3. KAPITEL
Simone starrte Ed entgeistert an. Welches Video?! Na, das Video! Das, welches ihr Leben ruiniert hatte! Das, welches dazu geführt hatte, dass sie jetzt in Paris lebte. Das, welches den peinlichsten, schrecklichsten und herzzerreißendsten Augenblick ihres Lebens für alle Ewigkeit festgehalten hatte.
„Das hier ist nicht der richtige Augenblick, um mich zu verarschen“, sagte sie verärgert.
Abwehrend hob Ed die Hände. „Ich verarsche dich keineswegs!“
„Willst du allen Ernstes behaupten, dass du nichts von dem Video weißt, auf dem ich mich bei deiner Party öffentlich lächerlich mache?“
„Ich habe absolut keine Ahnung, wovon du sprichst, ehrlich! Was für ein Video meinst du? Verrat es mir bitte.“
Abwehrend verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Ich will nicht mehr darüber reden.“ Wenn Ed sich nicht mehr daran erinnern konnte, würde sie seine Erinnerung ganz bestimmt nicht auffrischen. Das wäre viel zu demütigend.
Dabei hatte sie die Idee mit dem Lied seinerzeit für so großartig gehalten, verknallt, wie sie in ihn gewesen war. Es war kurz vor Eds siebzehntem Geburtstag gewesen. Seine Eltern hatten angefangen, ihm ein schönes, junges Mädchen aus gutem Hause nach dem anderen vorzustellen, und die Tochter von Freunden seiner Eltern, Morgane, hatte sich besonders an ihn rangeschmissen und jeden Vorwand genutzt, Ed im Palast zu besuchen.
Jetzt oder nie, hatte Simone sich damals gedacht. Wenn Ed erst mal zum Studium ins Ausland ging, würde sie bei ihm bestimmt keine Chance mehr haben, provinziell, wie sie war. Sie durfte ihm ihre Liebe nur nicht zu direkt gestehen, falls er ihre Gefühle nicht erwiderte. Also ließ sie sich etwas einfallen, das ihm ihre Liebe durch die Blume verriet, um notfalls alles abstreiten zu können. Glaubhafte Bestreitbarkeit und so.
Sie würde ihm einfach bei seiner Geburtstagsfeier etwas vorsingen, und wenn er sie auch liebte, würde er ihre Botschaft sofort verstehen. In ihrer Fantasie hatte sie sich ausgemalt, wie er auf sie zukommen und sie einander in die Arme fallen und glücklich bis an ihr Lebensende sein würden.
Also hatte sie Eds Assistentin angeboten, ihr bei der Vorbereitung zur Party zu helfen. Sie hatte ein Achtzigerjahre-Motto vorgeschlagen, mit Flipperautomaten, Leuchtstäben und vor allem einer Karaoke-Anlage.
Tja, so viel zu wasserdichten Plänen! Das Sound-System war nicht gerade das beste gewesen, und um das Ganze noch peinlicher zu machen, hatte Simone sich ausgerechnet einen Song ausgesucht, für den man eine richtig gut ausgebildete Stimme brauchte – I Will Always Love You, den Klassiker von Dolly Parton und Whitney Houston. Wie sich herausgestellt hatte, klang Simones Stimme im Wintergarten leider etwas anders als unter der Dusche.
Die Gäste hatten sich jedenfalls halb totgelacht. Ed zwar nicht, aber wahrscheinlich nur deshalb, weil er zu beschäftigt mit Morgane gewesen war, um auf sie zu achten. So oder so war jedenfalls offensichtlich gewesen, dass er Simones Gefühle nicht erwiderte.
Als sie nachts in ihr Kissen geweint hatte, hatte sie sich immerhin damit trösten können, ihm ihre Gefühle nicht offen gestanden und sich damit seine Zurückweisung erspart zu haben. Morgen würde wieder alles beim Alten sein.
Tja, von wegen! Beim Aufwachen am nächsten Morgen holte die Realität sie brutal ein. Ihr Ständchen war nämlich nicht nur online, sondern hatte es sogar auf die Titelseite des Daily Florenan geschafft. Man hatte ein verdammtes Hashtag aus ihr gemacht!
Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang weinte sie sich fast die Augen aus dem Kopf vor Scham. Am schlimmsten waren noch die Kommentare unter dem Video, manche davon richtig bösartig. Einige Menschen legten ihr sogar nahe, sich umzubringen.
Einem sechzehnjährigen Teenager!
Am Tag darauf war ihre Mutter zu ihr ins Zimmer gekommen und hatte sie gefragt, was sie davon halten würde, für ein halbes Jahr auf ein Internat in der Schweiz zu gehen. Simones Erleichterung war geradezu grenzenlos gewesen. Dass man sie offensichtlich nur wegen ihrer Blamage aus dem Weg schaffen wollte, war ihr in dem Moment völlig egal gewesen. Aus einem Semester waren schließlich sechs geworden, sodass ihr die endgültige Rückkehr nach Florena erspart geblieben war.
In der stillen Hoffnung, dass Ed das Thema wechseln würde, drehte sie am Stiel ihres Weinglases. Leider Fehlanzeige.
„Weißt du wirklich nicht, warum du damals aufs Internat gekommen bist?“
Wieder schnaubte sie verächtlich. „Natürlich weiß ich das! Weißt du es denn?“
Er nickte.
„Dann frage ich mich, worüber wir hier überhaupt reden.“ Genervt riss sie ein Stück Brot ab und häufte Hummus darauf. Noch vor zwei Stunden war sie mit ihrem Leben rundum zufrieden gewesen, und jetzt saß Ed plötzlich auf ihrem Sofa und riss alte Wunden wieder auf! „Jetzt sag schon!“, forderte sie ihn auf. „Was denkst du, warum ich fortgegangen bin?“
„Nein, du zuerst.“
Sie trank einen Schluck Wein. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn sie anfing. Dann konnte sie ihm die Geschichte wenigstens auf ihre Art erzählen. „Erinnerst du dich noch an deinen siebzehnten Geburtstag? An die Party?“
„Klar. Ich war schließlich dabei.“
Sein Grinsen hielt sie fast davon ab fortzufahren. Ed war wirklich unmöglich! Ganz wundervoll und absolut unmöglich.
Simone richtete den Blick auf die Wand, um seine belustigt funkelnden grünen Augen nicht mehr sehen zu müssen. „Es waren sehr viele Gäste eingeladen. Freunde von dir und deinen Eltern.“
„Und du“, ergänzte er.
„Stimmt.“
Wusste er noch, was sie damals angehabt hatte? Sie hatte sich extra zu dem Anlass ein rotes Kleid gekauft, das fast ihr Budget gesprengt hatte. Natürlich war es trotzdem nicht so schick wie die Designerkleider der meisten anderen Frauen gewesen. Wusste er auch noch, welche Frisur sie gehabt hatte? Sie hatte sich das Haar geglättet, damit es mehr glänzte.
Ihre Bemühungen waren ihm bestimmt nicht aufgefallen. Andererseits … wenn er sich weder an ihr Kleid noch an ihre Frisur erinnerte, erinnerte er sich vielleicht auch nicht mehr an ihren Song.
„Wir haben im Wintergarten gefeiert…“
„Stimmt“, bestätigte er nickend. „Das Motto waren die Achtziger. Wir haben dafür extra Flipperautomaten gemietet.“
Also erinnerte er sich doch noch daran. Zumindest an ein paar Details.
Simone holte tief Luft. „Dumm, wie ich damals war, hielt ich es für eine gute Idee, Karaoke zu singen.“
Ed sagte nichts dazu, sondern wartete nur darauf, dass sie fortfuhr.
„Ich habe mir einen total peinlichen Song ausgesucht und mich damit komplett blamiert.“
„So schlimm war es bestimmt nicht.“
„Danke, dass du das sagst, aber wir wissen beide, wie schrecklich ich war. Ich wurde hinterher förmlich in der Luft zerrissen.“
„Was? Von wem denn?“
„Na, von allen! Zumindest in den sozialen Medien. Ich war sogar ein Hashtag!“
Ed starrte sie nur verständnislos an.
„Jetzt sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr daran!“
„Natürlich erinnere ich mich noch. Ich wusste nur nicht, dass es so schlimm war.“
„Nicht so schlimm?!“ Anscheinend hatte er seinerzeit nicht kapiert, was sie ihm mit ihrem Song hatte vermitteln wollen, aber der Rest der Welt schon. Alle hatten gewusst, dass sie ihm ein Ständchen gehalten hatte.
„Sim, Schatz, ich hatte ja keine Ahnung, was du damals durchgemacht hast.“
„Es war einfach nur schrecklich! Ich war #Palastserenade!“ Simone verschränkte wieder die Arme vor der Brust.
Ed beugte sich vor und sah sie ganz sanft aus grünen Augen an. Fast hatte sie den Eindruck, er wolle ihr über eine Wange streichen. Errötend riss sie den Blick von ihm los.
Bloß nicht verlieben! Bloß nicht verlieben!
„Ich war schon sehr oft die Zielscheibe von Hashtags und Memes und kann daher sehr gut nachvollziehen, dass du darunter gelitten hast. Wenn ich daraus jedoch eins gelernt habe, dann, dass der Rest der Welt einen schneller vergisst als man den. Ich wette, kein Florener erinnert sich noch an das Video.“
„Oh doch!“
Jedes Mal, wenn Simone ihre Mutter besuchte, spürten die Trolle sie wieder auf. Einmal war ein Foto von ihr im Supermarkt in den sozialen Medien veröffentlicht worden und ein anderes Mal eins von ihr und Alea in einem Café, untermalt von den üblichen hasserfüllten Nachrichten, Kommentaren und Drohungen. Dabei war sie noch nicht mal ein Promi! Sie war einfach nur jemand, der mit sechzehn Jahren bei einer privaten Party Karaoke gesungen hatte, und noch immer ließen die Trolle sie nicht in Ruhe. Ed hatte gut reden! Er hatte schon immer in der Öffentlichkeit gestanden und konnte mit so etwas umgehen. Sie hatte dafür einfach nicht die Kraft.
„Kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich habe das Video fast vergessen.“
Ehrlich gesagt hatte er es sogar komplett vergessen.
„Für dich ist das ja auch etwas anderes!“
„Warum? Weil ich ein Prinz bin? Macht mich das automatisch immun gegen Spott und Gelächter?“ Ed stellte sein Weinglas ab und machte Anstalten aufzustehen.
Simone hielt ihn an einem Arm fest. „Es tut mir leid, ich hätte das nicht sagen sollen.“ Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie nah sie ihm war … und wie unglaublich hart sich sein Bizeps anfühlte.
Ed setzte sich wieder. „Du hast ja recht, für mich ist es wirklich etwas anderes. Mir hat man von Anfang an beigebracht, mit Trollen und schlechter Presse umzugehen, und abgesehen davon, hättest du im Palast vor so etwas geschützt sein müssen. Die Party war schließlich privat.“
Simones Gedanken wanderten wieder zurück. Wie oft hatte Ed sich ihr gegenüber darüber beschwert, wie aufdringlich die Reporter waren und wie schrecklich es war, sich nirgendwo frei bewegen zu können. Im Gegensatz zu ihr hatte er nur das Glück gehabt, professionelle Unterstützung zu bekommen, um damit umgehen zu lernen.
„Trotzdem tut es mir leid.“ Wieder drückte sie ihm sanft den Arm. Verdammt, fühlte sich das gut an! Wie gern würde sie die Hand jetzt über seine Schulter zu seinem Nacken gleiten lassen …
Ed schüttelte den Kopf. „Nein, mir tut es leid. Ich wusste wirklich nicht, dass du damals so wegen des Videos gelitten hast.“
„Irgendwie schon. Ein alberner Karaoke-Song hat mein Leben zerstört, und das nur, weil ich dabei gefilmt wurde. Ohne dieses Video wäre ich jetzt wahrscheinlich gar nicht hier.“ Sie konnte von Glück sagen, dass sich alles zum Guten entwickelt hatte.
Sie unterdrückte einen Anflug von Enttäuschung, als Ed seinen Arm wegzog. Sie schenkte ihnen nach, und sie unterhielten sich über seine Auslandsreisen und seine Arbeit sowie ihre Buchhandlung, die Bücher, die sie gelesen, und die Podcasts, die sie gehört hatten. Worüber sie nicht sprachen, waren der Palast und ihre gemeinsame Kinder- und Jugendzeit.
Irgendwann klappten ihr die Augen zu.
„Du solltest ins Bett gehen“, sagte Ed. „Morgen musst du bestimmt wieder arbeiten, oder?“
Simone nickte. „Nimm du ruhig das Bett, ich schlafe auf dem Sofa.“
„Auf keinen Fall! Du hast auch so schon mehr als genug für mich getan.“
„Aber das Sofa ist viel zu klein.“
„Genau deshalb will ich dich ja nicht darauf schlafen lassen.“
Wir könnten doch beide in meinem Bett schlafen …
Aber was war, wenn ihre Hände mitten in der Nacht plötzlich ein Eigenleben entwickelten? Wenn ihr Unterbewusstsein sie dazu verleitete, auf seine Seite zu rutschen? Wie sollte sie ihm das dann erklären?
Suchend sah sie sich um. „Moment mal, hast du gar keinen Koffer dabei?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin direkt vom Flughafen aus hergekommen. Mein Kammerdiener ist mit meinem Gepäck weiter nach Florena gefahren.“
„Dann hast du also gar nichts zum Übernachten dabei?“
Er richtete den Blick auf seinen Rucksack. „Eine Zahnbürste, aber viel mehr auch nicht. Für eine Nacht wird es schon reichen. Morgen lasse ich mich sowieso abholen.“
Dann würde er also nur eine Nacht bleiben …
„Wir könnten uns doch das Bett teilen?“
Die Luft wurde plötzlich genauso dünn wie Simones Stimme. Ihr Herz klopfte heftig, während sie auf seine Antwort wartete.
„Meinst du?“
„Wir haben doch schon öfter die Nacht miteinander verbracht.“
Ihm klappte die Kinnlade nach unten.
„Als wir klein waren“, beeilte sie sich hinzuzufügen. „Bei Übernachtungsbesuchen.“
„Das ist nicht das Gleiche.“
Offensichtlich war sie gerade zu weit gegangen. „Wir sind doch bloß Freunde. Wir mögen seit damals älter geworden sein, aber trotzdem.“ Wenn sie das nur oft genug wiederholte, würde es vielleicht sogar wahr werden.
Eds Schweigen dauerte so lange, dass ihre Wangen brannten wie Feuer. „Bist du dir wirklich sicher?“
Sie seufzte ungeduldig. „Keine Sorge, ich werde es schon schaffen, die Hände von dir zu lassen!“
Er beugte sich zu ihr – dicht genug, um seine Körperwärme zu spüren – und hob eine Augenbraue. „Aber was ist, wenn ich das nicht schaffe?“
Er klang so ernst, dass es Simone heiß durchzuckte. Nein, die Vorstellung, dass Ed nicht die Hände von ihr lassen konnte, war völlig absurd. Fragte sich nur, warum er dann nicht lachte …
Forschend sah sie ihn an – so intensiv, dass sie die goldenen Flecken in seiner Iris erkennen konnte. Und dann erkannte sie plötzlich noch etwas anderes. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer, und sie spürte einen seltsamen Druck auf der Brust.
Erst nach einer gefühlten Ewigkeit wandte er das Gesicht ab und räusperte sich. „Ich befürchte nur, dass mich dein Schnarchen wach halten wird.“
Simone musste lächeln. Der Zauber war gebrochen. Sanft stupste sie ihn an. „Ich bezweifle, dass du mich überhaupt schnarchen hören wirst, so laut, wie du selbst schnarchst.“
Sie holte ihren Schlafanzug und zog sich im Badezimmer um, bevor sie sich wie jeden Abend das Gesicht wusch und die Zähne putzte. Mit Ed hinter ihrer Badezimmertür kam ihr ihre Abendroutine merkwürdig fremd vor. Ed Berringer war gerade in ihrer Wohnung und lag vermutlich schon auf ihrem Bett, großgewachsen und athletisch.
Ach, Ed …
Es war viel einfacher gewesen, nicht an ihn zu denken und ihre Gefühle für ihn zu verdrängen, als er noch weit weg gewesen war. Eine bloße Erinnerung und kein lebendiger Mann gewesen war. Aber heute Abend war er nur allzu lebendig und noch dazu unfassbar schön, und er würde direkt neben ihr schlafen …
Kommt gar nicht infrage!
Sie war längst über ihn hinweg. Auf keinen Fall würde sie wieder den Fehler machen, sich in ihn zu verlieben.
Als sie sich vorsichtig neben ihn legte, achtete sie darauf, ihn nicht zu berühren.
Er drehte sich zu ihr um. „Danke für alles.“
„Du brauchst dich nicht zu bedanken. Du bist hier jederzeit willkommen. Ich freue mich über deinen Besuch.“
Das Lächeln, das er ihr schenkte, ließ sie förmlich dahinschmelzen.
Bloß nicht verlieben! Bloß nicht verlieben!
Sie wollte ihm gerade den Rücken zukehren, als ihr plötzlich etwas einfiel, das er vorhin gesagt hatte. „Warte mal kurz! Was glaubst du eigentlich, warum man mich aus Florena weggeschickt hat?“
„Äh … na, deswegen … wegen deines Songs. Des Videos.“
Simone seufzte. Dann hatte er also das Gleiche gemeint wie sie. Sie knipste ihre Nachttischlampe aus und versuchte, es sich bequem zu machen. „Gute Nacht, Ed“, sagte sie in die Dunkelheit hinein.
„Gute Nacht, Sim. Ich hoffe, die Füchse kriegen dich nicht.“
Sie musste lächeln, als sie die Worte hörte, mit denen sie sich als Kinder beim Zelten im Palastgarten immer eine gute Nacht gewünscht hatten. Jedes Mal hatten sie sich vorgenommen, die ganze Nacht wach zu bleiben, waren jedoch immer in den frühen Morgenstunden eingeschlafen. Wie alt waren sie wohl damals gewesen? Neun Jahre? Zehn? „Weißt du noch, wie wir früher immer im Garten gezeltet haben?“
„Natürlich weiß ich das noch. Ich kann von Glück sagen, dich damals gehabt zu haben. Und jetzt genauso. Ich weiß, in den letzten Jahren haben wir uns nicht oft gesehen, aber für mich bist du wie Familie.“
Wieder seufzte Simone. Offensichtlich hatte er nach wie vor nur brüderliche Gefühle für sie. Er war nur wegen der Umstände in ihrem Bett.
Aber so oder so würde nie etwas zwischen ihnen laufen. Das Letzte, das sie wollte, war, auf dem Radar der erbarmungslosen Presse von Florena zu landen. Man würde sie wahrscheinlich in der Luft zerreißen, wenn sie etwas mit Prinz Edouard, dem Playboy-Prinzen, anfing.
Wieder und wieder schärfte sie sich das ein, bevor sie endlich einschlief.
Manchmal war es wirklich kein Spaß, ein Prinz zu sein. An Tagen wie diesen empfand Ed das sogar als einzige Zumutung. Wer sonst machte sich so viele Gedanken um die öffentliche Meinung, dass er sich quasi freiwillig in einen Pariser Turm einsperrte?
Von seinen Eltern hatte er bisher noch nichts gehört. Nur der Privatsekretär seines Vaters hatte geschrieben, dass der König sich bald bei Ed melden würde. Während er auf den Anruf wartete, versuchte er, sich mit Arbeit abzulenken, konnte sich jedoch nicht konzentrieren, weil seine Gedanken immer wieder zu seinen Eltern wanderten.
Und zu Simone.
Er hatte sie nur unregelmäßig gesehen, seit sie in die Schweiz gezogen war. Im Grunde hätte er sie schon viel früher hier in Paris besuchen sollen, aber anscheinend hatte er seine langjährigste und beste Freundin für zu selbstverständlich gehalten, um den Kontakt zu pflegen.
Überwältigt von Schuldgefühlen griff er nach seinem Handy und suchte nach dem Video, von dem sie gesprochen hatte. Als er #Palastserenade in die Suchmaschine eingab, war er überzeugt, nichts zu finden, aber da war das Video auch schon. Und da war sie. Eine sechzehnjährige Simone, die inbrünstig I will always love you ins Mikrofon schmetterte. Ihre Stimme war gar nicht so übel, aber der Song war viel zu schwierig, vor allem, wenn sich das Publikum über einen lustig machte. Doch sie ließ sich nicht unterkriegen und hielt bis zum Ende durch.
Sein Herz blutete für sie. Ihm fiel auf, wie toll sie aussah – irgendwie anders als sonst damals. Ihr blondes Haar war geglättet, und ihr rotes Kleid zeigte überraschend viel Haut.
Was hatte sie bloß geritten, ausgerechnet diesen Song zu singen? Er sah sich das Video ein zweites Mal an und las anschließend die Kommentare. Sie waren wirklich ziemlich übel. Für eine Sechzehnjährige mussten sie geradezu traumatisch gewesen sein. Aber weder diese Kommentare noch das Video waren der Grund, warum sein Vater Simone das Internat und später ihr Studium bezahlt hatte.
Sollte er ihr von der Affäre erzählen? Nein, besser nicht. Das stand ihm einfach nicht zu.
Er verspürte plötzlich den Wunsch, Simone zu sehen. Nicht die Sechzehnjährige aus dem Video, sondern die schöne Neunundzwanzigjährige, die gerade in ihrem künftigen Laden in einer der schönsten Städte der Welt arbeitete.
Ich könnte doch einfach runtergehen.
Und erkannt werden? Nein. Ed holte wieder seinen Laptop. Er würde seine heutigen Mails beantworten. Schließlich war er immer noch Handelsattaché und hatte daher Verpflichtungen.
Entschlossen machte er sich an die Arbeit.
Simone wusste nicht, womit sie gerechnet hatte, als sie abends nach Hause kam, aber jedenfalls nicht mit frisch gebackenen Madeleines.
Ihre Wohnung duftete nach ihrer Mutter. Nach zu Hause.
„Willst du, dass ich Heimweh bekomme?“, fragte sie Ed.
„Warum fragst du? Hast du welches?“
Simone wandte das Gesicht ab, damit er nicht die Tränen sah, die ihr in die Augen schossen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Die Madeleines erinnerten sie an ihre Mutter. Sie vermisste sie schrecklich – so sehr, dass es wehtat. Sie telefonierten zwar regelmäßig, und Alea kam, sooft es ging, nach Paris, aber so weit voneinander entfernt zu wohnen, war trotzdem hart. „Hast du schon von deinen Eltern gehört?“
Ed schüttelte den Kopf.
„Das tut mir leid.“ Mitfühlend legte sie ihm eine Hand auf eine Schulter. Er fühlte sich köstlich warm unter seinem weichen Kaschmirpullover an. Ihre Hand begann zu prickeln, vor allem, als Ed sie sanft drückte.
Wenn sie doch nur dichter an ihn heranrücken und die Hand über seine Schultern gleiten lassen könnte. Sich auf seinen Schoß setzen und …
„Sie wissen bestimmt, dass du dir Sorgen machst“, stieß sie mühsam hervor. Es fiel ihr schwer, in ihrem jetzigen Zustand einen klaren Satz zu formulieren.