mehr etwas von der Schauspielerin hören, die sich Zandra nannte. Wenn es jedoch keinen Leichnam gibt und nie gegeben hat, wird mein Plan voranschreiten. Unabhängig vom Ausgang werde ich Sie bezahlen.“

Es war ein lächerlicher Plan, noch lächerlicher wurde er durch ihre eigene Beteiligung. „Glauben Sie wirklich, Sie können mich als Prinzessin präsentieren?“

„Deshalb ist mein Plan ja so perfekt. Sie müssen gar nicht genau wie die Prinzessin aussehen. Sie haben genügend Ähnlichkeit mit ihr, außerdem wurde sie sowieso seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Und in meiner Version der Geschichte litt sie die ganzen Jahre unter Amnesie. Heimlich aus dem Palast nach Griechenland gebracht und von einer armen Bauersfamilie aufgezogen, ohne Erziehung oder königliche Ausbildung oder Wohlstand. Dann, als Ihre Adoptiveltern starben, führte Ihr Kummer zur Erinnerung, wer Sie wirklich sind.“

„Das ist ja ein schönes Märchen“, erwiderte Al. „Wer sollte das denn glauben?“

„Alle, dafür werde ich sorgen. Verstehen Sie, eine unechte Prinzessin war immer mein Plan, aber ich konnte keine geeignete Person finden. Sie haben keine Vergangenheit als Frau, die man entdecken könnte. Sie können in eine andere Identität schlüpfen, sollte das nötig sein. Sie sind an all die hinterhältigen Dinge gewöhnt, die ein solcher Job mit sich bringt.“

Al wusste nicht, wie dieser Plan funktionieren sollte. Aber wenn sie ihren Teil der Abmachung einhielt, konnte es ihr schließlich egal sein. Hauptsache, sie wurde bezahlt. „Was ist mit denen, die hinter mir her sind … hinter Al?“

„Ich werde Sie beschützen, egal unter welcher Identität, solange Sie für mich arbeiten.“

Das Wort „beschützen“ löste eine eigenartige Wärme bei ihr aus. Sie war noch nie beschützt worden. Niemand hatte sich je um sich gekümmert. Aber hier ging es nicht ums Kümmern. Es ging um Rache.

„Also wann ist diese Gala denn? Wie viel Zeit habe ich, um mich vorzubereiten?“ Gewiss bräuchte sie Wochen, um wenigstens zu wissen, wie man so tat, als sei man die Braut eines Milliardärs. Besonders dieses Milliardärs.

„Die Gala ist am Freitag. Sie haben drei Tage.“

Sie lachte, auch wenn klar war, dass er nicht scherzte. „Sie sind ja verrückt.“

„Nein“, antwortete er scharf. „Ich bin entschlossen.“

Lysias beantwortete auch den Rest von Alexandras skeptischen Fragen. Auf jede davon hatte er eine Antwort. Schließlich hatte er diesen Plan schon lange, und endlich kam er der Verwirklichung näher.

Al war perfekt. Lysias war sich ziemlich sicher, dass der Leichnam von Prinzessin Zandra nie gefunden worden war, denn es hieß immer, man habe sie bei ihren Brüdern gefunden – was, wie er aus erster Hand wusste, nicht stimmen konnte. Er war in jener Nacht im Palast gewesen, auch wenn er versuchte, nicht zu oft daran zu denken. Seine Theorie war, dass der Palast diese Geschichte verbreitete, damit die Gerüchte nicht überkochten.

Doch nun begannen Al die Augen zuzufallen, und noch bevor sie den Nachtisch beendet hatte, war sie eingeschlafen. Genau dort am Tisch. Ihr Kopf lag auf ihrem Arm.

Lysias wusste nicht, wie lange er sie betrachtete. Er fragte sich auch nicht, warum er sie betrachtete.

Sie erinnerte ihn an die Bilder eines alten Märchenbuchs, das seine Mutter ihm immer vorgelesen hatte. Gefüllt mit Zeichnungen von kleinen Feen und Kobolden. Süß und unschuldig aussehend, aber voller Unsinn im Kopf. Gefährlich sogar, wenn man nicht aufpasste.

Doch Lysias war immer vorsichtig.

Obwohl er auch sein Personal hätte rufen können, trug er Alexandra selbst in ihr Zimmer. Sie gab kaum einen Laut von sich, deutlich erschöpft von den Ereignissen des Tages.

Sie war so leicht, dass er sich nicht anstrengen musste. Er hatte sie in den Räumen gleich neben seinen eigenen untergebracht, um das Risiko ihrer Flucht zu minimieren.

Er stieß die Tür auf und trat ein. Eine Lampe brannte bereits. Er legte Al aufs Bett und blickte dann auf sie hinab. Im schwachen Licht überfiel ihn eine Erinnerung an jemanden, an etwas Vertrautes. Das traf ihn wie ein Messerstich, also schob er diese Gedanken weg. Er wollte nicht zurück zu jenen dunklen Erinnerungen.

Al regte sich nicht. Ihr Kleid war nichts als ein weiter Sack. Und doch durchfuhr Lysias ein starkes Verlangen.

Sie schien nicht zu glauben, dass sie zu einer Prinzessin werden konnte, doch er wusste, dass alle es glauben würden. Sie hatte das Selbstvertrauen und eine gewisse stille Schönheit. Und bereits ohne einen schicken Haarschnitt, Make-up und ein hübsches Kleid strahlte sie etwas aus.

Ihre Augen öffneten sich mit flatternden Lidern. Doch sie sah ihn nicht wirklich, es war, als ob sie immer noch schliefe. „Bin ich hier sicher?“, murmelte sie.

Vor langer Zeit hatte ihn das jemand anders gefragt. Damals hatte er versagt.

Er sagte jetzt nichts, sondern drehte sich einfach um und trat aus dem Raum, ließ all diese merkwürdigen Gefühle und Erinnerungen hinter sich.

Und wenn er die nächsten drei Tage Abstand hielt, dann nur weil er keine Erfahrung darin hatte, eine Frau in eine Prinzessin zu verwandeln. Er beauftragte Leute, die das konnten.

Er ließ ihr alles bringen, was sie seiner Meinung nach über Kalyva wissen musste, und beauftragte einen Lehrer für Umfangsformen, damit sie nicht unsicher war, wenn sie die schicke Wohltätigkeitsgala besuchte. Während dieser drei Tage sah er sie nicht mehr.

Der Abend der Gala war gekommen, und er zog sich dafür um.

Am folgenden Tag würde er nach Kalyva reisen. Ja, morgen würde er König Diamandis erzählen, dass die Prinzessin am Leben war.

Und mit ihm verlobt.

Allein der Gedanke daran brachte ihn zum Lächeln. Doch zuerst musste er es durch diesen Abend schaffen.

Er ging hinunter ins Foyer. „Ist sie so weit?“, fragte er die Haushälterin.

„Sie wird gerade nach unten begleitet.“

„Bestens.“ Lysias musste nicht oft auf andere warten, doch er genoss den bevorstehenden Auftritt seiner angeblichen Braut.

Es dauerte nicht lange, da hörte er Gemurmel von der großen Marmortreppe. Alexandra tauchte auf, rechts und links zwei seiner Angestellten, die ihr anscheinend noch bis zur letzten Minute Ratschläge gaben.

Vorsichtig schritt sie die Treppe hinab und achtete dabei auf ihre Füße, was dem Ganzen noch mehr Authentizität verschaffte.

In diesem Moment brauchte er nicht so zu tun, als sei er von ihr bezaubert, denn sie sah umwerfend aus. Das Kleid, das sie trug, unterstrich ihre zierliche Figur. Ihre Schultern waren bloß, auch wenn das Kleid hochgeschlossen war, um die Narbe zu verbergen.

Das purpurfarbene Kleid umschmeichelte die Kurven ihres Körpers, die dunkle Farbe ließ ihre Haut strahlen. Man hatte ihr Haar geschnitten und so frisiert, dass es die anmutige Kurve ihres Nackens zeigte.

Ihr Gesicht war geschminkt, auch wenn es natürlich wirkte. Bis auf das tiefe Dunkelrot ihrer Lippen.

Hitze stieg in ihm auf, mit einer Heftigkeit, die er unter anderen Umständen niemals erwartet hätte. Als sie unten an der Treppe ankam, hob sie ihren Blick, und Lysias war sprachlos.

In diesem Moment dachte er weder an Kalyva noch an König Diamandis oder alles, was er während der letzten zwanzig Jahre geplant hatte.

Er konnte nur noch daran denken, was er wohl vorfände, wenn er ihr dieses Kleid auszöge.

5. KAPITEL

Al blieb am Fuß der Treppe stehen und starrte Lysias an, dessen Blick eindeutig Begehren ausdrückte.

Sie versuchte sich zu sagen, dass sie sich das nur einbildete. Schließlich war sie noch nie von irgendeinem Mann begehrt worden.

Doch es war da, definitiv. In diesem goldenen Glanz seiner Augen. Und es schuf ein ähnliches Begehren bei ihr selbst. Sie hatte sich schon manchmal vorgestellt, Sex zu haben, doch es war nicht infrage gekommen für eine Frau, die ihr Geschlecht verbarg.

Was sie nicht länger tat. Dieser Gedanke durchfuhr sie wie eine neue, fremde Art von Freiheit. Sie konnte jetzt eine Frau sein – ganz und gar.

Dann blinzelte Lysias, und was immer Al auch in seinem Blick gesehen hatte, war verschwunden. Er kam auf sie zu und bot ihr seinen angewinkelten Arm an. Aus ihrem Etikette-Unterricht wusste sie, dass sie nun ihre Finger leicht auf den angewinkelten Arm legen sollte.

Mit einem Mal wurde ihr etwas klar. Ihr Leben war jetzt ein anderes. Nicht nur, weil das versprochene Honorar ihr Leben ändern würde, sondern auch, weil sie diese neue Identität hatte: Alexandra. Frau. Verlobte. Prinzessin.

Sie holte tief Luft und legte ihre Hand auf seinen Arm.

„Du siehst perfekt aus, Alexandra“, sagte er, und trotz seines kühlen Blicks war seine Stimme leicht belegt. „Wir sollten uns ab jetzt duzen“, erklärte er. „Wir stehen im Licht der Öffentlichkeit.“

„In Ordnung“, stimmte sie leichthin zu und merkte, dass sie das Kompliment genoss. Sie musste sich jedoch auf ihren Job konzentrieren. Dann konnte ein Leben als Alexandra und in Sicherheit vielleicht in Reichweite bleiben.

„Solltest du mich denn dann nicht auch Zandra nennen?“, fragte sie.

Lysias führte sie zu der Limousine, die draußen auf sie wartete. „Ich denke, es ist leichter, wenn wir bei Alexandra bleiben. Wir können sagen, dass deine Adoptiveltern dich so nannten und du dich damit am wohlsten fühlst.“

Sie nickte. Das war vernünftig. Und warum roch er so gut? Wieso konnte ein Geruch sie so ablenken?

„Wie konntest du denn all das lernen“, fragte sie und machte eine ausholende Bewegung, „wenn du dein Leben auf der Straße begonnen hast?“

„Dort habe ich nicht begonnen. Dorthin wurde ich verstoßen. Ich wuchs im Palast von Kalyva auf.“

Sie sah ihn erstaunt an. „Aber …“

„Wie ich schon sagte, meine Eltern arbeiteten für die Königsfamilie. Wir lebten im Palast. Auch wenn ich als Kind von Palastangestellten aufwuchs, war ich immer ein neugieriger Junge. Also habe ich zugesehen und viel gelernt.“

Sie schwiegen, als die Limousine losfuhr. Ohne jede Warnung nahm Lysias ihre Hand. Sie zuckte zusammen. Seine Berührung ging ihr durch und durch.

„Du bist meine Verlobte“, sagte er. „Du brauchst einen Ring.“ Und damit schob er ihr einen Ring auf den Finger.

Sie blickte auf den funkelnden Stein. Er sah ganz nach einem Ring aus, den ein Milliardär seiner Verlobten schenken würde. Groß und glitzernd. Aber natürlich war das nicht wirklich ihr Ring.

Also löste sie ihren Blick davon und versuchte, sich auf die Wirklichkeit zu konzentrieren. „Sollen wir alles noch einmal besprechen?“, fragte sie.

„Es gibt nichts weiter zu besprechen“, meinte Lysias und winkte ab. „Heute Abend brauchst du nur nett in die Kameras zu lächeln und eng an meiner Seite zu bleiben. Ich kümmere mich um den Rest. Im Grunde ist es besser, wenn du so wenig wie möglich sagst. Du bist nichts als niedliches Beiwerk.“

Niedliches Beiwerk. Dieser Ausdruck gefiel ihr gar nicht. „Nett lächeln?“, wiederholte sie. „Keine Ahnung, wie ich lächle“, erklärte sie.

„Na gut, dann zeig mir mal dein Lächeln.“

Sie versuchte, ihn nett anzulächeln, doch es fühlte sich albern an.

Lysias schüttelte den Kopf. „Das ist eher eine Grimasse“, urteilte er, dann streckte er die Hand aus und strich ihr über die Wange. „Entspann dich, asteri mou … mein Schatz“, sagte er sanft. „Streng dich nicht so an.“

Unter seiner Berührung entspannte ihr Körper sich tatsächlich.

„Besser“, lobte Lysias und dann hielt das Auto auch schon an.

Bei der Galaveranstaltung tat Al genau das, was Lysias von ihr verlangt hatte. Sie sagte nicht viel und blieb an seiner Seite. Tatsächlich fühlte sie sich nur dort sicher.

„Hast du viele Freunde hier?“, fragte sie nach einer Weile des Händeschüttelns.

Lysias lachte kurz auf. „Freunde? Ich habe keine Freunde.“

„Warum denn nicht?“ Sie selbst hatte keine Freunde haben können, um ihr Geheimnis zu wahren, doch es verblüffte sie, dass ein ...

Autor

Lorraine Hall
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