Julia Gold Band 84

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

IM SCHLOSS DES FRANZÖSISCHEN BARONS von HOOD-STEWART, FIONA
Baron Raoul d’Argentan ist umwerfend attraktiv, aber mindestens ebenso arrogant. Die hübsche Natasha ist wild entschlossen, ihm die Stirn zu bieten und sich nicht von seinem Charme einwickeln zu lassen. Sie weiß: Raoul kann ihr alles schenken, nur nicht sein Herz …

DU BIST MEINE EINZIGE LIEBE von STEPHENS, SUSAN
Kate reist voller Erwartung nach Frankreich. Endlich wird sie ihre große Liebe, den Comte de Villeneuve wiedersehen. Zuerst hängt der Himmel voller Geigen. Doch als Guy erfährt, was Kate wirklich in seine Heimat führt, weißt er sie enttäuscht zurück …

SÜß DUFTET DER LAVENDEL von SPENCER, CATHERINE
Die Suche nach ihrer leiblichen Mutter führt Diana bis in die Provence - auf das luxuriöse Anwesen des attraktiven Antoine de Valois. Sofort fühlt sie sich von dem geheimnisvollen Franzosen angezogen. Doch eine Intrige droht ihr Glück zu zerstören …


  • Erscheinungstag 11.01.2019
  • Bandnummer 0084
  • ISBN / Artikelnummer 9783733713126
  • Seitenanzahl 447
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Fiona Hood-Stewart, Susan Stephens, Catherine Spencer

JULIA GOLD BAND 84

1. KAPITEL

Es war nicht so, dass sie nicht nach Frankreich zurückgehen wollte, tatsächlich wünschte sie es sich sogar. Als der Chauffeur den Wagen durch das Tor zum Manoir fuhr, an das sie sich nur noch vage aus ihrer frühen Kindheit erinnerte, hatte Natasha de Saugure aber plötzlich gemischte Gefühle: Sie hätte auf die Bitte ihrer Großmutter früher eingehen sollen.

Die Vergangenheit zwischen ihnen beiden hatte Natasha davon abgehalten. Jetzt hoffte sie, dass es nicht zu spät war. Ihre Großmutter hatte am Telefon sehr schwach geklungen. Aber Natasha konnte von ihrer Arbeit bei einer Hilfsorganisation in Afrika nur schwer Urlaub nehmen. Sie und ihre Kollegen versuchten verzweifelt, hungernde Mütter und Kinder zu retten. Natasha war es ihnen schuldig, vor Ort zu sein.

Der Wagen fuhr über den Kiesweg und hielt schließlich an. Durch das offene Fenster roch Natasha den Duft von frischem Lavendel und Thymian. Sie war sich jetzt sicher, dass ihre Reise hierher richtig gewesen war.

Voilà, Mademoiselle.“ Der Fahrer stieg aus dem Auto und öffnete ihr die Tür.

„Merci.“ Natasha erwiderte sein Lächeln. Sie verließ den Wagen, strich sich schnell das aschblonde Haar glatt und blickte zur steinernen Fassade des Manoirs hinauf. Es hatte an jeder Ecke ein rundes Türmchen, das Dach war mit Schindeln gedeckt, und Efeu rankte sich an den jahrhundertealten Mauern empor. Sie seufzte. Es war viele Jahre her, seit sie ihre Großmutter das letzte Mal gesehen hatte. Weil ihr Vater außerhalb seines Standes geheiratet hatte, war es zum endgültigen Zerwürfnis zwischen der alten Dame und ihrem Vater gekommen.

Plötzlich öffnete sich die große Eingangstür, und ein alter weißhaariger Mann in Uniform erschien auf den Stufen.

Bienvenue, Mademoiselle“, sagte er, und ein Lächeln erhellte sein zerfurchtes Gesicht. „Madame wird sich freuen, Sie zu sehen.“

Bonjour, Henri“, erwiderte Natasha. Ihre Mutter hatte ihr von dem alten Butler erzählt. Sie betrat die mit großen Steinplatten ausgelegte Eingangshalle und betrachtete neugierig die hohen Decken und Türen, die in ein wahres Labyrinth an Räumen zu führen schienen.

Noch immer quälte sie die Frage, weshalb ihre Großmutter nach all den Jahren der Funkstille nach ihr verlangt hatte. Ihr Brief verriet nur wenig. Und auch am Telefon hatte nichts in der gebieterischen Stimme ihrer Großmutter darauf hingedeutet, dass sie ihre Haltung geändert hatte. Trotzdem hatte sie auf ihren Besuch bestanden.

Im ersten Moment hatte sie die Einladung ausschlagen wollen. Doch sie wusste, dass sie kommen musste. Trotz allem in der Vergangenheit Vorgefallenen – sie war nach dem Tod ihrer Eltern die einzig lebende Verwandte der alten Dame.

Mehr als zwanzig Jahre waren seit ihrem letzten Besuch in der Normandie vergangen, doch vieles fühlte sich vertraut an: die Gerüche, das Licht, das durch die hohen Fenster flutete und auf den Wänden spielte. Und da war noch etwas, das sie aber nicht klar fassen konnte.

„Madame erwartet Sie oben im kleinen Salon“, verkündete Henri.

„Dann gehe ich am besten gleich zu ihr.“ Natasha lächelte. Die seltsam formelle Situation gab ihr das Gefühl, in einer anderen Zeit zu sein.

Der Butler verbeugte sich leicht und führte sie die breite Marmortreppe hinauf. Natasha bemerkte, dass ihm der Aufstieg nicht leicht fiel. Sie wollte ihn gerade nach dem Weg fragen, als ihr in den Sinn kam, dass sie damit gegen die Etikette verstieße. Henri hatte sein ganzes Leben lang hier gearbeitet und würde sich jede Abweichung von den strengen Regeln ihrer Großmutter zu Herzen nehmen.

Schließlich standen sie vor einer weißen Tür. Henri klopfte und öffnete sie dann vorsichtig. „Sie erwartet Sie“, sagte er leise.

Natasha schluckte. Plötzlich schien ihr die Begegnung nicht mehr so einfach wie noch vor ein paar Tagen in Karthum. Von Natur aus war sie ein mitfühlender Mensch, doch die Art, wie ihre Großmutter den eigenen Sohn aus ihrem Leben verbannt hatte, hatte sie gegenüber der alten Frau misstrauisch werden lassen.

Nun gab es kein Zurück mehr. Natasha fasste all ihren Mut zusammen und betrat den abgedunkelten Raum. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Dann sah sie hinüber zu der kleinen weißhaarigen Gestalt, die auf einem Tagesbett beim Fenster lag.

„Ah, mein Kind, endlich bist du da.“

Die Stimme war nur ein dünnes Wispern, und obwohl sich Natasha zuerst instinktiv hatte zurückhalten wollen, gewann ihr Mitgefühl die Oberhand. Sie sah keine Frau vor sich, die sie und ihre Familie die meiste Zeit ihres Lebens zurückgestoßen hatte, sondern eine schwache, hilfsbedürftige alte Dame. Schnell näherte sie sich dem Bett.

„Ja, Grandmère, ich bin gekommen.“

„Endlich.“ Die alte Dame wandte Natasha ihr einst schönes Gesicht zu und sah sie durchdringend an. „Komm her, setz dich an meine Seite. Ich habe so lange auf dich gewartet.“

„Ich weiß, aber ich konnte nicht früher kommen. Wir müssen in Afrika humanitäre Hilfe leisten“, erklärte Natasha und ließ sich vorsichtig auf einem zart vergoldeten Stuhl nieder.

„Hauptsache, du bist endlich hier. Henri!“ Die herrische Stimme hatte noch nichts von ihrer Entschlossenheit verloren. „Den Tee, bitte.“

„Sofort, Madame.“

Mit einer weiteren kleinen Verbeugung zog Henri sich zurück und schloss die Tür hinter sich.

„Ist das nicht zu viel für ihn?“, fragte Natasha und blickte ihm stirnrunzelnd hinterher.

„Henri? Nein, er kommt schon zurecht“, antwortete die alte Dame bestimmt und richtete sich auf. „Aber nun erzähl mir von dir, Kind. Es ist viel zu lange her.“ Natashas Großmutter seufzte zittrig. „Und ich weiß, dass ich daran schuld bin. Aber für Reue ist es jetzt zu spät.“ Ihr Blick ruhte auf Natasha und schien sie abzuschätzen. Obwohl die alte Dame körperlich sehr zerbrechlich war, wirkte sie keineswegs schwach.

„Es gibt nicht viel zu erzählen. Nach der Schule ging ich auf die Universität. Aber als meine Eltern vor drei Jahren bei einem Autounfall starben, wollte ich so weit wie möglich weg und beendete das Studium. Zu diesem Zeitpunkt hat man mir den Job in Afrika angeboten.“ Natasha zuckte die Schultern. „Ich dachte, das wäre das Richtige für mich.“

„Bist du glücklich mit deiner Arbeit?“

„Ja, sehr. Sie ist sehr anstrengend und nimmt mich emotional sehr mit, aber sie gibt auch unglaublich viel zurück.“

„Du bist ein guter und mitfühlender Mensch. Nicht so wie ich.“ Die alte Dame lachte bitter auf. „Ich war immer nur um mein Wohl besorgt. Und jetzt zahle ich den Preis für mein selbstsüchtiges Verhalten.“ Erneut seufzte sie auf und schloss die Augen.

Natasha zögerte. Sie erinnerte sich an die Trauer ihres Vaters und an die Schuldgefühle ihrer Mutter, weil sie ihren geliebten Mann von seiner Familie entfremdet hatte. Man konnte die Verletzungen eines ganzen Lebens nicht einfach unter den Teppich kehren und so tun, als wäre alles in Ordnung. Trotzdem wollte sie nicht, dass sich die Vergangenheit zu sehr auf die Gegenwart auswirkte.

Grandmère, wir alle machen Fehler in unserem Leben.“

„Das ist wahr. Ich frage mich, ob du mir all den Schaden, den ich deiner Familie zugefügt habe, verzeihen kannst. Heute wünsche ich mir so sehr, dass ich etwas offener gewesen wäre und mich meinem geliebten Hubert nicht so verschlossen hätte.“

Natasha sah die Hoffnung in den Augen der alten Frau aufleuchten, und das Herz ging ihr auf. „Aber natürlich, Grandmère. Lass uns nach vorn blicken.“

„Ah.“ Die alte Dame legte ihre Hand auf Natashas und lächelte sanft. „Wie gut, dass ich dich gebeten habe zu kommen.“ Minutenlang saßen die beiden Frauen so da und spürten, wie zwischen ihnen ein neues Band der Vertrautheit entstand.

Als Henri an die Tür klopfte, um den Tee zu bringen, war der Zauber gebrochen. Natashas Großmutter gab Anweisungen, wo das Tablett platziert werden sollte. Eine Stunde später hatten sie ihren Tee getrunken und sich Geschichten erzählt. Es war nicht zu übersehen, dass die alte Dame müde war.

„Ich gehe jetzt meinen Koffer auspacken“, sagte Natasha und erhob sich.

„Das ist eine gute Idee. Leider kann ich nicht mit dir zu Abend essen, aber Henri wird sich um dich kümmern. Komm doch bitte noch vorbei und wünsche mir gute Nacht.“

„Sehr gerne.“ Natasha beugte sich hinab und küsste ihre Großmutter zart auf die Wange. „Bis später.“

„Ich werde auf dich warten, mein Kind.“

Nachdem sie ihre Kleidung aus dem Koffer genommen und in den nach Lavendel duftenden Schrank gehängt hatte, ging Natasha zum Fenster des eleganten Schlafzimmers, das man für sie hergerichtet hatte, und blickte auf die üppig grüne Landschaft hinaus. In der Ferne konnte sie ein mittelalterliches Schloss erkennen.

Es war später Frühling. Zahllose Blumen umrahmten einen verwitterten Springbrunnen im Garten des Manoirs. Lupinen- und Rosenbeete säumten den samtigen Rasen. Natasha blickte auf ihre Armbanduhr und fragte sich, ob sie vor dem Abendessen wohl noch einen kleinen Spaziergang machen konnte.

Sie entschied sich dafür, zog Turnschuhe an, ging nach unten und verließ das Manoir durch die Eingangstür. Sie legte den Kopf in den Nacken und genoss es, wie der Wind mit ihrem Haar spielte.

Schon bald hatte sie den Garten hinter sich gelassen und lief über das offene Feld. Die frische Luft und die Bewegung taten ihr gut. Plötzlich hörte sie den Klang von Pferdehufen. Sie wandte sich um und bemerkte überrascht einen großen dunkelhaarigen Mann in Jeans und Reitstiefeln auf dem Rücken eines nervösen Fuchses. Der Fremde zügelte das Pferd hart. Etwas bestürzt bemerkte Natasha, dass er nicht sehr erfreut aussah.

„Wer sind Sie?“, rief der Mann auf Französisch. Er schien es nicht gewohnt zu sein, dass sich ihm jemand in den Weg stellte.

Natasha sah ihn angespannt an. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, erwiderte sie scharf in fließendem Französisch.

„Sehr viel, dieses Land gehört nämlich mir.“

„Dann entschuldigen Sie bitte mein Eindringen. Es war keine böse Absicht“, antwortete Natasha stolz. Sie wollte sich keinesfalls von ihm herumkommandieren lassen.

„Sorgen Sie dafür, dass es nicht wieder vorkommt.“

Damit riss er das Pferd herum und galoppierte davon. Natasha blieb wütend zurück, die Hände zu Fäusten geballt.

Wie kann er es wagen, dachte sie wütend. Noch nie ist mir so ein unhöflicher Mensch begegnet.

Natasha beschloss, sich so schnell wie möglich auf den Heimweg zu machen. Sie ging zügig zurück, und als sie vor dem herrschaftlichen Anwesen stand, beobachtete sie, wie es in das Glühen der untergehenden Sonne getaucht wurde. Natasha nahm das Bild in sich auf. Sie wollte keinen Gedanken mehr an den abscheulichen Reiter verschwenden. Doch als sie die Halle betrat und zu ihrem Zimmer zurückging, grübelte sie noch immer über ihn.

Wenn das Land ihm gehörte, musste er ein Nachbar sein. Mit einer etwas freundlicheren Miene wäre er vielleicht sogar attraktiv, gestand Natasha sich ein, als sie sich an seine finsteren Gesichtszüge und das dunkle Haar erinnerte, das er nach hinten gekämmt trug. Aber das geht dich gar nichts an, schalt sie sich insgeheim. Trotzdem werde ich Grandmère nach ihm fragen.

Pünktlich um acht Uhr ging Natasha die große Treppe hinunter, wo Henri sie in Empfang nahm. Natasha seufzte, als er sie in das förmliche Esszimmer führte. Sie hatte keine Lust, alleine an einem Tisch zu sitzen, der groß genug für sechzehn Leute war. Doch sie sagte nichts. Das war der Lauf der Dinge in diesem Haus – ihr Vater hatte ihr oft genug Geschichten aus seiner Kindheit erzählt.

Nach dem Essen stand sie auf und ging zum Schlafzimmer ihrer Großmutter. Natasha wollte ihr eine gute Nacht wünschen, sich dann in ihr Zimmer zurückziehen, ein Bad nehmen und es sich anschließend mit einem Buch in dem riesigen Himmelbett gemütlich machen.

Nachdem sie auf ihr Klopfen keine Antwort erhielt, öffnete Natasha die Tür und spähte in das Zimmer. Sie lächelte, als sie die alte Dame schlafen sah. Vielleicht sollte sie sie gar nicht weiter stören. Doch irgendetwas veranlasste sie, zu bleiben und sich ihrer Großmutter zu nähern. Die Comtesse de Saugure lag völlig reglos da, ihr Gesicht war friedlich. Plötzlich holte Natasha erschrocken Luft, beugte sich vor und fühlte den Puls der alten Dame.

Sie konnte keinen finden. Mit bebendem Herzen versuchte Natasha, ihre Großmutter zu wecken.

Grandmère“, wisperte sie und berührte sie leicht an der Schulter. „Bitte wach auf.“ Doch es kam keine Antwort. Voller Entsetzen und mit zitternden Händen richtete Natasha sich auf und versuchte, die Wahrheit zu akzeptieren.

Ihre Großmutter war tot.

2. KAPITEL

Ansässige und zugereiste Trauergäste füllten die Kapelle. Alte Gefolgsleute, die fast ihr ganzes Leben für die Comtesse gearbeitet hatten, säumten die Straße, auf der der Leichenwagen zu seinem Ziel fuhr. Natasha folgte in dem alten Rolls-Royce, der von Henri chauffiert wurde.

Als sie allein in der vordersten Kirchenbank stand und zuhörte, wie der Pfarrer den Trauergottesdienst hielt, fühlte Natasha sich traurig und fassungslos zugleich. Außer Henri und seiner Frau Mathilde kannte sie niemanden. Sie war noch immer geschockt von dem Treffen am Morgen mit dem örtlichen Notar, der ihr den letzten Willen ihrer Großmutter vorgelesen hatte. Dabei hatte sie zu ihrer Überraschung erfahren, dass sie Alleinerbin war. Sie erbte nicht nur das Schloss in der Normandie, sondern auch das luxuriöse Appartement in Paris und die Villa an der Côte d’Azur.

Natasha hatte sich gerade wieder gefangen und darauf vorbereitet, dem Sarg nach draußen zu folgen, als sie aufblickte und in der gegenüberliegenden Bank den Mann erkannte, den sie auf dem Feld getroffen hatte. In dem dunklen Anzug mit Krawatte und mit frisiertem Haar sah er ganz anders aus. Ihre Blicke trafen sich, und erneut fragte sich Natasha, wer er wohl sein mochte.

Dann ging sie hinter den Sargträgern auf den Friedhof hinaus, auf dem die Comtesse ihre letzte Ruhe finden würde. Als der Sarg langsam in das Grab hinabgelassen wurde und der Priester die Worte sprach, die Natasha vor nicht allzu langer Zeit auf der Beerdigung ihrer Eltern gehört hatte, fühlte sie sich plötzlich sehr traurig und einsam.

Nun hatte sie niemanden mehr, der zu ihr gehörte, nicht einmal die abweisende Großmutter, von der sie gehofft hatte, sie besser kennen zu lernen. Von jetzt an konnte sie nur noch auf sich selbst zählen.

Raoul d’Argentan stand ein wenig von den Trauergästen entfernt und beobachtete die junge Frau am Grab. Wer war nur diese Enkelin der Comtesse de Saugure, die an deren Todestag plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war? Er wusste natürlich, dass Marie Louise de Saugure sich vor langer Zeit von ihrem einzigen Sohn abgewandt hatte. Dann muss das wohl seine Tochter sein, überlegte Raoul nachdenklich. Welch seltsamer Zufall, dass die Comtesse gerade dann starb, als ihre Enkelin zurückkam.

Die de Saugures und die d’Argentans waren schon seit Jahrhunderten Nachbarn und kannten sich gut. Doch ihre gemeinsame Vergangenheit hatte ihre Schatten. Es war einiges passiert, das noch immer schmerzte. Im Grunde kümmerte sich Raoul aber nicht darum. Er hatte genug mit dem Auktionshaus in Paris und seinem Anwesen zu tun.

Auf dem Weg zu seinem Wagen fiel Raoul ein, dass er der Enkelin der Comtesse seine Aufwartung machen sollte, bevor er wieder nach Paris aufbrach. Die Höflichkeit gebot es, ihr sein Beileid auszusprechen. Allerdings erschien ihm das fast zynisch, da das Mädchen die Frau, die ihr ein Vermögen vermacht hatte, offensichtlich kaum gekannt hatte.

Im Davonfahren blickte Raoul kurz in den Rückspiegel. Die Trauergäste verließen den Friedhof, und er sah wieder die junge Frau. Was immer auch ihre Pläne sein mochten, sie war zweifellos sehr attraktiv.

Sei nicht albern, dachte er unwillkürlich. Sich zu einer de Saugure hingezogen zu fühlen, konnte er nicht gebrauchen. Er wollte nicht weiter an das hübsche, blasse Gesicht mit den klaren grünen Augen denken, das ihn trotz seiner Vorbehalte so seltsam faszinierte. Er tröstete sich damit, dass die junge Frau nicht sehr modisch gekleidet war, sondern sogar fast altbacken wirkte. Mit einem kurzen Kopfschütteln fuhr er zurück zu seinem Schloss und dachte an den Telefonanruf nach New York, den er dringend machen musste.

„Mademoiselle?“

„Ja, Henri?“ Natasha saß am Schreibtisch und studierte die Papiere ihrer Großmutter. Sie sah auf und lächelte.

„Baron d’Argentan ist hier, um Ihnen sein Beileid auszusprechen.“

„Gut.“ Sie seufzte und legte das Schreiben beiseite. Als sie sich erhob und ihr einziges schwarzes Kleid glättete, fiel ihr wieder ein, dass sie dringend nach Deauville fahren musste, um sich angemessene Garderobe zu kaufen. Nicht zum ersten Mal kam ein Nachbar vorbei, um ihr seine Aufwartung zu machen. Sie musste sich entsprechend kleiden. Gewöhn dich besser dran, dachte Natasha, als sie Henri durch die Halle in den Empfangsraum folgte, in den der Butler die Gäste zu führen pflegte.

Natasha betrat den kleinen Salon und spürte ihr Herz schneller schlagen, als sie die große Gestalt am Fenster erkannte. Sie wollte etwas sagen, schwieg dann jedoch und schluckte.

„Ich bin hier, um Ihnen meine Anteilnahme an Ihrem Verlust zu bekunden“, sagte er mit stolzer, voller Baritonstimme. Dann trat er vor, nahm Natashas Hand und führte sie an seine Lippen.

„Vielen Dank“, sagte sie und spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Seine Finger schienen seltsam zu prickeln, als flösse elektrischer Strom durch sie. „Aber bitte setzen Sie sich doch“, erwiderte sie schnell, trat einen Schritt zurück und wies auf den Louis-Quinze-Sessel ihr gegenüber.

„Danke.“ Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, dann folgte er ihrem Beispiel. Natasha war erleichtert, als Henri mit einer Flasche Champagner hereinkam.

„Ich hatte noch nicht das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen“, bemerkte der Baron. „Ich wusste nicht, dass die Comtesse eine Enkelin hatte.“ Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch, als wollte er ihre Ansprüche infrage stellen. „Ich kann mich nicht erinnern, Sie früher schon einmal hier gesehen zu haben.“

Natasha wurde wütend und spürte, wie ihre Wangen glühten. „Das liegt wohl daran, dass ich schon viele Jahre nicht mehr hier gewesen bin“, erwiderte sie kühl.

„Ah. Das erklärt natürlich einiges.“

„Ja.“

Natasha ärgerte sich über sich selbst. Warum ließ sie es zu, dass ihr dieser Fremde solches Unbehagen bereitete? Immerhin war dies nun ihr Haus.

Jeder nahm ein Glas Champagner von Henri entgegen, der Baron hob seines. „Auf eine große Dame. Man wird die Comtesse hier in der Gegend schmerzlich vermissen – nicht wahr, Henri?“

„Oh ja, Monsieur le Baron, das wird man“, stimmte Henri zu. „Aber wir haben Glück, schließlich haben wir Mademoiselle.“

„Da haben Sie Recht. Für die Leute hier war das eine große Überraschung.“

„Ich hoffe doch keine unliebsame?“, erwiderte Natasha herausfordernd. Ihr Ärger über sein selbstherrliches Gebaren und die lässige Art, mit der er seinen Blick über sie gleiten ließ, wuchs.

„Keineswegs, ganz im Gegenteil. Sie werden frischen Wind hierher bringen – sofern Sie bleiben wollen.“ Erneut zog er die Augenbraue hoch. Es schien so, als suchte er nach einem Fehler.

„Das zu entscheiden ist noch zu früh. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht“, antwortete Natasha und hoffte, ihr Tonfall möge jede weitere Frage unterbinden. Doch etwas in ihr wollte, dass er ihr glaubte, und konnte nicht ertragen, dass er sie für eine Lügnerin hielt. Sie hatte tatsächlich noch nicht beschlossen, was mit ihrem Erbe geschehen sollte. Ein Teil von ihr wollte zurück nach Afrika. Doch in sich spürte sie plötzlich ein neues Gefühl von Loyalität gegenüber ihrer Herkunft und der Verantwortung, die mit dem Erbe einherging. Der Brief ihrer Großmutter hatte eine Saite in ihr berührt. Du bist die Letzte der de Saugures, die unsere Linie fortführen kann …

Nach einigen Minuten gepflegten Small Talks erhob sich der Baron. „Wenn ich Ihnen bei irgendetwas helfen kann – Henri hat meine Telefonnummern. Wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, bin ich Ihr Nachbar.“ Ein schalkhaftes Lächeln umspielte seine geschwungenen Lippen.

„Das war neulich mehr als offensichtlich“, erwiderte Natasha.

„Oh ja, es tut mir leid, wie unhöflich ich mich an dem Tag verhalten habe. Ich hoffe, Sie essen mit mir zu Abend, damit ich mein schlechtes Benehmen wieder gutmachen kann. Vielleicht bringe ich Sie ja dazu, die Gegend schneller zu mögen.“ Er nahm ihre Hand, drückte sie leicht und hielt sie etwas länger als nötig. Erneut spürte Natasha das pulsierende Prickeln.

„Das wäre sehr nett“, hörte sie sich zur ihrer Überraschung sagen, als sie ihm ihre Hand entzog.

„Gut, dann erwarte ich Sie morgen.“

„Ich … ich habe meinen Terminkalender gerade nicht hier“, sagte Natasha zögernd.

„Oh? Sind Sie bereits so ausgebucht?“ Seine Augen blitzten vergnügt.

Natasha errötete. „So habe ich das nicht gemeint.“

„Dann erwarte ich Sie morgen Abend um acht Uhr. Henri wird Sie fahren.“ Er nickte kurz, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.

„Na dann“, murmelte Natasha, ging zum Fenster und atmete tief aus. An selbstbewusstem Auftreten fehlte es ihm zweifellos nicht. Ganz im Gegenteil, er war geradezu autoritär. Und da sie nicht abgelehnt hatte, musste sie jetzt mit ihm zu Abend essen. Das erinnerte sie daran, dass sie dringend neue Kleider kaufen musste. Natürlich spielt es überhaupt keine Rolle, wie ich aussehe, dachte sie. Er ist nur ein Nachbar, und ein ziemlich unhöflicher dazu. Trotzdem wollte sie aus unerfindlichen Gründen gut aussehen. Vielleicht gehörte das zu den neuen Pflichten, die sie ihrem Namen schuldig war. Schließlich musste sie den guten Ruf ihrer Familie pflegen.

Wieso habe ich nur diese altbackene Engländerin zum Dinner eingeladen, obwohl ich eigentlich nach Paris abreisen wollte? fragte sich Raoul, als er die Auffahrt hinunterfuhr. Es war unsinnig, seine Rückkehr in die Stadt zu verschieben. Ganz besonders, wenn der Grund dafür ein Abendessen mit jemandem war, der so wenig Chic hatte wie seine neue Nachbarin.

Vielleicht will ich nicht nach Paris, weil ich mich dann wieder mit einem von Clothildes Eifersuchtsanfällen auseinander setzen muss, dachte er, als er durch das Eingangstor des Schlosses fuhr.

Er parkte den Wagen vor der massiven Eingangstür und sah auf sein Handy. Wie erwartet hatte er mehrere Anrufe von Clothilde verpasst. Verstimmt verdrehte er die Augen. Es wurde Zeit, dass er die Beziehung beendete. Für länger als gewöhnlich wegzubleiben schien nicht auszureichen. Raoul seufzte und stieg aus dem Wagen. Wie die meisten Männer hasste er unangenehme Situationen, für die Clothilde mit ihren hysterischen Szenen und kindischen Stimmungsschwankungen zweifellos sorgte. Raoul fragte sich unwillkürlich, weshalb er überhaupt etwas mit ihr angefangen hatte.

In der frischen Morgenbrise beobachtete Raoul, wie Stallburschen zwei seiner Lieblingspferde über den gepflasterten Hof führten. Warum gab er nicht einfach zu, dass er Clothildes Reizen aus demselben Grund erlegen war wie immer: Es war einfacher, mit Models auszugehen, die nur kurz in seinem Leben auftauchten, als sich auf etwas Ernsthaftes einzulassen. Mit sechsunddreißig war er ein eingeschworener Junggeselle und hatte nicht die Absicht, etwas an seinem Single-Leben zu ändern – sehr zur Enttäuschung einiger Mütter, die ihre Töchter für passende Kandidatinnen um den Titel der zukünftige Baroness d’Argentan hielten.

Ein zynischer Zug umspielte seinen Mund. Er hatte vor einigen Jahren auf schmerzliche Art erfahren müssen, dass Frauen ehrgeizig waren. Er würde nicht noch einmal den Fehler begehen, sich zu verlieben. Auf dem Weg zum Schloss, das sich seit Jahrhunderten im Familienbesitz befand, fragte er sich, ob auch Natasha de Saugure auf Geld aus sei. Ihre Ankunft kam viel zu plötzlich, um reiner Zufall zu sein. Hoffentlich hatte sie ihre Großmutter nicht so geängstigt, dass diese einen Herzanfall erlitt.

Doch als er durch die große Eingangshalle schritt, erkannte Raoul, dass der Gedanke dumm war. Er hatte Marie Louise de Saugure seit seiner Kindheit gekannt. Wenn jemand Schrecken verbreitete, dann war sie es. Trotzdem wollte er sich vor Natasha wie vor jedem Mitglied der Familie de Saugure in Acht nehmen. Deshalb war es ihm ein Bedürfnis gewesen, sie zum Abendessen einzuladen. So konnte er herausfinden, was sie hierher geführt hatte. Die Vergangenheit hatte jeden in seiner Familie gelehrt, sich vor den Frauen der de Saugures zu hüten.

Er war da keine Ausnahme.

3. KAPITEL

Natasha betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Es war lange her, dass sie sich um ihre Kleidung und ihr Aussehen gekümmert hatte. Die letzten Jahre im afrikanischen Busch hatte sie nur ein paar Jeans und einige ausgebleichte T-Shirts getragen. Nun hatte sie sich Zeit genommen und den Tag in Deauville verbracht. Sie war dem Rat einer Verkäuferin gefolgt, die ihr einige Kleidungsstücke ausgesucht hatte.

Jetzt, als Natasha ihr Spiegelbild begutachtete, musste sie zugeben, dass die Frau gute Arbeit geleistet hatte. Alles, was die Verkäuferin ausgewählt hatte, vom hübschen pinkfarbenen Chanel-Anzug über die schmal geschnittene Hose bis hin zu dem schönen cremefarbenen Kleid, ließ sie ganz anders aussehen als die junge Frau, die vor ein paar Tagen aus dem Flugzeug gestiegen war. Natasha hatte sich von einer Durchschnittsperson in eine Frau verwandelt, nach der man sich umdrehte. Außerdem war sie auch noch zum besten Friseur der Stadt gegangen und hatte ihr langes Haar waschen, fönen und in Form bringen lassen. Das Ergebnis sah sie nun im Spiegel. Sie fand es schwierig, die Person darin mit ihrem eigenen Ich in Einklang zu bringen.

Was soll’s, dachte sie schulterzuckend, ich werde mich schon daran gewöhnen. Außerdem würde sie nun nicht mit Raoul d’Argentan zu Abend essen und dabei unordentlich aussehen müssen. Der Gedanke ließ wieder Unbehagen in ihr aufsteigen, und sie fragte sich erneut, weshalb er sie eingeladen hatte. Vielleicht war er einfach nur neugierig. Sicher wollte er wissen, wer sie war und was sie hier wollte. Der Notar hatte zwar sicher einigen seiner Klienten etwas über Natasha verraten, aber sie konnte sich gut vorstellen, wie aufregend eine neue Gutsherrin für eine so kleine Dorfgemeinschaft war.

Das brachte sie noch einmal zu der Frage, was sie tun solle. War sie wirklich bereit, sich um hundertachtzig Grad zu drehen und in der Normandie zu bleiben, um das Erbe einer Frau anzutreten, die ihr all das ein Leben lang verweigert hatte?

Die Bronze-Uhr auf dem Marmorkaminsims zeigte Natasha, dass es spät wurde und sie keine Zeit für Gewissenbisse hatte. Sie würde später über ihr Leben nachdenken. Jetzt musste sie nach unten, wo Henri auf sie wartete.

Mit einem letzten flüchtigen Blick in den Spiegel griff sie nach einem eleganten Handtäschchen und zog ihre neuen, bequemen High Heels an. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte. Dafür, dass sie in den letzten drei Jahren nur Sandalen und Turnschuhe getragen hatte, war sie gar nicht schlecht.

In der Hoffnung, nicht zu unsicher zu wirken, ging Natasha die große Treppe nach unten. Es gelang ihr ohne Schwierigkeiten, und sie war froh, Henri zu sehen, der sie in der Halle empfing.

Als der Wagen auf die beleuchtete Hängebrücke zufuhr, hielt Natasha den Atem an. Das Schloss des Barons war unglaublich. Es besaß zahllose Türme, die aus schwerem Stein gebaut waren und uneinnehmbar wirkten. Seine Erbauer wollten offenbar klar machen, dass man sich nicht mit ihnen anlegen sollte. Plötzlich schauderte Natasha und dachte an den gegenwärtigen Besitzer.

„Es ist sehr beeindruckend, nicht wahr?“, sagte Henri.

„Ja, sehr. Und sehr alt.“

„Die Familie d’Argentan lebt hier, seit Wilhelm der Eroberer nach England zog“, erklärte er stolz. „Der Baron stammt aus einer langen Linie von Kämpfern. Sie haben viele Schlachten geschlagen und sich unzählige Freunde, aber auch einige Feinde gemacht. Der erste Baron hieß auch Raoul.“

„Feinde?“ Natasha runzelte die Stirn.

„Ja. Hier in der Gegend erzählt man sich viele Geschichten über die Vorfahren des Barons, vor allem von Regis d’Argentan.“

„Tatsächlich?“

„Ja, aber jetzt genug davon. Das gehört der Vergangenheit an und sollte dort auch bleiben. Und hier sind wir schon, Mademoiselle.“ Er fuhr in den Innenhof, und bevor sie noch weitere Fragen stellen konnte, hatte er den Wagen bereits verlassen, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

Minuten später führte ein weißhaariger Butler Natasha eine alte Treppe hinauf, die von Fackeln beleuchtet war. Inszenierte der Baron für sie eine Show, oder gab es hier kein elektrisches Licht? Der Ort war seltsam unheimlich, und Natasha hatte plötzlich das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Doch sie tat es ab und ging hoheitsvoll an den alten Wandteppichen vorbei. Sie musste sich für den bevorstehenden Abend zusammenreißen.

Plötzlich trat Raoul aus dem Schatten.

„Guten Abend“, sagte er und führte ihre Hand an seine Lippen. „Entschuldigen Sie bitte, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich erkenne Sie kaum wieder.“

„Ist das ein Kompliment?“, fragte Natasha argwöhnisch.

„So habe ich es gemeint“, bestätigte er und führte sie galant in eine riesige Halle mit einem imposanten offenen Kamin, vor dem einige Stühle mit Samtbezug gruppiert waren. Das Feuer loderte, außerdem schien hier die Beleuchtung etwas besser zu sein. Tatsächlich waren hochmoderne Halogenstrahler hinter den dicken Eichenbalken versteckt und setzten die Gobelins und Wappen an den Wänden geschickt in Szene.

„Ihr Zuhause ist wirklich sehr beeindruckend“, sagte Natasha aufrichtig. Sie spürte seine Hand an ihrem Ellbogen.

„Vielen Dank, Mademoiselle – ich gehe davon aus, dass ich Sie nicht Madame nennen muss?“

„Aber nein, ich bin nicht verheiratet“, erwiderte sie verlegen.

„Haben Sie etwas gegen die Ehe?“

„Ich denke nicht an Heirat.“

„Tatsächlich? Das überrascht mich. Ich dachte, das tun die meisten Frauen. Wie alt sind Sie?“

„Dreiundzwanzig.“

„Das ist noch sehr jung, aber ich kenne einige Frauen in Ihrem Alter, die bereits Kinder haben.“

„Wirklich?“ Natasha hob trotzig das Kinn. „Ich dachte, heutzutage heiraten Frauen später und bekommen erst Mitte dreißig Kinder.“

„Planen Sie das auch?“, fragte er spöttisch.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Natasha scharf. Sie hatte nicht die Absicht, das Thema weiter zu vertiefen.

„Aha, es gibt also keinen Verlobten, der Sie am liebsten sofort vor den Altar zerren würde?“, hakte er nach und wies auf einen der Stühle.

„Seien Sie nicht albern.“ Natasha lachte verlegen auf. Ein Glück, dass er nichts von Paul wusste, der sie am Tag vor der Hochzeit verlassen hatte, als sie kaum neunzehn Jahre alt gewesen war.

„Nun gut, lassen wir das. Wie wäre es mit Champagner?“

„Ja bitte.“ Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder und schlug die Beine übereinander. In ihrem schönen Kleid fühlte sie sich seltsam weiblich und spürte Raouls Blick auf sich, der nicht nur bloße Neugier an ihr als Nachbarin, sondern auch offene Bewunderung verriet. Plötzlich wurde Natasha klar, dass sie sich in den Jahren seit ihrer unseligen Verlobung davor gescheut hatte, attraktiv zu sein. Sie hatte Angst gehabt, sich einer neuen Beziehung zu stellen, weil sie eine ähnliche Katastrophe fürchtete. Nun, ich bin jetzt älter und reifer, dachte sie und nahm lächelnd das Champagnerglas entgegen. Sie konnte sich zu jemandem hingezogen fühlen, ohne dabei zu viel zu wagen oder sich auf etwas einzulassen.

Raoul setzte sich in den Stuhl gegenüber. Mit der schwarzen Hose, dem burgunderroten Jackett, das tiefschwarze Haar aus dem Gesicht gekämmt und das Profil im Spiel der Flammen, sah er unverschämt gut aus.

„Also Sie sind Mademoiselle de Saugure“, sagte er langsam. „Ich möchte nicht neugierig wirken, aber haben Sie damit gerechnet, Marie Louise zu beerben?“

„Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung. Es kam mir nie in den Sinn. Ich habe Grandmère seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Sie … sie und mein Vater haben sich vor etlichen Jahren entzweit.“

„Ich erinnere mich. Die Comtesse hat nicht akzeptiert, dass er ihre Mutter geheiratet hat. Das war sehr dumm von ihr, denn dadurch wurde sie eine sehr einsame alte Frau. Allerdings ist ihr Verhalten auch verständlich.“

„Finden Sie?“ Natashas Wut war sofort entfacht. Die Herkunft ihrer Mutter verteidigte sie mit wilder Entschlossenheit.

„Ja. Ihr Vater hätte Probleme mit jeder Frau bekommen, die er geheiratet hätte. Es sei denn, Ihre Großmutter hätte sie ausgewählt. Sie setzte gern ihren Willen durch. Wir sind selbst ein paar Mal aneinander geraten.“ Er lächelte schief, und ihre Blicke trafen sich für ein paar endlose Sekunden.

„Sie und Grandmère?“

„Ja. Seit meine Eltern vor ein paar Jahren gestorben sind, bin ich der Herr des Hauses hier. Die Comtesse wollte mir vorschreiben, wie ich mein Anwesen zu verwalten habe. Als ich ihren Anweisungen nicht bis ins Kleinste folgte, hatten wir gewisse Meinungsverschiedenheiten. Aber wir legten diese bei und wurden enge Freunde. Seltsam, dass Sie so plötzlich hier aufgetaucht sind und die Comtesse daraufhin so schnell der Tod ereilte.“

„Wenn Sie denken, das sei meine Schuld, so kann ich Ihnen nur das Gegenteil versichern“, antwortete Natasha kühl. Sie hasste sich dafür, dass sie sich für etwas rechtfertigte, womit sie nichts zu tun hatte.

„Natürlich nicht. Vielleicht hat sie bis zu ihrem Tod auf Sie gewartet. Sie war schon eine Zeit lang ziemlich krank. Hat sie Ihnen von ihrem Testament erzählt?“

„Nein, davon habe ich erst erfahren, als der Notar … Moment, ich verstehe wirklich nicht, was Sie das alles angeht“, erwiderte sie plötzlich hitzig.

„Pardon“, sagte er mit einem Lächeln, das alles andere als entschuldigend war. „Aber Sie müssen zugeben, dass die Umstände etwas ungewöhnlich sind.“

„Gewiss. Deshalb habe ich auch noch keine Entscheidungen für die Zukunft getroffen und werde das so bald auch nicht tun.“

„Das ist sehr klug.“ Er wusste, er war zu weit gegangen. Unter der langweiligen Oberfläche kann sie also auch giftig werden, dachte er. Interessant. Raoul spürte, wie sich in ihm Verlangen regte. Er zügelte sich sofort, denn ihm war klar, dass eine Affäre mit dieser Frau kaum förderlich für ihre Nachbarschaft wäre. Er erhob sich. „Lassen Sie uns mit dem Dinner beginnen“, schlug er vor und bot ihr den Arm an. „Ich hoffe, das Menü sagt Ihnen zu.“

„Was gibt es denn?“

Ris de veau. Eine Spezialität, die mein Koch mit Hingabe zubereitet.“ Seine Augen funkelten belustigt.

Natasha zögerte. „Ist das nicht Hirn?“, fragte sie vorsichtig.

„Nein, es ist nur so ähnlich. Außerdem wird Alphonses Rezept Sie vergessen lassen, was es ist“, versicherte er und führte sie in einen fürstlichen Speisesaal. Dort standen Diener in Livree hinter zwei Stühlen an einem langen Tisch.

„Ist hier alles immer so förmlich?“, rutschte es Natasha heraus. „Ich glaube, ich könnte nicht jeden Tag so verbringen wie Sie und meine Grandmère. Es würde mich verrückt machen.“

„Sie ziehen eine etwas zwanglosere Lebensweise vor?“

„Ja, das kann man so sagen. Die letzten drei Jahre habe ich mit Flüchtlingen in der afrikanischen Wüste gelebt. Das sorgt dafür, dass man sich auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben konzentriert.“

„Das glaube ich gern“, sagte er, als sie sich setzten. Er betrachtete sie fasziniert. Sie war also keine langweilige Sekretärin aus der tiefsten Provinz, sondern eine Frau, die das Abenteuer suchte. Der Gedanke reizte ihn und verlieh ihr eine besondere Aura. Als sie ihre Serviette auffaltete, betrachtete er sie im Kerzenschein genau und bemerkte ihre perfekten Gesichtszüge und ihren geschmeidigen, verführerischen Körper. Ob sie im Bett auch so ist? fragte er sich und stellte sie sich unwillkürlich nackt zwischen den Laken vor. Schnell verwarf er den Gedanken.

„Erzählen Sie mir von Afrika.“ Er war ehrlich interessiert, mehr über seine Nachbarin zu erfahren. Vielleicht hatte er sie unterschätzt.

Das Abendessen verlief reibungslos. Es gefiel Natasha, von Afrika zu berichten, der Kultur, die sie studiert hatte, und der humanitären Krise, die ihr sehr zu Herzen ging. Allmählich entspannte sie sich und fand zu sich selbst. Als sie den Kaffee und die Digestifs zu sich genommen hatten, war es schon beinahe Mitternacht.

„Es ist schon sehr spät. Ich sollte jetzt besser nach Hause gehen … zurück zum Manoir, meine ich. Könnten Sie mir bitte ein Taxi rufen?“, fragte sie.

„Das kommt nicht infrage. Ich fahre Sie.“

„Sie sind wirklich sehr freundlich, aber ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.“

„Eine schöne Frau könnte das niemals. Im Gegenteil, es ist mir ein Vergnügen“, antwortete Raoul sanft und verbeugte sich leicht. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.

Obwohl sie abgeklärt und mondän erscheinen wollte, musste Natasha schlucken. Der Mann hat eine umwerfende Ausstrahlung, wenn er lächelt, dachte sie. Sie war an Komplimente noch immer nicht gewöhnt. Zu ihrem Ärger errötete sie wieder. Doch sich von ihm heimfahren zu lassen war schließlich keine große Sache.

Als sie nach unten auf den Hof gegangen waren, öffnete Raoul die Beifahrertür seines glänzendroten Ferraris und schien dabei sichtlich amüsiert.

Eine Frau, die errötete. Das hatte er lange nicht mehr gesehen. Für eine Sekunde kam ihm Clothilde in den Sinn. Sie war vermutlich nicht einmal im Alter von zwölf errötet, geschweige denn heute. Der Gedanke an die andere Frau erinnerte ihn daran, dass er am nächsten Tag nach Paris fahren und die Affäre mit ihr beenden musste. Aus irgendeinem Grund schien das jetzt alles viel weiter entfernt als noch am Morgen, als hätte der Abend mit Natasha das letzte Gefühl für Clothilde ausradiert.

Bald fuhren sie auf dunklen Landstraßen zurück zum Manoir und schließlich dort auf den Hof.

„Ich nehme an, unsere Familien sind schon seit Ewigkeiten Nachbarn“, sagte Natasha, als der Wagen zur Auffahrt hinauffuhr.

„Seit ungefähr sechshundert Jahren.“

„Wer war Ihr Vorfahr … etwa Regis?“, fragte sie, als ihr Henris Bemerkung einfiel. Sie wandte sich Raoul zu und versuchte, im Halbdunkel sein Gesicht auszumachen.

„Wer hat Ihnen von ihm erzählt?“, fragte er wachsam.

„Irgendjemand hat ihn erwähnt. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wer“, log Natasha, als sie spürte, dass sich hinter der Geschichte mehr verbarg, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Sie wollte unbedingt herausfinden, was es war.

„Regis war ein ungewöhnlicher Mensch. Ich denke, in jeder Familie gibt es so etwas … ein schwarzes Schaf. Irgendwann werde ich Ihnen von ihm erzählen. Für heute ist es zu spät.“

„Sehr schön.“ Natasha tat so, als interessierte sie die Geschichte nicht besonders. Es gab sicher jemanden, der ihr mehr erzählen konnte. Der Gedanke bestärkte sie in dem Entschluss, die Leute auf ihrem Anwesen und im Dorf näher kennen zu lernen. Vielleicht konnte sie von ihnen einiges über die Vergangenheit erfahren.

Gerade als sie es am wenigsten erwartete, beugte sich Raoul schnell zu ihr herüber, hob ihr Kinn und küsste sie.

Natasha war klar, dass sie sich wehren und ihm Einhalt gebieten sollte, aber es war unmöglich. Sie spürte, wie Raoul ihre Lippen eroberte und sie dazu brachte, sich auf seinen Kuss einzulassen. Er legte den Arm um sie, drückte sie an sich, und sie spürte ihre Brüste an seinem muskulösen Oberkörper. Natasha konnte nicht anders, als der Versuchung zu erliegen und seiner forschenden, drängenden Zunge nachzugeben. Sie versuchte, die unzähligen Empfindungen, die sie durchfluteten, in den Griff zu bekommen. Als er sich von ihr löste und sie ansah, wand sie sich atemlos aus seinen Armen. Ihr Puls raste.

„Ich werde Ende der Woche zurück sein“, flüsterte er voller Verlangen. „Dann können wir da weitermachen, wo wir eben aufgehört haben. Ich freue mich schon darauf.“

„Wir werden nichts dergleichen tun“, erwiderte Natasha scharf und gewann etwas Selbstbeherrschung zurück. „Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich in Ruhe lassen könnten. Ich brauche und wünsche Ihre Avancen nicht. Heben Sie sich Ihre Küsse für Ihresgleichen auf. Ich bin nicht daran interessiert.“ Sie stieg schnell aus dem Wagen und stolperte in ihren High Heels zur Eingangstür.

Henri hatte ihr vor dem Abendessen einen schweren Schlüssel gegeben. Sie steckte ihn ins Schloss und versuchte mit zitternden Händen, es zu öffnen. „So ein Mist“, rief sie aus, als sich der Schlüssel nicht drehte.

„Darf ich?“ Raoul war ihr gefolgt, nun wieder ganz der gefasste Gentleman.

„Lassen Sie mich allein“, sagte Natasha gereizt. Sie war noch immer ganz aufgelöst von dem unerwarteten Kuss.

„Aber Sie werden mitten in der Nacht hier draußen festsitzen“, bemerkte er sachlich. „Lassen Sie uns doch vernünftig sein. Es war schließlich nur ein Kuss.“

Verärgert trat Natasha zurück und ließ Raoul die Sache übernehmen. Nach einem fachmännischen Griff drehte sich der Schlüssel. „Voilà“, sagte Raoul und lächelte sie wieder mit diesem schelmischen Zwinkern an, das sie dahinschmelzen ließ. „Bonne nuit, ma chère. Träumen Sie etwas Schönes.“ Dann wandte er sich schnell um, und als Natasha in die schwach beleuchtete Halle trat, hörte sie seinen Wagen die Hofauffahrt hinabfahren.

An Schlaf war nicht zu denken. Instinktiv ging Natasha in die Bibliothek und knipste das Licht an. Vielleicht lenkte ein Buch sie von ihrem abendlichen Abenteuer ab.

Doch als sie die Bücherregale überflog, spürte Natasha noch immer die Berührung von Raouls Lippen und das prickelnde Gefühl, das sogar jetzt noch dafür sorgte, dass sich ihre Brustknospen aufrichteten. Ein seltsam angenehmes Pulsieren schien durch sie zu strömen. Es ist lächerlich, dass ein Mann, den ich kaum kenne, ein solches Chaos anrichtet, dachte Natasha empört. Seit Paul hatte sie keinen Freund mehr gehabt, und selbst damals hatte sie lange gezögert, bevor sie mit ihm ins Bett gegangen war. Letztlich hatte sie es doch getan, und es war nicht schön gewesen. In all den Jahren, in denen sie mit Paul zusammen gewesen war, hatte sie niemals ein so starkes Verlangen gespürt wie in den wenigen Minuten in Raouls Wagen.

„Absurd“, murmelte sie und suchte in den Bücherreihen nach einem Exemplar, das sie ablenken konnte. Plötzlich fiel ihr Blick auf einen großen, ledergebundenen Band. Die Geschichte der Familie d’Argentan. Sie zog das schwere Buch aus dem Regal, wischte etwas Staub beiseite und ging damit zum Sofa.

Eingewickelt in eine Decke, öffnete Natasha den harten Buchdeckel und blätterte neugierig durch die Seiten. Plötzlich fiel ihr Blick auf den Namen Regis. Seine Geburts- und Sterbedaten waren interessant: 1768 bis 1832. Während der Französischen Revolution war er also ein junger Mann gewesen. Dann las sie zu ihrer großen Überraschung plötzlich einen Namen, der ihr nur allzu bekannt war: Natasha de Saugure.

Der Name war nicht gedruckt, sondern eine handgeschriebene Notiz. Natasha lief ein Schauer über den Rücken. Sie war also nach einer ihrer Vorfahrinnen benannt. Ihr Vater hatte nie ein Wort darüber verloren. Natasha überprüfte die Lebensdaten ihrer Ahnin. 1775 bis 1860 – die Frau war sehr alt geworden. Aber in welchem Verhältnis stand sie zu Regis? Es gab keine Einzelheiten in dem Buch, nur den kurzen Eintrag. Wie seltsam, dass der Name meiner Namensvetterin dem Namen des Mannes hinzugefügt wurde, über den niemand reden mag, dachte Natasha, während sie die Seiten durchblätterte.

Nachdem sie eine Weile in dem Buch gelesen hatte, fühlte sie sich müde. Sie legte es beiseite, stand auf und gähnte. Es wurde Zeit, sich auszuruhen. Morgen würde sie nach weiteren Informationen suchen.

Auf dem Weg nach oben sah sich Natasha die Porträts an der Wand an. Darunter hing das Bild eines Mädchens mit grauen Augen in einem steifen Brokatkleid mit tiefem Ausschnitt. Natasha stockte der Atem, als sie den Namen auf der winzigen Bronzeplakette las. Es war Natasha de Saugure. Wen hat sie geheiratet? Ist sie glücklich gewesen? fragte Natasha sich unwillkürlich. In dem Bild strahlten die Augen ihrer Vorfahrin voller Hoffnung. Aber da war noch etwas anderes: Das Lächeln wirkte leicht melancholisch.

Natasha verharrte einen Moment vor dem Bild, seufzte dann und ging die restlichen Stufen hinauf zu ihrem Zimmer.

4. KAPITEL

Eine Woche verging, und noch immer hatte Natasha keine endgültige Entscheidung über ihre Zukunft getroffen. Verärgert stellte sie fest, dass sie kurz enttäuscht war, als es am Ende der Woche kein Lebenszeichen von Raoul gab. Doch sie verdrängte den Gedanken. Offenbar hatte er erkannt, wie befremdlich eine Affäre zwischen ihnen wäre. Immerhin waren sie vielleicht für das nächste halbe Jahrhundert Nachbarn.

Sie hatte keine Zeit gefunden, Nachforschungen über Regis d’Argentan und ihre Ahnin Natasha anzustellen, denn Monsieur Dubois war am Tag nach ihrem Dinner mit Raoul im Manoir aufgetaucht. Er war bewaffnet mit schweren Akten und Dokumenten, die sie unterzeichnen musste. Andere musste sie lesen, um sich mit dem Besitz ihrer Großmutter vertraut zu machen.

„Sie sollten das Appartement Ihrer Großmutter in Paris besuchen“, hatte der Notar geraten. So kam es, dass sie eine Woche später im Zug nach Paris saß.

Außer einer alten Schulfreundin kannte sie niemanden in der Stadt. Trotz dieser etwas abschreckenden Vorstellung war Natasha aufgeregt. Sie war auf dem Weg nach Paris in ihr eigenes Appartement. Seit sie die Stadt das letzte Mal mit ihren Eltern besucht hatte, war viel Zeit vergangen, und der Gedanke, Plätze wie den Louvre oder den Centre Pompidou wieder zu entdecken und die Champs Elysées entlangzuwandern, vertrieb ihre Befürchtungen.

Nachdem der Zug im Gare du Nord eingefahren war, stieg Natasha aus. Sie wollte gerade der Menge zum Eingang des Hauptbahnhofs folgen, als sie hörte, wie ihr Name gerufen wurde.

„Meine Güte“, rief sie aus, als sie Raoul erkannte. „Sie haben mich erschreckt.“

„Entschuldigen Sie bitte, das wollte ich nicht.“

„Woher wussten Sie, dass ich hier bin?“, fragte sie distanziert.

„Ich habe im Manoir angerufen, und Henri hat mir erzählt, dass Sie mit dem 450er fahren. Also bin ich hergekommen, um Sie abzuholen.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, erwiderte Natasha und hoffte, möglichst abgeklärt zu klingen. „Aber Henri hatte kein recht dazu.“ Das nächste Mal würde sie die ausdrückliche Anweisung hinterlassen, nichts über ihre Pläne zu verraten.

„Vermutlich dachte er, Sie würden gerne abgeholt werden“, sagte Raoul sanft, nahm ihren Koffer und legte ihr beschützend den Arm um die Schultern, als zwei schwer bepackte Rucksacktouristen beinahe mit ihr zusammengestoßen wären. „Ich nehme an, Sie kennen sich in Paris nicht sehr gut aus.“

„Das stimmt“, bestätigte sie und wünschte, sie könnte den inneren Aufruhr, den er in ihr auslöste, in den Griff bekommen. Als sie das Gleis entlanggingen, sah sie, dass Raoul einem älteren Mann in einem grauen Anzug ein Zeichen gab.

„Darf ich Ihnen Pierre vorstellen?“, fragte Raoul, als sie sich ihm näherten. „Er ist mein Chauffeur. Wir bringen Mademoiselle in das Appartement der de Saugures am Place Francois Premier.“ Natasha fühlte sich seltsam aufgeregt und verärgert zugleich. Wie konnte er es wagen, sich in ihr Leben zu drängen und alle Entscheidungen zu übernehmen?

Sie wollte gerade protestieren, da sah sie zufällig die lange Warteschlange bei den Taxis, woraufhin sie ihre Einwände für sich behielt. Es war einfacher und angenehmer, gefahren zu werden, auch wenn Raouls Verhalten unerträglich überheblich war. Ich werde ihm klar machen müssen, dass er mich nicht zu seinem Vergnügen in Paris herumschieben kann, dachte sie, als sie in den Bentley stieg, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Sie hatte ihre eigenen Pläne für ihren Besuch in Paris, und Raoul d’Argentan spielte darin keine Rolle.

Zumindest hatte er das bis jetzt nicht getan.

„Ich dachte, es würde Ihnen gefallen, hier zu Abend zu essen“, sagte Raoul ein paar Stunden später, als sie an einem kerzengeschmückten Tisch saßen und die Menükarten studierten.

Natasha war sich nicht sicher, wie es dazu gekommen war, dass sie nun mit Raoul im Laurent’s saß. Alles hatte sich so selbstverständlich entwickelt, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie die Zeit verflog. Erst hatte das Appartement sie verzaubert, das mitten in einem der schönsten Viertel von Paris lag. Es war groß, elegant und wunderschön eingerichtet. Die Haushälterin, Madame Duvallier, war eine große Frau mittleren Alters mit einem warmen Lächeln und Sinn fürs Praktische. Sie hatte viele Jahre für die alte Comtesse gearbeitet und Natasha herzlich willkommen geheißen. Auch Raoul hatte sie freundlich begrüßt, und Natasha wurde klar, dass er hier häufig Gast gewesen war.

Beim Candle-Light-Dinner im Laurent’s beschloss sie, etwas genauer nachzuhaken. „Haben Sie Grandmère oft in ihrem Appartement besucht?“, fragte sie.

„Ja, ziemlich oft. Sie und meine Eltern waren Freunde. Deshalb habe ich sie über die Jahre immer wieder gesehen. Vor kurzem hat sie mich in einigen geschäftlichen Angelegenheiten um Rat gebeten. Dass sie mir nicht erzählt hat, dass sie Sie als Erbin einsetzt, hat mich sogar etwas überrascht“, fügte er hinzu und gab Natasha wieder das Gefühl, ihr zu misstrauen.

„Weshalb hätte sie das tun sollen? Schließlich habe ich selbst es nicht gewusst.“

„Nein, aber …“ Er schwieg schließlich und schüttelte den Kopf. „Es ist nicht wichtig. Wir wollen uns den Abend nicht damit verderben, über Dinge zu grübeln, die wir ohnehin nicht ändern können.“

Er hatte recht: Es war sinnlos, sich Gedanken darüber zu machen, was die alte Comtesse wohl vorgehabt hatte. Besser war es, die angenehme Atmosphäre des Restaurants zu genießen.

„Beabsichtigen Sie, lange in Paris zu bleiben?“, Raoul nippte an seinem Champagner.

„Ich weiß es nicht. Aber ich werde mich sehr bald entscheiden müssen, ob ich in meinen alten Job zurückkehre. Erst einmal habe ich mir zwei Monate freigenommen. Danach muss ich eine klare Entscheidung für meine Zukunft treffen.“

„Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?“

„Ja, sehr. Sie hat mir sehr viel gegeben. Aber …“ Sie zögerte. Irgendetwas hielt sie davon ab, sich ihm anzuvertrauen.

„Ja?“, drängte er sanft. Er wollte unbedingt, dass sie sich ihm öffnete.

„Es kam alles so unerwartet. Als ich Khartum verließ, habe ich nicht damit gerechnet, dass mein Leben eine so seltsame Wendung nehmen würde.“

„Wie hätten Sie das auch ahnen sollen?“, erwiderte er. „Erscheinen Ihnen die Dinge nun in einem anderen Licht?“

„Ja.“ Sie schwieg kurz, ging dann das Risiko ein und erzählte ihm, wie sie sich fühlte. „Jetzt kommt es mir so vor, als würde es einen neuen Weg geben, dem ich folgen muss. Ganz sicher bin ich mir zwar noch nicht“, warf sie schnell ein. „Es ist noch zu früh, solch drastische Entscheidungen zu treffen. Aber wenn ich nicht hier bleibe – oder zumindest im Manoir –, dann muss ich das Anwesen wahrscheinlich verkaufen.“

„Das Manoir verkaufen?“ Raoul stellte sein Glas hart auf den Tisch. „Das können Sie nicht tun. Es gehört den de Saugures seit fast drei Jahrhunderten, das ursprüngliche Haus sogar noch viel länger. An einen Verkauf ist nicht zu denken.“ Sein Ton war scharf, seine dunklen Augen blitzten vor Wut.

„Ich weiß. Aber irgendwann ändern sich die Dinge“, erklärte Natasha nachdrücklich.

„Das ist lächerlich. Sie können nicht verkaufen.“

„Darf ich Sie daran erinnern, dass es Sie überhaupt nichts angeht, was ich mit meinem Eigentum tue“, sagte Natasha und richtete sich auf.

„Erinnern Sie mich, so viel Sie wollen“, erwiderte er, doch sie hielt seinem durchdringenden Blick stand. „Aber ich persönlich werde Ihnen das Leben zur Hölle machen, wenn Sie so etwas planen. Marie Louise würde sich im Grab umdrehen, wenn sie Sie hören könnte.“

„Ich wüsste nicht, wie Sie mich vom Verkauf abhalten wollen“, sagte Natasha herausfordernd. Es machte sie wütend, dass er sich einmischte. „Ich kann mit meinem Erbe tun und lassen, was ich will. Weder Sie noch irgendjemand anderes kann etwas dagegen unternehmen.“

„Vielleicht kann ich Sie nicht daran hindern“, sagte er leise und mit gefährlichem Unterton in der Stimme. „Aber Sie werden es bereuen, wenn Sie auch nur daran denken, das Manoir zu verkaufen.“

„Drohen Sie mir etwa?“ Natasha erwiderte provokativ seinen Blick.

„Ich warne Sie nur davor, dass Sie sich auf sehr dünnem Eis bewegen. Sie haben eine Verpflichtung gegenüber Ihrem Namen und Ihren Ahnen geerbt“, antwortete er scharf. „Als Engländerin verstehen Sie das sicherlich.“

„Sie sind unerträglich“, erwiderte Natasha hitzig, warf ihre Serviette auf den Tisch und erhob sich. „Ich mache mit meinem Eigentum, was ich will, und ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie mich in Ruhe ließen. Ich brauche weder Ihre Hilfe noch Ihren Rat. Gute Nacht.“ Sie ließ ihn sitzen und ging hoheitsvoll auf den Eingang des Restaurants zu.

Als der Türsteher sie fragte, ob sie ein Taxi wünsche, nickte sie dankbar. Innerlich schäumte sie vor Wut über die heftige Auseinandersetzung. Gleichzeitig versuchte sie, die unangenehme Wahrheit in Raouls Worten zu verdrängen: Sie fühlte tatsächlich eine Verantwortung gegenüber der Vergangenheit und ihrem Namen. Aber ich werde den Teufel tun und das ihm gegenüber zugeben, dachte Natasha ärgerlich, als sie ungeduldig auf das Taxi wartete.

Sie hat also doch Temperament. In Raouls Augen machte Natasha das nur noch attraktiver. Er würde nicht zulassen, dass sie sich solch lächerliche Ideen in ihr hübsches Köpfchen setzte. Das Manoir verkaufen, welch absurder Gedanke.

Nachdem er die Rechnung beglichen hatte, ging Raoul zum Eingang des Restaurants. In der Tür sah er Natasha stehen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Die kleine englische Lady war wirklich schwierig. Sie hatte sich nicht nur in eine beeindruckende Schönheit verwandelt, auch ihr Wesen wurde mit jedem Moment faszinierender. Er wies den Türsteher an, ihr Taxi abzubestellen, und näherte sich Natasha.

Excusez-moi, Mademoiselle, wenn Sie sich durch meine Worte angegriffen fühlten“, flüsterte er verschwörerisch. „Aber Sie müssen sich der Wahrheit stellen.“

Natasha wirbelte herum, ihre Augen funkelten. „Ich habe wirklich genug von Ihnen für einen Abend. Lassen Sie mich jetzt bitte allein. Ich habe nach einem Taxi rufen lassen und finde selbst in meine Wohnung zurück.“

„Aber der Türsteher hat mich gerade darauf aufmerksam gemacht, dass es um diese Uhrzeit unmöglich ist, ein Taxi in Paris zu bekommen“, erwiderte er schalkhaft.

„Tatsächlich? Vor fünf Minuten war das noch anders“, erklärte Natasha kühl.

„Die Dinge ändern sich sehr schnell in Paris. Man kann sich auf öffentliche Verkehrsmittel einfach nicht verlassen.“ Er nahm ihren Ellbogen und führte sie ein paar Schritte. „Ich möchte Sie lieber begleiten. Es gibt wirklich keinen Grund zur Aufregung, Natasha. Ich bringe Sie nur nach Hause, und ich habe das seltsame Gefühl, Sie sind nur böse, weil ich Sie auf etwas hingewiesen habe, das Sie selbst bereits wissen.“

Natasha fehlten die Worte. Wie konnte er das wissen? Und wie könnte sie die Wahrheit leugnen? Sie sah den Türsteher an, der ihr einen entschuldigenden Blick zuwarf. Noch war sie verärgert, weil Raoul sie durchschaut und manipuliert hatte. Aber ihr war klar, dass der Türsteher nun wohl kaum ein Taxi rufen würde, nachdem Raoul seinen Willen durchgesetzt hatte. Um eine peinliche Szene zu vermeiden, konnte sie nur noch gnädig nachgeben.

Einige Minuten später fuhren sie die Seine entlang, vorbei an berühmten Brücken und den schimmernden Lichtern der Boote und Schiffe auf dem Fluss.

„Wie wäre es mit einem Drink, bevor ich Sie bei Ihrem Appartement absetze?“, fragte Raoul und warf ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zu, während er den Wagen im Verkehr hielt. Sie wirkte ruhiger und gefasster, und er hatte nicht vor, sie schon nach Hause zu bringen. In dem Seidenkleid sah sie einfach zu verführerisch aus, ihr Haar floss wie Gold über ihre Schultern. Er hatte mit Clothilde Schluss gemacht und war nun frei wie ein Vogel. Außerdem konnte er den Kuss von neulich einfach nicht vergessen.

„Ich schlage vor, wir schauen in einer Bar des Plaza Athénée vorbei. Wenn Sie noch nie da gewesen sind, werden Sie die Dekoration sehr amüsant finden.“ Er zog sein Handy aus der Jacketttasche, und noch bevor Natasha etwas sagen konnte, hatte er schon einen Tisch reserviert.

„Ich habe nicht gesagt, dass ich mitkomme“, sagte Natasha, nachdem er das Telefongespräch beendet hatte.

„Haben Sie gegen jede gute Idee etwas einzuwenden?“, konterte er und lächelte schalkhaft. „Entspannen Sie sich, und lassen Sie sich treiben. Immerhin sind Sie in Paris. Genießen Sie es.“

Natasha seufzte. Er hatte gewonnen, und sie hatte tatsächlich Lust auf einen Drink. Es war ja nichts dabei, ihn in eine Bar in einem der besten Hotels von Paris zu begleiten.

Wenig später saßen sie in der Ecke der schummrigen Bar, und Raoul bestellte eine Flasche Dom Perignon. Es herrschte eine jugendliche, fröhliche Atmosphäre, und Natasha betrachtete fasziniert die Theke – die Nachbildung eines riesigen Eisblocks, der von innen beleuchtet war.

„Gefällt es Ihnen?“ Raoul folgte ihrem Blick. „Ganz interessant, oder? Ich komme gerne hierher.“

In diesem Moment erkannte er auf der anderen Seite des Raumes eine vertraute schlanke Gestalt. Raouls Hochstimmung verflog. Clothilde war wie immer in eine aktuelle Designerkreation gekleidet, wirkte elfengleich und lässig elegant. In ihren dunklen Augen flackerte unterdrückte Wut, als sie den Blick auf Raoul ruhen ließ. Er sah weg. Warum hatte er nicht daran gedacht, dass sie hier sein könnte? Er hoffte, sie sei zu stolz, ihm eine Szene zu machen.

Nur zwei Minuten später schlängelte sich Clothilde zwischen den Tischen hindurch und baute sich vor ihm auf. Langes dunkles Haar umrahmte ihr Gesicht, in der Hand hielt sie nervös eine Zigarette.

„Monsieur le Baron“, platzte es sarkastisch aus ihr hervor. „Welchem Umstand haben wir denn deine geschätzte Anwesenheit heute zu verdanken? Ich dachte, du wolltest dich in nächster Zeit aufs Land zurückziehen?“

„Guten Abend, Clothilde. Darf ich dir eine Bekannte aus England vorstellen, Natasha de Saugure.“

Non! Ich bin weder an deinen Freunden noch an deinen Lügen interessiert“, erwiderte Clothilde giftig und sah Natasha herablassend an. „Du bist ein Lügner und Betrüger, Raoul d’Argentan, und ich werde dafür sorgen, dass es ganz Paris erfährt. Seien Sie vor ihm auf der Hut“, fügte sie an Natasha gewandt hinzu. „Er ist der größte Bastard der ganzen Stadt.“ Dann machte sie auf ihren High Heels kehrt und stolzierte zu ihrem Tisch zurück.

Raoul seufzte und schüttelte den Kopf. „Entschuldigen Sie das bitte“, murmelte er. „Clothilde hat einen Sinn fürs Dramatische.“

„Wer ist sie? Ihre Freundin?“

„Exfreundin, sofern man es überhaupt so nennen kann. Wir sind eine Zeit lang miteinander ausgegangen, und sie hielt das Ganze für ernster, als es jemals war. Weshalb tun Frauen das immer wieder? Warum können sie nicht einfach die Dinge so akzeptieren, wie sie sind, und sie einfach genießen?“ Er schüttelte den Kopf.

„Vielleicht investieren die Frauen, mit denen Sie zusammen sind, einfach mehr in die Beziehung“, antwortete sie nicht ganz ernsthaft.

„Vielleicht. Aber es gab ja keine richtige Beziehung. Jedenfalls nicht von meiner Seite. Und ich habe das von Anfang an klar gemacht.“

„Manches fängt ganz unverbindlich an und vertieft sich mit der Zeit.“

Er zuckte die Schultern. „Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann. Ich habe Clothilde nie die Ehe oder auch nur eine gemeinsame Wohnung zugesichert. Ich verstehe nicht, weshalb sie sich so aufregt.“

„Sie scheint zu glauben, dass sie jede Menge Gründe dazu hat“, bemerkte Natasha knapp.

„Da sehen Sie es!“ Er hob die Hände. „Genau das meine ich. Es ist immer dasselbe mit Frauen – sie interpretieren in alles etwas hinein. Ich werde das nie verstehen!“

Natasha lächelte gezwungen und kam zu dem Schluss, dass es sinnlos war, das Thema weiterzuverfolgen. Clothildes Wutausbruch hatte sie zum Nachdenken gebracht. Raoul war offensichtlich ein alter Playboy, der es gewohnt war, seinen Willen durchzusetzen. Vielleicht sollte sie die Warnung der Frau ernst nehmen. Schließlich wusste Natasha von Raoul nur, dass er ihr Nachbar in der Normandie war.

Als sie später durch die ruhigen Straßen der Stadt zurück zum Appartement fuhren, hielt Natasha bewusst Abstand. Sie hatte ihre Lektion mit Paul gelernt: Sobald man jemandem vertraute, konnte es passieren, dass man hintergangen wurde. Und sie hatte kaum Grund, Raoul zu trauen.

Vor dem Gebäude mit ihrem Appartement hielt er an und parkte den Wagen. „Wie wäre es, wenn Sie mich noch auf einen Drink einladen?“

„Das halte ich für keine gute Idee. Ich bin sehr müde, und morgen ist ein langer Tag – ich habe Termine mit Grandmères Rechtsanwälten.“

„Sie treffen sich mit Perret, nehme ich an.“ Er nickte. „Alles in allem ein guter Mann, aber ich habe Marie Louise geraten, für rechtliche Fragen jemand anderen zu suchen.“

„Warum das?“

„Das erzähle ich Ihnen, wenn Sie mehr Zeit haben“, erwiderte er ausweichend.

Natasha hätte sich am liebsten geohrfeigt, weil sie ihm in die Falle gegangen war.

„Gut … also, ich gehe dann besser.“ Sie wollte die Beifahrertür öffnen, doch er beugte sich über sie und blockierte die Tür.

„Nicht so schnell, ma belle“, flüsterte er mit rauer Stimme. „Du kannst es doch nicht so eilig haben.“

„Ich …“ Natasha spürte, wie ihr Körper reagierte. Wieso brachte dieser Mann sie dazu, anders zu handeln, als sie sollte? Seine Hand glitt in ihren Nacken, und er zog sie an sich heran. Er hinterließ eine Spur federzarter Küsse auf ihrer Wange, ließ seine Lippen über ihren Mund und ihren Hals zu ihren Brüsten gleiten. Statt ihn abzuwehren, stöhnte Natasha voller Verlangen auf.

Es war, als könnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Sie wusste, dass sie ihm nicht so viel Freiheit zugestehen sollte. Aber sie konnte sich ihm nicht widersetzen, als er ihre Brustspitzen liebkoste und ihren Mund mit leidenschaftlichen Küssen verschloss. Wie neulich in der Nacht spürte sie etwas Neues in sich, als hätte er einen unsichtbaren Knopf gedrückt, den er völlig unter Kontrolle hatte. Er ließ die Hände unter ihr Top gleiten, und Natasha schnappte nach Luft, als sie seine Finger auf ihrer Haut spürte. Er streichelte sie zärtlich, so dass sie sich voller Sehnsucht unter seiner Berührung wand und ihr tiefes Verlangen und den Wunsch nach Erfüllung immer stärker spürte. Sie wollte alle Vorsicht vergessen und ihn einfach gewähren lassen.

Doch die Vernunft gewann die Oberhand, und Natasha entzog sich widerwillig seiner Umarmung. Sie strich ihr Kleid glatt und sagte mit zittriger Stimme: „Wir sehen uns besser nicht mehr wieder. Das hier … es sollte nicht passieren. Ich … wir sind Nachbarn. Wir sollten … Ich meine …“

Raoul legte seine Hand auf die ihre und lehnte sich zurück. „Hast du Angst?“

„Ich … ich weiß nicht. Mir geht das alles zu schnell. In den letzten Tagen ist einfach zu viel passiert. Ich komme da nicht mehr mit.“

„Du hast Angst davor, Spaß zu haben?“, fragte er. Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen. „Was ist falsch daran?“

„Hör zu, ich kann damit umgehen, verstanden?“, sagte sie, plötzlich völlig außer sich. Tränen der Frustration und Verwirrung stiegen in ihr auf, als sie nach der Türklinke griff. „Ich will jetzt gehen.“

„Natürlich“, sagte er leicht irritiert. Diese Reaktion hatte er nicht erwartet.

Er stieg schnell aus dem Wagen und öffnete die Tür. „Ich sage Gute Nacht und Au revoir, aber nicht Lebewohl. Wir werden uns wiedersehen, und wenn du nicht willst, dass ich dich küsse, werde ich es nicht tun“, sagte er und streichelte ihr sanft über die Wange. „Beruhige dich. Es war nur ein kleines Spiel, nicht mehr.“

„Gut.“ Natasha atmete tief ein.

„Ich rufe dich an. Vielleicht kann ich dir ein paar Sehenswürdigkeiten zeigen. Oder wir könnten mal zum Lunch aufs Land fahren.“

Er klang freundlich und bestimmt, und Natasha fragte sich unwillkürlich, ob sie geträumt hatte. War der Mann, der ihr so beiläufig gute Nacht wünschte, derselbe, der sie gerade eben noch leidenschaftlich im Arm gehalten hatte?

Kaum hatte Natasha den Fahrstuhl betreten, lehnte sie sich an die Wand und seufzte erleichtert auf. Dennoch konnte sie das innere Chaos nicht verleugnen, das heiße Verlangen, das noch immer in ihrem Körper pulsierte. Ich muss mich von ihm fern halten, bevor ich mich noch zur Närrin mache, dachte sie. Vielleicht würde sie nach den Terminen am nächsten Tag zu ihrer Villa nach Südfrankreich fahren. Das gäbe ihr Zeit, durchzuatmen und besser zu verstehen, was in den letzten Tagen geschehen war. Und es würde ihr helfen, Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen.

Als sie ihr Stockwerk erreichte, stieg sie aus, ging in ihr Appartement und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. In kurzer Zeit war so viel passiert, dass sie kaum Schritt halten konnte. Die Gefühle, die die Momente in Raouls Armen aufflammen ließen, waren so verwirrend wie alles andere auch.

Oder sogar noch mehr.

5. KAPITEL

Das Treffen mit Monsieur Perret dauerte lang und war ziemlich langweilig. Immer wieder ging er Geschäfte und Papiere durch, so dass sich Natasha fragte, ob Raoul vielleicht recht hatte und sie sich einen etwas effizienteren Rechtsanwalt suchen sollte. Für den Augenblick wollte sie allerdings nur Paris und Raoul entkommen. Es war sehr demütigend, daran zu denken, dass er sie nur berühren musste, und schon entflammte die Leidenschaft in ihr. Ein bloßer Kuss und die Berührung seiner erfahrenen Hände ließen sie vor Verlangen erbeben. Es war beschämend.

Doch selbst als sie ihre Tasche packte, stellte Natasha fest, dass sie den Abend zuvor nicht so einfach verdrängen konnte, wie sie es sich wünschte. Ich muss mich besser im Griff haben, dachte sie und zog den Reißverschluss der Tasche zu. Stell dir vor, das passiert dir jedes Mal, wenn dich ein Mann berührt! Aber warum ging es mir mit Paul nie so? fragte sie sich, als sie in ihr Taxi stieg.

Im Zug las Natasha die Zeitung, fest entschlossen, nicht an Raoul und seine faszinierende Aura zu denken. Sie musste sich mit so viel Neuem in ihrem Leben beschäftigen, dass sie es sich nicht leisten konnte, sich von solchem Blödsinn ablenken zu lassen.

Einige Stunden später kam der Zug in Nizza an. Natasha fuhr per Taxi in das mittelalterliche Städtchen Eze. Die atemberaubende Villa im mediterranen Stil stand auf einem kleinen Plateau zwischen dem Meer und den Bergen. Das Anwesen war spektakulär. Natasha wusste sofort, dass sie sich von diesem Ort nicht leicht würde trennen können.

Madame Bursin, die Haushälterin, hatte einen herrlichen Raum vorbereitet, der ganz in hellblauen und weißen Farbtönen dekoriert war. Plötzlich schien die Zeit rückwärts zu laufen, und Natasha erinnerte sich, wie ihr Vater ihr von den vielen schönen Sommern erzählt hatte, die er in seiner Jugend hier verbracht hatte. Welch ein Jammer, dass ihre Großmutter Natasha und ihre Familie aus ihrem Leben verbannt hatte. Sie hätten hier wunderbare Zeiten miteinander verleben können.

Doch es war sinnlos, die Vergangenheit zu betrauern. Natasha zog ihren knappen weißen Bikini an und ging hinaus zu dem Pool, der über dem glitzernden Mittelmeer lag. Sie wusste, dass sie dieser Aussicht nie müde werden würde.

Natasha ließ sich lächelnd auf eine Sonnenliege sinken. Sie fühlte sich jetzt besser und wieder Herrin der Lage, war sogar ein bisschen stolz auf sich. Sie hatte sich Raoul entzogen und konnte nun zu sich selbst finden.

„Was soll das heißen, sie ist weg?“, fragte Raoul schroff.

„Es tut mir leid, sie ist nicht mehr hier, Monsieur le Baron. Nach den Gesprächen mit Monsieur Perret heute Morgen ist sie abgereist.“

„Hat sie gesagt, wohin?“ Raoul trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Teakholzschreibtisch seines Pariser Büros. Das hier lief nicht nach Plan.

„Nein, darüber hat Mademoiselle kein Wort verloren.“

„Danke“. Er legte auf und drehte sich in seinem Ledersessel herum. Seine Miene war finster. Natasha rannte vor ihm davon. Der Gedanke verärgerte und faszinierte ihn zugleich. Frauen taten das niemals. Normalerweise suchten sie Ausreden, um ihn wiederzusehen. Er musste herausfinden, wo sie sich aufhielt, auch wenn er keine Ahnung hatte, weshalb ihn das überhaupt interessierte. Vielleicht wurde er einfach nicht gern zurückgewiesen. Obwohl er wusste, dass es nicht klug war, hatte er die Absicht, sich auf eine Affäre mit Natasha einzulassen oder zumindest ein paar Mal mit ihr zu schlafen, um sein Verlangen zu stillen. Er hatte das Gefühl, dass sie beide es genießen würden. Das zeigte ihm die Art, wie sie auf ihn reagierte und ihr Körper geschmeidig und willig wurde, sobald er nur ihre Brust berührte. Weshalb lief sie also davon?

Er schnaufte verächtlich. Frauen waren ihm ein Rätsel, wie er letzte Nacht nach Clothildes hysterischem Anfall bemerkt hatte. Aber das half ihm nicht weiter.

Der Morgen ging vorüber, und Raoul war zunehmend frustriert darüber, dass es kein Zeichen über Natashas Verbleib gab. Mittags rief er ungeduldig beim Manoir an, erhielt aber wieder eine negative Antwort.

Ob sie nach England zurückgekehrt ist? fragte er sich unwillkürlich. Er sah auf die Uhr, da er mit seiner Cousine Madeleine im Relais Plaza zum Lunch verabredet war.

Pünktlich betrat er das Restaurant. Der Oberkellner begrüßte ihn und führte ihn zu seinem Tisch am Fenster. Zwei Minuten später traf Madeleine ein. Er erhob sich, um sie zu begrüßen, und kurze Zeit später tranken sie Champagner.

„Also, mein Guter, wie spielt dir das Leben so mit?“, fragte sie amüsiert lächelnd.

„Gar nicht so schlecht. Hast du gehört, dass Marie Louise de Saugure gestorben ist?“

„Ja, ich habe den Nachruf gelesen. Eigentlich wollte ich zur Beerdigung kommen, aber Frederics Examen hat mich aufgehalten. Erzähl mir davon.“

„Oh, es war beeindruckend – ihre alten Gefolgsleute säumten die Straßen, als der Wagen vorbeifuhr. Genau so, wie es sein sollte.“

„Meine Güte, du bist so altmodisch“, bemerkte Madeleine kopfschüttelnd. „Wie unser Vorfahre Regis, wette ich, und mindestens genauso schlimm.“

„Das ist reine Spekulation.“

„Tatsächlich? Ich frage mich, ob seine Geliebte das auch so sah.“

„Die schöne Natasha?“

„Ja. Ich habe mich immer gefragt, warum die beiden nie geheiratet haben. Es kam mir so dumm vor. Alles nur aus falschem Stolz. Männer sind einfach Esel.“

„Du redest Unsinn, Madeleine.“

„Vielleicht, aber die Legende hat mich immer fasziniert. Wenn ihr das Porträt im Manoir nur halbwegs ähnlich ist, war sie eine echte Schönheit. Das hätte sie ausnutzen sollen, um ihn zu betören.“

„Was für eine Vorstellung. Er wäre nie darauf eingegangen.“ Raoul erinnerte sich plötzlich an das Gemälde. Er war sich sicher, dass es der jetzigen Natasha ähnelte.

„Ich werde Marie Louise und ihre ätzenden Bemerkungen vermissen“, seufzte Madeleine und studierte die Menükarte. „Sie war eine wunderbare alte Dame. Wer ist denn der Erbe?“

„Eine Enkelin aus England“, erwiderte er glatt.

„Wirklich? Ich hatte ganz vergessen, dass die Comtesse einen Sohn hatte.“

„Er war eine ganze Ecke älter als wir, weshalb wir uns nicht so gut an ihn erinnern. Er hat außerhalb seines Standes geheiratet, eine Engländerin ohne Verbindungen. Die Comtesse war entsetzt.“

„Und hat ihn aus ihrem Testament gestrichen?“

„Genau. Kurz vor ihrem Tod hat sie aber offenbar ihre Meinung geändert. Und jetzt hat die Enkelin, die sie nicht einmal gekannt hat und die erst einige Stunden vor ihrem Tod zu Besuch aufgetaucht ist, alles geerbt.“

„Interessant. Wie heißt das Mädchen?“

„Natasha.“

Autor

Catherine Spencer
<p>Zum Schreiben kam Catherine Spencer durch einen glücklichen Zufall. Der Wunsch nach Veränderungen weckte in ihr das Verlangen, einen Roman zu verfassen. Als sie zufällig erfuhr, dass Mills &amp; Boon Autorinnen sucht, kam sie zu dem Schluss, diese Möglichkeit sei zu verlockend, um sie verstreichen zu lassen. Sie wagte den...
Mehr erfahren
Fiona Hood Stewart
Mehr erfahren
Susan Stephens
<p>Das erste Buch der britischen Schriftstellerin Susan Stephens erschien im Jahr 2002. Insgesamt wurden bisher 30 Bücher veröffentlicht, viele gehören zu einer Serie wie beispielsweise “Latin Lovers” oder “Foreign Affairs”. Als Kind las Susan Stephens gern die Märchen der Gebrüder Grimm. Ihr Studium beendete die Autorin mit einem MA in...
Mehr erfahren