Julia Gold Band 76

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SÜßE TRÄUME IN DER ÄGÄIS von REID, MICHELLE
So kühl der griechische Millionär Alexander Pascalis in der Geschäftswelt ist, so sehr brennt er vor Verlangen nach der schönen Helen! Doch sie scheint ihm nicht zu trauen. Er nimmt sie mit auf seine traumhafte Mittelmeerinsel. Kann er sie dort in sinnlichen Nächten von seiner Liebe überzeugen?

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PORTUGIESISCHE LIEBESNÄCHTE von THORPE, KAY
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  • Erscheinungstag 15.09.2017
  • Bandnummer 0076
  • ISBN / Artikelnummer 9783733709198
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Reid, Anne Haven, Kay Thorpe

JULIA GOLD BAND 76

1. KAPITEL

Der Weg von der Gepäckabfertigung bis zum Hauptausgang des Flughafens war das reinste Spießrutenlaufen. Überall standen die Reporter dicht gedrängt, hielten ihm ihre Mikrofone entgegen und blendeten ihn mit den Blitzlichtern ihrer Kameras.

Mit ernstem Gesicht und zusammengepressten Lippen versuchte Xander, ihre provozierenden Fragen zu überhören. „Haben Sie etwas mit dem Unfall Ihrer Frau zu tun, Mr. Pascalis?“ – „Wusste sie etwas von Ihrer Geliebten?“ – „Ist sie absichtlich gegen den Baum gefahren? War es ein Selbstmordversuch?“ – „Warum haben Sie letzte Woche den Bodyguard Ihrer Frau entlassen?“

Ohne auch nur einmal zur Seite zu blicken, ging Xander unbeirrt weiter, geschützt von seinen drei Leibwächtern. Er war eine auffällige Erscheinung, südländischer Typ, dunkelhaarig, knapp eins neunzig groß, langbeinig und athletisch. Wie so oft wirkte sein männlich markantes Gesicht auch jetzt verschlossen, nur um seine Lippen spielte ein verächtliches Lächeln.

Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass Alexander Pascalis vor Wut kochte. Seit Langem war er es gewohnt, das Interesse der Medien auf sich zu ziehen, die liebend gern Gerüchte über ihn verbreiteten und immer hofften, einem Skandal auf der Spur zu sein. Aber nichts von dem, was sie ihm bisher angedichtet hatten, war so schlimm oder auch nur annähernd so gefährlich gewesen wie dieser Vorfall.

Direkt vor dem Ausgang wartete seine Limousine, und sein Chauffeur Rico hielt schon die hintere Tür auf, um Xander einsteigen zu lassen. Damit Rico ungehindert anfahren konnte, hielten die drei Bodyguards die Reporter in Schach und stiegen anschließend in einen zweiten Wagen, der sofort mit der Limousine aufschloss.

„Wie geht es ihr?“, fragte Xander den Mann, der neben ihm saß.

„Sie ist noch im OP“, antwortete Luke Morrell.

Sich auszumalen, wie seine schöne Helen hilflos dem Skalpell eines Chirurgen ausgeliefert war, war eine Qual. Fast genauso schrecklich war die Vorstellung, wie sie bewusstlos über dem Steuer ihres völlig zerstörten Autos gelegen hatte, ihr herzförmiges Gesicht und ihr wunderbares tizianrotes Haar blutverschmiert.

„Wer ist bei ihr?“

Luke zögerte. „Niemand – sie wollte es nicht.“

Zum ersten Mal sah Xander seinem englischen Vertrauensmann ins Gesicht. „Und Hugo Vance?“

„Nell hat ihn vor einer Woche entlassen.“

Zwischen ihnen herrschte eisiges Schweigen. „Und warum habe ich nichts davon erfahren?“ Xanders Stimme klang gefährlich leise, und Luke Morrell schluckte.

„Du warst zu beschäftigt.“

Zu beschäftigt! Das ist mein Schicksal, dachte Xander grimmig, mein Leben ist im Grunde kein Leben. „Mach noch so einen Fehler, Luke, und du bist deinen Job los“, erklärte er kalt.

Unbehaglich rutschte Luke Morrell neben Xander hin und her. Auf Rosemere, dem riesigen Landgut, genoss die schöne Helen jeden erdenklichen Luxus, den man für Geld kaufen konnte. Warum war sie damit nicht zufrieden gewesen, sondern hatte sich aufgemacht, die Welt vor den Toren zu erkunden?

„Es war ein Unfall, Xander. Sie ist viel zu schnell gefahren.“

„Und weshalb ist sie zu schnell gefahren?“

Weil Xander sich diese Frage selbst beantworten konnte, schwieg Luke. Am Tag zuvor waren die Bilder überall in der Regenbogenpresse zu sehen gewesen: Xander vor einem lauschigen New Yorker Luxusrestaurant, die elegante Vanessa DeFriess eng an sich gezogen.

Als er an den Vorfall dachte, verspannte sich Xander. Bisher hatte er Nell vor solchen Fotos erfolgreich geschützt. Doch an jenem Abend hatte ein Betrunkener Vanessa belästigt. Ängstlich flüchtete sie sich an seine Brust, und noch bevor sein Bodyguard den Störenfried überwältigt hatte, schlich ein Reporter mit seiner Kamera aus dem Hintereingang.

Wahrscheinlich hatte Nell sich über die Bilder geärgert, vielleicht war sie sogar wütend geworden – wer wusste schon, was hinter ihrer schönen Stirn vor sich ging? Er jedenfalls hatte aufgegeben, es ergründen zu wollen. Bei ihrer Hochzeit vor einem Jahr – von den Medien als die Romanze schlechthin bejubelt – hatte Nell sich nämlich geweigert, mit ihm ins Bett zu gehen. Stattdessen hatte sie ihn beschimpft, von machtbesessener Egomane bis rücksichtsloser Sexist hatte er sich alles anhören müssen. Seitdem mochte er sie nicht mehr sehen.

Lügner, meldete sich seine innere Stimme. Mit deinem Stolz und der Arroganz hast du nur deine Hilflosigkeit überspielt, denn Nell hat an zu vielen alten Wunden gerührt, und du wusstest nicht, wie du dich verteidigen sollst.

Auch der Streit in ihrer Hochzeitsnacht war wegen Fotos von Vanessa und ihm entflammt. Diese Bilder und Berichte, die Dichtung und Wahrheit geschickt vermischten, hatten es ihm unmöglich gemacht, sich zu verteidigen. Denn er hatte Vanessa tatsächlich eine Woche vor der Hochzeit getroffen, war mit ihr ausgegangen und hatte sie weiter als nur bis zur Tür ihres Apartments begleitet. Weil er in Amerika und Nell auf der anderen Seite des Atlantiks gewesen war, hatte er sich in Sicherheit gewähnt.

Zurück in England, musste er erkennen, dass seine junge süße und bis über beide Ohren in ihn verliebte Braut die Klatschspalten der New Yorker Zeitungen im Internet verfolgt hatte.

Jedoch hatte sie niemandem davon erzählt. Unschuldig und schön wie ein Engel, in einem traumhaften Kleid aus Tüll und feinster Spitze, war sie ihm in der Kirche entgegengekommen. Sie hatte gelächelt, sich den Ring an den Finger stecken lassen und ihn ewige Liebe und Treue schwören lassen. Sogar den traditionellen Brautkuss hatte sie ihm gewährt. Den ganzen Tag war Nell die strahlende Braut gewesen, während des Fototermins, bei dem langen Empfang und auch noch, als er sie zum Hochzeitstanz aufs Parkett führte.

Wenn es je einen Mann gegeben hatte, der seine junge Frau lieben, vergöttern und auf Händen tragen wollte, dann war er es gewesen. Doch kaum hatten sie die Schwelle zur Hochzeitssuite überschritten, verwandelte sich seine überirdisch schöne und zarte Braut in eine Giftschlange. Unbarmherzig hatte sie ihn mit ihren Worten aus seinen romantischen Träumen gerissen.

Wie sehr hatte er sich gewünscht, Nell für immer zu seiner ergebenen Geliebten zu machen, indem er sie zärtlich und unendlich behutsam in die Geheimnisse der Liebe einweihte. Doch Dornröschen hatte sich nicht wachküssen lassen, sondern ihrem Prinzen einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen.

Und so schlief Dornröschen immer noch. Ihre süße Unschuld hatte sie nicht nur vor einem schlimmen Ende der Hochzeitsnacht bewahrt, sondern schützte sie immer noch. Wenn sie das nur wüsste! Xander begehrte seine schöne Frau, wie er noch nie eine Frau begehrt hatte, dennoch wollte er die Ehe mit ihr nicht aufs Spiel setzen, indem er sie vollzog.

Mühsam konzentrierte er sich wieder auf das Gespräch mit seinem Assistenten. „Du kannst mir bestimmt sagen, warum Nell Hugo entlassen hat“, hakte er nach und sah Luke durchdringend von der Seite an.

Der schluckte nervös, und seine Wangenknochen röteten sich hektisch – er wusste, wann sein Boss gefährlich wurde.

„Also los, raus damit“, forderte Xander ihn auf.

Bevor er anfing, holte Luke tief Luft. „Hugo hat versucht, es zu unterbinden“, antwortete er ausweichend. „Nell fühlte sich beleidigt und …“

„Was wollte Hugo unterbinden?“

Hilflos hob Luke die Hände. „Hör mir gut zu, Xander“, begann er in einem beschwichtigenden Ton, der Xander überhaupt nicht passte. „Du brauchst dich nicht aufzuregen, denn an der Geschichte ist nichts dran. Hugo glaubte jedoch, du könntest es vielleicht falsch verstehen, daher riet er Nell davon ab, weiterhin …“

„Komm endlich zur Sache!“, unterbrach Xander ihn unbeherrscht. Allmählich konnte er die Spannung nicht länger ertragen, denn mittlerweile war er überzeugt, gleich etwas sehr Unangenehmes zu hören.

„Ein Mann“, bekannte Luke widerwillig. „Ein … ein alter Bekannter. Nell hat ihn in letzter Zeit öfter getroffen.“

Nell hatte das Gefühl, schwerelos im Raum zu schweben, was eigenartig und beängstigend war. Außerdem konnte sie die Augen nicht öffnen. Ihr Hals schmerzte, ihr Mund war trocken, und sie war nicht in der Lage zu schlucken.

Von dem, was passiert war, hatte sie nur eine lückenhafte und verschwommene Vorstellung. Sie hatte einen Autounfall gehabt und war mit dem Notarztwagen in das nächste Krankenhaus gebracht worden. An den Unfall selbst konnte sie sich nicht mehr klar erinnern. Alles, was sie wusste, war, dass sie in ihrem kleinen offenen Sportwagen mit hoher Geschwindigkeit die Auffahrt von Rosemere hinuntergefahren war. Noch sehr genau entsann sie sich des Triumphgefühls, als sich die schmiedeeisernen Tore trotz ihres rasanten Tempos genau rechtzeitig öffneten – sie musste den Fuß nicht vom Gaspedal nehmen. Endlich, die Tür des goldenen Käfigs hat sich geöffnet, und ich bin frei, hatte sie noch gedacht.

Frei wovon? Wie war sie auf dieses Wort gekommen? Als sie beim Nachdenken unwillkürlich die Stirn runzelte, stöhnte sie leise. Ihr Kopf schmerzte, als würde er zerspringen.

„Nell?“, fragte jemand ganz in der Nähe.

Mit ihrer ganzen Willenskraft schaffte sie es, die Augen einen winzigen Spalt zu öffnen. Am Fußende ihres Bettes erkannte sie eine schattenhafte Gestalt. Xander.

Was in Gottes Namen machte er hier? Hatte die Welt aufgehört, sich zu drehen, oder weshalb hatte er die Zeit, sie am Krankenbett zu besuchen? Zu gern hätte sie ihn weggeschickt, doch es fehlte ihr die Kraft, auch nur einen einzigen Laut zu äußern. Also schloss sie wieder die Augen und ignorierte ihn einfach.

„Nell! Hörst du mich?“

Seine Stimme klang belegt. Ob er erkältet war? Woher sollte sie das wissen, sie hatte ihn seit Monaten nicht mehr gesehen. Zuletzt war er wie aus heiterem Himmel zu ihrem Geburtstag aufgetaucht, um mit ihr in einem Nobelrestaurant essen zu gehen. Candle-Light-Dinner für zwei, und auch der Champagner hatte nicht gefehlt.

Wie im Film lief das Geschehen noch einmal vor ihrem geistigen Auge ab. Flackerndes Kerzenlicht, das geheimnisvolle Schatten auf Xanders markantes Gesicht warf und schimmernde Reflexe auf sein dunkles Haar zauberte. Elegant und lässig saß er ihr gegenüber und hatte nur Augen für sie. Die bewundernden Blicke der anderen Frauen nahm er nicht zur Kenntnis. Zweifellos war er ein besonderer Mensch und ein außergewöhnlich attraktiver Mann mit entsprechendem Selbstbewusstsein. Wie alle anderen Gäste des Restaurants, sah und spürte Nell das natürlich auch, doch im Gegensatz zu ihnen ließ sie es sich nicht anmerken.

„Happy Birthday“, sagte er und schob ein schwarzes Samtkästchen über den Tisch, in dem ein mit Rubinen besetztes Armband lag, das ein Vermögen gekostet haben musste.

Doch selbst wenn es die Kronjuwelen der Queen gewesen wären, hätte er sie nicht damit beeindruckt. Für sie war das Armband ein typisches Schmuckstück, mit dem ein reicher Mann seiner Geliebten Anerkennung und Verbundenheit ausdrückte.

Fehlte Xander denn jegliche Sensibilität, ihr ein solches Geschenk zu machen? Anscheinend, denn anschließend erklärte er, er wolle mit ihr noch einmal über den Ehevertrag sprechen. Als ob etwas Gold und einige Steinchen ihre Überzeugungen ändern könnten!

Energisch schob sie das Kästchen zurück und sagte Nein zu dem Armband und seinem Ansinnen. Brachte ihn das etwa aus dem Konzept? Keinesfalls. Er sah sie einige Zeit ruhig und nachdenklich an und nickte dann – und damit war die Sache für ihn erledigt.

Nach dem Essen brachte er sie zurück nach Rosemere und fuhr sofort weiter, um wieder sein gewohntes Leben als griechischer Milliardär und Großindustrieller aufzunehmen, der überall in der Welt zu Hause war.

Sicher hatte er das Armband inzwischen einer Frau geschenkt, die es besser zu schätzen wusste – wahrscheinlich Vanessa.

„Ich hasse dich“, dachte sie und merkte nicht, dass ihr die Worte tatsächlich über die Lippen gekommen waren. Dann hörte sie ein Geräusch, als ob ein Möbelstück gerückt würde, und fühlte einen stechenden Schmerz in der Stirn. Als sie mühsam die Hand heben wollte, um ihren Kopf zu betasten, hinderte Xander sie sanft daran.

„Lass es lieber, Nell, sonst regst du dich nur unnötig auf.“

Wieder öffnete sie die Augen um jenen winzigen Spalt und blickte Xander direkt in seine dunklen Augen mit den grandiosen Wimpern, um die ihn jede Frau beneidete. „Wie geht es dir?“, erkundigte er sich.

Ihr tat alles weh, am meisten jedoch ihr Herz, das er gebrochen hatte – und wovon sie sich wohl nie wieder erholen würde. Warum war Xander überhaupt hier? Warum war er nicht in New York bei der schönen Vanessa mit dem dunkelbraunen Haar und der sinnlichen Figur, an der selbst der auffälligste Schmuck elegant wirkte, und für die es kein Problem war, sich in aller Öffentlichkeit einem verheirateten Mann an den Hals zu werfen?

„Weißt du, wo du bist?“ Er ließ nicht locker, und Nell bebte, als sein warmer Atem ihr Gesicht streifte.

„Du bist im Krankenhaus“, informierte er sie. „Du hattest einen Autounfall. Kannst du mich hören, Helen?“

Helen und nicht Nell hatte er sie genannt und dabei sehr ungeduldig geklungen. Verständlich, denn ein Alexander Pascalis war es gewohnt, dass man seine Fragen umgehend beantwortete. Schließlich war er wichtig und besaß – wie sein Namensvetter Alexander der Große – uneingeschränkte Macht, wenn auch nicht über ein Heer und ein Reich, sondern über ein gigantisches Wirtschaftsimperium. Wenn Xander etwas sagte, gehorchten alle. Er war dynamisch, charismatisch und sah einfach sensationell aus.

„Bitte geh“, bat sie ihn mühsam.

Ihr Wunsch musste ihn getroffen haben, denn unwillkürlich verstärkte er den Händedruck. Dennoch blieb er. Mit angenehm kühlen Fingern berührte er ihre Stirn und strich behutsam eine Locke zurück. „Das ist nicht dein Ernst, Darling.“

Doch, dachte sie, und unterdrückte Tränen brannten ihr in den Augen. Seine zärtliche Berührung hatte Erinnerungen geweckt – Erinnerungen an einen liebevollen Xander. Aber den gab es nicht mehr, die Zeiten waren unwiederbringlich vorbei und ihre Träume zerplatzt. Der wahre Xander besaß kein Herz, jedenfalls nicht für sie.

Warum war er überhaupt hier? Wie hatte er so schnell kommen können? Was für ein Tag war es und wie spät? Als sie eine unkontrollierte Bewegung machte, durchfuhr sie der Schmerz wie ein Messerstich. Instinktiv wollte sie laut aufschreien, was sich jedoch nur in einem leisen Wimmern äußerte.

„Bleib ganz ruhig! Beweg dich nicht!“ Über sie gebeugt, betätigte er den Notruf, der auf ihrer Bettdecke lag, und hielt sie an den Schultern fest, obwohl sie sich am liebsten gekrümmt hätte, so tat ihr die linke Seite weh. „Je weniger du dich bewegst, desto besser. Du hast starke Prellungen, und etliche Rippen sind gebrochen. Außerdem leidest du an einer leichten Gehirnerschütterung und musstest wegen innerer Blutungen operiert werden. Nell, du …“

„Was … woran musste ich operiert werden?“

„Du hast dir bei dem Unfall den Blinddarm gequetscht, deshalb musste er entfernt werden.“

Der Blinddarm? Das war alles? Sie konnte es nicht glauben.

„Falls du Angst wegen der Narbe hast, kann ich dich beruhigen. Der Eingriff erfolgte durch Knopflochchirurgie, mehr als einige winzige Einstiche waren nicht erforderlich. Keine zwei Monate, und deine Haut ist wieder makellos.“

Glaubte er wirklich, sie würde sich Sorgen wegen einer lächerlichen Narbe machen? Bei der Aufnahmeuntersuchung hatten die Ärzte noch einen Milzriss oder zerstörte Eierstöcke befürchtet.

„Ich … ich hasse dich“, flüsterte sie mühsam und mit erstickter Stimme, um gleich darauf in hysterisches Schluchzen auszubrechen. Für Xander war das ein klares Anzeichen für eine verspätete Schockreaktion. Besorgt sprang er auf, und in diesem Moment eilte auch schon der Arzt, umringt von Assistenten und Schwestern, ins Zimmer.

Vor Sorge und Ärger übertönte Xanders Stimme alle anderen. „Kann mir jemand erklären, warum meine Frau hier mit drei anderen Patientinnen in einem Zimmer liegt? Gilt persönliche Würde denn nichts in diesem Haus?“

Als Nell das nächste Mal wach wurde, war es dunkel. Nur über ihrem Kopf brannte eine schwache Notbeleuchtung. Die Augen zu öffnen, bereitete ihr jetzt keine Mühe mehr. Insgesamt fühlte sie sich deutlich besser – wahrscheinlich hatte man ihr starke Medikamente gegeben.

Auch als sie probehalber vorsichtig den Kopf bewegte, folgte keine Schmerzattacke. Erleichtert seufzte sie auf und sah sich um. Das Zimmer sah irgendwie anders aus.

„Ich habe dich in eine Privatklinik bringen lassen.“ Xander stand in dem schummrigen Licht, das durch das offene Fenster fiel.

Natürlich, ein Mann wie er würde seine Frau nicht in einem staatlichen Krankenhaus liegen lassen, wenn er ihr modernste medizinische Versorgung und mehr persönlichen Komfort kaufen konnte.

Wie er da im Halbschatten stand und mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster sah, fiel es ihr trotz ihrer Benommenheit nicht schwer, seine innere Anspannung zu erkennen. Für einen Moment glaubte sie fast, wieder den Mann vor sich zu haben, in den sie sich vor einem Jahr verliebt hatte.

Genau so hatte er am Fenster gestanden, als sie an jenem Abend die Bibliothek ihres Vaters betreten und ihn dort allein angetroffen hatte. Ohne große romantische Erklärungen hatte er sie gebeten, seine Frau zu werden.

Natürlich hatte sie vorher schon einige Male mit ihm gegessen. Und auch wenn sie sich bei offiziellen Anlässen zufällig getroffen hatten, war er stets auffallend um sie bemüht gewesen. So auffallend, dass Nell sehr schnell im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gestanden hatte. Weil sie die Aufmerksamkeiten eines Mannes von seinem Format nicht gewöhnt war, errötete sie zu dieser Zeit ständig.

Gerade einundzwanzig geworden, kam sie damals direkt aus Kanada, wo sie drei Jahre bei ihrer Mutter gelebt hatte. Kathleen Garrett hatte sich in die Einsamkeit der Rocky Mountains zurückgezogen, wo sie Kunstwerke aus Treibholz anfertigte. Ihr Arbeitsmaterial sammelte sie an den Ufern der Gebirgsbäche und fand es in der Regel weitaus interessanter als ihre Mitmenschen.

Ursprünglich hatte Nell nur ihren jährlichen zweiwöchigen Besuch geplant, doch dann informierte ihre Mutter sie – kühl und gelassen wie immer –, dass sie nicht mehr lange zu leben habe. Nell war geblieben – froh, Kathleen so noch zu einigen schönen und einigermaßen normalen Jahren verholfen zu haben. Jahre, in denen sich Mutter und Tochter näherkamen als je zuvor.

Zurück in England, empfand Nell das geschäftige und oberflächliche gesellschaftliche Leben ihres Vaters als regelrechten Kulturschock. Als sie nach ihrer Internatszeit zu ihrer Mutter nach Kanada geflogen war, war sie noch ein naives junges Mädchen. Dass sie während der drei Jahre in der Abgeschiedenheit der Berge zu einer erwachsenen Frau gereift war, hatte sie selbst gar nicht bemerkt. Dazu musste sie erst Alexander Pascalis begegnen.

„Du stellst eindeutig eine Gefahr dar – für dich selbst und für alle Männer in deiner Nähe“, hatte er ihr leise ins Ohr geraunt, sie in seine Arme gezogen und mit ernster Miene gefragt, ob sie ihn heiraten wolle.

Versunken in diese Erinnerungen, wandte sie den Kopf, um Xander nicht mehr ansehen zu müssen. Sie wollte nicht an jene Monate denken, in denen sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hätte, nur um in seiner Nähe zu sein. Diese Zeiten waren endgültig vorbei; ebenso wie ihr Stolz, ihre Selbstachtung und ihre romantische Verliebtheit gehörten sie der Vergangenheit an.

Weil ihr Mund so trocken war, konnte sie kaum schlucken. Als sie nach dem Glas Wasser greifen wollte, das auf dem Nachttisch stand, hatte sie nicht die Kraft dazu.

„Ich habe Durst“, meinte sie kaum hörbar.

Sofort war er bei ihr, stützte sie und setzte ihr das Glas an die Lippen. Sie fühlte die Wärme seines Körpers – so nah hatte sie Xander seit ihrem Hochzeitstag nicht mehr gespürt.

Behutsam ließ er sie wieder in die Kissen gleiten und betrachtete sie nachdenklich. „Dein Wagen hat einen Totalschaden“, erklärte er unvermittelt.

„So?“ Instinktiv zog sie in einer Abwehrhaltung die Schultern hoch.

„Du musst mit stark überhöhter Geschwindigkeit gegen den Baum gefahren sein, sonst hätte der Aufprall nicht derart fatale Folgen gehabt.“

„Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich weiß nur noch, wie ich durch das Tor auf die Straße gefahren bin“, erklärte Nell und betrachtete dabei konzentriert ihre Bettdecke.

Schweigend musterte er sie. Lügen war noch nie ihre Stärke gewesen, und prompt schoss ihr das Blut in die Wangen. Was Xander nicht weiß, macht ihn nicht heiß, dachte sie. Aber Sarkasmus machte die Situation auch nicht erträglicher.

„Wie spät ist es denn?“, fragte sie, um vom Thema abzulenken.

Xander stand vom Bett auf und blickte auf seine goldene Armbanduhr. „Halb drei morgens.“

Als er wieder zum Fenster ging, sah Nell ihm hinterher. „Ich dachte, du bist in New York“, sagte sie.

„Wie du siehst, bin ich zurückgekommen.“

Ob Vanessa ihn begleitet hatte?

„Bitte fühl dich zu nichts verpflichtet. Du musst mir keine Gesellschaft leisten“, bemerkte sie schnippisch.

Sonst kümmerte er sich schließlich auch nicht um sie. Nur ab und zu tauchte er ohne jede Vorwarnung auf, erkundigte sich höflich nach ihrem Befinden und ging mit ihr aus – damit ihre Ehe ganz normal wirkte.

Seine Suite auf Rosemere lag direkt neben ihrer, aber Xander hatte sie noch nie benutzt. Bei jedem seiner Besuche brachte er sie abends bis zu ihrer Schlafzimmertür und verließ dann umgehend das Haus. Mehr war seiner Meinung nach wohl nicht nötig, um den Schein zu wahren.

„Man würde sich wundern, wenn ich in dieser Situation nicht an deine Seite eilen würde“, entgegnete er – ganz wie sie es erwartet hatte.

Plötzlich wurden ihre Lider wieder schwer. „Ich entbinde dich hiermit von deinen Pflichten als treusorgender Ehemann.“ Nur mit Mühe kamen ihr die Worte über die Lippen. „Geh weg, Xander, deine Anwesenheit macht mich nur nervös.“

Kleine Lügnerin, dachte Xander, und betrachtete seine schlafende Frau. Wenn sie ihr blasses angeschwollenes und durch Schrammen und Blutergüsse entstelltes Gesicht hätte sehen können, wäre Nell schockiert. Als er sie nach der Operation besucht hatte, hatte auch sein Herz vor Schreck einen Schlag ausgesetzt.

Ihr wunderbares tizianrotes Haar lag auf dem Kissen. Er mochte es, wenn sie es offen trug. Denn das erinnerte ihn an seine erste Begegnung mit Nell. An einem kalten und windigen Tag hatte er ihren Vater besucht, als Nell gerade von einem Hundespaziergang zurückkehrte. Ihr Gesicht glühte und ihr wunderbares Haar hing ihr in seidigen Locken fast bis zur Taille. Weil der tapsige Labradorwelpe vor ihr ins Zimmer gestürmt war, auf dem blanken Parkett ausrutschte und ihm genau vor die Füße schlitterte, blitzten ihre grünen Augen vor Lachen.

Erst in dem Moment nahm Nell Notiz von ihm. Langsam ließ sie den Blick von seinen schwarzen Lederschuhen aufwärts gleiten. Als sie ihm in die Augen sah, lachte sie nicht mehr, sondern errötete schüchtern.

Eine durch und durch raffinierte Methode, dachte er. Damit gelang es ihr immer wieder, sein Begehren zu entfachen: zuerst der aufreizende Blick, dann das unschuldige Erröten. Nell war eine wahre Meisterin darin.

Ihr Blick hätte ihm sofort eine Warnung sein sollen. Warum hatte er nicht sofort die Flucht ergriffen? Damit wäre ihnen beiden vieles erspart geblieben. Privates und Berufliches zu vermischen, zahlte sich nie aus, zumal seine geschäftlichen Beziehungen zu Julian Garrett schon kompliziert genug waren und einen kühlen Verstand erforderten.

Doch offensichtlich war sexuelles Verlangen stärker als logisches Denken, sonst hätte er die Finger von Nell gelassen. Er besaß eine schöne leidenschaftliche Geliebte, die seine Wünsche kannte und keine Romantik erwartete. Was wollte er mit einer süßen Unschuld, selbst wenn ihre roten Locken noch so wild und ihre grünen Augen noch so bezaubernd waren?

Xander seufzte. Nell hatte recht: Es war besser, jetzt zu gehen. Überhaupt war es an der Zeit, entsprechende Maßnahmen einzuleiten, um den Schaden zu begrenzen – wenn das überhaupt noch möglich war.

Lange schon waren die Reporter am Werk. Auf der Suche nach einem medienwirksamen Skandal verbreiteten sie Vermutungen und Gerüchte und verpackten sie als Wahrheiten. Nur eines wusste die Presse glücklicherweise nicht: Niemand ahnte, was Nell vorhatte, als sie ihr Cabrio auf einer einsamen Landstraße zu Schrott fuhr.

Fast erleichtert registrierte Xander in dieser Sekunde das Klingeln seines Handys. Im Display leuchtete die Nummer von Hugo Vance.

Lautlos und aufgeregt verließ er den Raum. Vielleicht würde er jetzt die Wahrheit über den neuen Mann in Nells Leben erfahren.

2. KAPITEL

Während der folgenden Tage hatte Nell das Gefühl, in Einzelhaft zu sein. Außer dem Arzt und den Schwestern bekam sie niemanden zu Gesicht. Als sie das erste Mal duschen durfte, traute sie ihren Augen nicht.

Dort, wo der Gurt gesessen hatte, zog sich ein scharf abgegrenzter Bluterguss wie ein dunkelviolettes Band quer über ihren Körper. Die Stiche von der Blinddarmoperation waren noch gerötet und deutlich zu erkennen, und ihre gebrochenen Rippen schmerzten nach wie vor bei der kleinsten Bewegung. An Armen, Beinen, aber vor allem im Gesicht hatte sie Prellungen und tiefe Schrammen, da das offene Cabrio zuerst durch dorniges Gestrüpp gerast war, bevor es gegen den Baum prallte.

Und in diesem Zustand hatte Xander sie gesehen! Kein Wunder, dass er sie nicht mehr besuchte.

Stattdessen hatte er ihr Nachtwäsche und Toilettenartikel schicken lassen – zusammen mit einem riesigen Strauß dunkelroter Rosen. Nur, um vor dem Klinikpersonal den verliebten Ehemann zu spielen, dachte sie bitter. In den Staaten spielte er unterdes bereits wieder den erfolgreichen Wirtschaftsboss und nachts, bei der schönen Vanessa, den heißblütigen griechischen Lover.

Wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte, hätte sie die geschmacklosen Rosen schnurstracks aus dem Fenster geworfen. Doch ihr fehlte der Elan, denn statt Fortschritte in der Genesung zu machen, tat ihr jeden Tag etwas anderes weh.

Als sie sich darüber bei einer Schwester beklagte, lächelte diese nur. „Was erwarten Sie eigentlich? Es hätte Sie noch sehr viel schlimmer treffen können, aber trotzdem wird es noch Wochen dauern, bis Sie sich wieder einigermaßen fit fühlen.“

Nachdem sie geduscht und die Schwester vorsichtig ihr Haar gewaschen hatte, fühlte Nell sich allerdings merklich besser. Anschließend machte sie es sich in ihrem Bett bequem und verlangte nach einem Telefon.

Statt zu antworten, machte sich die Schwester an ihrer Decke zu schaffen. Erst jetzt fiel Nell auf, dass es in ihrem Zimmer keinen Fernseher gab. Als sie um Zeitungen und Zeitschriften bat, wurde ihr auch dieser Wunsch abgeschlagen.

Man schirmte sie also mit Bedacht vor der Außenwelt ab! Weshalb mochte Xander das veranlasst haben?

Ihr Vater? Ob ihm etwas passiert war? Erschrocken, weil sie bisher überhaupt noch nicht an ihn gedacht hatte, richtete sie sich abrupt auf. Der stechende Schmerz, der sie daraufhin durchzuckte, raubte ihr fast den Atem.

Im selben Moment betrat Xander das Zimmer. „Was in aller Welt …“ Er eilte an ihre Seite, weil sie nach Luft japste und sich schmerzerfüllt die Hände auf den Bauch legte.

„Daddy“, brachte sie nun mühsam hervor. „Was ist mit ihm?“

Irritiert runzelte Xander die Stirn. „Was soll mit ihm sein? Ich habe nichts gehört.“ Vorsichtig drückte er sie in die Kissen und schob ihre Beine zurück aufs Bett. Als er dabei die Blutergüsse und Verschorfungen sah, blickte er noch finsterer. „Wie kannst du nur so unvernünftig sein, dich ohne Hilfe aufrichten zu wollen?“

Doch sie ignorierte den Vorwurf. „Wo ist mein Dad?“, fragte sie aufgeregt. „Warum habe ich noch nichts von ihm gehört?“

„Wieso? Hast du seine Blumen nicht erhalten? Er sitzt in Sydney fest und ist unabkömmlich.“

Nervös strich Nell die Decke glatt. Sie hatte nur einen Strauß erhalten, nämlich die roten Rosen. Unsicher betrachtete sie die Blumen. „Ich dachte, du hättest sie geschickt“, sagte sie kaum hörbar.

Unverhohlener Spott sprach aus seinem Blick, und sie wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken.

„Du dachtest also, die Rosen wären von mir, und deshalb hast du – wie ein trotziges kleines Kind – den Brief nicht geöffnet. Wie ungezogen von dir, Nell.“

Er ging zum Tisch, zog den Umschlag aus dem Strauß und reichte ihn ihr.

Und wie ungezogen von dir, deiner kranken Ehefrau keine Blumen zu schicken, dachte sie wütend und las die Karte.

Tut mir leid, dass du einen Unfall hattest. Kann leider nicht kommen. Pass gut auf dich auf. Gute Besserung. Daddy

Das war typisch ihr Vater, unpersönlich und kein Wort zu viel. Wortlos steckte sie die Karte zurück in den Umschlag und schob ihn unters Kissen. Am liebsten hätte sie geweint.

„Er wollte wirklich kommen“, brach Xander schließlich das Schweigen. „Aber er steckt mitten in schwierigen Verhandlungen mit der australischen Regierung. Ich … ich habe ihm versichert, du hättest volles Verständnis dafür, dass er deshalb trotz deines Unfalls nicht an deine Seite eilt.“

Und das hatte ihrem Vater gereicht! Aber so war er eben. Ausgesprochen großzügig und mitunter sogar fürsorglich, aber einzig und allein an Geld interessiert. Materiellen Reichtum anzuhäufen war die Triebfeder seines Lebens. Kein Wunder, dass ihre Mutter ihn verlassen hatte und nach Kanada zurückgegangen war. Als kleines Mädchen hatte Nell sich oft gefragt, ob ihm der Verlust seiner Ehefrau überhaupt aufgefallen war.

Später, als Teenager, hatte sie dann die Hintergründe der Trennung erfahren. Ihre Mutter hatte einen alten Jugendfreund wieder getroffen, eine Affäre mit ihm begonnen und war ihm schließlich nach Kanada gefolgt.

Wie die Mutter so die Tochter, dachte Nell. Beide hatten ihr Herz an den falschen Mann verloren, denn Kathleens große Liebe, für die sie ihre fünfjährige Tochter im Stich gelassen hatte, war nur von kurzer Dauer gewesen.

„Du hast dein Haar gewaschen …“

„Ich möchte ein Telefon!“, verlangte sie.

„Und dein Gesicht ist längst nicht mehr so verfärbt und geschwollen“, sprach er weiter, ohne auf sie einzugehen. „Du siehst wirklich schon viel besser aus, Nell.“

Als ob ihn das interessieren würde!

„Ich möchte ein Telefon“, wiederholte sie unbeeindruckt. „Außerdem habe ich kein Geld. Bei den Sachen, die du mir geschickt hast, fehlen mein Portemonnaie, mein Handy und Kleidung.“

„Das brauchst du hier alles nicht.“

Wütend sah sie ihn an. Frisch rasiert und wie einem Modejournal entstiegen, stand er in seinem makellosen grauen Anzug neben ihrem Bett.

„Ich habe weder Telefon noch Fernseher, und Zeitungen bekomme ich auch nicht“, stellte sie fest. „Du verheimlichst mir etwas, Xander. Was ist es, wenn es nichts mit meinem Vater zu tun hat?“

Ohne zu antworten, sah er sie mit undurchdringlicher Miene an. Dann drehte er sich um und verließ wortlos das Zimmer.

Entgeistert blickte Nell ihm hinterher. War es schon so weit gekommen? Gab er sich jetzt nicht einmal mehr die Mühe, die Regeln des Anstands zu wahren, die er bisher so penibel eingehalten hatte?

Der Schmerz, den sie in diesem Moment spürte, hatte nichts mit ihrem Unfall zu tun. Fünf Tage hatte Xander sich nicht gemeldet, dann kam er herein, attraktiver und dynamischer denn je, sah sie an und stürmte aus dem Zimmer, als könne er ihren Anblick keine Sekunde länger ertragen.

Ich will nicht weinen, ich will nicht weinen, sagte sie sich und biss sich auf die Lippe, damit ihre Mundwinkel nicht verräterisch zuckten. Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich auf den Anblick der Rosen, die sie von dem anderen Mann hatte, der sich nur an sie erinnerte, wenn es ihm passte.

Wie sie Xander verabscheute! Er hatte ihr das Herz gebrochen. Hätte sie ihn doch nur verlassen, als sie noch die Möglichkeit dazu gehabt hatte, dann wäre sie jetzt nicht so unglücklich. Warum hatte Xander sie nur geheiratet, wenn sie ihm nicht das Geringste bedeutete? Warum war er nicht bei seiner Geliebten geblieben, die ihn offensichtlich so faszinierte?

Als Xander zurückkehrte und sah, wie traurig Nell die Blumen betrachtete, versetzte es ihm einen Stich. „Wenn du deinen Dad so sehr vermisst, werde ich ihn überreden, sofort hierherzukommen“, versprach er kühl.

„Übernimm dich nicht“, erwiderte sie bissig. „Warum bist du überhaupt noch einmal zurückgekommen?“

Fragend zog er die Brauen hoch, als würde er ihre Frage nicht verstehen, holte sich einen Stuhl und setzte sich so zu ihr ans Bett, dass sie sich genau gegenübersaßen …

Nell gefiel das ebenso wenig wie der nachdenkliche Blick, mit dem er sie betrachtete – ganz eindeutig führte Xander etwas im Schilde. Dennoch blieb sie tapfer, sah ihm fest in die Augen und machte sich auf eine Auseinandersetzung gefasst.

Entspannt saß er da, die Beine lang ausgestreckt. Das Jackett seines dunkelgrauen Seidenanzugs trug er offen, was ihm jenes lässig-elegante Aussehen verlieh, für das er bekannt war. Wie üblich hatte er sich für ein schneeweißes Hemd entschieden, das seinen dunklen südländischen Typ noch mehr betonte.

In Xanders Blick lag etwas, das sie ängstigte. Seine Augen waren nicht wirklich schwarz, jedoch von einem intensiven, dunklen Braun, eingerahmt von dichten langen Wimpern.

War Xander auch in seinen Ansichten ein Grieche durch und durch, sein fabelhaftes Aussehen hatte er von seiner italienischen Mutter geerbt. Und ebenso wie bei ihrem Sohn, reichte auch bei der schönen Gabriela Pascalis ein einziger Blick, damit einem das Wort im Hals stecken blieb. Schon mehrfach hatte Nell das am eigenen Leib erfahren müssen.

Beim ersten Treffen mit ihrer zukünftigen Schwiegermutter hatte diese mit offenem Entsetzen reagiert. „Was ist nur in Alexander gefahren? Wie kann er ein Unschuldslamm wie dich heiraten wollen? Du bist auf das Leben, das er führt, doch gar nicht vorbereitet, du wirst daran zerbrechen!“

„Er liebt mich“, hatte Nell mutig behauptet.

„Alexander weiß überhaupt nicht, was Liebe ist, Liebling.“ Dabei hatte Gabriela spöttisch gelächelt. „Gefühle sind nicht seine Sache. Nein, das Ganze sieht mir nach einer geschäftlichen Transaktion aus. Aber keine Sorge, ich werde es herausfinden. Überlass die Sache mir, Kindchen, es bleibt dir noch genügend Zeit, deinen Kopf zu retten.“

„Zufrieden mit dem, was du siehst?“ Xanders spöttische Stimme brachte Nell in die Gegenwart zurück. Wenn sie doch nur wüsste, was hinter der schönen Stirn dieses Mannes vor sich ging! „Ich bin immer noch der, den du geheiratet hast, glaub es mir doch.“

Oh ja, das tat sie! Er hatte sich nicht geändert, genau wie Gabriela es vorausgesagt hatte. Doch sie hatte ja nicht hören wollen. Erst eine Vanessa DeFriess hatte sie unsanft aus ihren romantischen Jungmädchenträumen geweckt und in die Realität zurückgeholt.

„Was willst du von mir?“ Sie bemühte sich gar nicht erst, höflich zu klingen.

„Wir müssen uns über den Unfall unterhalten“, antwortete er nüchtern. „Die Polizei hat da einige Fragen.“

Augenblicklich senkte Nell den Blick und zupfte nervös an der Bettdecke. „Ich habe es dir doch schon gesagt. Ich kann mich an nichts erinnern.“

„Dann erzähl mir das, was du noch weißt.“

„Das habe ich doch bereits getan! Ich sehe absolut keinen Sinn darin …“, begann sie missmutig.

„Wäre es dir lieber, ich würde einem Beamten erlauben, dich zu befragen?“

Nein. Verstohlen sah sie ihn von der Seite an. „Ich weiß noch, wie sich das Tor geöffnet hat und ich von der Auffahrt auf die Straße gebogen bin.“

„Nach rechts oder links?“

„Das weiß ich nicht mehr. Aber spielt das denn überhaupt eine Rolle? Ich habe mein Ziel schließlich nie erreicht.“

„Stimmt.“ Er nickte. „Schon in der nächsten Kurve – von der wir alle wissen, wie gefährlich sie ist – bist du von der Fahrbahn abgekommen, durch das Gebüsch geschleudert und gegen einen Baum geprallt. Beim Aufprall öffnete sich der Kofferraum, und alles, was du mitgenommen hattest, ist auf den Boden geflogen: Pullover, Röcke, Kleider, Unterwäsche …“

„Natürlich!“, rief sie lebhaft. „Jetzt erinnere ich mich! Ich hatte meine Schränke aufgeräumt und wollte die aussortierten Sachen in die Kleiderkammer der Gemeinde bringen!“

„Du wolltest also in die Kleiderkammer der Gemeinde“, wiederholte er gefährlich sanft. „Das ist natürlich ein triftiger Grund, um wie eine Verrückte zu rasen. Vielleicht fällt dir eine genauso überzeugende Erklärung dafür ein, dass du Hugo Vance entlassen hast.“

Nell erstarrte. Hatte sie sich eben noch zu ihrer Geistesgegenwart gratuliert, ernüchterte sie der Name ihres ehemaligen Bodyguards schlagartig. Ihre Schmerzen ignorierend, richtete sie sich auf, zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie.

„Ich brauche keinen Leibwächter“, verteidigte sie sich.

„Ich habe drei.“

„Ich bin nicht du!“ Vernichtend sah sie ihn an. „Ich spiele nicht den lieben Gott und bilde mir auch nicht ein, der wichtigste Mensch des Universums zu sein.“

„So siehst du mich also? Als einen Mann, der gern den lieben Gott spielt? Dann sieh dich nur vor, meine Schöne.“

Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung beugte er sich über sie, fasste ihr Haar im Nacken zusammen, zog ihren Kopf zurück und zwang sie so, ihm ins Gesicht zu sehen.

„Du tust mir weh“, sagte sie ängstlich.

„Nein, ich möchte dich nur warnen, Nell. Ich bin mit meiner Geduld am Ende, überlege dir also gut, wie viele Lügen du mir noch auftischen willst.“

„Ich lüge nicht!“

„Nein?“ Mit sanftem Druck zog er ihren Kopf noch etwas weiter nach hinten und ließ den Blick langsam über die zarte Haut ihres schlanken Halses gleiten.

„Du wolltest mich verlassen“, behauptete er leise. „Du bist gefahren, als sei der Teufel hinter dir her, weil du mir den Laufpass geben wolltest – und zwar wegen eines anderen. Hugo Vance hast du entlassen, damit er dir nicht auf die Schliche kommt. Ein lächerlicher Baum hat dir den Weg versperrt, was wirklich Pech für dich war.“

Weil Xander ihre Schwindeleien durchschaut hatte, errötete Nell. Doch als er daraufhin selbstzufrieden lächelte, schlug ihre Scham in Wut um.

„Und? Was ist, wenn es wirklich so gewesen wäre? Für dich hätte sich doch sowieso nichts geändert. Wir führen keine Ehe, wir sind nur zusammen, weil wir einen Vertrag geschlossen haben – einen Vertrag, bei dem ich nicht mitreden durfte.“ Tränen standen in ihren Augen. „Eine Woche lang hast du von Hugos Entlassung überhaupt nichts bemerkt, so sehr interessierst du dich für meinen Alltag! Ich habe ein Recht darauf, mein eigenes Leben zu leben! Ich …“

„Du bist auf der Suche nach einem Liebhaber? Du sehnst dich nach einem Mann, der immer für dich da ist?“

Der Druck, mit dem er ihren Kopf festhielt, verstärkte sich. Doch statt Xander die Wahrheit zu sagen, schwieg Nell lieber. Um nichts in der Welt würde sie etwas äußern, was ihn in seiner maßlosen Arroganz nur noch bestärkte.

„Heraus damit, Nell, steh dazu!“, provozierte er sie.

So, er bildet sich also ein, mein Geheimnis zu kennen, er glaubt allen Ernstes, dass ich einen Liebhaber habe, dachte sie. Wie einfach hätte sie ihn von seinem Verdacht erlösen können, doch das war nicht ihre Absicht. Viel lieber wollte sie ihn zappeln lassen.

Ein Blick in seine Augen bestätigte, was sie längst wusste: Er begehrte sie. Weshalb Xander sie geheiratet hatte, wusste sie nicht genau, wahrscheinlich aber aus geschäftlichem Interesse. Davon unabhängig war er jedoch fasziniert von ihr, das fühlte sie ganz deutlich.

„Du bist für mich ein schlafendes Dornröschen“, erklärte er. „Das hat dich bisher geschützt. Doch auch nur der kleinste Hinweis darauf, dass du einem anderen die Gunst schenkst, die du mir bisher verwehrt hast, und du wirst deines Lebens nicht mehr froh. Das verspreche ich dir, Darling.“

„Ich …“

Was immer sie hatte sagen wollen, Xander erstickte es mit einem Kuss. Vor lauter Überraschung wehrte sie sich nicht einmal. Seit jener Nacht, die eigentlich ihre Hochzeitsnacht hätte werden sollen, hatte er sie nie wieder geküsst. Damals hatte er es aus Wut und Frustration getan, diesmal waren es andere Beweggründe.

Warm und zärtlich lag sein Mund auf ihrem, und sie gab allen Widerstand auf. Bei diesem ersten Zungenkuss ihres Lebens fühlte Nell sich ihren Träumen ganz nah. Tief atmete sie Xanders frischen männlichen Duft ein und genoss das Spiel seiner erfahrenen Lippen und seiner geschickten Zunge.

Bei ihrem ersten zaghaften Versuch, seine Zärtlichkeiten zu erwidern, zog er sich zurück. Lächelnd hob er den Kopf und sah in ihre wunderbaren grünen Augen, in denen sich Staunen und Verwirrung spiegelten.

„Siehst du“, meinte er sanft. „Gerade habe ich dich davor bewahrt, dich zu verraten. Um deinen fürsorglichen Ehemann bist du wirklich zu beneiden, Darling.“

Nachdem seine Lippen ein letztes Mal flüchtig ihren Mund gestreift hatten, gab er ihr Haar frei.

Jetzt erst verstand Nell den Sinn seiner Worte und brauste auf. „Sowie ich aus der Klinik komme, verlasse ich dich, das schwöre ich dir!“

Ordentlich stellte er den Stuhl zurück. „Das wirst du nicht, Nell, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Du hast deine vertraglichen Pflichten noch nicht erfüllt.“

Trotzig hob sie das Kinn. „Ich bin hintergangen worden.“

„Nein, du warst fahrlässig und hast einen Vertrag unterschrieben, den du vorher nicht gelesen hast.“

Natürlich, weil sie Xander geliebt und ihm blind vertraut hatte!

„Konnte ich denn damit rechnen, sowohl von meinem Vater als auch von meinem zukünftigen Ehemann übervorteilt zu werden?“, verteidigte sie ihre sträfliche Dummheit.

„Ich habe dir später angeboten, den Vertrag neu zu verhandeln – auch das hast du abgelehnt. Wenn er jetzt in seiner ursprünglichen Fassung gilt, liegt das nicht an mir.“

„Dir geht es doch nur ums Geld“, warf sie ihm vor.

„Ich habe mit fünfzehn Millionen Pfund gebürgt, um deinem Vater aus der Patsche zu helfen. Erstatte mir den Betrag, und du bist frei.“

Beide wussten, dass das unmöglich war. Da ihre Großmutter ihr Vermögen ihren imaginären Enkeln vermacht hatte, war sie leer ausgegangen, und was sie von ihrer Mutter geerbt hatte, reichte nicht einmal für ein Zehntel der Summe.

„Ich meinte nicht das Geld“, fuhr Xander ungerührt fort. „Ich habe an eine andere Klausel gedacht, nämlich die, in der meine Ansprüche abgesichert werden. Wie du ganz genau weißt, hast du dich verpflichtet, mir einen Sohn zu schenken, der deinen Vater einmal beerben wird.“

Und damit war sie wieder einmal von der Erbfolge ausgeschlossen! „Dem Punkt habe ich nicht zugestimmt!“, widersprach sie.

„Und ob du das hast, Darling. Sogar die Wahl des Zeitpunkts liegt bei mir. Bisher bin ich sehr geduldig gewesen.“

„Weil du Interessanteres zu tun hattest!“, fauchte sie ihn an.

Doch die Anspielung auf Vanessa ließ Xander kalt. „Weil du zum Zeitpunkt unserer Hochzeit ein kleines verschrecktes Mädchen warst“, korrigierte er Nell. „Nur eine Bestie hätte sich dir damals aufgedrängt. Doch auf einmal ist ein anderer Mann im Spiel, und ich muss befürchten, zu geduldig mit dir gewesen zu sein.“

Als sie wütend versuchte, sich aufzurichten, drückte er sie sanft an den Schultern zurück.

„Deine Zeit ist abgelaufen, Nell. Du bist jetzt erwachsen, und ich brauche eine richtige Ehefrau. Brich den Vertrag, und du, dein Vater und dein Lover werdet eures Lebens nicht mehr froh, das verspreche ich dir.“

„Und was ist mit dir und deiner Untreue? Willst du wirklich einen dreckigen Skandal riskieren, nur weil es dir zum zweiten Mal nicht gelungen ist, die Finger von Vanessa zu lassen?“

„Bildest du dir tatsächlich ein, dich damit aus der Affäre ziehen zu können?“ Er lächelte spöttisch. „Nur weil Vanessa die Szene wieder betreten hat, glaubst du, mir gegenüber im Vorteil zu sein?“ Er küsste sie flüchtig. „Lass mich dir ein kleines Geheimnis verraten, Darling: Vanessa war nie out – ich bin normalerweise nur äußerst diskret.“

Wie konnte er nur so grausam sein! Nell kämpfte mit den Tränen. „Ich hoffe, dafür werdet ihr in der Hölle schmoren“, sagte sie mühsam.

„Und trotzdem willst du mich, wie dir deutlich an deinem hübschen kleinen Gesicht abzulesen ist“, bemerkte er. „Wenn du nicht den Unfall gehabt hättest, würde ich dir jetzt beweisen, wie sehr du dich in Wirklichkeit nach mir sehnst.“

„Ich …“

Indem er sie mit dem Oberkörper in die Kissen drückte und ihr den Mund mit einem Kuss verschloss, hinderte er sie zum zweiten Mal am Lügen. Um ihr nicht wehzutun, wandte er kaum Kraft an, trotzdem fühlte Nell sich hilflos und überwältigt. Ganz eindeutig war dieser Kuss eine Warnung: Xander würde sich nicht länger mit unverbindlichen Zärtlichkeiten zufriedengeben.

Sie wollte ihn von sich schieben, doch es gelang ihr nicht, er hatte sie jetzt fest im Griff, sein Körper lag auf einmal auf ihrem, und sein Kuss raubte ihr den Atem. Nichts hatte sie auf eine solche Umarmung vorbereitet. Tief in ihrem Inneren spürte sie eine wohlige Wärme, immer größer wurde ihre Sehnsucht nach seinen Zärtlichkeiten. Als Xander ihre Brust anfasste, glaubte sie, vor Verlangen in Flammen zu stehen.

Gegen ihren Willen hörte sie auf, seinen Oberkörper mit ihren Fäusten zu bearbeiten, stattdessen öffnete sie die Hände, fuhr ihm durchs Haar und zog seinen Kopf noch dichter zu sich heran. Niemals hätte sie gedacht, zu solcher Hemmungslosigkeit fähig zu sein, so wenig Zurückhaltung zu kennen. Immer enger schmiegte sie sich an ihn, immer aufreizender wurden ihre Bewegungen, und als er seinen Schenkel gegen ihre empfindsamste Stelle drückte, seufzte sie vor Lust.

Als es an der Tür klopfte, ließ Xander Nell abrupt los. Doch sein Gesicht war erhitzt, und seine Augen wirkten fast schwarz.

„Ich kann nur hoffen, dass dies deine erste Erfahrung in Sachen Liebe war, Darling.“ Er stand auf und ging zur Tür. „Vergiss den anderen, du wirst ihn nicht wiedersehen.“

Erschrocken setzte sie sich auf. „Was … was hast du mit ihm gemacht?“

„Bis jetzt noch nichts. Aber sein Schicksal hängt davon ab, ob er dir mehr beigebracht hat, als zu küssen.“

Xander dachte also, Marcel hätte die Frau in ihr erweckt! Anfangs wollte sie widersprechen, entschied sich aber im letzten Moment dagegen. Sollte er es doch glauben, sollte ihn die Vorstellung, wie sie in den Armen eines Geliebten lag, ruhig quälen. Dann würde er zumindest ebenso leiden, wie sie das vergangene Jahr unter seiner Affäre mit Vanessa gelitten hatte.

„Ich bin erst Samstag wieder in London“, erklärte er abschließend. „Dann komme ich und hole dich ab.“ Damit verließ er grußlos das Krankenzimmer.

Gleichzeitig trat Jack Mather ein, einer von Xanders Bodyguards. „Im Auftrag Ihres Mannes soll ich Ihnen das bringen.“ Mit diesen Worten legte er einen Stapel Zeitschriften auf den Nachttisch.

„Wie … wie lange sind Sie schon hier?“, fragte sie den Bodyguard stockend.

„Seit Sie eingeliefert wurden.“ Nach einer Verbeugung verschwand er wieder.

Nell fröstelte. Sie wurde hier also ebenso beschattet wie auf Rosemere! Schnell griff sie zu der Illustrierten, die ganz oben auf dem Stapel lag. „Griechischer Milliardär präsentiert Geliebte – Ehefrau begeht Selbstmordversuch!“, lautete die Schlagzeile.

Kein Wunder, dass ihn der in Aussicht gestellte Skandal kaltgelassen hatte – der Skandal war schon da.

Sie blätterte die Zeitungen durch, überall dieselben Bilder und die gleichen Vermutungen – aber nirgends fiel der Name Marcel Dubois. Geschickt hatte Xander jeden Verdacht, seine Frau hätte ihn wegen eines anderen verlassen, im Keim erstickt. Stattdessen hatte er dem Gerücht Vorschub geleistet, sie hätte ihrem Leben ein Ende setzen wollen! Wie infam! Deshalb hatte er ihre Kontakte zur Außenwelt vollständig unterbunden!

Fände sie doch nur den Mut, Xander zu verlassen. Hätte sie der Presse ein Interview geben dürfen, hätte die Überschrift anders gelautet. „Griechischer Milliardär präsentiert Geliebte – Ehefrau läuft ihm davon!“

3. KAPITEL

Ohne dass Nell es bemerkte, lehnte Xander am Türrahmen des Krankenzimmers und beobachtete sie.

Sie trug das blaue Leinenkostüm, das er ihr hatte schicken lassen, und versuchte gerade mit zitternden Fingern die letzten winzigen Perlenknöpfe ihrer weißen Seidenbluse zu schließen. Offenbar hatte eine Schwester sie frisiert, denn ihr Haar war zu einem ordentlichen Zopf geflochten, der ihr breit und glänzend über den Rücken hing.

Obwohl Nell noch längst nicht gesund war, hatten die Ärzte ihm versichert, dass vom medizinischen Standpunkt aus nichts gegen eine Reise einzuwenden sei. Auch wenn Nells Gesicht unnatürlich schmal und blass wirkte, war von den Schwellungen und Blutergüssen kaum noch etwas zu sehen. Dass ihr jedoch selbst die kleinste Anstrengung zu viel wurde, war dagegen offensichtlich.

Xander hatte beschlossen, sie an einen Ort zu bringen, an dem sie vor neugierigen Reportern und indiskreten Kameras sicher war – und an dem ihr Liebhaber sie nicht finden konnte.

Wenn er an Marcel Dubois dachte, kochte er vor Wut. Der Mann war wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht ist er aber auch zur Vernunft gekommen, dachte Xander. Und hatte eingesehen, dass es nicht ratsam war, sich an die Ehefrau von Alexander Pascalis heranzumachen.

Ehefrau! Bei dem Gedanken lächelte Xander bitter. Leider war Nell das nur auf dem Papier. Ob sie mit dem Franzosen geschlafen hatte? Hatte sie Marcel Dubois gewährt, was sie ihm schon so lange versagte? Hatte sie sich bei ihrem Liebhaber über einen kalten und lieblosen Ehemann beklagt?

In diesem Moment entdeckte Nell ihn. Langsam ließ sie ihren Blick von seinen Schuhen über seine Chinos und das weiße T-Shirt bis zu seinen Augen wandern. Xander empfand das als erotische Provokation schlechthin, und wie immer reagierte sein Körper spontan.

Natürlich wusste er, dass Nell ihn nicht absichtlich so ansah, es war einfach eine Angewohnheit von ihr. Sich allerdings vorzustellen, dass sie auch einen anderen Mann so betrachten könnte, war für ihn unerträglich. Bald würde er Nell ganz zu seiner Frau machen, und dann wollte er ihre Erinnerungen an diesen Marcel mit der Kraft seiner Leidenschaft ein für alle Mal aus ihrem Kopf verbannen, das hatte er sich geschworen.

Was immer der Franzose ihr beigebracht haben mochte, die Kunst der Verstellung war es jedenfalls nicht. Noch immer errötete sie oft vor Schüchternheit, und ihre Täuschungsmanöver waren leicht zu durchschauen. Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihm nicht verheimlichen, wie sehr sie ihn begehrte.

Wenn er Nell die Liebe lehren würde, wollte er mit ihr die höchsten Wonnen auskosten. Das war sie ihm schuldig.

„Bist du bereit?“ Er lächelte, und ihr beschleunigter Atem, durch den sich ihre Brüste hoben und senkten, verriet ihm, dass ihr die Doppeldeutigkeit seiner Frage nicht entgangen war.

„Du hast mir kein Make-up mitgebracht“, beschwerte sie sich.

„Du brauchst auch keins.“

„Darüber kann man verschiedener Meinung sein. Vor dem Eingang sind schon die Fernsehkameras aufgebaut, das habe ich vom Fenster aus gesehen.“ Ihre grünen Augen blickten eisig. „Wenn mein Gesicht in sämtlichen Regenbogenfarben schillert, wird das deinem Vorhaben eher schaden.“

„Meinem Vorhaben?“

Mit Genugtuung stellte Nell fest, dass sein Lächeln merklich dünner wurde. „Schadensbegrenzung“, antwortete sie leichthin. „Der Unfall lässt sich nun einmal nicht vertuschen, nur die Gründe, die dazu geführt haben. Daher möchtest du mich der Öffentlichkeit als strahlende Ehefrau präsentieren, die ihren Mann regelrecht vergöttert.“

„Zynismus steht dir nicht, Nell.“ Er ging auf sie zu. „Soll ich dir beim letzten Knopf helfen?“

Schnell schloss sie ihre Bluse. „Ich bin zwar labil und selbstmordgefährdet, aber immerhin noch in der Lage, mich allein anzuziehen.“

Amüsiert half Xander ihr in die Kostümjacke. „Ich sehe, du hast die Illustrierten gelesen. Ich fand die Berichte äußerst amüsant.“

Wütend drehte Nell sich zu ihm um. Seinem grimmigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war das eine glatte Lüge. „Ich bin als unbeholfenes junges Ding beschrieben worden, mit dem du dich nicht in der Gesellschaft zeigen kannst“, bemerkte sie.

„Und ich als unverbesserlicher Frauenheld.“

„Und das empfindest du nicht als Kompliment? Zumindest ist es wesentlich schmeichelhafter als die andere Version: Ehemann treibt mangels entsprechender Leistung Ehefrau in die Arme eines Geliebten.“

Aus halb geschlossenen Augen blickte er auf sie hinunter – dass sie fast zwanzig Zentimeter kleiner war als er, erwies sich wieder einmal als Nachteil. „Willst du mich provozieren, Nell? Soll ich dir auf der Stelle das Gegenteil beweisen?“

„Nein.“ Sie senkte den Kopf.

„Schön, dann hör auf meinen Rat und mäßige deine spitze Zunge, bis wir zu Hause sind.“

Fünf Minuten später fuhren sie bereits im Fahrstuhl nach unten. Da Nell befürchtete, ihre Knie könnten nachgeben, nahm sie Xanders Arm dankbar an. Als sich die Kabinentür nicht im Foyer, sondern erst in der Tiefgarage öffnete, atmete sie erleichtert auf. Die schwarze Limousine stand bereits in Fahrtrichtung, und Jack Mather hielt die hintere Tür auf.

Im Auto schloss Nell erschöpft die Augen. Und was kommt jetzt, fragte sie sich beklommen.

Wie aus weiter Ferne hörte sie Xander telefonieren, teils auf Griechisch, teils auf Italienisch, danach schlief sie ein. Erst als sie eine Autotür hörte, wurde sie wieder wach. Verwirrt blickte sie um sich.

„Wir sind ja gar nicht auf Rosemere“, stellte sie verschlafen fest.

„Nein.“ Xander half ihr beim Aussteigen, hakte sie unter und führte sie über die Rollbahn zu seinem Jet. „Wir fliegen nach Griechenland, weil ich Montag früh eine Besprechung in Athen habe. Solltest du dich darauf gefreut haben, mit deinem Franzosen auf Rosemere neue Intrigen einzufädeln, muss ich dich leider enttäuschen.“

Griechenland! Wie angewurzelt blieb Nell vor der Gangway stehen. „Nein! Das ist unmöglich! Ich will nicht.“

Doch Xander führte sie unerbittlich und mit sanftem Druck die Stufen hinauf. „Mach jetzt bitte kein Theater, Darling.“

Ehe Nell wusste, wie ihr geschah, saß sie bereits im Flugzeug und hörte, wie sich die Türen schlossen. Benommen sah sie sich in der luxuriösen Umgebung um. Plötzlich jedoch hatte sie einen Einfall, sprang blitzartig auf und drehte sich um.

Da sie nicht damit gerechnet hatte, dass Xander so dicht hinter ihr stand, fiel sie ihm direkt in die Arme. Ihr Herz klopfte, als müsse es jeden Moment zerspringen, und das Sprechen fiel ihr schwer. „Bitte …“

Er ließ sie nicht los. „Bitte was?“, fragte er leise.

Seine Stimme klang ungewöhnlich rau, und als Nell aufblickte, sah sie das gefährliche Funkeln in seinen Augen und versteifte sich vor Abwehr. „Nein!“, bat sie noch verzweifelt, doch es war bereits zu spät.

Xander küsste sie überraschend stürmisch. Nell wollte nicht darauf reagieren, wollte so tun, als ließe die Berührung sie kalt – ohne Erfolg. Mit rasendem Puls und zitternden Beinen schmolz sie dahin. In ihr Ohr drangen zärtlich geflüsterte, griechische Koseworte, die sie erregten, obwohl sie ihren Sinn nicht verstand. Besitzergreifend legte Xander ihr die Hände auf die Hüften, zog sie enger an sich und küsste sie noch fordernder.

Deutlich spürte Nell sein Verlangen, ihr wurde heiß, wieder drohten ihre Knie nachzugeben. Immer weiter legte sie den Kopf zurück, immer inniger erwiderte sie seinen Kuss, und sie spürte ihr Herz stark und unregelmäßig pochen. Xander presste seine Hüften sinnlich gegen ihr Becken, und ihr ganzer Körper erbebte. Nell war wie berauscht von diesen neuen körperlichen Erfahrungen.

Als die Düsen des Jets plötzlich auf vollen Touren liefen, ließ er sie jedoch unvermittelt los, küsste sie ein letztes Mal, führte sie zu ihrem Sitz und schnallte sie an.

Dabei waren seine Bewegungen auffällig fahrig, was Nell fasziniert beobachtete. Es gab überhaupt keinen Zweifel: Er war verrückt nach ihr! Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sie hier und jetzt geliebt! Benommen sah sie ihm zu, wie er sich auf den Sitz ihr gegenüber fallen ließ und nach dem Gurt griff.

Wieder heulten die Düsen auf, der Jet schoss davon, und Nell wurde in den Sitz gedrückt.

„Wehe dir, wenn du jemals wieder einen anderen Mann auch nur ansiehst“, murmelte er erregt.

Wie konnte ein kultivierter Mensch wie Xander nur so etwas Primitives äußern! Sanken etwa alle Männer auf dieses Niveau, wenn es um Sexualität ging?

„Hast du mich verstanden?“, fragte er und musterte sie wütend. Warum antwortete sie nicht, sondern wandte lediglich den Kopf, um stumm aus dem Fenster zu blicken? Warum machte sie keine gehässige Bemerkung über Vanessa? Warum gab sie ihm nicht die Möglichkeit, seine angestauten Emotionen in einem handfesten Streit abzubauen?

Nell war viel zu sehr mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigt, um darüber nachzudenken, was in ihm vorgehen mochte. Weil der Jet schnell an Höhe gewann, machten ihr außerdem die veränderten Druckverhältnisse zu schaffen. Ihr Kopf tat weh, und sie verspürte ein unangenehmes Pochen. Unwillkürlich strich sie sich über die einzige noch verbliebene Schwellung an der Nasenwurzel, doch hier kam der Schmerz nicht her. Es war ihr Herz, das so rasend klopfte.

Gleichzeitig hörte sie, wie Xander seinen Gurt öffnete und zu ihrem Sitz kam. Im nächsten Moment fühlte sie auch schon seine angenehm kühle Hand auf der Stirn.

„Du bist fiebrig und hast Schmerzen.“ Seine Stimme klang gepresst. „Hiermit möchte ich mich für meine Rücksichtslosigkeit entschuldigen.“

Wie steif und förmlich das klang! Nell atmete tief durch. „Ist schon in Ordnung“, meinte sie leise.

„Nichts ist in Ordnung! Dir geht es nicht gut.“ Liebevoll streichelte er ihre erhitzten Wangen. „Behandele mich bitte nicht wie einen lästigen Fremden! Ich habe mich wie der letzte Mensch benommen, und dafür verachtest du mich – zu Recht! Habe ich dir sehr wehgetan? Schmerzen deine Rippen wieder?“

Aber Nell schüttelte den Kopf und fasste nach seinen Fingern, um sie von ihrer Stirn zu nehmen. Sie wollte nicht von Xander berührt werden, denn damit brachte er sie völlig durcheinander. Monatelang hatte sie sich die größte Mühe gegeben, ihre leidenschaftlichen Gefühle für ihn zu ersticken – anscheinend ohne Erfolg. Die kleinste zärtliche Geste von ihm reichte, und sie bebte am ganzen Körper. Was war nur los mit ihr?

Hilflos sah sie Xander an und ließ erschöpft die Hand sinken. „Ich möchte nach Rosemere“, bat sie kaum hörbar.

„Nein“, antwortete er kalt. „Von jetzt an begleitest du mich überallhin. Ich möchte dich ständig an meiner Seite haben.“

„Um eifersüchtig über dein Eigentum zu wachen? Das kannst du doch auch auf Rosemere. Wozu hast du deine Bodyguards?“

„Wie du mir bewiesen hast, ist Rosemere trotz Bodyguards kein sicherer Ort für dich.“ Er richtete sich auf. „Und damit betrachte ich das Thema als beendet.“

Mit anderen Worten, sie hatte sich ihr Schicksal selbst zuzuschreiben. Beunruhigt wich sie seinem Blick aus. Sie war Xander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Als sie in Athen in einen Hubschrauber umstiegen, schlug ihr eine Hitzewelle entgegen, die ihr die letzte noch verbliebene Kraft raubte. Die dreieinhalb Stunden Flug und die psychische Belastung hatten sie so geschwächt, dass sie kaum noch aufrecht sitzen konnte.

„Wohin bringst du mich?“, fragte sie matt.

„Auf meine Privatinsel.“

Hatte sie von einem griechischen Milliardär eine andere Antwort erwartet?

Die Insel lag weit vom Land entfernt, war felsig, hatte aber zwei Buchten mit feinem weißem Sand. In der Mitte erhob sich ein mit Kiefern bewachsener Hügel, an dessen Fuß eine weiß verputzte zweigeschossige Villa mit Swimmingpool lag.

Kaum hatte der Hubschrauber aufgesetzt, sprang Xander hinaus, lief unter den Rotorblättern auf die andere Seite und half Nell beim Aussteigen. Als sie vor Schwäche stolperte, betrachtete er besorgt ihr übermüdetes Gesicht. Dann hob er sie kurz entschlossen hoch, um sie zum Haus zu tragen.

„Das schaffe ich auch allein“, protestierte sie.

„Mag sein, doch dass brauchst du nicht.“

Ihr Widerspruchsgeist erlahmte überraschend schnell, und sie ließ erschöpft den Kopf an Xanders Schulter sinken. Warm streichelte sein Atem ihre Wange, sie sah das Blau des Swimmingpools an sich vorübergleiten und spürte, wie er sie die Stufen zum Haus hinauftrug. An der Tür erwartete sie bereits eine kleine, ganz in Schwarz gekleidete Frau, die ihnen lächelnd entgegensah.

Doch nachdem Xander ihr etwas auf Griechisch gesagt hatte, verging ihr das Lächeln. Sofort drehte sie sich um und eilte ihnen voraus die Treppe hinauf, wobei sie ärgerlich auf ihn einredete. Sie schimpft ihn aus wie einen dummen Schuljungen, dachte Nell.

Zu ihrem Erstaunen ließ Xander es sich gefallen. Statt der Frau zu widersprechen, folgte er ihr schweigend in ein großes, wunderschön eingerichtetes und angenehm kühles Zimmer. Es war ganz in Blau und Weiß gehalten, vor den hohen Fenstern bauschten sich weiße Gardinen in der leichten Brise, die durch die Lamellen der blauen Fensterläden wehten, und die Decke des weichen Bettes, auf das Xander Nell gleiten ließ, war ebenfalls blau.

Xander sagte etwas zu der Frau, und sie verließ den Raum. Kaum war sie gegangen, kniete er sich neben das Bett. Aber Nell fehlte die Energie, um ihn anzusehen.

„Die Reise war zu viel für dich, Darling. Bitte verzeih mir.“

Schon wieder, dachte sie verwundert. „Ich möchte einfach nur schlafen“, antwortete sie leise.

Zu jeder anderen Zeit hätte er das als Angebot aufgefasst und wäre begeistert darauf eingegangen, momentan regte sich jedoch nur sein schlechtes Gewissen. Ohne Frage war Nell am Rande ihrer Kräfte, und daran war allein er schuld. Er hätte sie noch nicht reisen lassen dürfen.

Vorsichtig zog er ihr den Blazer aus und öffnete dann die winzigen Knöpfe ihrer Bluse. Verwundert, weil Nell nicht protestierte, blickte er hoch. Sie schlief bereits!

Achtlos warf er die Bluse neben die Jacke auf den Boden und befreite Nell sanft von Schuhen, Strümpfen und dem Kostümrock. Die hauchzarten Spitzendessous ließ er ihr, damit sie beim Aufwachen nicht in Verlegenheit geriet. Als er sie ansah, biss er sich verzagt auf die Lippe. Seit einem Jahr war er jetzt mit ihr verheiratet, und noch nie hatte er seine junge Frau so entblößt gesehen.

Ihr Anblick reizte und schockierte ihn zugleich. Nells Körper war immer noch so stark von dem Unfall gezeichnet, dass er die Ärzte nicht begriff. Wie hatten sie Nell in diesem Zustand für reisefähig erklären können? Dort, wo man ihren Rippenbogen hätte erkennen sollen, blickte er stattdessen auf einen riesigen Bluterguss, der alle nur erdenklichen Farben zwischen hellstem Gelb und dunkelstem Violett aufwies.

Am schlimmsten aber war die dunkle, stark geschwollene Verfärbung, die der Sicherheitsgurt hinterlassen hatte. Von der linken Schulter zog sie sich zwischen den Brüsten durch und von dort aus quer über den Bauch zur linken Hüfte.

Wie schnell musste man fahren, damit es solche Abdrücke gab? War sie mit Absicht gegen den Baum gerast?

Wenn Xander den absurden Gedanken auch schnell wieder verwarf, stockte ihm doch sekundenlang das Blut in den Adern. Ernsthafte Vorwürfe machte er sich dagegen wegen seiner Rücksichtslosigkeit. Wie hatte er nur so egoistisch sein können, Nell im Flugzeug derart heftig zu umarmen?

„Das arme Kind!“ Lautlos hatte seine Großtante das Zimmer betreten und sich neben ihn gestellt. „Du scheinst dich sehr verändert zu haben, Alexander! Wie konntest du ihr nur in diesem Zustand eine so lange Reise zumuten?“

Zielsicher hatte Thea Sophia seinen wunden Punkt getroffen, und er wusste keine Antwort auf ihre Frage. So behutsam wie möglich, nahm er Nell in die Arme und hob sie hoch.

„Zieh das Bettzeug unter ihr weg, Thea“, bat er sie.

Vorsichtig bettete er Nell auf das kühle Laken und trat zurück, damit seine Tante sie zudecken konnte. Ihr Zopf lag dicht neben dem blassen Gesicht auf dem Kissen, und noch nie hatte Xander Nell als so zerbrechlich wahrgenommen.

Dort lag sie nun fiebrig und erschöpft – in dem Raum, in dem er sie hatte verführen wollen, und in dem Bett, in dem er sie zu seiner Ehefrau machen wollte! Glücklicherweise wusste das nur er allein. Einen Fluch unterdrückend dachte er angestrengt nach, wobei sein Blick abwesend auf Thea Sophia ruhte, die Nells Kleider vom Boden aufhob, ordentlich faltete und über einen Stuhl hängte.

Innerhalb von Sekunden hatte er seine Entscheidung getroffen. Er würde, wie man das bei schwierigen Verhandlungen nannte, einen taktischen Rückzug vornehmen.

Als der Hubschrauber vom Boden abhob, hörte Nell seine Motorengeräusche nicht. Sie bemerkte auch nicht, wie Thea sich mit ihrem Klöppelkissen zu ihr ans Bett setzte, um ruhig und konzentriert an der kunstvollen Spitze weiterzuarbeiten. Ebenso wenig wie sie bemerkte, dass ein Zimmermädchen ihre Koffer auspackte und die Garderobe sorgfältig im Schrank verstaute.

Erst als die späte Nachmittagssonne den Raum in goldenes Licht tauchte, wachte Nell wieder auf. Im Halbschlaf hatte sie jemanden leise mit Geschirr klappern hören, außerdem hatte sie plötzlich einen fürchterlichen Hunger.

Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis sie sich orientiert hatte. Da es ihr an Energie fehlte, um sich bemerkbar zu machen, schaute sie nur zu, wie die alte Frau, die sie in Empfang genommen hatte, am Tisch hantierte. Anscheinend zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen, drehte die Fremde sich zu ihr um.

„Endlich bist du wach!“ Ein freudiges Lächeln huschte über ihr runzeliges, tief gebräuntes Gesicht, und sie eilte zu Nell ans Bett. „Ich bin Thea Sophia Pascalis, Alexanders Großtante. Nenn mich Thea Sophia, ich werde dich Helen nennen – das ist ein sehr schöner Name aus unserer klassischen Sagenwelt.“

Stimmt, dachte Nell und wunderte sich, dass ihr das noch nie aufgefallen war.

„Leider ist Alexander nicht hier, um uns miteinander bekannt zu machen“, redete Thea Sophia lebhaft weiter. „Deshalb möchte ich dich auch in seinem Namen ganz herzlich auf unserer herrlichen Insel und in diesem Haus begrüßen.“ Dabei drückte sie kurz Nells Hände.

„Ich freue mich sehr, dass wir uns kennenlernen, Thea Sophia.“ Ob sie wollte oder nicht, Nell musste das gütige Lächeln der alten Dame erwidern.

„Du ahnst gar nicht, wie glücklich ich bin, dich endlich bei mir zu haben.“ Thea ging wieder zurück zum Tisch. „Dir wird es hier gefallen, und wir beide werden bestimmt wunderbar miteinander auskommen. Auch Alexander, der dumme Junge, wird irgendwann zu Verstand kommen, ihr werdet viele Babys haben, und dann sind wir eine große glückliche Familie – fast alle Pascalis sind übrigens in dem Bett, in dem du gerade liegst, gezeugt und geboren worden.“

Nell schluckte – Thea Sophias vertrauliche Worte wirkten nicht gerade beruhigend auf sie. „Xan… Alexander ist nicht mehr hier?“, fragte sie vorsichtig.

„Ein einziger Blick auf deinen armen zerschundenen Körper war schon zu viel für ihn.“ Dabei schüttelte Xanders Großtante missbilligend den Kopf. „Er konnte gar nicht schnell genug aus dem Zimmer kommen – unglaublich, wie ein großer starker Mann sich anstellen kann.“ Sie zuckte die Schultern. „Aber wahrscheinlich ist sein schlechtes Gewissen der wahre Grund für sein Benehmen. Alexander ist dazu erzogen worden, seine Lieben zu schützen, und ausgerechnet bei dir hat er kläglich versagt. Glaub mir, wenn er mit sich wieder im Reinen ist, wird er zurückkommen.“

Inzwischen war Nell aufgefallen, dass sie außer BH und Slip nichts am Körper trug. Und so hatte Xander sie gesehen! Bei dem Gedanken wurde ihr heiß.

„Wer … wer hat mich ausgezogen?“, erkundigte sie sich ängstlich.

„Alexander natürlich.“

„Und dann ist er gegangen?“

„Ja.“ Thea Sophia nahm eine Tasse vom Tisch.

Abrupt setzte Nell sich auf und zog die Beine an. Am liebsten hätte sie geweint, so wütend und verzweifelt war sie.

Nur weil er mich verführen wollte, hat Xander mich auf diese Insel gebracht, dachte sie. Nachdem ihn jedoch der Anblick ihrer noch nicht restlos verheilten Verletzungen von seinem Vorhaben abgeschreckt hatte, war er in sein gewohntes Verhaltensmuster zurückgefallen – er hatte sie allein gelassen.

Mochte die Insel noch so paradiesisch und Thea Sophia noch so nett sein, wieder hatte Xander ihr einen Korb gegeben und den Lebensstil eines Junggesellen dem Eheleben vorgezogen.

Lächelnd hielt Thea Sophia ihr eine Kanne entgegen. „Wie wäre es jetzt mit einer schönen Tasse Tee, Helen?“

4. KAPITEL

Barfuß ging Nell durch den Sand und suchte im Schatten eines Baumes nach einem Platz für ihr Buch. Ihre Sonnenbrille legte sie daneben und deckte alles mit dem weitkrempigen Strohhut ab, ohne den Thea Sophia sie nicht aus dem Haus ließ.

Nell liebte die kleine, von Kiefern umstandene Bucht, die sie kurz nach ihrer Ankunft entdeckt hatte. Mochte der Weg hierher auch steil und beschwerlich sein, die Anstrengung lohnte sich. Der Sand war weiß und sehr fein, das Wasser azurblau und kristallklar, und direkt am Ufer war der Boden so fest, dass es sich wunderbar gehen ließ.

Zwei Wochen war sie nun schon auf der Insel, doch so ruhig wie an diesem Tag war das Wetter noch nie gewesen. Am Himmel regte sich kein Lüftchen, es war glühend heiß und duftete würzig nach Pinien.

Nachdenklich nahm sie etwas Sand in die Hand und ließ ihn langsam durch die Finger rieseln. Sollte sie sich erst ausruhen oder gleich schwimmen gehen?

Dass sie beobachtet wurde, spürte sie ganz deutlich, und sie wusste auch, von wem. Auf dem Weg zur Bucht hatte sie über den Baumwipfeln den Hubschrauber gehört. Xander musste mit Yannis, dem Mann für alles auf der Insel, gesprochen haben, sonst hätte er sie nicht so schnell gefunden. Was ihren Verdacht bestätigte, dass Yannis die Aufgabe hatte, jeden ihrer Schritte zu überwachen.

Ob Xander sich das wohl gut überlegt hatte? Denn das bedeutete zwangsläufig, dass Yannis ihr auch beim Baden zusah.

Bestimmt stand Xander unter einer der Pinien und sah ihr zu. Denn nur seine Blicke riefen dieses eigenartige Gefühlsgemisch aus Ärger, Trotz und Erregung in ihr hervor.

Sie hatte die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Sollte sie sich zu ihm umdrehen oder so tun, als wäre er Luft? Listig lächelnd entschloss sie sich, ihn zu ignorieren. Die Gelegenheit war wie geschaffen, um ihm vor Augen zu führen, was er im letzten Jahr versäumt hatte. Noch vor Kurzem hatte ihn der Anblick ihres von Schwellungen und Blutergüssen entstellten Körpers in die Flucht getrieben – wahrscheinlich direkt in die Arme der willigen Vanessa. Jetzt zeige ich ihm, wie ich wirklich aussehe, beschloss sie.

Mit vor Aufregung zitternden Fingern löste sie den Knoten ihres Pareos auf der linken Schulter, atmete einmal tief durch und ließ das feine Gewebe mit einer sinnlichen Bewegung zu Boden gleiten.

Makellos verheilt, war ihre Haut inzwischen von der Sonne golden gebräunt. Doch nicht nur auf ihren Teint, auch auf ihre Figur war Nell stolz. Weil sie regelmäßig im Pool und im Meer trainiert hatte, waren ihre Muskeln, die sich durch das lange Liegen zurückgebildet hatten, jetzt noch kräftiger als vor dem Unfall.

Anscheinend vollkommen entspannt sah sie an sich hinunter und verrieb etwas Sonnenöl, das sich unterhalb des Nabels nicht richtig verteilt hatte. Ich sehe gut aus, dachte sie selbstbewusst.

Wer immer ihren Koffer für Griechenland gepackt hatte, hatte zielsicher die Garderobe ausgesucht, die für ihre Flitterwochen gedacht gewesen war – Flitterwochen, auf die sie sich vergeblich gefreut hatte. Auch beim Kauf des Bikinis, den sie jetzt trug, hatte sie an Xander gedacht. Wenn er mich darin sieht, ist er nicht mehr nur mein Mann, sondern auch schon mein Geliebter, hatte sie damals glücklich gedacht.

Das Höschen des weißen Bikinis betonte eher, was es verbergen sollte, zwei winzige Schnüre hielten die knappen Stoffdreiecke. Sobald sie etwas schneller schwamm, verrutschte das Oberteil, doch wen kümmerte das?

Nell wusste, wie verführerisch und sexy sie in diesem Outfit wirkte. Auf dass dir die Augen aus dem Kopf fallen, Alexander Pascalis, dachte sie zufrieden, schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Hier steht die Frau, der du vor zwei Wochen den Rücken gekehrt hast.

Wie ein Model auf dem Laufsteg ging sie langsam und aufreizend bis ans Wasser, lief anmutig durch den flachen Uferbereich und hechtete mit einem eleganten Kopfsprung in die Wellen.

Unter einer Pinie stand Xander und beobachtete Nell. Still, wie es war, musste sie seine Schritte gehört haben. Was ging wohl in ihrem hübschen Kopf vor, als sie den Sand durch die Finger rieseln ließ? Ob sie ihm die feinen Steinchen am liebsten ins Gesicht geworfen hätte?

Bestimmt war sie wütend, weil er ohne Erklärung verschwunden war. Doch was war ihm anderes übrig geblieben? Mit einer Frau, die er noch nicht berührt hatte, und einer Großtante, die voraussetzte, dass ein Ehepaar selbstverständlich das Bett miteinander teilte.

Er hatte das Dilemma nicht lösen können. Hätte er neben Nell schlafen müssen, wäre er über sie hergefallen – trotz ihrer Verletzungen.

Wie unwiderstehlich schön sie war, als sie ruhig den Knoten des Pareos löste. Sie war schlank und voller Anmut und Grazie, das kupferrote Haar fiel ihr offen über die Schultern, und die Farbe ihrer Haut erinnerte ihn an Honig.

Autor

Anne Haven
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