Julia Herzensbrecher Band 25

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FREIBEUTER DER LIEBE von AMY ANDREWS
Die Fortsetzung zu ihrem Piratenroman will Autorin Stella einfach nicht gelingen. Da taucht ihr alter Freund Rick auf. Als Kinder spielten sie zusammen Pirat und Meerjungfrau. Nun lädt er sie auf seine Segeljacht ein: zu einer Schatzsuche! Können Stellas süße Küsse Rick zeigen, dass ihre Liebe wertvoller ist als alle Schätze der Welt?

LIEBE – WILD WIE DAS MEER von JENNIFER LEWIS
Jack Drummonds Duft nach Seeluft ist noch genauso unwiderstehlich wie damals. Sechs Jahre nachdem der Schatzsucher sie verlassen hat, will Vicki mit ihm einen versunkenen Pokal aufspüren. Der Finderlohn soll sie vor dem Ruin retten – doch wer rettet ihr Herz, wenn sie Jack noch einmal verliert?

LOCKENDE STERNE DER KARIBIK von PENNY ROBERTS
Auf der Trauminsel Curaçao begegnet Athena dem Abenteurer Dylan Harris. Gemeinsam tauchen sie im kristallklaren Wasser nach einem Schatz, bis ein Sturm sie zwingt, auf eine einsame Insel zu flüchten. Am samtschwarzen Himmel der Karibik locken die Sterne zu einer Nacht der Liebe ...


  • Erscheinungstag 02.12.2022
  • Bandnummer 25
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512725
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amy Andrews, Jennifer Lewis, Penny Roberts

JULIA HERZENSBRECHER BAND 25

PROLOG

Lady Mary Bingham hatte in den zwanzig Lenzen ihres jungen Lebens noch nie so ein Prachtexemplar der männlichen Spezies zu Gesicht bekommen wie den Mann, der jetzt die Hand ausstreckte, um ihr an Bord zu helfen. Pirat oder nicht, Vasco Ramirez brachte jede Faser ihres Körpers zum Prickeln. Seine strahlend blauen Augen, von derselben Farbe wie der tropische Ozean, der die Riffe umsäumte, berührte etwas in ihr, von dessen Existenz sie bislang nichts geahnt hatte.

Dessen Existenz sie jedoch nicht länger leugnen konnte.

Hätte sie zu Ohnmachten geneigt, wäre dies wohl ein passender Moment gewesen. Doch sie fand die Gepflogenheit ermüdend und erlaubte sich nicht einmal weiche Knie. Frauen, die ständig hysterische Anfälle hatten und alle zwei Sekunden nach Riechsalz verlangten – wie ihre Tante –, waren für sie keine Vorbilder.

Ihr stockte der Atem, während Vasco Ramirez mit seinen schönen, von dunklen Wimpern umrahmten Augen unverhohlen jeden Zentimeter ihres Körpers studierte. Als er den Blick wieder auf ihr Gesicht richtete, bestand kein Zweifel, dass ihm gefiel, was er gesehen hatte. Mit dem Daumen strich er sanft über die Haut auf ihrem Unterarm, und sie erschauerte.

In sein sonnengebräuntes, exotisches Gesicht blickend, wusste sie, dass sie Angst haben sollte. Offenbar war sie vom Regen in der Traufe gelandet.

Doch seltsamerweise hatte sie keine Angst.

Nicht einmal, als sein Blick auf die milchweiße Haut fiel, wo ihr Puls wild gegen ihren Hals schlug. Oder tiefer, wo ihre Brüste gegen den engen Stoff ihres Mieders drängten. Es löste keine Angst in ihr aus, dass er ihren Busen, der sich aufgeregt hob und senkte, so eingehend betrachtete – doch was es in ihr auslöste, bot durchaus Grund zur Angst.

Ihr Onkel, der Bischof, hätte ihn als Handlanger des Teufels bezeichnet. Ein Mann, der unschuldige Damen zur Sünde verführte, doch seltsamerweise war sie zum ersten Mal in Versuchung. Der Gedanke war prickelnd, und sie sog scharf die Luft ein, verärgert, dass dieser Freibeuter so eine bestürzende Wirkung auf sie hatte.

Schließlich war er ein Pirat wie jeder andere.

Empört blickte Mary auf seinen Daumen. „Lassen Sie mich sofort los“, befahl sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Ramirez’ Lächeln war mindestens so charmant wie unverschämt. „Wie Sie wünschen“, murmelte er. Er beugte sich über ihre Hand, sodass sie seinen Atem an den zarten Knochen ihres Handgelenks und ihrer Handinnenfläche spürte, fuhr mit den Fingern an den blauen Adern ihres Unterarme entlang und gab sie frei.

Lady Mary schluckte. „Ich bestehe darauf, dass Sie mich umgehend zu meinem Onkel zurückbringen.“

Vasco bewunderte ihren Schneid. Das Mädchen, das kaum dem Teenageralter entwachsen war, mochte ihm fest in die Augen schauen, doch er konnte ihre Angst riechen, wie es nur ein Veteran hunderter Beutezüge auf offener See vermochte.

Der Herr allein wusste, wie es ihr in den zwei Tagen ergangen sein mochte, die sie sich in der Gewalt von Juan del Toro und seiner Mannen befunden hatte. Doch etwas sagte ihm, dass dieses verwöhnte englische Fräulein sich zu wehren wusste.

Und für Jungfrauen gab es auf den Sklavenmärkten viel Geld.

„Wie Sie wünschen“, wiederholte er.

Argwöhnisch verengte Mary den Blick. „Sie kennen meinen Onkel? Wissen Sie, wer ich bin?“

Er lächelte. „Sie sind Lady Mary Bingham. Der Bischof hat mich beauftragt, Sie zu … Sie zu finden.“

Zum ersten Mal seit zwei Tagen sah Mary ein Ende des Albtraums, der mit ihrer Verschleppung vor achtundvierzig Stunden unten am Kai begonnen hatte, und fast wäre sie auf den feuchten Planken zu seinen Füßen gesunken. Sie hatte ihre Entführer von Sklavenmärkten reden hören und sich zu Tode gefürchtet.

Doch leider gehörte sich für eine junge Dame aus gutem Hause nicht, einem Piraten zu Füßen sinken, selbst wenn er im Auftrag ihres Onkels handelte. „Danke“, sagte sie höflich. „Ich bin Ihnen zutiefst dankbar für ihre schnelle Hilfe. Juan del Toros Männer wissen nicht, wie man eine Dame behandelt.“

„Danken Sie mir nicht zu früh, Lady Bingham.“ Er lächelte stählern. „Es liegen viele Meilen zwischen hier und Plymouth, und am Ende kümmert es meine Männer vielleicht weniger, dass Sie eine Dame sind, und vielmehr, dass Sie eine Frau sind.

Arrogant zog Mary die Augenbrauen hoch, in der Hoffnung, über ihren rasenden Puls hinwegzutäuschen. „Und Sie würden Ihrer Mannschaft so ein Verhalten durchgehen lassen?“

Vasco lächelte charmant, und sein dunkles, verstrubbeltes Haar ließ ihn aussehen wie den Teufel höchstpersönlich. „Meiner Mannschaft natürlich nicht, Lady Bingham. Aber Kapitäne genießen gewisse Privilegien …“

Seufzend schloss Stella Mills das Dokument in ihrem PC und ließ das abenteuerliche achtzehnte Jahrhundert hinter sich, um ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Sie konnte die Worte, die ihr vergangenes Jahr mühelos aus der Feder geflossen waren und sie über Nacht zur Bestsellerautorin gemacht hatten, immer wieder lesen, doch das änderte nichts an den Tatsachen: Ein einziges Buch machte noch längst keinen Schriftsteller.

Egal wie viele Verlage einander bei Piratenherz überboten hatten, egal auf wie viele Bestsellerlisten sie es geschafft und egal wie viel Fanpost sie bekommen hatte oder wie viel Geld für die Filmrechte.

Egal wie verrückt die Leser nach Vasco Ramirez waren.

Sie wollten mehr.

Und der Verlag auch.

Stella starrte auf den blinkenden Cursor auf der leeren Seite. Derselbe blinkende Cursor, den sie jetzt schon seit fast einem Jahr anstarrte.

Oh, Gott. „Ich bin eine Eintagsfliege“, stöhnte sie und ließ den Kopf auf die Tastatur sinken.

Ein Klopfen an der Tür verhinderte, dass sie vor Selbstmitleid zerfloss. Sie hob den Kopf. Mehrere Zeilen Buchstabensalat starrten ihr entgegen.

Wieder ein Klopfen, energischer als das letzte. „Ich komme“, rief sie und tat, was sie seit einem Jahr jeden Tag tat – sie löschte den Text.

Während sie zur Tür eilte, klopfte es ein drittes Mal. „Okay, okay, ist ja gut“, sagte sie, riss die Tür auf – und blickte in strahlend blauen Augen von derselben Farbe wie der warme, tropische Ozean. Sie blinzelte. „Rick?“

„Stella“, murmelte er und beugte sich vor, um ihr einen Kuss auf die eine, dann auf die andere Wange zu drücken.

Stella schloss kurz die Augen, während der Duft von Meeresluft und Salzwasser ihre Sinne benebelte, wie immer, wenn sie Riccardo Granville so nah war. Als sie die Augen wieder aufschlug, tauchte ihre Mutter hinter Rick auf. Ihre Augen waren gerötet, und sie kaute nervös an ihrer Unterlippe.

Ihre Mutter wohnte in London, und Ricks Heimat war das Meer. Warum waren sie hier? In Cornwall. Zusammen?

Stella überkam ein ungutes Gefühl.

„Was ist los?“, wollte sie wissen, und das Blut rauschte ihr in den Ohren wie ein reißender Sturzbach, als sie von einem zum anderen blickte.

Ihre Mutter trat auf sie zu und umarmte sie. „Liebling“, murmelte sie, „es geht um Nathan.“

Stella blinzelte. Ihr Vater?

Sie blickte über die Schulter ihrer Mutter in Ricks betrübtes Gesicht. „Rick?“, fragte sie, in der Hoffnung auf irgendetwas, das sie vor dem Abgrund zurückhielt, an dessen Rand sie balancierte.

Rick blickte auf die Frau herab, die er fast sein ganzes Leben kannte, und schüttelte traurig den Kopf. „Es tut mir leid.“

1. KAPITEL

Sechs Monate später …

Noch immer blinkte der Cursor auf derselben leeren Seite. Auch wenn es Stella eher so vorkam, als würde er spöttisch blinzeln.

Es gab keine Worte. Keine Story.

Keine Figuren in ihrem Kopf. Keine Handlung, die wie ein Film vor ihrem inneren Auge ablief. Keine brillanten Dialogfetzen, die zu Papier gebracht werden wollten.

Nur Stille.

Und obendrein Trauer.

Und gleich würde Diana kommen.

Prompt verkündete ein Klopfen an der Tür die Ankunft von Stellas bester Freundin. Normalerweise wäre sie aufgesprungen, um Diana zu begrüßen, aber heute nicht. Einen Moment lang erwog sie sogar, die Tür überhaupt nicht zu öffnen.

Heute kam Diana nicht als ihre Freundin.

Heute kam Diana im Auftrag des Verlags.

Und Stella hatte ihr das erste Kapitel versprochen …

„Ich weiß, dass du da drin bist. Soll ich etwa die Tür eintreten?“

Die Stimme klang gedämpft, aber entschlossen. Sich ihrem Schicksal ergebend, durchquerte Stella das Zimmer – von ihrem Arbeitsbereich in der Fensternische mit dem spektakulären Hundertachtzig-Grad-Blick auf die zerklüftete kornische Küste bis zur Haustür. Nachdem sie tief Luft geholt hatte, schob sie den Riegel zurück und öffnete.

Diana breitete die Arme aus. „Süße“, murmelte sie und drückte Stella so fest an sich, dass diese kaum noch Luft bekam. „Wie geht es dir? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“

Stella war plötzlich so froh, ihre Freundin zu sehen, dass ihr die Tränen kamen. Sie kannten sich erst seit der Uni, aber Diana hatte seit der Beerdigung fast jeden Abend angerufen und kam regelmäßig vorbei.

„Nicht so besonders“, gestand sie, an Dianas Schulter gelehnt.

„Natürlich nicht.“ Diana strich ihr tröstend über den Rücken. „Dein Vater ist gestorben, das ist ganz normal.“

Diana wusste, wovon sie sprach: Ihre Eltern waren gestorben, kurz bevor die Freundinnen sich kennengelernt hatten.

„Ich will mich aber nicht so fühlen.“

Diana drückte sie noch fester. „Das geht vorbei. Irgendwann. Solange musst du tun, was du tun musst. Und ich denke, wir fangen mit einem schönen Glas Rotwein an.“

Diana hielt die Flasche Shiraz hoch, die sie in Penzance gekauft hatte, auf dem Weg zu dem windumtosten Cottage auf den Klippen, in dem ihre Freundin allein wohnte, seit ihr verklemmter Verlobter Dale die Flucht ergriffen hatte, weil er mit dem Erfolg von Piratenherz nicht klarkam.

Natürlich behauptete Stella, dass die spektakuläre Küste sie beim Schreiben inspirierte, doch da noch immer kein neuer Roman vorlag, kaufte Diana ihr das nicht ab.

Stella sah auf die Uhr und lachte zum ersten Mal an diesem Tag. Es war zwei Uhr nachmittags. „Ein bisschen früh, findest du nicht?“

Diana schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ach was, man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Außerdem ist November, es ist praktisch schon dunkel.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Diana ihren Rollkoffer ins Haus und trat die Tür mit den zehn Zentimeter hohen Absätzen ihrer Stiefel hinter sich zu. Dann streifte sie den wadenlangen, figurbetonten Ledermantel und ihren Louis-Vuitton-Schal ab – alles ohne die Flasche abzustellen – und darunter kamen eine dunkelgraue Hose und ein hellrosa Kaschmir-Pullover zum Vorschein, der perfekt zu ihren vollen, glänzenden dunklen Locken passte.

Diana war typisch London.

Stella sah an sich hinunter und kam sich furchtbar schlampig vor. Graue Jogginghose, ein mit Kaffee bekleckerter Kapuzenpullover und flauschige Schlappen. Ein achtlos gebundener Pferdeschwanz.

Stella war typisch einsiedlerische Schriftstellerin.

Was ja ganz romantisch gewesen wäre, wenn sie in den letzten achtzehn Monaten etwas geschrieben hätte.

„Setz dich“, befahl Diana, während sie Weingläser holen ging.

Stella setzte sich auf ihr rotes Ledersofa, auch um sich weniger klein vorzukommen. Stella war fast einen Meter achtzig groß und kräftig gebaut wie eine Amazone oder Wonder Woman. Sie dagegen war nur knapp über einen Meter fünfzig, blond und pummelig.

„Da“, sagte Diana, drückte ihr ein riesengroßes Glas Rotwein in die Hand und stieß mit ihr an, bevor sie sich gegenüber auf den Schalensessel setzte. „Darauf, dass es dir bald wieder besser geht“, sagte sie und trank einen großzügigen Schluck.

„Darauf trinke ich“, stimmte Stella zu und nahm einen etwas maßvolleren Schluck. Sie starrte in die Tiefen ihres Weinglases, um dem Blick ihrer Freundin nicht zu begegnen.

„Du hast das Kapitel nicht, stimmt’s?“, fragte Diana, als das Schweigen unerträglich wurde.

Stella blickte Diana über den Rand ihres Glases an. „Nein“, gestand sie. „Tut mir leid.“

Diana nickte. „Schon gut.“

Stella schüttelte den Kopf und sprach endlich aus, was ihr auf der Seele lag, seit sie unter der Schreibblockade litt. „Was ist, wenn ich nur dieses eine Buch in mir hatte?“

Diese Angst plagte sie, seit sie ihren ersten Roman beendet hatte.

Vasco Ramirez wollte geschrieben werden. In all seiner Freibeuterpracht war er direkt aus ihrem Kopf auf die Seiten stolziert. Es war eine Freude gewesen, ein Geschenk.

Und jetzt?

Jetzt wollten die Leute einen neuen Piraten, und sie hatte keinen.

Diana hob beschwichtigend die Hand. „Unsinn“, sagte sie energisch.

„Aber wenn es doch so ist?“

Stella fürchtete das Urteil ihrer Lektorin Joy. Dass ihr nicht gefallen würde, was sie schrieb. Dass sie darüber lachen würde.

Alles war wie ein Traum gewesen – ein sechsstelliger Vorschuss, die New-York-Times-Bestsellerliste, Hollywood.

Vielleicht war es Zeit aufzuwachen?

Diana zeigte mit dem Finger auf sie. „So. Ein. Quatsch.“

Stella spürte, wie der Shiraz in ihrem Blut ihr schlechtes Gewissen noch beflügelte. Diana hatte sie von Anfang an bei ihren schriftstellerischen Ambitionen unterstützt und sie darin bestärkt, sich von ihrem Job als Lehrerin vorübergehend beurlauben zu lassen, um das verdammte Buch zu schreiben.

Sie war die Erste, die es zu lesen bekam. Die Erste, die sein Potenzial erkannte und darauf bestand, es ihrer Chefin zu zeigen, die genau das suchte, was Stella geschrieben hatte – einen saftigen historischen Liebesroman. Als Lektoratsassistentin eines Londoner Verlags war Diana überzeugt, einen Bestseller zu landen, und Stella konnte ihr Glück kaum fassen, als Dianas Prophezeiung sich bewahrheitete.

Sie lächelte ihre Freundin an, in der Hoffnung, nicht so verzweifelt zu wirken, wie sie sich fühlte. „Wirst du gefeuert, wenn du mit leeren Händen nach London zurückkommst?“

Diana schüttelte den Kopf. „Nein. Lass uns heute Abend nicht darüber reden. Heute Abend werden wir uns besinnungslos betrinken, morgen reden wir über das Buch. Einverstanden?“

Stella spürte, wie sich die Verkrampfung in ihren Schultern löste und lächelte. „Abgemacht.“

Zwei Stunden später wurde es draußen tatsächlich schon dunkel. Der Wind heulte um das Haus, rüttelte an den Fensterläden, was die beiden Frauen, die es sich vor dem Kamin gemütlich gemacht hatten, jedoch kaum bemerkten. Sie waren bei der zweiten Flasche Wein und fast am Ende einer großen Tüte Chips angelangt und lachten lauthals über alte Geschichten von der Uni.

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ sie beide aufschrecken, dann brachen sie sofort wieder in schallendes Gelächter aus.

„Mein lieber Schwan.“ Diana fasste sich an die Brust. „Ich glaube, ich hatte gerade einen Herzinfarkt.“

Stella lachte, während sie ein wenig schwankend aufstand. „Quatsch. Rotwein ist gut fürs Herz.“

„Nicht in solchen Mengen“, widersprach Diana, und Stella brach erneut in Gelächter aus, als sie zur Tür ging.

„Warte, wo willst du hin?“, murmelte Diana und kam mühsam auf die Beine.

Stella runzelte die Stirn. „Die Tür aufmachen.“

„Und wenn es ein zweiköpfiges Ungeheuer ist?“ Trotz ihres Alkoholpegels sah Diana den Regen gegen das Fenster hinter Stellas Schreibtisch schlagen. „Das ist der Inbegriff einer finsteren stürmischen Nacht da draußen.“

Stella hatte Schluckauf. „Oh, ich wusste nicht, dass Monster anklopfen, aber ich werde es höflich bitten zu verschwinden.“

Diana fing an zu gackern, und Stella lachte noch immer, als sie die Tür öffnete.

Vor ihr stand Vasco Ramirez. In Fleisch und Blut.

Das Licht aus dem Cottage badete sein gebräuntes Gesicht, fiel auf seinen Mund und erleuchtete seine blauen Bilderbuchaugen. Sein schulterlanges Haar, ein Relikt seiner Flegeljahre, hing in feuchten Strähnen herab, und an seinen unglaublich dunklen Wimpern hatten sich Wassertropfen gesammelt.

Er glich dem Piraten bis aufs Haar.

„Rick?“ Ihr stockte der Atem. Die Erinnerung an einen verunglückten Kuss vor fast zehn Jahren flatterte wie ein Schmetterling durch ihr Gehirn.

Rick lächelte. „Was ist denn das für eine Begrüßung?“, neckte er die perplexe Stella, als er sie wie immer zur Begrüßung auf beide Wangen küsste.

Ihr Kokosduft umhüllte ihn. Nathan hatte Stella jedes Jahr zum Geburtstag Kosmetikprodukte geschenkt, die nach Kokos rochen, und sie hatte die Cremes brav benutzt. Und tat es offensichtlich noch immer.

Stella schloss die Augen und wartete darauf, dass die Engel in ihrem Kopf Halleluja sangen, während das Aroma von Salz und Meer sie umhüllte. Denn er war so perfekt, dass nur der Himmel ihn geschickt haben konnte.

Sie blinzelte, als er sich von ihr löste. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Was weder mit seinem verführerischen Dreitagebart zu tun hatte noch mit der Berührung seiner Lippen, sondern mit seinem letzten Besuch.

Rick kam nicht einfach so vorbei.

Das letzte Mal, als er unangekündigt vor ihrer Tür stand, hatte er keine guten Neuigkeiten gehabt.

„Ist Mum …?“

Rick legte die Finger an ihre Lippen. „Pst. Linda geht es gut, Stella. Alles ist gut.“

Fast wäre sie vor Erleichterung in seine Arme gesunken. Lächelnd zog er seine Hand zurück, und sie erwiderte sein Lächeln, und während der Wind um sie herum toste und der Regen ihnen ins Gesicht schlug, war es, als wären sie wieder Kinder an Bord der Persephone.

„Also doch kein Moormonster?“, unterbrach Diana den magischen Moment.

Rick blickte über Stellas Schulter in das vage vertraute Gesicht einer attraktiven Brünetten. Sie betrachtete ihn mit unverhohlener Bewunderung, und er lächelte amüsiert.

Gott, er liebte eben Frauen.

Vor allem Frauen wie diese. Unkomplizierte Frauen, die gern lachten und sich amüsierten und flirteten, ohne gleich Bedingungen zu stellen.

„Schätzchen, ich bin alles, was du willst“, versprach er vollmundig, während er sich an Stella vorbeizwängte und die Hand ausstreckte. „Hi. Rick. Ich glaube, wir sind uns schon irgendwo begegnet.“

Lächelnd schüttelte Diana seine Hand. „Ja. Auf der Beerdigung. Diana“, stellte sie sich vor.

„Ach, ja, richtig“, sagte er und versuchte, Zeit zu gewinnen. Er war so schockiert und fassungslos gewesen, so damit beschäftigt, sich um Stella und Linda zu kümmern, dass er nicht viel mitbekommen hatte. „Du arbeitest für Stellas Verlag?“

Diana lächelte, und ihre Augen blitzten. Sie schien nicht im Geringsten gekränkt, dass Rick Schwierigkeiten hatte, sich an sie zu erinnern. „Hat ja eine Weile gedauert.“

Stella beobachtete interessiert, wie ihre beste Freundin und ihr – tja, was war Rick eigentlich? Ein alter Freund der Familie? Geschäftspartner ihres verstorbenen Vaters? Der Bruder, den sie nie hatte? – locker flirteten. Warum konnte sie nicht so sein? Der einzige Mann, in dessen Gesellschaft sie sich richtig wohlfühlte, war ein von ihr erdachter Pirat.

Ein dicker Regentropfen, der ihr in den Nacken fiel, riss sie aus ihren Gedanken, und sie registrierte, dass die Tür noch immer offenstand.

„Welchem Umstand verdanken wir das Vergnügen?“, fragte sie, während sie die Tür kopfschüttelnd schloss und sich zu den Turteltauben gesellte.

Rick blickte auf Stellas süße kleine Stupsnase herab. „Na ja“, er zwinkerte ihr zu, bevor er sich wieder Diana zuwandte, „ein Vogel hat mir gezwitschert, dass hier eine Party steigt.“

Diana lachte. Sie sah Stella an. „Du hast mir nie erzählt, dass er übersinnliche Kräfte besitzt.“ Dann eilte sie in die Küche, um noch ein Glas zu holen.

Rick sah ihr nach, bevor er sich zu Stella umdrehte. Sie blickte zu ihm auf, und ein vertrautes Verlangen, sie in seine Arme zu schließen, stieg in ihm auf. „Wie geht es dir, Stella?“, murmelte er.

Für Rick war der Tod von Nathan Mills fast noch schwerer zu verkraften gewesen als der seines eigenen Vaters. Nathan war sein Vormund und Mentor gewesen, seit Anthony Granville bei einer Kneipenschlägerei ums Leben kam, als Rick sieben war.

Stella zuckte die Schultern und versank förmlich in seinem mitfühlenden Blick. Manchmal fiel es ihr schwer, den wilden Bad Boy ihrer Fantasie mit dem fleißigen, verantwortungsbewussten, verständnisvollen Mann, der vor ihr stand, unter einen Hut zu bringen.

„Ich hasse es“, flüsterte sie.

In Wahrheit hatte Stella ihren Vater nur noch selten gesehen, seit sie angefangen hatte zu studieren.

Ein flüchtiger Besuch zu Weihnachten, ab und zu in der Post ein Umschlag mit einer perfekten Muschel, die er irgendwo am Strand gefunden hatte, eine gelegentliche E-Mail mit Fotos von ihm und Rick und einem erstaunlichen Fund vom Meeresgrund.

Doch allein das Wissen, dass er da draußen war und seinem Kindheitstraum von gesunkenen Galeonen folgte, hielt ihre Welt im Gleichgewicht.

Und jetzt, seit seinem Tod, war nichts mehr, wie es einmal war.

„Ich weiß.“ Rick legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie an seine Brust. „Ich hasse es auch.“

Und das tat er. Er hasste es zu tun, was er tat, ohne den einen Menschen an seiner Seite zu haben, der verstand warum. Er hasste es, sich umzudrehen, um etwas zu Nathan zu sagen, und er war nicht da. Er vermisste Nathans Weisheiten und seinen derben Humor.

Überwältigt von Trauer schloss Rick die Augen und genoss die Umarmung, die Vertrautheit, genoss es, wie perfekt Stella sich an ihn schmiegte, ihr Kopf genau unter seinem Kinn, ihre Wange an seiner Brust, genoss ihren Kokosduft.

Als Kinder war er der Pirat gewesen und sie die Meerjungfrau, und sie hatten sich unermüdlich Geschichten um versunkene Schätze ausgedacht, stundenlang in ihrer eigenen Welt gelebt. Das enge Band zwischen ihnen hielt bis heute.

Natürlich gab es Zeiten in ihrer Jugend, wo ihre Spiele etwas gewagter geworden waren, und obwohl nie etwas zwischen ihnen passiert war, hatten sie mit dem Feuer gespielt.

Als er sie jetzt in seinen Armen hielt, erinnerte er sich daran.

„Okay, okay, ihr beiden“, neckte Diana, als sie Rick ein Glas Rotwein in die Hand drückte. „Heute Abend wird nicht Trübsal geblasen. Das ist die Bedingung. Esst, trinkt und seid fröhlich.“

Widerstrebend wich Rick einen Schritt zurück, froh, dass Diana ihn in die Wirklichkeit zurückholte. Seit Nathans Tod hatte er viel an Stella gedacht, mehr als sonst.

Und nicht alle Gedanken waren unschuldig gewesen.

Er nahm den Wein. „Guter Plan“, befand er und stieß mit beiden Frauen an.

Stella deutete auf die Sessel, die um den Kamin standen, und sah zu, wie Rick seinen marineblauen Dufflecoat abstreifte und eine ausgetragene Jeans und ein Rollkragenpullover mit Zopfmuster zum Vorschein kamen.

Selbst an Land sieht dieser Mann aus, als gehörte er aufs Meer.

Diana machte es sich gemütlich und musterte ihn gründlich, was durch ihren Alkoholpegel erschwert wurde. „Irgendwie kommst du mir bekannt vor“, lallte sie.

Stella gefiel der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Freundin nicht. Sie kannte den Blick und wollte Diana bremsen.

„Ja, du kennst ihn von der Beerdigung“, sagte sie, in der Hoffnung, ihre Freundin von ihrer fixen Idee abzubringen.

Diana kniff die Augen zusammen. „Nein, nein“, meinte sie kopfschüttelnd. „Ich habe das Gefühl, als würden wir uns näher kennen.“ Schon bei der Beerdigung war er ihr irgendwie bekannt vorgekommen. Waren es die Augen? Oder sein Haar?

Rick lachte leise. „Vielleicht erinnere ich dich an deinen Großonkel Cyril?“

Diana lachte schallend, während sie an ihrem Wein nippte, und ihr Lachen klang, als würde Tinkerbell ihren Zauberstab schwingen.

Sie drohte mit dem Finger. „Netter Versuch, aber du siehst wirklich nicht aus wie irgendjemandes Großonkel.“ Erneut kniff sie die Augen zusammen und tippte sich dreimal mit dem Zeigefinger an die Nase. „Keine Sorge. Es fällt mir schon noch ein. Ich brauche nur“ – sie blickte auf ihr fast leeres Weinglas – „ein bisschen Zeit.“

Rick salutierte. „Ich bin gespannt auf das Ergebnis.“

Diana nickte. „Das solltest du auch sein.“

Rick sah zu Stella hinüber, die das Geplänkel still verfolgte. Der Feuerschein verwandelte die blonden Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, in Gold, und wieder musste er an die Spiele ihrer Kindheit denken, als sie die Meerjungfrau war, die mit ihrem Gesang dafür sorgte, dass sein Schiff an den Felsen zerschellte. Wie viele Male war er mit ihr über Riffen geschnorchelt, ihre wallendes blondes Haar im Wasser genau wie das der mythischen Meerjungfrauen?

„Und?“, fragte er, als das Schweigen drückend wurde. „Hast du sie bekommen?“

Stella runzelte die Stirn. „Was soll ich bekommen haben?“

„Deine Hälfte.“

„Meine Hälfte von was?“

Rick lächelte jungenhaft. „Von der Schatzkarte.“

Stella schüttelte den Kopf. „Wovon zum Teufel redest du?“

Ricks Miene verfinsterte sich, als er sein halb leeres Glas auf dem Couchtisch abstellte. „Du hättest sie Anfang letzter Woche bekommen müssen. Ich habe sie vor Ewigkeiten abgeschickt.“

Diana verdrehte die Augen. „Wahrscheinlich ist sie längst da. Stella beantwortet ihre Post nicht.“

Stella wurde rot, als ihre scharfsinnige Freundin zur Garderobe im Flur ging, wo sich die ungeöffneten Briefe stapelten. Sie hatte jeden Kontakt mit der Außenwelt gemieden – vor allem mit ihrem Verlag. Sie öffnete keine Briefe. Sie ging nicht ans Telefon. Sie las keine E-Mails.

Diana durchsuchte den Posthaufen flüchtig und zog einen flachen gelben Umschlag, beklebt mit einer ganzen Briefmarkensammlung, hervor.

„Ist der von dir?“, fragte sie und hielt ihn hoch.

Rick nickte. „Aye, aye, meine Schönste.“

Jetzt war es Stella, die die Augen verdrehte.

Lachend setzte Diana sich wieder zu ihnen und warf Stella den Umschlag in den Schoß. Die markante Handschrift ihres Vaters stach ihr ins Auge, und sie berührte die Buchstaben ehrfürchtig.

„Wo hast du das her?“, wollte sie wissen.

„Ich bin endlich dazu gekommen, Nathans Schreibtisch aufzuräumen. Der Umschlag lag in einer Schublade. Für mich war auch einer da.“

Stella nickte geistesabwesend. Es war seltsam, sechs Monate nach seinem Tod Post von ihrem Vater zu bekommen. Als würde er eine Hand aus dem Grab strecken.

„Willst du es nicht aufmachen?“, fragte er leise.

Stella blickte ihn durch die blonden Strähnen ihres Ponys an. „Will ich das?“

Er nickte lächelnd. „Wenn es das ist, was ich glaube, ja. Dann bestimmt.“

Obwohl Stella daran zweifelte, drehte sie den Umschlag um und schlitzte ihn sauber auf. Nach einem aufmunternden Nicken von Rick zog sie eine Schutzhülle mit losen Zetteln heraus. Eine kurze Notiz ihres Vaters war mit einer Büroklammer daran geheftet.

Stella, mein Liebes,

dort liegt Inigos Schatz. Ich weiß es einfach.

Du und Rick, ihr werdet ihn finden.

Macht mich stolz.

Daddy

Stella schluckte schwer, und für einen Moment verschwamm die kühn geschwungene Schrift vor ihren Augen. Seit bei der Autopsie herausgekommen war, dass ihr Vater Krebs im fortgeschrittenen Stadium hatte, fragte sie sich, ob der Tauchunfall tatsächlich ein Unfall gewesen war.

Der Brief schien zu bestätigen, dass er gewusst hatte, dass seine Tage gezählt waren, und beschlossen hatte, auf seine Weise zu gehen.

Sie blickte zu Rick. „Hast du dasselbe bekommen?“

Er nickte, und sie widmete sich erneut dem Inhalt des Umschlags. Ganz hinten war eine von Hand gezeichnete Karte.

Genauer gesagt, eine halbe Karte.

„Was ist das?“, fragte sie, weil sie die Kritzeleien ihres Vaters am Rand nicht entziffern konnte.

„Die andere Hälfte hier von“, erklärte Rick, zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Hosentasche und breitete es auf dem Couchtisch aus.

Diana beugte sich vor. „Ist das eine … Schatzkarte?“

Rick lächelte. „So ähnlich. Darauf sind die Stellen eingezeichnet, an denen das Schiff von Captain Inigo Alvarez gesunken sein könnte. La Sirena.

Mit angestrengter Miene versuchte Diana, sich an ihr Schulspanisch zu erinnern. „Die …?“

„Die Meerjungfrau“, half Stella zu übersetzen.

„Wie aufregend“, seufzte Diana. „Inigo Alvarez …“ Sie ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. „Klingt sexy.“

Rick lachte. „Das war er auch. Ein Pirat des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, der als Robin Hood der sieben Weltmeere galt. Er nahm von den Reichen und gab es den Armen.“

Stella bedachte Rick mit einem tadelnden Blick. „Robin Hood der sieben Weltmeere …“ Sie schüttelte missbilligend den Kopf. „Das ist nur Seemannsgarn, und das weißt du. Ermutige sie nicht noch.“

„Schade“, meinte Diana bedauernd.

„Okay, vielleicht war er genauso blutrünstig und skrupellos wie die anderen, aber es gibt genug historische Quellen, die seine Existenz und die der Sirena belegen“, sagte Rick ruhig. „Früher hast du auch daran geglaubt“, erinnerte er Stella.

Sie hatten beide daran geglaubt. Jeder Bergungsunternehmer schien eine Geschichte über den geheimnisumwitterten Captain Alvarez zu kennen, und als Kinder hatte sie jede einzelne aufgesogen, bis der Pirat in ihrer Fantasie zum Leben erwacht war. Rick nahm die Unterlagen, die der Karte beigelegt waren, dieselben wie in seinem Umschlag: Nathans Nachforschungen über den Seeräuber, der sie beide fasziniert hatte.

„Was ist aus ihm geworden?“, wollte Diana wissen.

„Er ist einfach verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt“, erzählte Rick. „Damals kursierten Gerüchte, La Sirena sei bei einem Sturm gesunken, voll beladen mit erbeuteten Schätzen.“

„Wo?“, flüsterte Diana gebannt, während Stella sich betont gleichmütig zurücklehnte. „Irgendwo hier, stimmt’s?“, hakte sie nach, während sie Stellas Hälfte der Karte nahm und beide Teile auf dem Tisch zusammenfügte.

Rick schüttelte den Kopf. „Offenbar hat Nathan das geglaubt. Niemand weiß das genau, aber Nathan hatte als Schatzsucher einen siebten Sinn, und wenn er glaubt, dass Inigos Schiff hier irgendwo liegt, dann wette ich, da ist was dran.“

„Warum hat er dann nicht selbst danach gesucht?“ Stella stand auf und ging zur Küchenspüle, um ihr fast volles Weinglas auszukippen. Plötzlich war sie wütend auf ihren Vater.

Wenn er gewusst hatte, dass er sterben würde, warum hatte er ihr nichts gesagt? Warum hatte er sich keiner Therapie unterzogen? Warum war er nicht nach Hause gekommen?

„Wann hätte er die Zeit haben sollen, Stella, bei so vielen anderen Projekten?“

Der Vorwurf in seiner Stimme ließ sie aufblicken, und plötzlich fühlte sie sich schuldig. Sie hatten beide gewusst, dass Nathan vorhatte, Inigos Schatz zu finden … eines Tages … wenn er in Rente ging …

„Warum zum Teufel hat er uns je eine Hälfte der Karte gegeben? Er muss doch gewusst haben, dass ich dir meine gebe.“

Rick stand auf und kam auf sie zu. „Ich glaube, er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, und vielleicht war das seine Art, dafür zu sorgen, dass wir in Kontakt bleiben. Ich glaube, er wollte, dass wir den Schatz gemeinsam suchen, und ich finde, wir sollten seinen Wunsch respektieren. Was meinst du? Die Wettervorhersage ist günstig. Willst du mit mir auf Schatzsuche gehen?“

Stella starrte Rick an. „Bist du verrückt? Meine Lektorin kriegt einen Herzinfarkt, wenn ich ihr das erzähle. Mein Buch ist überfällig, und ich habe wahrscheinlich die schlimmste Schreibblockade in der ganzen Literaturgeschichte, stimmt’s Diana?“

Sie blickte zu ihrer Freundin, die heftig nickte.

Er lächelte unbeeindruckt. „Nichts stimuliert die Muse so wie das weite Meer.“

Stella sah ihn fragend an. „Hast du keine anderen Bergungsaufträge?“

Rick zuckte die Schultern. „Damit werden die Jungs auch ohne mich fertig. Außerdem müssen wir erst etwas finden, bevor wir es bergen können. Eine kleine Erkundungsfahrt, ein paar Wochen, höchstens vier. Nur du und ich und das weite Meer. Salz, Seeluft und Sonne. Dann bekommst du mal ein bisschen Farbe“, drängte er mit Blick auf ihr blasses Gesicht. „Wie damals, als wir noch Kinder waren.“

Stella schüttelte den Kopf, obwohl der Gedanke sie reizte.

Sie waren keine Kinder mehr.

„Ich kann nicht. Ich muss ein Buch schreiben.“

„Ach, komm schon“, murmelte er, weil er ihre Sehnsucht spürte. „Du willst es doch auch. Du hast immer wie wild geschrieben, wenn du auf der Persephone warst. Erinnerst du dich? Ständig hast du was in dein Notizbuch gekritzelt.“

Sie erinnerte sich. Entweder hatte sie die Nase in ein Buch gesteckt oder sie hatte etwas geschrieben. Er hatte sie gnadenlos damit aufgezogen. Schon damals hätte sie erkennen müssen, dass sie dazu bestimmt war, Schriftstellerin zu werden. „Ich kann nicht. Nicht wahr, Diana?“

Diana sah Stella an, dann Rick, dann wieder zu ihrer Freundin. Wenn jemand einen Tapetenwechsel brauchte, dann Stella. Diese vier Wände waren offensichtlich zum Gefängnis für sie geworden, trotz der schönen Aussicht. Vielleicht würde eine Luftveränderung den Knoten lösen.

Und wenn sie auf dem offenen Meer am kreativsten war …

Joy würde einen Anfall kriegen, aber Diana hatte das Gefühl, dass ihre Freundin genau das brauchte. Hoffentlich behielt sie recht, denn man würde ihr den Kopf abreißen, wenn Stella sonnengebräunt, aber ohne Buch zurückkehrte.

Sie stand ebenfalls auf. „Ich finde, du solltest es tun. Ich finde, das ist eine tolle Idee.“

Stella blinzelte. „Was?“, sagte sie, während Ricks Lächeln drei Mal so breit wurde.

„Weise gesprochen“, bemerkte er und legte einen Arm um Dianas Schultern.

„Danke.“ Diana strahlte.

„Komm schon, Stella. Oder traust du dich nicht?

Stella verdrehte die Augen. Früher war ihre Freundschaft ein ständiges Kräftemessen gewesen. Wetten, du traust dich nicht, durch das Loch im Wrack zu schwimmen? Was ihr Vater streng verboten hatte. Wetten, du traust dich nicht, eine Münze vom Grund hochzuholen? Ebenfalls verboten. Wetten, du traust dich nicht, den Mantarochen zu berühren?

Es war ein Wunder, dass sie beide noch lebten.

Ihr fiel wieder ein, wann die Mutproben aufgehört hatten. An jenem Abend an Deck, als sie Rick herausgefordert hatte, sie zu küssen. Ob er sich daran erinnerte? Ein Blick in seine funkelnden Augen verriet ihr, dass er wusste, woran sie gerade dachte.

„Ich sag dir was“, sagte Rick und riss sich von der Erinnerung los, die ihn noch heute in seinen Träumen verfolgte, „entscheide dich nicht jetzt sofort. Schlaf erst mal drüber. Ich wette, morgen früh kommt es dir gar nicht mehr so verrückt vor.“

Stella hätte jederzeit darauf gewettet, dass ihr die Idee, nüchtern und bei Tageslicht betrachtet, noch viel verrückter vorkommen würde.

Vollkommen durchgeknallt.

Er beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, dann zwinkerte er Diana zu. „Kann ich hier schlafen?“

Stella kam sich vor wie ein Kind zwischen zwei Erwachsenen. „Was, kein Mädchen in diesem Hafen, Matrose?“, fragte sie bissig. Rick mangelte es an Land nie an weiblicher Gesellschaft.

Rick lachte leise in sich hinein. „Jedenfalls kein Mädchen, das so gute Pfannkuchen macht wie du.“

„Aha. Dich interessieren also nur meine Pfannkuchen“, neckte sie ihn.

„Und deine Hälfte der Schatzkarte.“ Er lächelte. „Ich bin total erledigt. Ich brauche eine Dusche. Und eine Woche Schlaf. Liegen die Handtücher da, wo sie immer liegen?“, fragte er im Hinausgehen, ohne eine Antwort abzuwarten.

Diana sah ihm nach. „Wow.“

Stella nickte. „Ja.“

Sie drehte sich zur Küchenspüle und stützte die Ellbogen auf den kühlen Stahl, wobei sie aus dem großen Erkerfenster in die finstere Nacht blickte. Diana stellte sich neben sie und nippte ein weiteres Mal an ihrem Wein.

„Trägt er Kontaktlinsen?“, fragte sie. „Es ist erstaunlich, dass jemand mit so dunkler Haut so blaue Augen hat.“

Erneut nickte Stella. Sie war davon bezaubert, so lange sie denken konnte. „Ja, faszinierend, nicht?“

„In welchem Zimmer schläfst du, Diana?“

Beide Frauen drehten sich ertappt um, als sie Ricks Stimme hinter sich hörten. Er war nackt, bis auf das wahrscheinlich kleinste Handtuch der Welt, das er sich um die Hüfte gewickelt hatte und festhalten musste, weil es nicht ganz herum reichte. Seine blauen Augen wirkten noch blauer, wenn nur ein Hauch von einem Nichts davon ablenkte.

„In dem auf der linken Seite“, erklärte Stella nach einem flüchtigen Blick auf die sprachlose Diana.

„Super, dann nehme ich das andere.“ Er lächelte den beiden zu. „Wir sehen uns dann morgen, die Damen.“

Stella und Diana sahen ihm nach und erhaschten einen Blick auf seinen nackten Hintern, bevor er um die Ecke verschwand.

Auf der einen Pobacke prangte ein perfektes, kreisrundes Muttermal.

Diana schnappte nach Luft, als sie plötzlich begriff. Sonnengebräunte Haut, strahlend blaue Augen, langes verstrubbeltes Haar, sinnliche Lippen und ein sehr süßer Schönheitsfehler an einer sehr speziellen Stelle.

„Oh, mein Gott!“ Sie sah Stella an. „Darum kommt er mir so bekannt vor. Er ist es – er ist Vasco Ramirez!“

2. KAPITEL

Stella wurde rot. „Psssst“, zischte sie. „Sei nicht albern.“

Diana lachte. „Die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel.“

Stella wandte sich wieder der Küchenspüle zu und begann, das Weinglas auszuspülen. „Vielleicht gibt es gewisse Ähnlichkeiten …“, stotterte sie.

„Ähnlichkeiten?“, wiederholte Diana mit schriller Stimme. „Ich wusste, dass ich ihn kenne. Ich wusste nur nicht, woher. Ich meine, seien wir doch ehrlich, hätte ich ihn irgendwo schon mal getroffen, hätte ich das wohl kaum vergessen – der Typ ist heiß. Und er sieht aus“, sie versetzte Stella einen Stups, „als würde er nichts anbrennen lassen.“

„Diana!“

Sie zuckte die Schultern. „Ich meine ja nur.“

„Sieh mich nicht so an“, murmelte Stella. „Du weißt, dass Dale der Einzige war.“

Diana schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ich kann nicht glauben, dass nie etwas zwischen euch gelaufen ist … na ja, ich meine, offensichtlich hast du daran gedacht, schließlich hast du einen dreihundertfünfundsiebzig Seiten langen erotischen Roman über den Mann geschrieben …“

„Hab ich nicht“, leugnete Stella, griff nach einem Geschirrhandtuch und trocknete hektisch das Glas ab.

Diana zog die Stirn kraus. „Stella, ich bin’s. Diana. Ich kenne dich.“

Stella sah ihrer Freundin in die Augen und wusste, dass leugnen zwecklos war. Sie ließ sich gegen die Küchenspüle sinken, „Okay, ja“, seufzte sie. „Rick war die Vorlage für Vasco.“

Ursprünglich hatte Stella gar kein Buch mit Rick als Held schreiben wollen, aber Vasco hatte wie von selbst Ricks Züge angenommen. Es war ihr erst so richtig bewusst geworden, als sie die erste Kussszene verfasste.

Da fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen.

„Ha! Ich wusste es!“ Diana klatschte entzückt in die Hände.

Stella verdrehte die Augen. „Das bleibt aber zwischen uns, Diana“, bat sie und legte eine Hand auf den Arm ihrer Freundin. „Versprochen?“

„Keine Sorge“, erwiderte Diana und winkte ab, „dein Geheimnis ist bei mir sicher.“

„Danke.“ Stella atmete erleichtert auf und wandte sich Richtung Kamin.

„Unter einer Bedingung“, fügte Diana hinzu, während sie Stella folgte und sich auf einen der Sessel fallen ließ. „Du fährst mit ihm.“

Stella, die mit den Holzscheiten im Kamin beschäftigt war, blickte auf. „Was?“

„Der Mann inspiriert dich ganz offensichtlich. Und du brauchst Inspiration.“

„Joy will keinen zweiten Vasco Ramirez, Diana.“

„Doch, genau das will sie“, widersprach Diana. „Vasco hat sich verkauft wie warme Semmeln. Vasco ist der King. Natürlich will sie noch einen Vasco.“

Stella sah ihre Freundin ungehalten an. „Du weißt genau, was ich meine.“

Diana seufzte. Sie wollte keine scharfen Geschütze auffahren. „Süße, es wird allmählich ungemütlich. Ich würde dir nicht raten, dich mit dem Verlag anzulegen. Die haben gute Anwälte. Es wird Zeit, den Quatsch mit der Schreibblockade zu vergessen und endlich mit dem neuen Buch anzufangen.“

Dianas Worte trafen Stella wie Messerstiche. „Glaubst du, ich denk mir das nur aus?“

Diana schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass der plötzliche Ruhm Versagensängste in Stella ausgelöst hatte. Der Tod ihres Vaters hatte alles noch schlimmer gemacht. Sie verstand, dass die Muse Stella nicht mehr hold war. Aber …

„Ich nicht. Aber die Anwälte.“

„Ich brauche nur ein bisschen mehr Zeit“, bat Stella.

Diana nickte. „Und die solltest du dir unbedingt nehmen. Geh mit Rick auf Schatzsuche, lass dich inspirieren.“

Stella schüttelte den Kopf. „Das ist doch verrückt.“

„Warum?“, wollte Diana wissen. „Weil du auf ihn stehst?“

„Ich stehe nicht auf ihn“, widersprach Stella eilig. Ein wenig zu eilig vielleicht. „Er ist ein alter Freund“, erklärte sie ungehalten. „Wir kennen uns schon ewig. Da ist nichts.“

Diana sah ihre Freundin an. Oh doch, da war etwas.

Wenn sie selbst seit fast einem Jahr keinen Sex gehabt hätte und die fünf Jahre davor mehr oder weniger Blümchensex, würde sie weiß Gott schnellstens etwas daran ändern. Dass Stellas Traummann zufällig gerade jetzt auftauchte, war eine Fügung des Schicksals.

„Wo ist dann das Problem?“, fragte Diana unschuldig. Sie hob beschwichtigend die Hand, als Stella protestieren wollte. „Hör zu, Rick hat recht. Schlaf drüber. Aber ich persönlich finde, du solltest fahren.“

„Aber das Buch …“, murmelte Stella in einem letzten Versuch, Diana zur Vernunft zu bringen.

Diana zuckte die Schultern. „So wie jetzt geht es jedenfalls nicht weiter, Süße.“

Als Stella zu Bett ging, war sie fest entschlossen, Rick und Diana am nächsten Morgen zum Teufel zu schicken.

Doch das war vor dem Traum.

Die ganze Nacht hatte sie von einer Meerjungfrau geträumt, die einem Piratenschiff folgte. Nein …

Sie selbst war die Meerjungfrau, und sie folgte dem Piratenschiff. Aus dem Innern des Schiffes drang hin und wieder eine einsame, volle Tenorstimme, die ein trauriges Liebeslied sang. Die Stimme war wunderschön, und die Meerjungfrau war verliebt, obwohl sie den Mann noch nie gesehen hatte. Doch sie wusste, es war ein Gefangener, und sie wusste, dass sie ihn retten musste.

Dass er der Richtige war.

Stella erwachte, noch ganz benommen von dem Traum. Er war so real gewesen, dass sie noch den Meeresschaum im Haar, die prachtvolle goldene Krone auf der Stirn spüren konnte.

Der Drang zu schreiben pulsierte durch ihre Adern. Hastig öffnete sie die Schublade ihres Nachtschranks, auf der Suche nach Stift und Papier. Sie wischte den Staub fort und begann zu schreiben. Innerhalb von zehn Minuten hatte sie ein grobes Handlungsgerüst und eine detaillierte Beschreibung von Lucinda der Meerjungfrau zu Papier gebracht.

Nachdem sie fertig war, lehnte sie sich zurück und starrte auf die Worte vor sich. Sie waren eine Offenbarung. Nicht nur, weil sie endlich etwas geschrieben hatte, das sie nicht gleich wieder wegradieren wollte, sondern weil es ein völlig neuer Ansatz war.

Keine Sekunde war Stella bisher auf die Idee gekommen, aus der weiblichen Perspektive zu schreiben. Vasco war so stark und dominant gewesen, dass er von ganz allein die Seiten beherrschte. Und sie war automatisch davon ausgegangen, dass ihr neuer Held eine ebenso starke Stimme hätte.

Die ganze Zeit hatte sie sich gequält, weil dieser neue Held sich ihr nicht offenbarte, weil sie kein Bild von ihm hatte.

Aber jetzt hatte sie Lucinda. Und Lucinda war fantastisch.

Lucinda versetzte sie in denselben Erregungszustand wie damals Vasco. Lucinda war keine Lady Mary, die darauf wartete, gerettet zu werden. Letztes Mal waren alle verrückt nach Vasco gewesen, diesmal würden sie verrückt nach Lucinda sein.

Sie spürte tief in ihrem Innern, so wie damals bei Vasco, dass Lucinda etwas ganz Besonderes war, obwohl sie damals noch zu unerfahren gewesen war, um es zu erkennen.

Diesmal erkannte sie es.

Oje, Joy würde wahrscheinlich ausflippen, wenn sie von der tolldreisten Meerjungfrau erfuhr. Stella konnte sie förmlich hören. Aber was ist mit Inigo, Stella?

Stella schnappte nach Luft, als ihr dieser Name in den Kopf schoss. Inigo. Natürlich, so hieß er. Inigo. Er musste Inigo heißen.

Es funktionierte.

Die Muse war ihr wieder hold.

Inigo würde stark und edel sein, denn eine starke Frau wie Lucinda brauchte einen ebenbürtigen Mann. Einen Mann, der ihren Zwiespalt verstand und sie nicht drängte, zwischen ihm und dem Meer zu wählen.

Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Plötzlich schien alles sonnenklar. Sie schlug die Bettdecke zurück und griff nach ihrem Frotteebademantel.

Sie musste aufstehen. Musste an ihren Computer.

Fast musste sie lachen, als sie in ihrer Hast über den eigenen Bademantel stolperte. Die Muse war gerade noch rechtzeitig zurückgekehrt. Sie war gerettet. Ihr blieb keine Zeit für Seefahrerabenteuer.

Sie musste eine Meerjungfrau erschaffen. Einen Helden, den es zu retten galt.

Lucinda rief.

Und Indigo.

Ihre Notizen in der Hand, eilte Stella zum Computer. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf den Tisch, während das Gerät sich einschaltete. Dann öffnete sie ein neues Word-Dokument und schrieb Der Ruf der Sirene in die Titelzeile.

Sie blinzelte. Ihre Finger hatten getippt, ohne dass sie vorher darüber nachgedacht hatte. Der Titel war einfach erschienen.

Es passierte ganz von selbst.

Dann blinzelte ihr der Cursor von der leeren Seite zu, und ihre Inspiration verschrumpelte wie eine Rosine.

Was? Nein …

Sie nahm die Hände von der Tastatur, wartete einige Augenblicke, dann versuchte sie es erneut. Wartete darauf, dass ihre Finger über die Tasten glitten und willkürlich Worte auf die Seite brachten. Sie warf einen Blick auf ihre Notizen und versuchte verzweifelt, sich an die feurige Lucinda zu erinnern.

Vergeblich.

„Du bist früh wach“, murmelte Rick an ihrem Ohr und knallte ihr eine Tasse dampfend heißen Kaffee vor die Nase, sodass sie vor Schreck fast vom Stuhl gefallen wäre.

„Verdammt, Rick, spinnst du?“, motzte sie und fasste sich ans Herz.

„Hoppla, tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er lächelte. „Woran arbeitest du?“

Stella klickte das Dokument weg, sodass nur noch ihr Bildschirmschoner zu sehen war, drehte sich um – und wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. Rick trug nichts als eine gestreifte Schlafanzughose. Das Bündchen saß tief auf der Hüfte und entblößte viel zu viel Haut auf ihrer Augenhöhe.

Plötzlich hörte sie wieder Lucindas Flüstern in ihrem Kopf, und ihre Geschichte durchströmte Stellas Adern wie eine illegale Droge. Kindheitserinnerungen schmeckten süß auf Stellas Zunge. Lucindas verzweifelte Sehnsucht nach Indigo verengte ihre Brust.

Das war doch verrückt.

Mit dem überwältigenden Drang zu schreiben, wandte Stella sich wieder dem Computer zu, obwohl Rick ihr über die Schulter sah. Doch die Inspiration verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Stella blinzelte – gab es irgendwo einen Schalter, den jemand betätigte?

Rick pfiff laut durch die Zähne, ohne ihr Schweigen zu beachten – Stella war noch nie ein Morgenmensch gewesen. „Heißes Cover“, bemerkte er, rückte den anderen Stuhl an den Tisch und setzte sich rittlings darauf. „Hübscher Vorbau.“

Stella, die noch immer versuchte, Lucinda wiederauferstehen zu lassen, brauchte einen Moment, bevor sie verstand, wovon Rick sprach. Ihr Bildschirmschoner zeigte den Buchumschlag von Piratenherz. Lady Bingham in einem betörend roten Kleid mit tiefem Ausschnitt, die ihre milchweißen Brüste dem lüsternen Vasco Ramirez förmlich ins Gesicht drückte.

„Vielen Dank.“ Stella öffnete erneut ihre leere Seite, sodass der Bildschirmschoner verschwand.

Lucinda? Lucinda? Wo bist du?

„Ich meine ja nur, er scheint den Anblick zu genießen, und wer könnte ihm das verübeln?“

Auch er genoss den Anblick. Den Anblick, den Stella ihm in diesem Moment durch den leicht geöffneten Bademantel auf ihre weichen Brüste erlaubte. Und den er zu ignorieren versuchte. Er war geübt darin, Stellas Brüste zu ignorieren, angesichts seiner besonderen Stellung in der Familie Mills. Doch es war nicht immer leicht – weder damals noch heute. Einmal hätte er doch fast den Kopf verloren und ihre Herausforderung angenommen, sie zu küssen – mit einer berauschenden Mischung aus Angst, Trotz und Erregung.

Eine Erregung, die sich aufgestaut hatte, seit Stella in jenem Sommer plötzlich mit weiblichen Kurven und einem BH an Bord der Persephone aufgetaucht war.

Doch ihr Vater war im letzten Moment dazwischen gegangen und hatte ihm bei dem Gespräch unter vier Augen, das folgte, gründlich den Kopf gewaschen. Und Rick hatte Nathans Vertrauen nie enttäuscht.

Jedenfalls nicht bewusst.

„Der sabbert ja förmlich“, meinte er, den Blick fest auf den Bildschirm gerichtet.

Stella verspürte den Drang, Vasco zu verteidigen. Rick darüber aufzuklären, dass ihr Held kein geifernder Lüstling war, wenn auch ein Draufgänger, der Marys Busen in der Tat schätzte.

Doch sie verstummte, weil Lucindas süße melodische Stimme wieder in ihrem Kopf zu sprechen begann, über ihren Vater, der sie aus einer Laune heraus enterbt hatte, und ihre Mutter, die über das Zerwürfnis sehr betrübt war.

Die Story stank zum Himmel.

Oh, Gott. Bitte nicht, nicht das, Lucinda. Ich tue alles. Ich folge dir, wohin du willst, aber das nicht.

In diesem Moment betrat Diana das Zimmer, gähnte laut und wünschte beiden einen guten Morgen, während sie in ihrem figurbetonten Hello-Kitty-Pyjama in die Küche schlurfte und sich eine Tasse Kaffee eingoss.

Rick pfiff durch die Zähne. „Na, hallo, Kitty.“

Stella verdrehte die Augen. Diana lächelte breit und ließ sich auf einen Sessel sinken.

„Und?“, wollte sie wissen. „Fährst du nun mit Rick oder nicht.“

„Gute Frage, Miss Kitty.“ Rick nickte. „Nun?“, fragte er und suchte Stellas Blick.

Allein sein Blick reichte, und Stella konnte die Story durch ihre Adern fließen spüren. Sie konnte Lucinda spüren, die sie lockte wie eine Sirene, ihr von den Felsen winkte und sie immer tiefer ins Verderben zog.

Sie sah wieder auf den Computerbildschirm mit seinem spöttischen kleinen Cursor auf der blanken Seite, und nichts passierte.

Seufzend sah sie ein, dass Lucinda gewonnen hatte. „Ja. Ich fahre.“

„Echt?“ Rick stand auf und stieß eine Faust in die Luft, als sie nickte.

Wie zum Teufel sollte sie es allein auf einem Boot mit ihm aushalten, wo sie seit Ewigkeiten keinen Sex gehabt hatte und er doch immer ihr heimlicher Traummann gewesen war?

Sie waren Freunde.

Sie waren Geschäftspartner, verdammt noch mal!

„Ich habe uns zwei Tickets nach Cairns besorgt. Der Flug geht heute Abend ab Heathrow.“

„Nach Australien?“, brachte sie hervor.

Rick zuckte die Schultern. „Es ist eine Karte von Mikronesien, und ich bin noch nie mit der Dolphin draußen gewesen, seit ich sie gekauft habe.“

Stella stand auf. „Du hast die Dolphin gekauft?“

Rick war von der zehn Meter langen klassischen Holzjacht fasziniert gewesen, solange sie denken konnte. Im Laufe der Jahre hatten sie das Schiff in verschiedenen Häfen gesehen, und es war immer sein Traum gewesen, sie irgendwann zu besitzen.

„Wann?“

Er lächelte jungenhaft. „Vor ein paar Monaten. Ich habe sie in Neuseeland endlich wiedergefunden und in Cairns überholen lassen. Sie ist fahrtüchtig.“

Stella verspürte einen Nervenkitzel, der nichts mit Lucinda zu tun hatte. Rick hatte ihr über die Jahre so viel davon erzählt, dass es fast zu ihrem eigenen Traum geworden war. „Dann fahren wir mit der Dolphin?“

„Ich kann auch ein neueres Boot auftreiben, weißer und protziger, wenn dir das lieber ist.“

Beim Anblick seiner verächtlich gekräuselten Lippen musste Stella lächeln. Die Bergungsflotte von Mills und Granville bestand aus drei starken, großen, weißen Booten, und obwohl sie wusste, dass Rick stolz auf das war, was er und ihr Vater aufgebaut hatten, war die klassische Schönheit der Dolphin stets seine Leidenschaft gewesen. „Gott bewahre.“

Rick erwiderte Stellas Lächeln und spürte ein warmes Gefühl der Vorfreude in der Magengegend. Irgendetwas war heute Morgen anders an ihr. Gestern Abend war sie die Stella gewesen, die er schon seit Ewigkeiten kannte – gemütliche Klamotten, kein geziertes Getue, keine Allüren.

Heute Morgen leuchtete sie von innen heraus, als hätte sie ein Geheimnis, das niemand sonst kannte. Ihre olivgrünen Augen blitzten entschlossen. Ihre Wangen schienen rosiger. Selbst ihr zurückgekämmter Pferdeschwanz schien mehr Pep zu haben.

Sie strahlte.

Es war einigermaßen atemberaubend, und ihm zog sich der Magen zusammen, wie es ihm – als Mann – nur allzu vertraut war.

„Also gut.“ Hastig kippte er den Kaffee hinunter. „Ich muss noch ein paar Sachen erledigen. Wir sehen uns später.“

Stella machte sich in der Küche zu schaffen, bis Rick fünf Minuten später das Haus verließ. „Wie wirst du es Joy beibringen?“, fragte sie Diana.

„Ach, keine Sorge“, meinte Diana und winkte ab. „Ich werde ihr sagen, du bist auf der Suche nach Inspiration. Jetzt gibt es Wichtigeres zu besprechen.“

Stella kräuselte die Stirn. „Ach ja?“

Diana nickte eifrig, und das Schlafanzug-Oberteil spannte über ihrer Brust, als sie sich über den Küchentresen beugte. „Ihr zwei solltet Sex haben“, riet sie.

Stella wäre fast die Kaffeetasse aus der Hand gefallen. War Diana jetzt total durchgedreht? „Äh, nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ganz. Schlechte. Idee.“

Diana zog die Augenbrauen hoch. „Okay, das musst du mir erklären.“

Stella wusste kaum, wo sie anfangen sollte. „Weil wir Freunde sind. Und Kollegen. Ich bin sein stiller Teilhaber! Und glaub mir, ich weiß besser als jeder andere, dass man sich nicht mit einem Seemann einlassen sollte. Seine Braut wird immer das Meer sein.“

Diana verdrehte die Augen. „Du sollst nur mit ihm ins Bett gehen.“

„Ach, komm schon, Diana, du weißt, dass ich das nicht kann. Mit dem letzten Mann in meinem Bett habe ich mich verlobt.“

Diana nickte. „Und der Sex war mies.“

„Hey“, protestierte Stella. „Es war nicht mies, es war … nett. Süß. Vielleicht nicht besonders fantasievoll, aber es hätte schlimmer sein können.“ Ihre Freundin wirkte nicht überzeugt. „Er war ganz normal, Diana. Nicht alle Männer wollen beim Sex vom Kronleuchter baumeln. Für mich war das okay.“

„Mag ja sein“, stimmte sie zu. „Aber während du mit Dale zusammen warst, hast ein Buch geschrieben, in dem es hauptsächlich um heißen, verschwitzten, schmutzigen Piratensex geht.“ Sie zuckte die Schultern. „Ich bin kein Psychologe, aber ich glaube, so etwas nennt man Übertragung.“

Man“, sagte Stella und bedachte ihre Freundin mit einem vernichtenden Blick, „nennt es Literatur.“

Diana kapitulierte. „Na schön, na schön. Ich meine ja nur … Auf einem Schiff gibt es nicht viel zu tun. Vielleicht wäre es eine Überlegung wert …“

Stella schüttelte den Kopf über ihre unbelehrbare Freundin. „Ich werde schreiben.“

Diana lachte. „Gute Antwort.“

Um zwei Uhr verabschiedete Stella sich mit einer innigen Umarmung von Diana, die noch eine Nacht bleiben wollte, um weit weg von der Hektik Londons in Ruhe arbeiten zu können. „Ich verspreche, ich werde mit einem Buch zurückkehren“, flüsterte sie ihrer Freundin ins Ohr und schleppte dann ihre Tasche zu Ricks Mietwagen.

Rick blieb neben Diana stehen und lächelte sie an. „Bis bald, Miss Kitty. Es war schön, dich ein bisschen besser kennenzulernen“, sagte er.

Diana nickte gedankenverloren und reckte den Hals, um zu sehen, was Stella trieb.

Rick zog die Stirn kraus. Diese beiden Frauen kratzten an seinem Ego. „Ich weiß, Stella schätzt deine Freundschaft und …“

„Ja, ja“, fiel sie ihm ins Wort und schob ihn ins Cottage zurück. Dann zog sie ein zerlesenes Exemplar von Piratenherz aus ihrer Handtasche und drückte es ihm in die Hand. „Nimm es. Lies es. Du wirst nicht enttäuscht sein.“

Stirnrunzelnd blickte Rick auf den Buchumschlag, den er von vorhin wiedererkannte. „Äh, das ist nicht so mein Ding.“

„Glaub mir. Es ist dein Ding.“ Nervös blickte sie über Ricks Schulter, denn sie wusste, dass Stella sie umbringen würde, wenn sie etwas mitbekam. „Es ist ziemlich … aufschlussreich.“

„Okay.“

Er fuhr mit den Fingern über die goldenen Buchstaben von Stellas Namen und verspürte einen gewissen Stolz. Er wusste, wie stolz Nathan auf den Erfolg seines kleinen Mädchens gewesen war.

„Danke.“ Er klemmte sich das Buch unter den Arm und wollte gehen.

„Halt“, zischte Diana. „Was tust du?“ Sie entriss ihm das Buch, zog den Reißverschluss von seinem Rucksack auf und stopfte es tief hinein.

„Sie ist da ein bisschen empfindlich“, erklärte Diana auf Ricks fragenden Blick. „Lies es nicht in ihrer Gegenwart. Wenn sie dich erwischt, werde ich alles abstreiten. Capisce?“

Rick gab sich lachend geschlagen. „Klar. Okay.“

Er machte ein paar vorsichtige Schritte, in der Erwartung, wieder zurückgerissen zu werden. Erst auf halbem Wege zum Wagen entspannte er sich.

Er lächelte in sich hinein. Gott, er liebte Frauen.

Fünf Stunden später waren sie in der Luft, und Rick flirtete eifrig mit der Stewardess. Stella wusste nicht genau, warum sie das störte. Schließlich kannte sie Rick.

Doch es wurde ihr einfach zu viel. Die Frau an der Tankstelle. Die Frau vom Mietwagenverleih. Die Frau am Check-in-Schalter. Ach ja, und die im Café – und die war mindestens sechzig gewesen. Es schien keine Frau zu geben, die nicht in sein Beuteschema passte.

Sie selbst eingeschlossen.

Aber sie war sein Geplänkel gewohnt. Sie wusste, es war harmlos, und konnte damit umgehen.

Im Gegensatz zu anderen Frauen.

Bewundernd sah Rick der Stewardess im hautengen Bleistiftrock nach, als diese sein Bier holen ging. Stella verdrehte die Augen, und er lächelte. „Du hast noch gar nicht gefragt, wie das Geschäft läuft“, beschwerte er sich und rutschte tiefer in den bequemen Ledersitz.

Stella schloss das Rollo ihres Fensters. „Nun, da wir Business Class fliegen, nehme ich an, es läuft gut.“

Rick nickte. „Allerdings.“

Stella seufzte. „Rick, auf der Beerdigung habe ich dir gesagt, dass du bei allen Entscheidungen freie Hand hast. Dass ich nur stiller Teilhaber sein möchte. Seit du fünfzehn bist, bist du eine Hälfte der Firma. Du hast dein Herzblut gegeben, um sie aufzubauen. Dad hätte seine Hälfte dir vermachen sollen, nicht mir. Die Firma sollte ganz dir gehören.“

Rick sah sie misstrauisch an, seine blauen Augen funkelten. „Stella, was wäre das für ein Mann, der nicht für seine Familie sorgt?“ In seiner Stimme lag Vorwurf, und Stella meinte plötzlich, einen spanischen Akzent zu hören. „Die Firma ist Nathans Verdienst, natürlich wollte er, dass du sie erbst. Natürlich wollte er, dass du dir um Geld keine Sorgen machen musst.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie viel Geld ich mit dem Buch verdient habe?“

Rick dachte an das heimlich mitgeschmuggelte Exemplar von Piratenherz in seinem Rucksack. „Nein. Aber die Firma macht jedes Jahr mehrere Millionen Umsatz, und egal, ob du es brauchst oder nicht, die Hälfte davon gehört dir.“

„Ich weiß … Ich meine ja nur, dass ich auf mich selbst aufpassen kann.“

Er nickte. „Das weiß ich. Das habe ich immer gewusst.“

Stella stockte der Atem, als sie die Aufrichtigkeit in seinen blauen Augen sah. Sein schulterlanges Haar fiel wie ein Vorhang um sein Gesicht, und plötzlich hatte sie das Gefühl, als wären sie vom Rest des Flugzeugs abgeschnitten.

„Ihr Bier, Sir.“

Unwillkürlich sah Stella zur Stewardess auf und war überrascht, als sie spürte, dass Ricks Blick noch immer auf ihrem Gesicht ruhte. Fragend erwiderte sie seinen Blick, und so verweilten sie für einen langen Moment, bis sich ein Lächeln über sein Gesicht breitete und er das Getränk in Empfang nahm.

Erneut begann er, mit der Stewardess zu plaudern, und Stella wandte sich ab. Sie schloss die Augen und versuchte, nicht auf das Geplänkel zu hören.

Ein paar Stunden später erwachte sie und fühlte sich wunderbar ausgeruht. Rick schlief neben ihr, das Gesicht ihr zugewandt, die dunklen Wimpern warfen Schatten auf seine Wangen. Er war schon immer ein hübscher Kerl gewesen, doch die Jahre hatten sein ungestümes jugendliches Charisma in unwiderstehlichen Sexappeal verwandelt.

Stella verspürte den Drang, ihm das Haar aus der Stirn zu streichen und seine sinnlichen Lippen mit dem Finger nachzuzeichnen.

Einst war sie diesen Lippen gefährlich nahgekommen. Damals war sie total verknallt in ihn gewesen. So verknallt, dass sie die Tage bis zu den Ferien gezählt hatte und ihr Herz jedes Mal einen Sprung tat, wenn sie an diese wahnsinnig blauen Augen dachte und die nackte gebräunte Haut, die er seiner spanischen Mutter verdankte.

Und am Abend ihres sechzehnten Geburtstags geschah es.

„Süße sechzehn und noch ungeküsst“, hatte er sie geneckt.

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Das kann man ändern“, murmelte sie mit klopfendem Herzen.

Sein Adamsapfel hüpfte, sein Blick streifte flüchtig auf ihren Mund. „Ja, klar“, winkte er ab.

Sie lächelte ihn an und sagte den einen Satz, der immer funktionierte. „Wetten, du traust dich nicht?“

Und es hatte funktioniert. Sie sah, wie etwas in ihm Klick machte, als er ihren Mund fixierte und näherkam.

Das knappe „Riccardo“ ihres Vaters hatte sie beide abgekühlt wie ein Schwall kaltes Wasser – eine mahnende Erinnerung daran, dass es zwischen ihnen eine Grenze gab, die sie nicht überschreiten durften. Auch wenn sie ihr gefährlich nahgekommen waren …

Und jetzt war Stella froh darüber.

Egal, was Diana dachte, niemand starb, weil er sexuell frustriert war, und sie hatte nicht vor, ihre Freundschaft mit Rick und den gegenseitigen Respekt der flüchtigen Befriedigung körperlicher Bedürfnisse zu opfern.

Sosehr es sie auch reizte.

Rick bewegte sich, und das reichte, um Stella zur Vernunft zu bringen. Sie hatte nicht vor, hier zu sitzen und ihn anzustarren wie damals als verknallter Teenager hinter ihrer dunklen Sonnenbrille, wenn er an Deck arbeitete.

Mit nacktem Oberkörper.

Immer mit nacktem Oberkörper.

Sie holte ihren Laptop hervor.

Eine Stunde später verteilte die Kabinenbesatzung das Essen, und Rick wachte auf. Er streckte sich, dann richtete er seinen Sitz auf und sah zu Stella, die eifrig tippte. Sie schien so in ihre Arbeit vertieft, dass er lächeln musste.

„Ich dachte, du hast eine Schreibblockade.“

Stella blickte von ihren Notizen auf. „Ich hatte eine Idee“, gab sie zu.

„Ha!“, triumphierte er. „Ich habe dir doch gesagt, alles, was du brauchst, ist eine Schatzsuche.“

„Na ja, vorläufig ist es nur eine Idee. Bleibt abzuwarten, ob daraus tatsächlich etwas wird.“

In Wahrheit nahm die Geschichte von Lucinda und Inigo immer deutlichere Züge an.

„Wie ist das so? Eine Schreibblockade?“, fragte er.

Sie zuckte die Schultern. „Ich starre den ganzen Tag auf eine leere Seite und habe Angst, dass ich nicht gut genug bin, eine Eintagsfliege. Ich versuche, die Worte zu erzwingen, und wenn ich an einem guten Tag tatsächlich etwas zustande bringe, ist es Mist, und ich lösche alles wieder.“

Rick nickte nachdenklich. „Vielleicht musst du dich an den Gedanken gewöhnen, dass nicht alles immer gleich perfekt ist“, empfahl er. „Schreib einfach weiter, trotz aller Mängel und Fehler. Stell die Lektorin in dir ab.“

Stella beäugte ihn misstrauisch. „Hat Diana das gesagt?“

Rick lachte leise. „Nein.“

„Tja, das ist leichter gesagt als getan.“ Sie seufzte. „Ich glaube, wenn ich vor Piratenherz die Erfahrung gemacht hätte, dass ein Buch auch mal abgelehnt wird, könnte ich mit dem Druck jetzt besser umgehen. Aber der schnelle Erfolg hat mir keine Zeit gelassen, mich als Schriftsteller zu finden.“

Rick nickte. „Also“, begann er und versuchte, über ihre Schulter zu spähen, „erzählst du mir, wovon das Buch handelt?“

Stella klappte den Laptop zu. „Keine Chance.“

„Entschuldigen Sie, Miss Mills?“

Stella blickte in das Gesicht der Stewardess, die ihr vorhin ein Wasser gebracht hatte. „Ja?“

„Verzeihung, ich hoffe, ich störe nicht … Ich habe ihren Namen auf der Passagierliste gesehen, und ich habe gerade Piratenherz zu Ende gelesen.“ Sie hielt ein Exemplar des Buches hoch. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, es zu signieren?“

Stella errötete. „Gern“, murmelte sie, während sie die Hand nach dem Buch und einem Stift ausstreckte. „Wie heißen Sie denn?“

„Andrea.“ Die Stewardess lächelte.

Stella schrieb eine Widmung für Andrea, unterzeichnete schwungvoll und gab Buch und Stift zurück.

„Haben Sie vielen Dank“, sagte Andrea. „Das bedeutet mir sehr viel.“

„Ich danke Ihnen“, erwiderte Stella. „Es ist immer schön, Menschen zu treffen, denen gefällt, was ich schreibe.“

Andrea nickte. „Ich gehe dann mal lieber und verteile das Abendessen, sonst werden meine Passagiere ungehalten.“

Stella und Rick sahen ihr nach.

„Wow, du bist ja richtig berühmt“, bemerkte er.

Stella lachte leise. „Fühlst du dich in deiner Männlichkeit bedroht?“ Bei Dale war das definitiv der Fall gewesen.

„Um Himmels willen, nein.“ Er lächelte vielsagend. „Ehrlich gesagt, turnt es mich ein bisschen an.“

Stella schüttelte den Kopf. „Wenn du an einen flotten Dreier denkst, vergiss es.“

Rick lachte. „Tja, jetzt schon.“

3. KAPITEL

Stella war sieben gewesen und Rick zehn, als sie die Dolphin im Hafen von St. Kitts zum ersten Mal sahen. Mit offenen Mündern standen beide an Deck der Persephone und bestaunten die Holzjacht. Teak, Eiche, Zypresse und die ursprünglichen Messingbeschläge verliehen ihr den altmodischen Charme einer Zeit, in der Handwerkskunst noch zählte und die Dinge für die Ewigkeit gemacht wurden.

Stella erinnerte sich an Ricks ehrfurchtsvolles Flüstern. „Eines Tages wird sie mir gehören.“

Als sie nun am Kai standen, das Messing funkelnd in der australischen Mittagssonne, das Holzdeck warm und einladend, wirkte das Schiff ebenso beeindruckend und majestätisch wie damals.

Lucinda seufzte in ihrem Kopf.

„Mensch, Rick“, hauchte Stella, dasselbe Prickeln verspürend wie immer, wenn eine steife Meeresbrise ihr um die Nase wehte. „Sie ist noch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte.“

Rick sah auf sie herab, das Haar vom Wind zerzaust, die rosa Lippen leicht geöffnet. Sie hatte sich ein ärmelloses Top und abgeschnittene Jeans angezogen und wirkte so klein, dass er den unerwarteten Drang verspürte, schützend den Arm um sie zu legen.

„Ja, das stimmt“, murmelte er, den Blick wieder auf sein Schmuckstück gerichtet.

Stella sah zu ihm auf. Die Meeresbrise wirbelte seine langen Piratenlocken auf. Ein Dreitagebart zierte sein markantes Kinn. „Sie muss dich ein Vermögen gekostet haben.“

Er zuckte die Schultern. „Manchmal geht es nicht um Geld. Und sie ist jeden Cent wert.“

Stella nickte und wandte ihren Blick wieder dem prächtigen Schiff zu. „Warum jetzt?“, fragte sie.

Er zuckte die Schultern. „Dein Vater hat sein ganzes Leben über die Sirena geredet. Und davon, dass er eines Tages Inigos letzte Ruhestätte finden würde. Und dann ist er gestorben, ohne sie je gesehen zu haben.“

Rick spürte ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust aufsteigen und verstummte. Er legte einen Arm um Stellas Schultern und zog sie sanft an sich. „Ich habe immer gedacht, dass Nathan unbesiegbar ist …“

Stella, der sich bei seinen Worten das Herz zusammenzog, schlang einen Arm um seine Hüfte. Das hatte sie auch immer gedacht. Dass ihr Vater eine Art Kapitän Ahab sei und die Sirena sein weißer Wal.

So standen sie beide am Hafenbecken und betrachteten noch eine Weile das sanfte Wippen der Dolphin.

„Seit ich zehn Jahre alt war, habe ich davon geträumt, dieses Boot zu besitzen“, murmelte Rick, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte. „Ich wollte nicht länger warten.“

Stella nickte. Sie spürte eine tiefe Verbundenheit mit Rick, fast wie mit einem Bruder.

Das wollte sie nicht aufs Spiel setzen.

„Außerdem“, er lächelte und drückte sie kurz an sich, bevor er sie losließ, „gehört sie der Firma.“

Stella lachte. „Ach, tatsächlich, das nenne ich kreative Buchhaltung.“

„Kann man so sagen“, meinte er lachend.

„Also gehört sie zur Hälfte mir?“

Rick warf seinen Rucksack an Deck und sprang an Bord. Er streckte die Hand aus. „Mi casa es su casa“, murmelte er.

Stella stockte der Atem, als sie seine Hand ergriff. Sein Spanisch war perfekt, und mit seiner sonnengebräunten Haut und den unglaublich blauen Augen glich er Vasco bis aufs i-Tüpfelchen.

Als sie an Bord kletterte, inspizierte sie das kleine, motorisierte Dingi, das am Heck über der Wasserlinie befestigt war. Dann fiel ihr Blick auf die Steuerbordseite des Schiffsrumpfes, wo in großen goldenen, schwarz umrahmten Lettern ein neuer Name prangte. Sie geriet ins Stolpern.

„Hoppla“, sagte Rick, als er sie auffing. „Aus dir ist ja eine richtige Landratte geworden.“

Sie starrte ihn einen Moment lang an. „Du hast sie umbenannt?“, fragte sie atemlos.

Er zuckte lächelnd die Schultern. „Hab ich dir doch versprochen.“

Stella versetzte ihm einen Klaps und ignorierte sein theatralisches Zurückweichen. „Da war ich sieben Jahre alt“, rief sie.

Sie stürmte zum Rand und beim Anblick der sechs goldenen Buchstaben füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Stella.

„Gefällt es dir nicht?“

Sie blinzelte die Tränen fort, ging auf ihn zu und trommelte gegen seine Brust. „Natürlich gefällt es mir, du Idiot! Das ist das Netteste, was je jemand für mich getan hat.“ Dann warf sie sich in seine Arme.

Nicht einmal ihr Vater hatte je ein Boot nach ihr benannt.

Lachend hob Rick sie hoch und erwiderte die Umarmung, seine Sinne benebelt von ihrem Kokosduft.

Autor

Jennifer Lewis
Jennifer Lewis gehört zu den Menschen, die schon in frühester Kindheit Geschichten erfunden haben. Sie ist eine Tagträumerin und musste als Kind einigen Spott über sich ergehen lassen. Doch sie ist immer noch überzeugt davon, dass es eine konstruktive Tätigkeit ist, in die Luft zu starren und sich Wolkenschlösser auszumalen....
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