Julia Gold Band 93

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VERLIEBT IN DEN BOSS? von HELEN BROOKS

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  • Erscheinungstag 10.07.2020
  • Bandnummer 93
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715113
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Helen Brooks, Cathy Williams, Jessica Steele

JULIA GOLD BAND 93

1. KAPITEL

Warum hatte sie sich nur darauf eingelassen? Wie hatte sie nur so dumm sein können? Das Sprichwort vom Hochmut, der vor dem Fall kam, würde sich heute wieder einmal bitter bewahrheiten. Sie hätte viel früher aus der Sache aussteigen müssen. Eine höfliche Absage hätte doch völlig genügt …

Seufzend musterte sich Kim in dem großen Wandspiegel in ihrem Schlafzimmer. Normalerweise schenkte sie ihrem Spiegelbild keine so große Aufmerksamkeit, sondern prüfte nur kurz, ob ihr Make-up nicht verschmiert war und ihre Seidenstrümpfe keine Laufmasche aufwiesen. Doch heute war kein normaler Tag. Heute musste sie, Kim Abbott, von Kopf bis Fuß picobello aussehen.

Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Doch, die Farbe des Kostüms passte zu ihren dunkelbraunen Augen, die etwas unsicher unter den goldbraun schimmernden Ponyfransen hervorblickten.

Aber hätte sie statt des kornblumenblauen Kostüms nicht lieber etwas Unauffälligeres anziehen sollen? Die gedeckten Grautöne, die sie sonst bevorzugte, hatten den Vorteil, ihre üppigen Kurven, verteilt auf einsachtzig ohne Schuhe, geschickt zu kaschieren. Sie war nun mal keine Elfe, wie ihr Vater liebevoll zu sagen pflegte.

Ihre Mutter hingegen pflegte ihre Rolle als enttäuschte Mutter. Sie hatte ihrer Tochter bis heute nicht verziehen, dass sie sich von dem süßen kleinen Babymädchen im Spitzenkleidchen schon bald in ein tollpatschiges Kleinkind verwandelt hatte, das dann rasant in die Höhe schoss.

Stirnrunzelnd konzentrierte Kim sich wieder auf ihr blaues Kostüm. Sie würde es anbehalten müssen, denn zum Umziehen blieb jetzt keine Zeit mehr. Schließlich durfte sie nicht zu spät zu ihrem Termin mit Ben West erscheinen.

Ben West! Ihr Magen verkrampfte sich. Vor zehn Tagen hatte sie die Einladung zum Vorstellungsgespräch im Chefbüro von West International erhalten. Seitdem überkam sie jedes Mal Panik, wenn sie nur daran dachte. Sicher, sie hätte absagen können.

Aber das hatte sie nicht getan. Und alles nur wegen Kate Campion! Der schönen, hochnäsigen, schlanken Kate, Sekretärin des Leiters der Finanzbuchhaltung, die sie „Amazone Abbott“ genannt hatte. Und das war durchaus nicht als Kompliment gemeint.

Kims volle Lippen wurden schmal vor Unmut, als sie an den unerfreulichen Vorfall vor einigen Wochen dachte. Sie war gerade in einer der Toilettenkabinen gewesen, als Kate und deren Freundinnen in der Mittagspause kichernd und schwatzend in die Damentoilette gestürmt kamen, um vor dem Spiegel ihr Make-up aufzufrischen. Aus ihrem Versteck heraus hatte Kim gehört, wie eins der Mädchen fragte: „Und du bist sicher, dass er sie fallen gelassen hat und nicht umgekehrt, Kate?“

„Wie bitte?“ Das war Kate. „Amazone Abbott soll einem so umwerfenden Typen wie Peter Tierman den Laufpass gegeben haben? Da hat er mir aber etwas ganz anderes erzählt, als er mich für heute Abend zum Dinner einlud.“

„Was?“, riefen alle im Chor. „Du bist mit Peter verabredet?“

„Ja. Er wollte mich schon seit einer Ewigkeit einladen. Er wusste nur nicht, wie er es der Amazone schonend beibringen sollte. Sie mag ja fünf Meter groß sein, aber sie muss wie eine Klette an ihm gehangen haben. Er hat sich doch nur aus Mitleid mit ihr abgegeben. Aber jetzt bin ich kurz vorm Verhungern. Lasst uns essen gehen!“

Das Klappern ihrer Stilettos entfernte sich, und nur eine penetrante Parfümwolke hing noch im Raum, als Kim glühend vor Zorn aus ihrer Kabine kam.

Wie konnten ihre Kolleginnen es wagen, so über sie herzuziehen? Und dann Peters dreiste Lügen! Sie war es gewesen, die vor zwei Tagen mit ihm Schluss gemacht hatte. Weil sie keine Lust mehr hatte, sich ständig seine Lobhudeleien auf sich selbst anzuhören.

Peter sah wirklich gut aus, aber er war auch furchtbar eingebildet. Dies und die Tatsache, dass er seine Hände nicht bei sich behalten konnte und immer beharrlicher versucht hatte, sie ins Bett zu bekommen, hatte Kim dazu bewogen, sich von ihm zu trennen. Was sie im Übrigen schon viel früher hätte tun sollen. Schließlich hatte sie schon nach der zweiten Verabredung gewusst, dass er nicht der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Doch seit der Sache mit David hatte sie über die Jahre hinweg so vielen Männern einen Korb gegeben, dass sie sich vorgenommen hatte, diesmal länger durchzuhalten. Ein gravierender Fehler, wie sich nun gezeigt hatte.

Sie war in ihr Büro zurückgekehrt, hatte lustlos ihr Sandwich gegessen und sich den Kopf darüber zerbrochen, was sie unternehmen sollte. Am besten gar nichts, hatte sie beschlossen. Sie wollte Peters Lügen lieber unkommentiert lassen. Früher oder später würde sich schon noch eine Gelegenheit bieten, die Sache ruhig und sachlich klarzustellen. Mit dem Spitznamen würde sie wohl oder übel leben müssen. Sie hatte immer gewusst, dass Kate sie nicht mochte. Vielleicht, weil sie selbst keinerlei Ambitionen hatte, Kates intriganter Clique beizutreten.

Am nächsten Tag schon war ihr zu Ohren gekommen, dass Kate sich um den absoluten Spitzenjob innerhalb der Firma West International bewarb, und zwar als Assistentin von Ben West, dem großen Firmenboss höchstpersönlich. Und plötzlich hatte Kim ein kleiner Teufel geritten, der ihr zugeflüstert hatte, so gut wie Kate Campion sei sie schon lange und warum sie nicht ebenfalls ihr Glück versuche.

Und genau das hatte sie getan. Die halbe Nacht hatte sie an ihrer Bewerbung gefeilt, um sie dann gleich am nächsten Morgen einzureichen. Natürlich hatte sie ihren Schritt gleich darauf bereut, sich aber gesagt, dass sie ohnehin nie wieder etwas davon hören würde. Bestenfalls würde eine dieser höflichen Standardabsagen in ihren Briefkasten flattern.

Jetzt atmete sie ein letztes Mal tief durch, wandte sich vom Spiegel ab und nahm ihre Handtasche. Der Hauptsitz der Firma West International, die Niederlassungen in ganz Europa und Amerika hatte, befand sich in einem supermodernen Londoner Bürogebäude in der Nähe des Hyde Park, aber Kim war noch nie dort gewesen. Sie selbst arbeitete seit zwei Jahren als Sekretärin des Direktors der Verkaufsabteilung, die in einem Vorort von London angesiedelt war.

Nach Abschluss ihres Studiums hatte sie zunächst einen recht anspruchslosen Bürojob angenommen. Er sollte nur als Überbrückung dienen, bis David, ihr Verlobter, und sie heiraten würden. Sie hatte David gleich in der ersten Woche an der Uni kennengelernt, und seitdem hatten sich ihre Träume nur noch um ihn gedreht.

Wie dumm von ihr! Denn damals hatte sie auf die harte Tour gelernt, dass Männer dies sagten und jenes meinten. Dass ihnen einfach nicht zu trauen war.

Sie musste los, die Zeit drängte. In der sonnendurchfluteten Diele hielt sie noch einmal kurz inne und sah sich um. Sie liebte ihre kleine Wohnung. Gleich nachdem sie die Stelle bei West International bekommen hatte, war sie hierher gezogen. Wenn sie keine Lust hatte, mit dem Auto zu fahren, war sie von hier aus in einer Viertelstunde zu Fuß im Büro. Und Alan Goode, ihr Chef, war ein netter, umgänglicher Mann, mit dem sie großartig auskam. Sie hatte gute Freunde und ein einigermaßen geselliges Privatleben. Sie war zufrieden.

Nicht glücklich, aber zufrieden. Sie zog die Wohnungstür hinter sich zu und durchquerte den großzügigen Hausflur des viktorianischen Altbaus, in dem sie die Parterrewohnung bewohnte. Nach der schlimmen Zeit, die sie nach der Trennung von David durchgemacht hatte, war zufrieden schon sehr viel.

Sie würde keine weiteren Versuche wagen, ein „normales“ Leben zu führen, wie ihre Mutter es nannte. In den Augen ihrer Mutter war jeder, der mit fünfundzwanzig noch nicht verheiratet oder fest liiert war, nicht normal. Aber Kims Bedarf war gedeckt. Ein Fehler wie mit Peter würde ihr nie wieder passieren.

Sie trat auf die ruhige Straße hinaus und ging zu ihrem Mini, der am Straßenrand parkte. Es hatte auch Vorteile, allein und ungebunden zu sein. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Keine öden Samstagnachmittage mehr bei Wind und Wetter mit David auf dem Fußballplatz, kein Mann, hinter dem sie zurückstehen musste, keiner, der ihr mit seiner schlechten Laune den Tag verdarb.

Beim Einsteigen fragte sie sich, warum sie heute eigentlich ständig an David denken musste. In letzter Zeit hatte sie kaum noch an ihn gedacht, und wenn, dann mit einem Gefühl der Dankbarkeit, dass sie noch einmal davongekommen war. Der Mann, den sie in ihm gesehen hatte, hätte sich ihr gegenüber niemals so grausam verhalten, wie David es getan hatte. Sie hatte ihn im Grunde gar nicht gekannt, wie ihr in den Wochen und Monaten nach der Trennung erschreckend klar geworden war. Eine niederschmetternde Erkenntnis, aus der sie eine wichtige Lehre gezogen hatte: Niemand konnte jemals sicher wissen, was ein anderer dachte oder fühlte.

Sie straffte die Schultern und ließ den Motor an. Es war Zeit, zum Bahnhof zu fahren und den Zug in die City zu nehmen. Sie würde das Vorstellungsgespräch so gut wie möglich hinter sich bringen und es dann vergessen.

Immerhin war sie, im Gegensatz zu Kate, dazu eingeladen worden. Der Anflug eines Lächelns stahl sich auf ihre Lippen. Kate hatte Gerüchten zufolge einen Tobsuchtsanfall bekommen, als sie davon erfahren hatte. Oh, tat das gut! Mit einem breiten Lächeln im Gesicht fuhr Kim los.

Anderthalb Stunden später saß sie im Büro von Ben Wests derzeitiger Sekretärin, einer attraktiven und unübersehbar hochschwangeren jungen Frau. Kim war einige Minuten zu früh erschienen und bekam gerade noch mit, wie die Bewerberin vor ihr ins Allerheiligste gebeten wurde. Die Frau war groß, schlank und hervorragend gekleidet, doch ihr strahlendes Hundert-Watt-Lächeln galt allein Mr. Wests Sekretärin. Für Kim hatte sie nur einen geringschätzigen Blick übrig, der besagte, dass sie diese Konkurrenz wohl nicht zu fürchten brauche.

Kim gab ihr im Stillen recht. Sie selbst war offenbar die Verlegenheitskandidatin in dieser Runde. Wenn Ben West so blitzgescheit und dynamisch war, wie man ihm nachsagte, würde er es auf den ersten Blick sehen. Sie machte sich auf ein sehr kurzes Gespräch gefasst.

Das Bürogebäude mit seinen dicken Teppichböden und gläsernen Lifts war so repräsentativ, wie man es vom Hauptsitz eines weltweit operierenden Unternehmens erwarten durfte. Kim wusste, dass Ben West, kaum den Kinderschuhen entwachsen, seine erste Million mit Immobiliengeschäften verdient und sein Unternehmen dann erweitert hatte. Sein zweites Standbein, die Produktion dekorativer Innenausstattung für den Wohn- und Geschäftsbereich, war marktführend in der westlichen Welt.

Kim hatte noch nie ein Foto von ihm gesehen, aber dank des Büroklatsches wusste sie in etwa, was auf sie zukam. Ben West war Ende dreißig, ein energiegeladener Macher, bekannt für seine Skrupellosigkeit und seine zähe Entschlossenheit. Er war geschieden, hatte ein Kind. Und eine lange Reihe von Freundinnen. Es hieß, er sei attraktiv. Doch Kim wusste, dass in den Augen vieler Frauen Macht und Reichtum einen Mann attraktiv machten, egal, wie er aussah.

Gedankenverloren blätterte sie in einem der Hochglanzmagazine, die im Wartebereich auslagen. Die Sekretärin hatte ihr telefonisch eine Tasse Kaffee bestellt, was Kim beeindruckend fand. Als Ben Wests Assistentin brauchte man offenbar den Kaffee nicht selbst zu kochen. Serviert wurde er in einer hauchdünnen Porzellantasse, was das Gebräu im Pappbecher, das es in ihrem eigenen Büro gab, gleich noch ungenießbarer erscheinen ließ.

Sie hatte kaum zwei Schlucke getrunken, als die Hundert-Watt-Dame mit finsterer Miene aus dem Chefbüro gestürmt kam. Ihr Gespräch schien nicht allzu gut verlaufen zu sein. Ohne weitere Nettigkeiten mit Mr. Wests Sekretärin auszutauschen, strebte sie mit hochrotem Kopf dem Ausgang zu.

Sie war gerade zur Tür hinaus, da summte die Telefonanlage auf dem Schreibtisch der Sekretärin. „Pat?“, ertönte eine tiefe, vor Ärger bebende Stimme. „Sagten Sie nicht, Sie hätten die besten Bewerberinnen ausgewählt? Wenn das die besten sind, dann wage ich mir nicht vorzustellen, wer noch alles kommt. Ich hoffe, es ist wenigstens eine darunter, die nicht komplett unterbelichtet ist.“

Kim sah, wie die Sekretärin mit einem schnellen Blick in ihre Richtung auf einen Knopf drückte, während sie so etwas wie „hoch qualifiziert“ in den Hörer murmelte. Sie sprach so leise, dass Kim die Ohren spitzen musste, um sie zu verstehen. „Ja, noch eine heute Vormittag. Sie wartet bereits. – Ja, in Ordnung. Und vergessen Sie nicht, Sie sind um eins zum Lunch verabredet.“

„Miss Abbott?“ Die Sekretärin hatte aufgelegt. „Mr. West erwartet Sie.“

„Danke.“ Kim stand auf. „Soll ich versuchen, sein Vertrauen in den weiblichen Teil der Menschheit wiederherzustellen?“, fragte sie lächelnd, als sich ihre Blicke trafen. Es wäre sinnlos gewesen, so zu tun, als hätte sie nichts gehört.

Pat lächelte zerknirscht. „Zwei der Bewerber sind Männer, und die hatten auch kein Glück. Es ist nicht immer leicht, Mr. West zufriedenzustellen.“

Es schien geradezu unmöglich, Mr. West zufrieden zu stellen, aber das behielt Kim für sich. Die Sekretärin öffnete die Tür zum Chefbüro. „Miss Abbott, Mr. West.“

Als sie das helle, großzügige Büro betrat, fielen Kim mehrere Dinge gleichzeitig auf. Die riesige Fensterfront mit der atemberaubenden Aussicht auf die Stadt, die geschmackvolle Einrichtung – nun, kein Wunder! – und die angenehme Ruhe, obwohl das Büro an einer der viel befahrenen Straßen lag. Von Ben West, der mit dem Rücken zum Fenster hinter seinem Schreibtisch thronte, konnte sie im Gegenlicht nur die dunkle Silhouette erkennen. Somit war jeder Besucher von vornherein im Nachteil, was von Ben West vermutlich beabsichtigt war.

„Guten Morgen, Miss Abbott. Bitte, nehmen Sie Platz.“ Er erhob sich, schüttelte ihr die Hand und deutete auf einen Stuhl seitlich von seinem Schreibtisch.

Kim war froh, sich setzen zu können. Wenn das Büro schon beeindruckend war, so der Mann erst recht. Jetzt, da sie ihn deutlicher sehen konnte, bemerkte sie, dass er auf schroffe, unkonventionelle Art gut aussah. Mit seinem dichten schwarzen Haar, an den Schläfen von feinen Silberfäden durchzogen, und den leuchtend blauen Augen wirkte er sprühend vor Energie. Er war ausgesprochen gut gekleidet, sein Hemd und sein Jackett eindeutig Designerware. Das Faszinierende aber war, wie die Sachen an seinem großen, durchtrainierten Körper zur Geltung kamen.

Gewöhnt, den meisten Männern problemlos in die Augen oder sogar auf den Scheitel blicken zu können, stellte Kim überrascht fest, dass Ben West sie um gut zehn Zentimeter überragte. Und dann diese überwältigende männliche Ausstrahlung! Hinter einem Büroschreibtisch wirkte er völlig fehl am Platz. Ein Mann wie er schien eher dazu geschaffen, Berggipfel zu erklimmen oder mit Krokodilen zu kämpfen.

Er lehnte sich zurück und kam direkt zum Thema: „Sie wollen also für mich arbeiten, Miss Abbott. Und warum, wenn ich fragen darf?“

Kim sah ihn ratlos an, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Ihr war klar, dass sie gerade dabei war, sein Vorurteil über unterbelichtete Bewerberinnen zu untermauern. „Wie ich in meinem Anschreiben erwähnte“, betete sie ihre einstudierte Antwort herunter, „arbeite ich seit zwei Jahren in der Niederlassung in Surrey. Durch meine Arbeit habe ich umfassende Einblicke in die Arbeitsweise der Firma West International und die Gründe für ihren weltweiten Erfolg gewonnen. Die Arbeit gefällt mir, aber es ist an der Zeit, mich neuen Herausforderungen zu stellen.“

Ben West schwieg, doch sie widerstand der Versuchung, einfach weiterzubrabbeln. Sie würde den Job sowieso nicht bekommen, aber sie musste sich auch nicht komplett lächerlich machen.

„Eine Antwort wie aus dem Lehrbuch“, urteilte er, doch es klang nicht wie ein Lob. „Die anderen haben genau dasselbe gesagt.“

Kim beschloss, dass sie ihn nicht ausstehen konnte. „Das tut mir leid.“

„Entschuldigen Sie sich nicht, lassen Sie sich lieber etwas Originelles einfallen.“

Ihr ging gerade ein sehr origineller Gedanke durch den Kopf, doch der hätte ihm sicher nicht gefallen. Da sie ihren derzeitigen Job gern behalten wollte und er ihr oberster Chef war, begnügte sie sich also mit einem steifen: „Mich reizt die größere Verantwortung und die Aussicht auf gelegentliche Dienstreisen.“

„Überrascht es Sie, dass ich auch diese Antwort schon kenne?“

Sie konnte ihn definitiv nicht ausstehen. „Nein, das überrascht mich nicht.“

„Oh, und warum nicht?“

„Wenn Sie Ihre Mitmenschen für unterbelichtete Trottel halten, müssen Sie sich nicht wundern, wenn sie sich auch so benehmen“, erwiderte sie scharf. Kim bereute es auf der Stelle, weniger um ihrer selbst willen als aus Sorge, die Sekretärin in Schwierigkeiten gebracht zu haben. Ben West war es nicht gewöhnt, dass man ihm Paroli bot, das sah sie ihm an.

„So …“, er beugte sich vor und musterte sie scharf aus seinen blauen Augen, „… Sie haben also mitgehört.“

Sie nickte. Sollte er sie doch feuern. Sie würde es überleben.

„Dann bitte ich um Verzeihung. Das war kein glücklicher Einstieg in ein Vorstellungsgespräch“, sagte er ruhig.

Kim blinzelte vor Verblüffung über die unerwartete Entschuldigung. Sie räusperte sich. „Kein Problem, Mr. West. Offenbar entspreche ich ebenso wenig Ihren Erwartungen wie meine Mitbewerber, aber trotzdem vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.“ Als sie sich erhob, sah sie, wie sich seine Augen verengten.

„Wo wollen Sie hin?“

Sie errötete. „Ich hielt das Gespräch für beendet.“

„Irrtum, es hat noch gar nicht angefangen.“ Unter seinem durchdringenden Blick sank sie auf ihren Stuhl zurück. „Also, ich frage Sie jetzt noch einmal, und ich erwarte eine ehrliche Antwort. Warum wollen Sie für mich arbeiten, Miss Abbott?“

Ihre Wangen glühten. „Meine Antwort war ehrlich, wenn auch vielleicht nicht ganz vollständig …“

Seine Mundwinkel zuckten. Er hatte einen schönen Mund, ausdrucksvoll und energisch, und ein kantiges Kinn mit einem Grübchen in der Mitte. „Und?“

Sein sanfter Ton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er wie ein Bluthund auf ihre Antwort lauerte. Sie hätte sich alles Mögliche ausdenken können, aber sie hatte das Gefühl, dass er sie sofort durchschauen würde, wenn sie nicht bei der Wahrheit blieb. „Wie gesagt, ich habe in Surrey alles erreicht, was ich erreichen kann. Aber ich hätte mich vermutlich nicht bei Ihnen beworben, wenn mir nicht etwas Bestimmtes zu Ohren gekommen wäre. Etwas, das mich auf die Idee brachte, die eingefahrenen Gleise zu verlassen.“

„Und was war das?“

„Es hatte mit mir persönlich zu tun“, gab sie widerstrebend zu, „und war nicht gerade sehr schmeichelhaft.“

„Hatte es etwas mit Ihrer Arbeit zu tun?“

Die Frage war durchaus berechtigt. „Nein, an meiner Arbeit gab es nie etwas auszusetzen, wie Ihnen Mr. Goode sicher bestätigen wird.“

„Das hat er bereits, sonst wären Sie nicht hier“, sagte er trocken. „Miss Abbott, verschwende ich meine Zeit mit Ihnen?“

„Wie bitte?“ Wieder schoss ihr das Blut in die Wangen.

„Haben Sie wirklich vor, die Stelle anzutreten, falls man sie Ihnen anbietet?“

Bis vor wenigen Minuten hätte sie die Frage eindeutig mit Nein beantwortet. Jetzt war sie plötzlich im Zweifel. Für jemanden wie Ben West zu arbeiten bedeutete sicher jede Menge Stress und Nervenkitzel, aber wollte sie sich wirklich für die nächsten zehn, zwanzig Jahre in Surrey verkriechen?

Denn nichts anderes tat sie dort, wie ihr plötzlich klar wurde. Sie führte ein eigenständiges Leben, jedoch eingebettet in ein Netz aus Familie und guten Freunden, die alle in ihrer Nähe wohnten. Ihren Job beherrschte sie in- und auswendig, er bot keine Herausforderung mehr. Nach der Katastrophe mit David war ihr das nur recht gewesen. Bis jetzt. Bis zu dem Moment, da sie diesen Raum betreten hatte.

„Ja, Mr. West“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich würde die Stelle antreten.“

Er nickte. „Gut.“ Jetzt erst wandte er den Blick von ihr ab, um die Unterlagen auf seinem Schreibtisch zu studieren. „Fahren wir also fort.“

2. KAPITEL

Kim war völlig ausgelaugt, als sie nachmittags nach Hause kam. Das Vorstellungsgespräch bei Ben West war lang und unglaublich anstrengend gewesen. Ein Wunder, dass sie sich kaum noch auf den Beinen hatte halten können, als sie sein Büro verließ. Sie musste reichlich elend ausgesehen haben, denn die Sekretärin hatte ihr prompt den Lunch in der Firmenkantine empfohlen.

Gestärkt von zwei Tassen schwarzen, süßen Kaffees und einem Brathähnchen mit üppiger Beilage, hatte sie über die verwirrenden Ereignisse der letzten Stunden nachgedacht. Und war zu dem Schluss gekommen, dass sie verrückt sein musste, zu glauben, Ben West würde ihr die Stelle seiner Assistentin anbieten. Oder dass sie den Anforderungen gewachsen sein könnte. Nein, diese Sache war eindeutig ein paar Nummern zu groß für sie.

Ben West hatte das Gespräch mit der Bemerkung beendet, er werde seine Entscheidung innerhalb von vierundzwanzig Stunden treffen, nachdem er alle Kandidaten gesehen habe. Kim hatte keine Ahnung, wie sie abgeschnitten hatte. Miss Hundert-Watt-Lächeln war höchstens zehn Minuten bei ihm im Büro gewesen, doch nachmittags würde sich noch jemand vorstellen.

Als sie das Bürogebäude von West International verließ, war die Sonne, die morgens so verheißungsvoll geschienen hatte, hinter einer dichten grauen Wolkendecke verschwunden. Ihr Zug nach Hause hatte Verspätung, und als er schließlich kam, zwängten sich Hunderte missgelaunter Pendler hinein.

Beim Anblick ihres treuen kleinen Mini, der am Bahnhof in Surrey auf sie wartete, wäre sie beinahe in Tränen ausgebrochen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie restlos erschöpft war.

Jetzt betrat sie die Wohnung und ließ sich erschöpft auf das Sofa fallen. Ben Wests schnelllebige, glamouröse Geschäftswelt hatte erheblich an Reiz verloren. Die Rückfahrt hatte dreimal so lange gedauert wie geplant. Das erinnerte sie an etwas, was er im Laufe des Gesprächs gesagt hatte.

„Ich nehme an, Sie sind sich darüber im Klaren, was Sie als meine persönliche Assistentin erwartet. Lassen Sie es mich kurz umreißen. Ich brauche jemanden, der hart arbeitet und Eigeninitiative entwickelt, Miss Abbott. Routinearbeiten werden Sie delegieren, aber um sensible Vorgänge, die der Vertraulichkeit unterliegen, werden Sie sich persönlich kümmern. Sie werden Briefe, Berichte und Vermerke aufsetzen, Informationen beschaffen, Gesprächsprotokolle anfertigen, Sitzungen vorbereiten, Kontakte zu Geschäftspartnern pflegen und andere Mitarbeiter anweisen. Ich erwarte hundertprozentige Loyalität, absolute Diskretion und die Bereitschaft, wenn nötig bis spät in die Nacht oder vom frühen Morgen an zu arbeiten. Ist das ein Problem für Sie?“

Sie wusste noch, dass sie verwirrt den Kopf geschüttelt hatte, woraufhin er erklärt hatte: „Ich verlange nicht, dass meine Assistentin zu allem Ja und Amen sagt. Aber sollten Sie anderer Ansicht sein als ich, dann besprechen wir das unter vier Augen, verstanden?“ Mindestens ebenso verwirrt hatte sie genickt.

Kim sah sich in ihrem gemütlichen Wohnzimmer mit dem hellen, flauschigen Teppich und der cremefarbenen Sitzecke um. Ihr Schlafzimmer war ganz in Rosa-, Beige- und Mauvetönen gehalten, eine romantische Oase, die vom Fehlen eines männlichen Mitbewohners zeugte. Sie liebte ihr Zuhause. Doch würde sie hier bleiben können, wenn Ben West ihr wider Erwarten den Job anbot? Falls die heutige Rückfahrt ein Vorgeschmack auf kommende Zeiten war …

Nein, sie wollte nicht alles so negativ sehen. Die Hinfahrt war reibungslos verlaufen, und auf der Rückfahrt hatte sie einfach Pech gehabt. Davon abgesehen gab es ganz sicher qualifiziertere Bewerberinnen als sie. Wozu also die Aufregung?

Und wenn sie nun doch ausgewählt wurde? Bei dem Gedanken wurde ihr flau im Magen. Nun, damit würde sie sich befassen, wenn es so weit war.

An diesem Abend ging sie früh ins Bett, schlief aber kaum besser als in der Nacht zuvor. Morgens um sechs stand sie auf, kochte Kaffee und kuschelte sich in die Sofaecke. Die Sonne schien herrlich, und durch die offenen Fenster drang Vogelgezwitscher.

Es war friedlich und gemütlich, aber das genügte ihr plötzlich nicht mehr. Das Gespräch mit Ben West hatte sie aufgewühlt und Bedürfnisse geweckt.

Sie war erst fünfundzwanzig. Sie wollte noch etwas mit ihrem Leben anfangen! In den letzten zwei Jahren hatte sie ihre Wunden geleckt, aber so konnte es nicht weitergehen. Die Einladung zu dem Vorstellungsgespräch bei Ben West hatte ihrem Selbstbewusstsein, das durch David einen empfindlichen Dämpfer erlitten hatte, neuen Auftrieb verliehen. Und da das ganze Szenario mit Heiraten, Kinderkriegen und trautem Heim nun nicht mehr anstand, konnte sie sich genauso gut einer Sache widmen, die sie bis dahin eher vernachlässigt hatte – ihrer Karriere.

Es wäre zwar nicht das Leben, das sie sich erträumt hatte, aber es hätte auch sein Gutes. Sie würde ihren Horizont erweitern, Reisen unternehmen, neue Leute kennenlernen.

Leute wie Ben West? Sei nicht albern, ermahnte sie sich. Nein, es ging ihr nicht speziell um ihn. Wirklich nicht.

Obwohl er der aufregendste Mann war, der ihr je im Leben begegnet war. Er war einer dieser seltenen Menschen, die einen unwiderstehlich anzogen, egal, ob man ihn mochte oder nicht.

Mochte sie ihn?

Sie war sich nicht sicher. Es wäre zweifellos interessant, für ihn zu arbeiten – falls sie den ersten Arbeitstag heil überstand. Und falls sie überhaupt eingestellt wurde. Doch darauf kam es im Grunde nicht an. Viel wichtiger war die Erkenntnis, dass es höchste Zeit war, ihr Leben in neue Bahnen zu lenken. Veränderungen herbeizuführen, die von ihr ausgingen und nicht von anderen, wie es lange genug der Fall gewesen war.

Während sie an dem aromatisch duftenden Kaffee nippte, schweiften ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit. Sie war so leichtgläubig gewesen, als sie David damals begegnet war. So verzückt darüber, dass jemand wie er – attraktiv, selbstsicher, allseits beliebt – ausgerechnet sie auserkoren hatte.

Ihre Kindheit war glücklich und unbeschwert gewesen, doch als Teenager hatte sie sehr unter ihrer Körpergröße gelitten. Besser gesagt, unter den Komplexen, die sie deswegen gehabt hatte. In der Schuldisco war sie immer das Mauerblümchen gewesen. Das Mädchen, um das die Jungen einen Bogen machten, weil sie Angst hatten, kleiner als sie zu sein. Mit dreizehn hatte irgendein Witzbold sie als Bohnenstange bezeichnet, und dieser Spitzname war an ihr hängen geblieben, selbst als sie schon weibliche Rundungen entwickelt hatte.

Und dann, mit achtzehn, war David Stewart in ihr Leben getreten. Ein Meter fünfundachtzig groß, blond und umwerfend gut aussehend. Ein Adonis. Sie waren während ihrer gesamten Zeit an der Uni ein Paar gewesen, und am Tag ihrer Graduation hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Kim war wunschlos glücklich gewesen.

Während er sein Jurastudium fortsetzte, suchte sie sich einen Job, der es ihr ermöglichte, sich mit ihm zu treffen, wann immer er Zeit für sie hatte. Ein Jahr später bestand er mit Bravour sein Examen an der juristischen Fakultät, stieg in die Anwaltskanzlei seines Vaters ein, und sie setzten den Termin für die Hochzeit fest.

An den Wochenenden fuhr Kim von ihrem Elternhaus in Surrey nach Oxford, wo Davids Familie eine luxuriöse Villa mit Swimmingpool und Tennisplätzen besaß. Seine Eltern und seine jüngere Schwester freuten sich immer, sie zu sehen, und auch sie mochte Davids Familie gern. Ihre Zukunft sah rosig aus. Und dann, sechs Wochen vor der geplanten Hochzeit, stand David plötzlich abends vor ihrer Tür, sagte, er müsse mit ihr reden, und lud sie zum Essen ein.

Sie hatte sofort gewusst, dass etwas nicht stimmte. Doch was dann kam, traf sie völlig unvorbereitet. Es gebe da jemanden in seinem Leben, gestand er ihr, und dieser Jemand sei seine große Liebe.

Völlig schockiert hatte Kim gefragt, um wen es sich handele. Um Miranda, die Nachbarstochter? Um eine Kollegin, eine gemeinsame Freundin?

Da hatte er ihr ruhig in die Augen gesehen und ihr erklärt, dass dieser Jemand keine Sie, sondern ein Er sei. Francis sei sein Name. Und er habe ihn in einer der Bars kennengelernt, die er regelmäßig besuche. Er habe geglaubt, dieses Familiending mir ihr durchziehen und sie glücklich machen zu können, aber es gehe nicht. Er habe sie sehr gern, liebe sie vielleicht sogar, aber eben nicht so.

Sie hatte vor Entsetzen keinen Ton herausgebracht. Wortlos war sie aufgestanden, hatte das Restaurant verlassen und sich draußen ein Taxi bestellt. Vielleicht wäre ihr sogar ein würdevoller Abgang gelungen, wenn David ihr nicht nachgelaufen wäre und versucht hätte, sich für den jahrelangen Betrug zu rechtfertigen. Da nämlich hatte sie angefangen zu schreien und zu kreischen, war geradewegs zu dem Sportwagen marschiert, den ihm sein Vater geschenkt hatte, und hatte eine Delle in die Tür getreten. Zum Glück war in diesem Moment ihr Taxi vorgefahren.

Die darauffolgenden Wochen waren die härtesten ihres Lebens gewesen. Beide Elternpaare waren außer sich vor Empörung gewesen und die Brautjungfern enttäuscht, weil sie die bildschönen Kleider nicht tragen durften. Hochzeitsgeschenke wurden zurückgeschickt, der Empfang abgesagt, die Gäste ausgeladen – kurzum, das ganze Brimborium, das zu einer riesigen Hochzeit gehörte, musste rückgängig gemacht werden.

Mitten in diesem Chaos hatte Kim mehrmals mit David gesprochen. Es schien ihm leidzutun, sie verletzt zu haben. Gleichzeitig jedoch wirkte er auch erleichtert, ja sogar froh, dass die Wahrheit heraus war. Aber er hatte ja auch seinen Francis, mit dem er sich umgehend in der Wohnung eingenistet hatte, die eigentlich Kim und er hätten beziehen sollen. Freimütig gab er zu, Kim auch früher schon betrogen zu haben, bezeichnete es aber als kleine Ausrutscher.

Kim hatte kaum glauben können, was sie da hörte. Der Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens hatte verbringen wollen, den sie in- und auswendig zu kennen glaubte und dem sie vier Jahre lang blind vertraut hatte, schien nie existiert zu haben. Sie war ihm immer treu gewesen, hatte sich nicht einmal zu Weihnachten unter dem Mistelzweig von einem Kollegen küssen lassen. Er dagegen …

Hundert und eine Kleinigkeit ergaben plötzlich einen Sinn, allen voran die Tatsache, dass David sie nie gedrängt hatte, mit ihm zu schlafen. Er hatte davon gefaselt, wie sehr er sie respektiere und dass er Wert darauf lege, dass seine zukünftige Frau und Mutter seiner Kinder anders sei als alle anderen. Es falle ihm zwar schwer, es beim Kuscheln zu belassen, aber es sei richtig so, hatte er behauptet. Und sie hatte ihm geglaubt, ihm seinen Edelmut sogar hoch angerechnet!

Seine Zurückweisung und sein Verrat, ganz zu schweigen von der Demütigung, trafen sie so tief, dass sie drastisch an Gewicht verlor. Sie wäre David bis ans Ende der Welt gefolgt. So sehr hatte sie ihn geliebt. Er aber hatte sie von Anfang an belogen. Das Schlimme war, dass sie es nicht einmal gemerkt hatte. Und das machte ihr Angst.

Das Bild der Bohnenstange aus ihren Teenagerjahren nistete sich wieder in ihrem Kopf ein. Wann immer sie in den Spiegel sah, zuckte sie erschrocken zurück. Sie hatte das Gefühl, nichts wert zu sein. Weniger als nichts.

Doch irgendwann, ganz allmählich, fand sie mithilfe ihrer Familie und ihrer Freunde in ein normales Leben zurück. Aber sie war nicht mehr dieselbe. Das zutrauliche, glückliche junge Mädchen von einst war verschwunden. Sie war älter und klüger geworden. Und sie würde sich nie wieder gestatten, jemanden so zu lieben, wie sie David geliebt hatte.

Kim kehrte aus ihren Erinnerungen zurück in die Gegenwart. Ihr Kaffee war kalt. Sie goss ihn in den Ausguss und sah zum Fenster hinaus.

Ein strahlend schöner Tag begann. Und das Leben war dazu da, gelebt zu werden. Sie hatte lange genug betrauert, was hätte sein können und nicht war. Jetzt musste sie ihr Leben in die Hand nehmen.

3. KAPITEL

Den ganzen Tag über saß Kim wie auf heißen Kohlen. Sie war so aufgekratzt, dass ihr die Arbeit im Büro wie von selbst von der Hand ging. Um fünf Uhr nachmittags war ihr Schreibtisch trotz der Extraarbeit, die vom Vortag liegen geblieben war, komplett aufgeräumt.

Ihr Chef Alan Goode hatte sich schon morgens nach dem Ausgang ihres Vorstellungsgesprächs erkundigt. Als er jetzt zusammen mit ihr zum Parkplatz ging, sagte er mit leisem Bedauern in der Stimme: „Es würde mich sehr wundern, wenn Sie die Stelle nicht bekämen. Ben West erkennt ein Juwel, wenn er eins sieht.“

„Vielen Dank“, meinte Kim lächelnd, „aber Sie haben die Konkurrenz nicht gesehen. Wie auch immer, ich lasse es in Ruhe auf mich zukommen.“ Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Schließlich wusste sie, wie gespannt Kate und ihre Clique ihre Bewerbung verfolgten.

„Vielleicht ist gerade das Ihr Trumpf“, bemerkte Alan. „Ben West hat seine eigenen Vorstellungen. Er ist kein Anpasser, und er will keine Anpasser als Mitarbeiter. Er ist ein außergewöhnlicher Mann, finden Sie nicht?“

„Oh, ja.“

Sie lächelten einander in stummem Einverständnis zu.

„Mit seiner Frau … Exfrau, meine ich, hatte er leider kein Glück“, fuhr Alan fort. „Sie war sehr freiheitsliebend, in jeder Beziehung. Hatte ständig andere Männer, wenn man den Gerüchten glauben darf. Nach der Scheidung nahm sie die gemeinsame Tochter zu sich, aber ein Jahr später kam sie bei einem Autounfall ums Leben. Das Kind saß mit im Wagen, als es passierte.“

„Wie furchtbar.“ Diese Einzelheiten kannte Kim noch nicht.

Ihr Chef zuckte die Schultern. „Die Kleine wurde, soweit ich mich erinnere, nicht allzu schwer verletzt. Nach dem Unfall nahm Ben sie wieder zu sich. Ich glaube kaum, dass er seiner Frau Krokodilstränen nachweinte.“

„Wie lange ist das her?“

„Vier oder fünf Jahre. Das Mädchen müsste jetzt ungefähr zehn sein.“

Kim nickte. Sie sah das harte, verschlossene Gesicht des Mannes vor sich, dem sie gestern gegenübergesessen hatte. Es war ein vom Leben gezeichnetes Gesicht, das nicht verriet, was der Mensch dahinter dachte oder fühlte. Er musste gelitten haben. Kim empfand Mitleid mit ihm, obwohl das sicher das Letzte war, was ein Mann wie Ben West wollte.

„Auf Wiedersehen, Alan“, sagte sie leise. „Grüßen Sie Ihre Frau von mir.“

„Danke, das werde ich.“

Auf der Fahrt nach Hause musste sie immer wieder daran denken, was ihr Chef ihr erzählt hatte. In Gedanken bei Ben West, schloss sie ihre Wohnungstür auf. Was sie jetzt brauchte, war ein schönes, heißes Bad. Muskeln, die sie seit ihrer Zeit als Kapitänin des Basketballteams ihrer Schule nicht mehr gespürt hatte, schmerzten vor Anspannung, so verkrampft hatte sie auf den entscheidenden Anruf gewartet.

Hatte sie sich denn wirklich ernsthafte Chancen ausgerechnet? Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit.

Und dann läutete das Telefon.

Mit klopfendem Herzen nahm sie den Hörer ab. „Hallo?“

„Miss Abbott?“

Die tiefe, raue Stimme hätte sie überall wiedererkannt. „Ja?“ Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust.

„Ben West. Ich biete Ihnen die Stelle meiner persönlichen Assistentin an, falls Sie nach unserem doch recht anstrengenden Gespräch noch interessiert sind.“

„Wirklich?“ Miss Hundert-Watt-Lächeln hätte sicher nicht so erstaunt geklungen. „Vielen Dank, Mr. West. Ich nehme Ihr Angebot gern an.“ Sie sank auf den nächsten Stuhl. „Wann soll ich anfangen?“

„Mr. Goode wird sicher nicht auf der Einhaltung der Kündigungsfrist bestehen. Ich möchte, dass Sie noch eine Weile mit Pat zusammenarbeiten, bevor sie geht. Was leider schon bald der Fall sein könnte.“

Kim fand, dass er sich reichlich spät um einen Ersatz bemühte.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fuhr er fort: „Wie sich erst kürzlich herausgestellt hat, erwartet sie Zwillinge, noch dazu ungewöhnlich große Babys. Mir scheint, sie wird von Tag zu Tag runder.“ Sein Ton verriet, wie sehr ihn diese unvorhergesehene Entwicklung irritierte.

„Ich verstehe.“

„Sie wird voraussichtlich nächsten Monat aufhören zu arbeiten. Es bleibt also nicht viel Zeit, um Sie einzuweisen.“

Mit anderen Worten, er würde sich nicht um ihre Einarbeitung kümmern. Was sein gutes Recht war, immerhin war er der Firmeninhaber. Aber der arme Alan saß in der Klemme. „Wenn Sie mir ein paar Tage Zeit lassen, um eine Aushilfe anzulernen …“

„Morgen ist Freitag. Ich möchte Sie am Montagmorgen in meinem Büro sehen. Mr. Goode wird dieser Regelung sicher gern zustimmen.“

Gern bestimmt nicht, dachte Kim. Doch schließlich bezahlte Ben West auch Alans Gehalt. „Dann komme ich am Montagmorgen“, sagte sie höflich. Ganz wohl war ihr nicht bei der Sache. Sie würde im Morgengrauen aufstehen müssen, um pünktlich an ihrem neuen Arbeitsplatz zu sein.

„Ausgezeichnet. Übrigens, ich lege keinen großen Wert auf Formalitäten. Einigen wir uns auf Ben und Kim, einverstanden?“

Kim konnte sich nicht vorstellen, diesen Mann jemals Ben zu nennen.

„Ich schätze, die Person, die Sie dazu veranlasst hat, sich um diese Stelle zu bewerben, wird die frohe Botschaft morgen erfahren?“, fragte er noch.

„Wie bitte? Ja, schon“, sagte Kim überrascht.

„Dann genießen Sie Ihren Triumph. Es gibt nicht viele solcher Augenblicke im Leben. Einen schönen Abend noch, Miss Abbott.“ Damit legte er auf.

Kim hatte seine Worte noch im Ohr, als sie am nächsten Morgen zusammen mit Kate und einer ihrer Anhängerinnen im Lift nach oben fuhr. Das Mädchen in Kates Begleitung zischte ihr zu: „Sie werden ihn nicht bekommen.“

„Wie bitte?“ Kim zog fragend die Augenbrauen hoch, obwohl sie natürlich sofort wusste, was gemeint war.

„Sie wissen schon, den Job bei Ben West. Sie haben keine Chance. Kate kennt jemanden im Personalbüro. Die anderen Bewerber sind topqualifiziert. Wenn Sie mich fragen, war es reine Glückssache, dass man Sie überhaupt eingeladen hat.“

„Ich frage Sie nicht, aber trotzdem vielen Dank für Ihr Interesse.“ Kims kühle Höflichkeit nahm der anderen den Wind aus den Segeln.

„Ich würde mich einer solchen Blamage ja nicht aussetzen, wenn ich eindeutig unterqualifiziert wäre“, bemerkte Kate bissig.

„Dann ist es ja gut, dass Sie gar nicht erst eingeladen wurden“, erwiderte Kim freundlich. „Ach, übrigens“, wandte sie sich an Kates Gefährtin, als die Tür aufglitt. „Mr. West rief mich gestern Abend an, um mir mitzuteilen, dass ich die Stelle habe. Ende gut, alles gut.“ Dann rauschte sie davon.

Die Gesichter der beiden würde sie wohl nie vergessen. Ben West hatte recht. Erfolge musste man auskosten.

Das rief sie sich auch am Wochenende, hin- und hergerissen zwischen Euphorie und Panik, immer wieder in Erinnerung. Und mindestens ein Dutzend Mal hielt sie sich vor Augen, dass sie ihm nichts vorgemacht hatte. Ben West wusste, worauf er sich einließ. Sie war ganz sicher nicht topqualifiziert. Alles, was sie zu bieten hatte, war ein respektabler Abschluss in Betriebswirtschaft und einige Jahre Berufserfahrung. Sie war von Anfang an ehrlich gewesen, hatte ihm sogar erzählt, dass sie sich eher aus Verlegenheit für ihr Studienfach entschieden hatte, das ihr eine sichere Wahl zu sein schien.

„Eine sichere Wahl?“, hatte er spöttisch gefragt. „Sie wirken nicht wie jemand, der Sicherheit anstrebt.“

„Vor sieben Jahren schon“, hatte sie zögernd erwidert, und er hatte sie angesehen, als verstünde er mehr, als ihr lieb sein konnte.

Ihre Mutter reagierte recht verhalten, als sie ihren Eltern sonntags beim Mittagessen die Neuigkeit mitteilte. „Schön, Kind“, meinte sie, „aber pass auf, dass dein Leben nicht nur noch von der Arbeit bestimmt wird.“ Oder anders gesagt: Such dir einen netten Ehemann und gründe eine Familie.

Ihr Vater aber war wunderbar. „Prima gemacht, Süße“, sagte er herzlich. „Ich wusste, du würdest es schaffen. Das ist der Anfang von etwas ganz Großartigem, das spüre ich.“

Ob ihr Vater nun recht hatte oder nicht, irgendwann musste Schluss sein mit dem Grübeln und der Panikmache. Nun war es Sonntagabend, und auf ihrem Bett stapelte sich ein Berg von Kleidungsstücken. Leider wusste sie immer noch nicht, was sie am nächsten Tag anziehen sollte. Kurzerhand hängte sie alles wieder in den Schrank und ging schlafen. Morgen früh würde sie sich einfach das Erstbeste herausgreifen, und fertig.

Sie war Kate Campion und ihre boshafte Clique los. Ihr Leben konnte nur besser werden.

Um halb acht am nächsten Morgen saß sie in Ben Wests Vorzimmer und ließ sich von Pat, seiner Sekretärin, in die Aufgaben einweisen, die als Erstes erledigt werden mussten, bevor der Rest der Belegschaft eintraf.

Ben saß bereits an seinem Schreibtisch. Pat gab zu, nicht zu wissen, wann ihr Chef morgens das Büro betrat, da er grundsätzlich vor ihr da sei. Er sei ein Workaholic, verlange aber von seinen Mitarbeitern nicht mehr als von sich selbst.

Sehr lobenswert, dachte Kim. Aber nicht gerade beruhigend.

Um zwanzig vor neun öffnete sich die Verbindungstür, und Ben erschien. Kims Nerven lagen inzwischen blank. Als sie den großen, dunkelhaarigen Mann lässig im Türrahmen lehnen sah, wurde sie noch nervöser. Er wirkte finsterer und beeindruckender, als sie ihn in Erinnerung hatte. Und hinreißend attraktiv in seinem blauen, am Kragen offenen Hemd, das ein Stück sonnengebräunter Haut erkennen ließ.

Er musterte sie kurz von oben bis unten. „Hi“, meinte er lässig. „Hatten Sie eine gute Fahrt?“

„Ja, danke.“

„Hoffen wir, dass es so bleibt. Pat hatte auch gehofft, pendeln zu können, aber dann ist sie doch in die City gezogen. Stimmt’s, Pat?“

Pat lächelte zufrieden. „Ja. Ein paar Wochen später lernte ich dann John kennen, und innerhalb von vier Monaten waren wir verheiratet.“

„Eine Blitzromanze, ich erinnere mich.“ Bens blaue Augen richteten sich auf Kim. „Ich hoffe, Ihnen passiert nicht dasselbe.“

„Ach, das glaube ich nicht“, erwiderte sie todernst. „John ist sicher sehr glücklich mit Pat.“

Ben stutzte, dann warf er den Kopf zurück und lachte. „Sie machen das schon“, meinte er, bevor er wieder in sein Büro verschwand.

Was Kim nur recht sein konnte. Dieser kurze Blick auf den Menschen hinter der Maske des Großunternehmers hatte sie zutiefst verwirrt. Er ist unwiderstehlich, dachte sie aufgewühlt. Aber sie durfte sich doch nicht in ihren Boss verlieben! Schon gar nicht am ersten Tag.

Pat, die zu ahnen schien, was in ihr vorging, sagte leise: „Er ist kein einfacher Chef, aber ich möchte keine Minute meiner Arbeit hier missen. Ich schätze, es wird Ihnen genauso gehen. Er ist der charismatischste Mann, den ich kenne. Freundinnen am laufenden Band, aber kaum wird eine zu anhänglich, ist sie Vergangenheit. Er ist der Typ, der genießt, sich umdreht und geht. Anfangs bildete ich mir ein, in ihn verliebt zu sein, aber ich habe schnell begriffen, dass es besser ist, für ihn zu arbeiten, als mit ihm auszugehen. Bens Herz gehört nur einem weiblichen Wesen, und das ist seine Tochter. So, und nun zurück zu den Akten …“

Der Rest des Tages verging wie im Flug. Todmüde stolperte Kim abends zum Bahnhof und fuhr wie benommen zurück nach Hause. Nach einem heißen Bad und einem kalten Imbiss fiel sie ins Bett und schlief tief und fest bis zum morgendlichen Weckerklingeln. Die nächsten vier Tage verliefen ebenso, und am Wochenende hatte sie das Gefühl, es ohne Pause keinen Tag länger durchhalten zu können.

Nachdem sie am Samstag und Sonntag gründlich ausgeschlafen hatte, erschien sie am Montagmorgen frisch und erholt im Büro, bereit, sich der neuen Herausforderung zu stellen. In der zweiten Woche kam sie schon besser zurecht. Nach drei Wochen hatte sie die wichtigsten Dinge im Griff. Abends war sie zwar meistens erschöpft, aber Pat meinte, das würde sich mit der Zeit geben.

Es war nur gut, dass sie sich so schnell Bens Arbeitstempo angepasst hatte, denn in der vierten Woche begann Pat sich unwohl zu fühlen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wurde die Situation so ernst, dass das Risiko einer Frühgeburt drohte. Dazu kam es zum Glück nicht, aber Pat musste ins Krankenhaus. Es hieß, sie würde den Rest der Schwangerschaft liegend verbringen müssen.

Als Kim ihr einen Strauß Blumen und ein paar Bücher brachte, fand sie Pat in einer Privatsuite vor, die so gar keine Ähnlichkeit mit einem gewöhnlichen Krankenzimmer hatte.

„Ben bestand darauf, die zusätzlichen Kosten zu übernehmen“, vertraute Pat ihr an, nachdem sie sich herzlich für die Mitbringsel bedankt hatte. „Er hat dafür gesorgt, dass ich in besten Händen bin.“

„Das ist sehr großzügig von ihm.“

Pat nickte. „Ja, und mein Mann ist auch beruhigt. Er hält große Stücke auf Ben. Ich darf nur nicht daran denken, wie teuer das alles ist …“

„Ben tut das sicher gern.“ Kim lächelte ihrer Kollegin, die sie inzwischen richtig gern mochte, aufmunternd zu. Pat hatte viel Zeit und Mühe darauf verwendet, ihr den Einstieg in den neuen Job zu erleichtern. „Und jetzt genießen Sie es, sich bedienen zu lassen. Sie werden noch genug zu tun haben, wenn die Babys erst da sind.“

„Ich langweile mich zu Tode.“ Pat zog die Nase kraus. „Versprechen Sie mir, dass Sie mich anrufen, wenn Sie Fragen haben.“

„Natürlich“, versicherte Kim, obwohl sie nicht vorhatte, Pat mit Bürostress zu belästigen. „Aber ich komme schon klar. Sie haben mich großartig eingewiesen, und außerdem haben Sie mir ja alles von A bis Z notiert.“

Pat war seit Donnerstagabend nicht mehr im Büro gewesen. Am Freitag hatte Kim ihren Chef kaum zu Gesicht bekommen, da er sich persönlich um die Unterbringung seiner Sekretärin im Krankenhaus gekümmert hatte. Heute war Sonntag, und morgen würde sie zum ersten Mal offiziell in der Funktion seiner persönlichen Assistentin allein mit ihm im Büro sein. Sie war jetzt schon nervös, wusste aber, dass es besser war, sich ihm gegenüber nichts anmerken zu lassen. Ben West legte größten Wert auf Selbstbeherrschung und einen kühlen Kopf.

Als Pat eine Viertelstunde später Besuch von ihrem Mann bekam, verabschiedete Kim sich herzlich von den beiden und ging. Heute war sie ausnahmsweise mit dem Auto in London, denn das Gedränge und die schlechte Luft in den voll besetzten Zügen war nicht immer die reine Freude, und am Krankenhaus war Parken kein Problem.

Als sie ihren Mini aufschloss, rief jemand ihren Namen. Mit klopfendem Herzen fuhr sie herum. „Ben, was machen Sie denn hier?“ Dumme Frage. Er wirkte leicht gehetzt, was ihn sympathisch menschlich machte. Und sah in seinem dunkelgrauen Polohemd und der schwarzen Jeans sogar noch besser aus als im Anzug.

„Wollten Sie gerade fahren?“, fragte er.

„Ja, warum?“

„Ich habe hier ein paar Formulare, die Pat unterzeichnen muss. Und ich wollte mich selbst überzeugen, ob sie gut untergebracht ist. Lucy wollte unbedingt mit, aber sie mag keine Krankenhäuser.“

Kim nickte. Sie hatte von Pat erfahren, dass Bens Tochter Lucy nach dem Unfall, bei dem ihre Mutter ums Leben gekommen war, einige Wochen im Krankenhaus verbracht hatte.

„Sie wartet im Wagen, aber ich lasse sie ungern allein.“

Nachdenklich musterte Kim sein düsteres, attraktives Gesicht. Bens Tochter war beinahe zehn. „Wenn Sie wollen, bleibe ich solange bei ihr“, schlug sie zögernd vor.

Wie es so seine Art war, hielt er sich nicht lange damit auf, sie zu fragen, ob es ihr auch keine Umstände bereite. „Danke“, sagte er nur. „Kommen Sie, ich stelle sie Ihnen vor.“

Kim folgte ihm zu seinem Ferrari, einem Panther von einem Auto – schwarz, schnittig und leistungsstark. Das Mädchen auf dem Beifahrersitz wirkte umso zarter und zerbrechlicher und war so blond, wie Ben dunkel war.

Er öffnete die Beifahrertür. „Lucy, dies ist meine Assistentin Kim.“

Kim beugte sich herab und lächelte der Kleinen zu. „Hallo, Lucy. Freut mich, dich kennenzulernen.“

Bens Tochter musterte sie aus großen blauen Augen, ohne ihr Lächeln zu erwidern. „Hallo.“

„Setzen Sie sich zu ihr in den Wagen, ich bin gleich zurück.“ Ben schob Kim um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als neben der mürrisch dreinblickenden Lucy Platz zu nehmen. „Lucy, Kim wird dir Gesellschaft leisten.“ Damit verschwand er.

Na großartig. Bevor Kim etwas sagen konnte, raunzte Lucy sie an: „Ich bin kein Baby, okay?“

„Ich weiß. Du wirst in zwei Wochen zehn, richtig? Feierst du eine Party?“

Lucy ignorierte ihre Fragen. „Sie brauchen nicht auf mich aufzupassen. Sie können gehen.“

Schön wär’s. „Dein Vater hat mich gebeten, bei dir zu bleiben.“

„Ich hab gesagt, ich brauche Sie nicht.“

Kim atmete tief durch. „Ich bleibe.“

„Und wenn ich das nicht will?“

„Tut mir leid, aber du wirst dich damit abfinden müssen.“

„Das ist unser Auto, nicht Ihres. Und ich will, dass Sie aussteigen.“

Besten Dank, Ben. Diese Mission fiel nun wirklich nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Kim sah in das grimmige, aber sehr hübsche Gesicht seiner Tochter und sagte ruhig: „Bist du immer so unhöflich, Lucy?“

Überraschung spiegelte sich in den blauen Kinderaugen. Lucy wirkte leicht verunsichert, wiederholte jedoch störrisch: „Ich will, dass Sie aussteigen.“

„Gut. Wenn du unbedingt meinst, mich wie eine Untergebene behandeln zu müssen, dann warte ich eben draußen.“ Kim öffnete die Tür. „Aber eines Tages wirst du lernen müssen, dass die Reichen und Mächtigen gerade zu denen, die es nicht so gut getroffen haben wie sie selbst, besonders nett sein sollten. Du spielst dich leider auf wie ein verwöhntes, ungezogenes Gör, und das ist wenig anziehend.“

Dummerweise lag der Sportwagen so tief auf der Straße, dass Kim förmlich hinauskrabbeln musste. Betont sanft drückte sie die Tür ins Schloss und baute sich neben dem Auto auf. Ben würde denken, sie käme nicht einmal mit einer Neunjährigen klar. Noch dazu hatte sie seine Tochter, sein Ein und Alles, tödlich beleidigt. Ein wunderbarer Start in die neue Woche.

Als sie Ben kommen sah, wandte sie sich nach einem flüchtigen Blick auf die schmollende Lucy zum Gehen. „Ich übergebe“, rief sie ihm über die Schulter zu, noch bevor er den Wagen erreicht hatte.

Erstaunen lag in seiner Stimme, als er ihr hinterherrief: „Ja … danke! Bis morgen dann.“

Wenn er mich nicht vorher anruft und mir sagt, dass ich nicht mehr zu kommen brauche, dachte Kim verdrossen.

4. KAPITEL

Kim verbrachte einen unruhigen Abend. Sie bereute nicht, was sie zu Bens Tochter gesagt hatte, aber sie hatte doch Angst, dass dieser Zwischenfall das Ende ihrer Karriere bei West International bedeuten könnte. Inzwischen lag ihr nämlich sehr viel daran, für Ben zu arbeiten.

Seine persönliche Assistentin zu sein war sogar noch interessanter, als sie erwartet hatte. Ben West war nicht nur ein millionenschwerer Großunternehmer, er war auch ein faszinierender Mann.

Neben seiner absoluten Professionalität, seiner kühlen Beherrschtheit und seinem Hang zum Zynismus verfügte er über einen raffinierten Charme, den er immer dann erfolgreich einsetzte, wenn andere Mittel versagten. Er war in jeder Hinsicht beeindruckend. Trotzdem war Kim sich nicht sicher, ob sie ihn wirklich mochte. Sie hatte das Gefühl, dass Ben von sich nur preisgab, was er preisgeben wollte. Der Mann selbst blieb ihr ein Rätsel, und das gefiel ihr nicht. Seit ihrer bitteren Erfahrung mit David, der ihr etwas vorgespielt hatte, was er gar nicht war, hielt sie sich von jedem fern, der ihr irgendwie undurchsichtig erschien.

Doch Ben war nur ihr Arbeitgeber, wie sie sich immer wieder vor Augen hielt. Und der Job ein wahrer Glücksfall.

Erst später in der Badewanne, bei Kerzenlicht und einem Glas Wein, kam ihr der Gedanke, dass ihre Nervosität nicht nur mit den möglichen Folgen ihrer Auseinandersetzung mit Lucy zu tun haben könnte. Sondern mit Ben selbst. Damit, dass sie ihn heute so verändert erlebt hatte, so … menschlich. Das Wort verletzlich passte einfach nicht zu ihrem kämpferischen, dynamischen Chef.

Seufzend griff sie nach ihrem Weinglas. Heute Abend würde sie sich so richtig verwöhnen, eine Maske auflegen, sich die Zehennägel lackieren und dafür sorgen, dass sie morgen perfekt gepflegt und in Topform ihren Dienst antrat. Jetzt, da Pat ausfiel, war Ben auf sie angewiesen, und er verabscheute jede Spur von Chaos. Sein Büro musste präzise wie ein Uhrwerk funktionieren. Sie würde sich nicht länger den Kopf über Ben und seine Tochter zerbrechen. Der morgige Tag kam früh genug.

Makellos gestylt, im klassischen Businesskostüm und eleganten Pumps, betrat Kim am nächsten Morgen das Büro, jeder Zoll Ben Wests persönliche Assistentin. Angesichts ihrer Aura von Kompetenz und Selbstsicherheit wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, dass in ihrem Bauch Tausende Schmetterlinge zu tanzen begannen.

„Guten Morgen.“ Wie immer hatte Ben seine Krawatte gelockert und die oberen Hemdknöpfe geöffnet. Kim hatte es sich abgewöhnt, darauf zu achten. Beinahe jedenfalls. „Danke, dass Sie gestern auf Lucy aufgepasst haben.“

Sie musterte ihn verstohlen. Seine warme, dunkle Stimme klang kein bisschen ironisch oder ärgerlich, aber bei ihm konnte man nie wissen. „Schon gut.“

„Sie macht momentan eine schwierige Phase durch. Gestern war kein guter Tag. Ihre Großmutter mütterlicherseits hat uns einen Besuch abgestattet, und danach ist Lucy immer ungenießbar.“

Nachdem er während der vergangenen vier Wochen nicht ein einziges Wort über sein Privatleben hatte fallen lassen, wusste Kim nicht recht, wie sie reagieren sollte. „Es ist nicht immer leicht zu entscheiden, wie man sich einem Kind gegenüber verhalten soll“, sagte sie zögernd. „Eine meiner Freundinnen ist in derselben Situation wie Sie. Sie sagt, was sie seit ihrer Scheidung am meisten vermisst, sei jemand, mit dem sie abends über die Kinder sprechen kann.“

Ben sah sie aufmerksam an. Statt sich, wie sie erwartet hatte, mit einer knappen Bemerkung in sein Büro zurückzuziehen, nickte er nachdenklich. „Lucy hat eine Art Krankenhausphobie. Normalerweise hätte ich sie gar nicht mitgenommen, aber sie machte so ein Theater, dass es mir als das kleinere Übel erschien. Ich fürchte, sie kommt jetzt in das Alter, in dem ein Mädchen eine Mutter zum Reden braucht.“

Da hat sie wohl schlechte Chancen, nach allem, was Pat über ihren Vater erzählt hat, dachte Kim. Laut sagte sie: „Kann sie sich denn nicht an ihre Großmutter oder an eine Tante wenden?“

„Sie kennen meine frühere Schwiegermutter nicht, und sonst ist da niemand.“ Sein Ton ließ erkennen, dass er das Gefühl hatte, bereits zu viel gesagt zu haben. Unwillkürlich spürte Kim, wie er auf Distanz ging. „Würden Sie mir bitte die Massey-Akte bringen? Und bis zehn Uhr brauche ich die Notizen zum Brendan-Vertrag.“

Kim nickte. Ben West hatte ihr einen kurzen Einblick in sein wahres Wesen gewährt, doch nun herrschte wieder eine streng geschäftliche Atmosphäre. Erst als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fiel ihr auf, dass er den Wortwechsel mit Lucy gar nicht erwähnt hatte. Hatte Lucy ihm etwa nichts davon erzählt?

Wenig später brachte sie ihm die gewünschte Akte, aber er sah nicht einmal auf. Sie konnte nur hoffen, dass ihr erster Tag als seine alleinige Assistentin einigermaßen reibungslos verlief.

Alles in allem war das der Fall, bis auf einige Verzögerungen, und abends um halb sieben, lange nach Feierabend, saß sie immer noch über dem letzten Schriftstück. Um sieben Uhr hatte sie den streng vertraulichen und hochbrisanten Bericht über eine Firma, die Ben zu übernehmen gedachte, dann endlich fertiggestellt. Erschöpft massierte sie sich die Schläfen.

„Müde?“

Bens Stimme ließ sie zusammenzucken. „Ein bisschen“, antwortete sie in maßloser Untertreibung. „Aber der Bericht über Delbouis ist fertig.“

Fragend zog er eine seiner dunklen Augenbrauen hoch. „Wollen Sie mich beeindrucken?“ Es handelte sich um einen komplizierten, dreißig Seiten langen Text. „Glückwunsch, das ist Ihnen gelungen.“

„Nein, eigentlich nicht“, behauptete sie forsch. „Ich tue nur meine Pflicht.“

Er streckte die Hand nach dem Bericht aus, und Kim, die ihre Pumps unter dem Schreibtisch abgestreift hatte, tapste auf Strümpfen zu ihm hinüber. Wie immer in seiner Nähe, kam sie sich plötzlich zierlich und feminin vor. Da sie sich für keins von beidem hielt, genoss sie es umso mehr, sich neben diesem großen, breitschultrigen Mann wie ein zartes junges Mädchen zu fühlen.

„Danke.“ Er überflog den Text, während sie den Computer abschaltete. „Das arbeite ich zu Hause durch. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin kurz vorm Verhungern. Ich habe für halb acht einen Tisch im Mansons bestellt, aber mein Begleiter hat abgesagt. Hätten Sie Lust, mit mir essen zu gehen? Dann brauchen Sie nicht zu kochen.“

Sie wusste, dass er mit einem Freund und Direktor einer Konkurrenzfirma verabredet gewesen war, denn sie hatte die Reservierung selbst veranlasst. „Danke, gern“, sagte sie, verwirrt über die Einladung.

„Feiern wir Ihren Sprung ins kalte Wasser“, meinte er lächelnd. „Ich hole meine Jacke.“

Sie hätte Nein sagen sollen. Kim verzog sich in den kleinen Waschraum neben dem Büro und überprüfte ihr dezentes Tages-Make-up, das zum Glück noch ganz intakt war. Auch der lose Knoten, zum dem sie ihr Haar frisiert hatte, saß noch tadellos. Sie sah aus wie der Inbegriff der tüchtigen Sekretärin.

Natürlich hatte Ben sie nur eingeladen, weil sein Geschäftsfreund abgesagt hatte. Eine nette Geste, nichts weiter. Und mehr hätte sie auch gar nicht gewollt. Nicht in hundert Jahren. Beschwörend musterte sie sich im Spiegel.

Jetzt galt es, kultiviert und weltgewandt aufzutreten. Ben war der Typ Mann, der nur mit dem Finger zu schnippen brauchte, um ein Dutzend Frauen um sich zu scharen, die mit ihm ins Bett gehen wollten. Sein Problem war das nicht, aber ihres. Was konnte er schon für seinen umwerfenden Sex-Appeal? Er war der Chef und sie die Assistentin, und dementsprechend würde er diesen Abend gestalten.

Genau das tat er. Er war der perfekte Gentleman. Dummerweise brachte das Zusammenspiel von luxuriöser Umgebung, köstlichem Essen, erlesenem Wein und Bens liebenswürdiger Gesellschaft Kim erheblich aus dem Gleichgewicht. Sie führten keine tiefschürfenden Gespräche, aber Ben war einfach betörend charmant. Vor allem, da er gar nicht zu merken schien, welche Wirkung er auf sie ausübte.

Warum musste sie sich nach zwei Jahren kompletter Gleichgültigkeit Männern gegenüber ausgerechnet zu ihrem Chef hingezogen fühlen? Selbst an dem gut aussehenden, athletisch gebauten Peter Tierman, dem Traum aller Mädchen im Büro, hatte sie kein echtes Interesse gehabt. Es war ihr leichtgefallen, seine sexuellen Avancen zurückzuweisen. Er hatte ihr Herz nicht höher schlagen lassen.

„So, und jetzt der Nachttisch“, meinte Ben, als der Kellner ihnen die umfangreiche Dessertkarte präsentierte. „Mögen Sie Schokolade?“

„Wer nicht?“, erwiderte sie lachend. Sie saßen an einem der besten Tische auf der Galerie, von wo aus sie das ganze Restaurant überblicken konnten.

„Dann empfehle ich als kulinarischen Höhepunkt die Schoko-Kirsch-Torte.“ Sein Lächeln war ungemein sexy. „Ich selbst mag es lieber fruchtig. Ich nehme den Apfel-Zimt-Kuchen.“

Zweifellos empfahl er allen Frauen, mit denen er essen ging, die Schokoladentorte. Was für ein Gefühl musste es sein, sich von diesem Mann ausführen zu lassen und zu wissen, dass der Abend im Bett enden würde? Kim schluckte trocken. „Schoko-Kirsch-Torte klingt gut.“

Sie musste sich zusammenreißen. Sie war eine erwachsene Frau und zu alt für eine alberne, unprofessionelle Schwärmerei für ihren Chef. Selbst wenn sie nicht seine Angestellte und damit tabu für ihn wäre, würde er sie vermutlich keines Blickes würdigen. Es hieß, seine Freundinnen seien durchweg schöne, kluge, unabhängige Frauen, ebenso begehrenswert wie er selbst.

Sie dagegen, einsachtzig groß, durchschnittlich attraktiv und noch dazu Jungfrau – wie gut, dass er keine Gedanken lesen konnte! –, würde ihn wohl kaum reizen.

„Sie mögen also Schokolade“, stellte er fest. „Was ist mit Champagner?“

„Auch, wenn es ein guter ist.“

„Anderen trinke ich gar nicht.“

Natürlich.

Möglich, dass ihre Züge eine Spur von Missbilligung verrieten, denn er lehnte sich vor und betonte: „Ich wurde nicht mit einem silbernen Löffel im Mund geboren, falls es das ist, was Sie gerade denken.“

„Nein.“

„Gut.“ Er trank einen Schluck von dem edlen Rotwein. „Ich kenne billigen Sekt und schlechten Wein. Nach der ersten Kostprobe habe ich beschlossen, lieber ganz darauf zu verzichten, wenn ich mir nicht den besten leisten könnte.“

„Das hat Ihre Karriere in jungen Jahren sicher enorm beflügelt“, meinte Kim trocken.

Um seine blauen Augen bildeten sich attraktive Lachfältchen. „Stimmt, aber ich hätte zur Not auch länger durchgehalten.“

„Wie alt waren Sie, als Sie ins Immobiliengeschäft einstiegen?“

„Sechzehn.“ Er lächelte, als er ihren überraschten Blick bemerkte. „Eine Woche nachdem ich von der Schule abgegangen war, entdeckte ich ein altes Haus, eine Ruine. Zusammen mit Freunden baute ich es wieder auf.“

„Wollten Sie nicht länger lernen?“

„Ich war ein Rebell. Konnte es nicht erwarten, die Schule hinter mir zu lassen, und die Lehrer konnten es nicht erwarten, mich loszuwerden. Manchmal bereue ich es heute, denn Bildung ist ein wertvolles Gut. Aber vielleicht wäre ich dann heute nicht da, wo ich bin.“

„Haben Ihre Eltern nicht versucht, Sie davon abzuhalten?“

Es schien, als zöge er sich hinter eine schützende Mauer zurück. Anders ließ sich die Verwandlung, die mit ihm vorging, nicht beschreiben. „Ich habe meine Eltern nie gekannt. Ich war einer dieser Fälle, über die man in der Zeitung liest. Ein Neugeborenes, das jemand auf den Stufen eines Krankenhauses abgelegt hat. Ich wurde adoptiert, aber meine Adoptiveltern starben bei einem Autounfall, als ich drei Jahre alt war. Sie hinterließen mir ihren Namen und eine Erbschaft, die ich mit achtzehn antreten durfte. Davon kaufte ich meine erste Immobilie“, berichtete er mit flacher, emotionsloser Stimme.

Kim konnte ihr Entsetzen nur mühsam verbergen. „Bei wem sind Sie aufgewachsen?“

„Bei diversen Pflegeeltern.“ Er zuckte die Schultern. „Ich war nicht gerade pflegeleicht. Was ist mit Ihnen? Haben Sie Geschwister?“, wechselte er abrupt das Thema, offenbar nicht gewillt, noch mehr von sich preiszugeben.

„Ich bin ein Einzelkind. Meine Mutter hätte gern mehr Kinder gehabt, aber es sollte nicht sein. So war ich eine doppelte Enttäuschung für sie.“

„Wie meinen Sie das?“

Sie hatte es gar nicht erwähnen sollen. Der Wein war schuld, er löste ihr die Zunge. „Meine Mutter wünschte sich ein hübsches kleines Mädchen, das den ganzen Tag mit Puppen spielt“, sagte sie missmutig, „aber so war ich nicht.“

„Sondern?“ Er beugte sich interessiert vor.

„Ich war ein Wildfang.“

„Und Ihre Mutter wollte etwas anderes aus Ihnen machen?“

„Nicht wirklich. Ich hatte nur ständig das Gefühl, sie zu enttäuschen.“

„Nur weil Sie Sie selbst waren?“

Es klang so verärgert, dass Kim das Gefühl hatte, ihre Mutter in Schutz nehmen zu müssen. „Sie war nicht lieblos zu mir, das dürfen Sie nicht glauben. Sie war und ist eine wunderbare Mutter. Wir sind nur sehr unterschiedlich, das ist alles. Sie ist klein und hübsch und sehr feminin, wie eine dieser altmodischen Südstaatenschönheiten.“ Sie lächelte, doch Ben lächelte nicht zurück.

„Wie die Frauen in ‚Vom Winde verweht‘, Sie wissen schon“, ergänzte sie schnell.

Woraufhin er unvorstellbarerweise erwiderte: „Ich finde Sie sehr feminin.“

Du meine Güte … Offenbar glaubte er, ihr ein Kompliment machen zu müssen. Kim spürte, wie sie vor Verlegenheit rot anlief. „Besten Dank“, erwiderte sie betont munter in der Hoffnung, die heikle Konversation damit beenden zu können.

„Sind Sie anderer Ansicht?“ Ben schien nicht die Absicht zu haben, das Thema fallen zu lassen, nur weil seine Gesprächspartnerin vor Peinlichkeit am liebsten im Boden versunken wäre.

„Nein, nicht wirklich.“ Zum Glück erschien in diesem Moment der Kellner mit dem Dessert. Kim wäre ihm vor Dankbarkeit am liebsten um den Hals gefallen, beließ es aber bei einem strahlenden Lächeln, das den armen Mann schon genug irritierte.

„Hmm, köstlich.“ Mit fast ungebührlichem Eifer attackierte sie das Tortenstück auf ihrem Teller. „Absolut göttlich.“

Ben wartete einen Moment, bevor er sagte: „Sie sind eine sehr attraktive, feminine Frau. Das würde Ihnen jeder Mann hier bestätigen.“

Einen grauenvollen Augenblick lang befürchtete sie, er werde eine Umfrage unter den Anwesenden durchführen. Wenn er sie doch nur nicht so durchdringend ansehen würde mit seinen klaren blauen Augen, denen nichts zu entgehen schien …

Ihr stummes Flehen wurde erhört. Für den Rest der Mahlzeit gab Ben den netten, amüsanten Gesellschafter. Eine Rolle, die er perfekt beherrschte, wie sie leicht verstimmt feststellte. Wie hatte sie nur ausgerechnet ihm gegenüber ihr Problem mit ihrer Körpergröße und ihren üppigen Kurven erwähnen können? Er musste gedacht haben, sie sei auf Komplimente aus. Oder leide unter irgendeinem Kindheitstrauma, was vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen war. Aber sie wäre lieber splitternackt durch London spaziert, als Ben West den Eindruck zu vermitteln, sie wolle irgendwelche Schmeicheleien von ihm hören.

Als sie aus dem vollklimatisierten Restaurant hinaus ins Freie traten, schlug ihnen der typische Geruch der Großstadt entgegen, eine Mischung aus Abgasen, heißem Asphalt, Imbissbuden und Menschenmengen. „Danke für das nette Abendessen.“ Kim hatte es eilig, sich zu verabschieden. „Wir sehen uns dann morgen früh.“

„Ich fahre Sie noch zum Bahnhof.“ Ben, der mit dem Wagen da war, hatte nur ein Glas Wein getrunken, sie dagegen zwei. Sie würde ihr Auto in Surrey am Bahnhof stehen lassen und sich ein Taxi nehmen.

„Danke, nicht nötig“, lehnte sie hastig ab. „Ein kleiner Spaziergang wird mir guttun.“ Der Gedanke, wieder in diesem schicken schwarzen Schlitten zu sitzen, noch dazu neben Ben, war ihr gar nicht geheuer.

Er widersprach nicht, lächelte nur höflich. „Wie Sie wollen. Dann gute Nacht, Kim.“

„Gute Nacht.“ Sie wandte sich ab und setzte so vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als trüge sie Stilettos statt der sehr gemäßigten Absätze, die sie sich gerade noch zugestand.

In einem italienischen Schuhgeschäft hatte sie einmal todschicke, schwindelerregend hochhackige Pumps anprobiert. Ihre Beine hatten endlos lang gewirkt, doch der Rest ihres Körpers leider auch. Resigniert hatte sie sich für ein flacheres Paar entschieden. Selbst darin war sie noch mit David auf Augenhöhe gewesen.

Wenn ich mit Ben zusammen wäre, könnte ich diese traumhaften Pumps tragen!

Der Gedanke brachte sie ins Stolpern, doch sie fing sich und ging weiter, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Für heute hatte sie sich genug blamiert.

Erst zu Hause, als sie schon unter der Bettdecke lag, fiel ihr wieder ein, was Ben von seiner Kindheit erzählt hatte. Es tat weh, sich den harten, zynischen Mann, den sie kannte, als verstörten kleinen Jungen vorzustellen. Dann das Pech mit seiner Frau, die ihn offenbar fortwährend betrogen hatte, die Trennung von seiner Tochter, die erst seit dem Unfall wieder bei ihm lebte … Er mochte eine glückliche Hand für Geschäfte haben, aber privat war ihm nicht viel Glück beschieden gewesen.

Sie dachte noch eine Weile über ihn nach, dann blendete sie alle Gedanken aus und entspannte sich, wie sie es nach der Trennung von David gelernt hatte.

Innerhalb weniger Minuten war sie eingeschlafen.

5. KAPITEL

Der nächste Tag im Büro verlief Kims bangen Erwartungen zum Trotz geradezu enttäuschend normal. Es ging hektisch wie immer zu, doch das Verhältnis zwischen Ben und ihr wirkte in keiner Weise angespannt, jedenfalls nicht von seiner Seite aus. Man hätte meinen können, es habe das gemeinsame Dinner nie gegeben.

Die Woche verging wie im Flug. Kim wusste, sie machte ihre Sache gut. Sie lernte, Aufgaben zu delegieren und auf diese Weise ihr enormes Arbeitspensum zu verringern. So gern sie mit Pat zusammengearbeitet hatte, empfand sie es doch als angenehm, das Büro für sich allein zu haben. Nun konnte sie sich voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren – außer wenn Ben ins Vorzimmer kam, um etwas mit ihr zu besprechen.

Wenn er sehr eingespannt war, rief er sie zu sich und ratterte seine Anweisungen wie ein Maschinengewehr herunter. Hin und wieder aber, wenn er mit seinem messerscharfen Verstand ein bestimmtes Problem zu lösen versuchte, kam er ins Vorzimmer geschlendert und fragte, lässig an ihren Schreibtisch gelehnt, nach Kims Meinung. Zum Glück kam das nicht allzu häufig vor. Sein überaus attraktiver Anblick und der feinwürzige Duft seines Aftershaves stärkten nicht gerade ihre Arbeitsmoral. Jedes Mal quälten sie noch Stunden später heiße Fantasien, die ihr früher nie in den Sinn gekommen wären.

An diesem Wochenende war sie schon nicht mehr ganz so erschöpft. Sie schaffte es sogar, am Sonntag bei ihren Eltern zu Mittag zu essen. Der Besuch verlief allerdings weniger harmonisch, da ihre Mutter bei Tisch geschickt einfließen ließ, dass Angela, die Tochter einer Freundin, gerade ein entzückendes Baby zur Welt gebracht habe und in der Mutterschaft aufgehe wie eine Glucke. Was Kim zu der Bemerkung veranlasste, Angela sei schon immer wie eine Ente gewatschelt.

Der Montagmorgen brachte jene brütende Hitze mit sich, auf die für gewöhnlich Gewitter und starke Regengüsse folgten. In ihrem leichtesten, aber dennoch bürotauglichen Sommerkleid machte Kim sich auf den Weg zur Arbeit. Sie war ganz stolz, dass sie sogar daran gedacht hatte, einen Regenschirm mitzunehmen.

Kurz bevor sie das imposante Bürogebäude von West International betrat, merkte sie dann, dass sie den Schirm im Zug hatte stehen lassen. Na wunderbar, jetzt würde es bestimmt regnen. Beinahe wäre Kim der Länge nach hingefallen, als ihr Absatz in einer Ritze im Asphalt hängen blieb und abbrach.

Bravo, Kim! Sie ließ den Absatz, wo er war, und humpelte ins Foyer, wo Christine, die Rezeptionistin, ihr fröhlich erklärte, genau das sei der Grund, warum sie immer ein Paar Ersatzschuhe dabeihabe. Grimmig lächelnd bedankte sich Kim für den Tipp.

In ihrem Büro angekommen, kickte sie die Pumps unter den Schreibtisch und nahm sich vor, in der Mittagspause neue zu besorgen, falls sie dazu kam. Und natürlich einen Regenschirm, wenn sie schon mal dabei war. Es versprach einer dieser Katastrophentage zu werden, an denen einfach alles schiefging.

Ihre böse Vorahnung schien sich zu bestätigen, als Ben kurz darauf mit einem rosa Umschlag in der Hand ihr Zimmer betrat. Ohne jede Einleitung, wie zum Beispiel einem freundlichen: „Na, wie war Ihr Wochenende?“, baute er sich vor ihr auf und musterte sie aus schmalen Augen. „Worüber haben Sie mit Lucy gesprochen?“

„Wie bitte?“, fragte Kim argwöhnisch.

„Neulich auf dem Parkplatz.“

Sie sah ihn an, aber seine Miene war wie immer undurchdringlich. Gut, dachte sie, das kann ich auch. „Das weiß ich nicht mehr“, erwiderte sie schulterzuckend.

Plötzlich wirkte er geradezu bedrohlich, wie er da vor ihr stand – groß, dunkel und umwerfend attraktiv in seinem silbergrauen Hemd und grauer Hose. Doch dann lächelte er unvermittelt und sagte: „Was immer es war, Sie haben großen Eindruck auf meine Tochter gemacht. Dies ist eine Einladung zu ihrer Geburtstagsparty am Wochenende.“ Der rosa Umschlag landete vor Kim auf dem Schreibtisch.

Sie schrak zusammen, als handele es sich um etwas Explosives. „Mich?“

„Sie.“ Schon zum Gehen gewandt, teilte er ihr beiläufig mit: „Eine ganz zwanglose Feier mit Barbecue am Pool und einer Liveband. Die halbe Welt wird da sein.“

Seine Welt. Und sie kannte keine Menschenseele und war nicht einmal sicher, dass Lucy sie wirklich dabeihaben wollte. Junge Mädchen konnten ziemlich boshaft sein. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie ihre Klassenkameradinnen sie wegen ihrer Größe gehänselt hatten. Vielleicht erlaubte Lucy sich nur einen Scherz mit ihr. Sie wollte gerade eine Entschuldigung vorbringen, als Ben hinzusetzte: „Übrigens, ich habe Lucy gesagt, dass Sie vielleicht schon etwas anderes vorhaben. Sie müssen sich also nicht verpflichtet fühlen, die Einladung anzunehmen. Obwohl Sie natürlich herzlich willkommen sind, falls Sie Zeit haben sollten.“

Mit anderen Worten, es lag ihm nicht allzu viel daran, dass sie kam. Was Kim so ärgerte, dass sie spontan verkündete: „Oh, ich habe an diesem Wochenende tatsächlich noch nichts vor.“ Wie an den meisten anderen auch nicht.

„So? Da wird Lucy sich aber freuen.“ Damit verschwand er in seinem Büro.

Wie kann man nur so dumm sein?

Kim saß vor ihrem Computer und fragte sich, was in sie gefahren war. Das allerdings war leicht zu beantworten. Ein kleines Teufelchen namens verletzter Stolz war schuld. Ben hatte deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er nicht mit ihrem Erscheinen rechnete und auch keinen großen Wert darauf legte. Was sie daran erinnert hatte, wie sie damals auf den Schulpartys, wenn die Schmusemusik lief, immer einsam und allein am Rand gestanden hatte. An all den Spott, den sie als Teenager hatte ertragen müssen, an die Demütigung durch David. Und nicht zuletzt an die Schmach, „Amazone Abbott“ genannt zu werden. Ich denke gar nicht daran, mir immer alles gefallen zu lassen, hatte eine Stimme in ihr aufbegehrt.

Sie seufzte. Das hatte sie nun von ihrer Überempfindlichkeit. Ben hatte sie sicher nicht kränken wollen. Was interessierte es ihn, ob seine Sekretärin zur Geburtstagsfeier seiner Tochter kam oder nicht? Mit ihrem früheren Chef Alan Goode und seiner Frau hatte sie sich auch bestens verstanden, seine Kinder gehütet und sogar an der einen oder anderen Familienfeier teilgenommen. Und dabei war ihr immer klar gewesen, dass es sich nur um eine Zweckfreundschaft handelte. Dass sie entbehrlich war. Es hatte sie nie gestört. Warum störte es sie jetzt?

Weil Alan Goode nicht Ben West war.

Wieder seufzte sie tief. Die unbequeme Wahrheit lautete, dass sie ihr Verhältnis zu Ben in den Griff bekommen musste, wenn sie diesen Traumjob nicht gleich wieder verlieren wollte. Also redete sie sich streng ins Gewissen.

Ben übte nun einmal eine starke Wirkung auf Frauen aus. Sie war längst nicht die Einzige, die er mit seinem Charme bezaubert hatte. Selbst Pat war es so ergangen. Doch ein Problem war das Ganze nur, wenn sie es dazu machte.

Autor

Jessica Steele
Jessica Steele stammt aus der eleganten Stadt Royal Leamington Spa in England. Sie war ein zerbrechliches Kind und verließ die Schule bereits mit 14 Jahren als man Tuberkulose bei ihr diagnostizierte. 1967 zog sie mit ihrem Mann Peter auf jenen bezaubernden Flecken Erde, wo sie bis heute mit ihrer Hündin...
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