Julia Herzensbrecher Band 33

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FEURIGE KÜSSE AM STRAND VON MIAMI von PAMELA BROWNING
Nur ein kurzes, sinnliches Abenteuer am Strand von Miami? Während die Unternehmensberaterin Azure auf ihren neuen Klienten wartet, amüsiert sie sich spontan mit dem sexy Beachboy Lee. Erregt genießt sie seine heißen Küsse – ohne zu ahnen, wer er wirklich ist …

LIEBE MICH BEI SONNENUNTERGANG von MARGARET MCDONAGH
Sommer auf Elba: Am Strand, wo schon ihre Großeltern sich ineinander verliebten, begegnet Gina dem faszinierenden Sebastiano. Mit seinem Charme erobert der heißblütige Italiener schon bald ihr Herz. Doch dann erfährt Gina zufällig, wer ihre Urlaubsliebe wirklich ist!

GESTÄNDNIS AM STRAND DER KARIBIK von SARAH LEIGH CHASE
Auf der Karibikinsel St. Lucia wird Stella von der Liebe überrascht. Ausgerechnet von dem aufregenden Surfer Sean fühlt sich die Steuerberaterin unwiderstehlich angezogen. Dass Sean nicht der mittellose Abenteurer ist, für den sie ihn hält, ahnt sie nicht. Bis er ihr in seinem romantischen Strandhaus ein überraschendes Geständnis macht …


  • Erscheinungstag 14.07.2023
  • Bandnummer 33
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519731
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Pamela Browning, Margaret McDonagh, Sarah Leigh Chase

JULIA HERZENSBRECHER BAND 33

1. KAPITEL

Azure O’Connor bemühte sich, nicht mit den Augen zu rollen, als der gelb gewandete Geistliche, der die Zeremonie zwischen ihrer Schwester Karma und Slade vollzog, über die Herrlichkeit der Liebe zu schwadronieren begann.

Natürlich gab es Verliebtheit. Es gab auch Lust. Aber Liebe …

Azures 75-jähriger Onkel Nate sah das sicher anders. Immerhin starrte er gerade versunken in die Augen seiner neusten Flamme Leah, deren wahres Alter dank plastischer Chirurgie für alle ein Geheimnis war. Die beiden hatten sich kennengelernt, als Nate sich gerade erst von seinem Schlaganfall erholt hatte. Sie schienen sehr glücklich zu sein. Azure wandte ihren Blick ab und versuchte, sich wieder auf das Geschehen vor dem Altar zu konzentrieren.

„Sie dürfen die Braut jetzt küssen.“ Der Mann in Gelb trat einen Schritt zurück und strahlte das frisch gebackene Brautpaar an.

Karma war barfuß und schien sich ein ganzes Blumenbeet in ihre wilden Locken gesteckt zu haben. Jetzt drehte sie sich mit leuchtenden Augen zu Slade um, der sie in seine Arme schloss. Ihr anfangs zärtlicher Kuss entwickelte sich zu einer wahren Knutschorgie.

Azures hohe Absätze versanken tiefer und tiefer im Sand von Miami Beach. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gästen hatte sie sich geweigert, ihre Schuhe auszuziehen. Ausnahmsweise war sie mal mit ihrer Mutter einer Meinung: Strandhochzeiten waren nicht gerade das Gelbe vom Ei. Überall dieses miefende Seegras, und dann auch noch all die neugierigen Gaffer.

Außerdem beleidigte die chaotische Sitzordnung Azures angeborenen Ordnungssinn, und Flöten- und Lautenmusik fand sie zum Davonlaufen. Die Brise ruinierte ihre Hochsteckfrisur und blies ihr Sand in die Augen. Anders konnte sie sich jedenfalls nicht erklären, dass ihr eine Träne die Wange hinablief. Azure O’Connor weinte nicht bei Hochzeiten. Jedenfalls hatte sie das beschlossen.

Sie zwinkerte die Träne weg und hoffte inständig, dass niemand diesen kleinen Riss in ihrem Panzer bemerkt hatte. Wütend wischte sie sich über das Gesicht und wiederholte im Geiste ihr Mantra: Liebe gibt es nicht, Liebe gibt es nicht, Liebe gibt es nicht …

Als sie wieder klar sehen konnte, fiel ihr ein Mann auf, der auf der anderen Seite des behelfsmäßigen Kirchenganges, der durch Muschelhörner markiert war, zwischen den Hochzeitsgästen stand. Er starrte sie eindringlich an und schien sich köstlich über sie zu amüsieren.

Sie kannte diese Art von Blick. So guckten Männer, die auf der Jagd waren und geeignete Beute erspäht hatten. Aber Azure war keine Beute, das würde der Möchtegern-Casanova da drüben schon noch merken.

Das glückliche Paar stand Arm in Arm vor dem Meer, das von der Abendsonne rosa gefärbt wurde. Jemand ließ einige Tauben frei, die in den Sonnenuntergang hineinflogen. Karma und Slade küssten sich erneut. Die Gäste applaudierten.

Azure schloss die Augen. So viel Liebesglück konnte sie im Augenblick einfach nicht ertragen.

Ihre Cousine Paulette gesellte sich zu ihr. „Ist das nicht romantisch, Azure? Karma hat noch nie so toll ausgesehen! Sie wirkt geradezu schlank, findest du nicht?“

Paulette, die Meisterin der zweideutigen Komplimente … Dabei war Karma gar nicht dick. Sie war groß und wunderschön, und das für Slade heute bestimmt noch viel mehr als für alle anderen. Der Gedanke berührte Azure. Sie spürte, dass ihr wieder Tränen in die Augen stiegen.

Denk einfach nicht dran, befahl sie sich und schloss sich dem Strom der Gäste an, die dem Brautpaar in einer Prozession den Gang hinunter folgten. Der Mann, den sie bereits zuvor bemerkt hatte, warf ihr einen Blick zu. Er war groß, breitschultrig und hatte dunkelblondes Haar. Sein Lächeln war, wie Azure widerwillig zugeben musste, wirklich anziehend – jedenfalls für einen Möchtegern-Casanova.

Azure sorgte dafür, dass Paulette sie vor dem eindringlichen Blick des Mannes verbarg, und klopfte sich Sand von ihrem dunkelgrauen Hosenanzug. Im selben Moment ließ eine Möwe mit einem leisen „Platsch“ ein Hochzeitsgeschenk auf ihren Jackenaufschlag fallen.

Na toll, dachte Azure, Karma heiratet, und ich werde angekackt.

Wenn die Dinge anders gelaufen wären, hätte sie diesen Monat heiraten können. Wenn ihr Ex-Verlobter Paco die Hände von Möpsen hätte lassen können, die zufällig einer ihrer besten Freundinnen gehörten, genauer gesagt. Immerhin hatte Azure herausgefunden, dass er untreu war, ehe sie ihn geheiratet hatte. Seit mittlerweile sechs Monaten redete sie sich ein, dass es besser so war. Sie hatte es satt, Frösche zu küssen.

Der Möchtegern-Casanova war so groß, dass er sie über Paulettes Kopf hinweg einfach weiter beobachtete. Und er versuchte ganz offensichtlich, Blickkontakt aufzunehmen.

Azure tat so desinteressiert wie möglich und stürzte sich tiefer ins Gedränge der Hochzeitsgesellschaft, die zum Sektempfang im Blue-Moon-Appartementhaus aufbrach.

Sie hatte vor, so wenig Zeit wie möglich mit ihrer Familie zu verbringen. Sie konnte es gar nicht abwarten, sich in Paulettes winzigem Appartement im Blue Moon zu verkriechen. Dort würde sie endlich den Jetlag auskurieren, der sie plagte, seit sie letzte Woche aus London eingetroffen war.

Azure hätte sich denken können, dass Karma für den Empfang Sitarmusik ausgewählt hatte. Kein Mensch konnte dazu tanzen, jedenfalls nicht im eigentlichen Sinn. Man konnte noch nicht mal mitsingen. Vielleicht eigneten sich Sitarklänge ja als musikalische Untermalung für wilde Liebesnächte. Was Azure betraf, war das im Augenblick allerdings kein entscheidendes Kriterium. Wilde Liebesnächte gehörten derzeit nicht zu ihren Plänen. Der gute Paco hatte ihr endgültig die Lust auf Männer verdorben.

Das Blue Moon war ein Art-Déco-Monstrum aus den 1940er Jahren. Der Dachgarten war für den Anlass mit Topfpalmen dekoriert worden. Während die ersten funkelnden Sterne am dämmernden Himmel auftauchten, hatte Azure ihrer Schwester Karma pflichtbewusst einen Kuss auf die Wange gedrückt und ihrem neuen Schwager förmlich die Hand geschüttelt.

Dann war sie vor einem Gespräch mit ihrer Mutter geflüchtet, die der fasziniert lauschenden Rezeptionistin des Appartementhauses gerade erzählte, dass sie ihren Lebensunterhalt damit verdiente, Kuchen in Form von menschlichen Geschlechtsteilen zu backen. Außerdem hatte Azure die neueste Eroberung ihres Vaters kennengelernt, eine wohlhabende Witwe, die ihm auf dem Kreuzschiff über den Weg gelaufen war, auf dem er Tanzkurse gab.

Als ihre Großmutter dann auch noch anfing, ihr ausführlich von ihrem letzten Termin beim Chiropraktiker zu erzählen, war sie in eine Ecke geflüchtet. Dort stand sie nun und versuchte vergeblich, mit Mineralwasser den Vogelhaufen von ihrem Jackett zu entfernen.

„Azure, Mom will dich sehen.“ Azure fuhr herum. Hinter ihr stand ihre Schwester Isis. Sie steckte in einem Kleid, das offenbar aus dunkelblauen Spinnweben zusammengezurrt war und die wichtigen Stellen nur sehr notdürftig bedeckte. Neben ihr stand eine aufgeregt wirkende ältere Dame.

„Ich glaube, die Schnalle an meinem Schuh ist kaputt. Ich kann doch nicht barfuß herumlaufen wie ihr jungen Dinger!“, klagte Mrs. Hockleburg und runzelte die Stirn.

Azure tat die Frau leid, die mit dem Auto von Connecticut bis nach Florida gefahren war, nur um Grandma Rose die Teilnahme an der Hochzeit zu ermöglichen. „Ich sehe es mir mal an“, bot sie an.

Isis schien froh zu sein, dass sie nicht länger mit dem Problem belangt wurde. „Ich suche Mom“, sagte sie und verschwand schnell wie ein Wiesel.

Mrs. Hockleburg ließ ihr beträchtliches Hinterteil langsam auf einen Stuhl sinken. Azure kniete sich vor ihren Fuß und sah sich den kaputten Schuh an. „Halb so wild, es ist nur der Stift an der Schnalle verrutscht. Ich bringe das wieder in Ordnung.“

Als sie fertig war, sah sie neben sich den Möchtegern-Casanova stehen, der sie interessiert beobachtete. Sie wollte ihn nicht ermutigen und konzentrierte sich wieder auf Mrs. Hockleburg. Leider hatte sie so keine Möglichkeit, vor ihrer Mutter zu flüchten, die gerade auf sie zugeeilt kam.

„Azure, Schätzchen, du musst mir versprechen, dass du mich bald wieder in Sedona besuchst! Wir müssen morgen ja schon so früh aufbrechen!“

„Versprochen. Leider werde ich aber erst in ein paar Monaten Zeit haben.“ Ihre Mutter tätschelte ihr den Arm. „Wann immer du kannst. Dann mach ich dir dein Leibgericht, Bulgur mit Ziegenkäse!“

Azure brachte es wie jedes Mal nicht übers Herz, ihrer Mutter zu gestehen, dass sie Bulgur mit Ziegenkäse verabscheute.

„Ich werde mich bald hier verdrücken, Mom. Ich rufe dich morgen im Hotel an, ehe du abfliegst, in Ordnung?“

„In Ordnung, mein Schätzchen.“ Ihre Mutter umarmte sie und stürzte sich dann auf Mrs. Hockleburg.

Azure versuchte, zu ihrem Vater durchzudringen, um sich zu verabschieden. Sie quetschte sich an einem Kellner mit bloßem Oberkörper vorbei, der ein Tablett mit makrobiotischen Hors d’oeuvres trug. Dabei wäre sie fast über ein kleines Mädchen gestolpert, das bitterlich weinte, weil ihm sein Keks auf den Boden gefallen war.

Sie tätschelte der Kleinen liebevoll den Kopf und reichte ihr einen neuen Keks vom Tablett. Dann nahm sie das Mädchen bei der Hand und half ihm, seine Eltern zu suchen. Es war kein Wunder, dass die beiden ihr Kind für einen Augenblick vergessen hatten – immerhin gab Azures Vater gerade eine kleine Tanzeinlage zum Besten, die alle Umstehenden fasziniert betrachteten.

Gemeinsam mit seiner neuen Flamme versuchte er sich zu Sitarmusik in einem nicht näher erkennbaren Standardtanz. Das Ergebnis ließ sich bestenfalls als experimentell bezeichnen. Als die beiden ihre Vorführung beendet hatten, verabschiedete sich Azure herzlich von ihrem Vater. Das Bett lockte, besonders nach diesem Abend, der trotz der schönen Aussicht und des blendenden Wetters eine echte Nervenprobe gewesen war.

Doch so einfach ließ ihre Familie sich nicht abwimmeln, ihre Cousine Paulette schnitt ihr den Weg ab. Ihr Gesicht war zu einem Lächeln verzogen, das Azure unweigerlich an einen Haifisch denken ließ.

„Azure, Darling“, zwitscherte sie. Fast hatte Azure vergessen, wie sehr sie ihren eigenen Vornamen hasste. Und seit wann nannte Paulette sie eigentlich „Darling“? Denn eigentlich konnte ihre Cousine sie und ihre Schwestern schon seit ihrer Kindheit nicht leiden, schließlich hatten sie die vier O’Connor-Schwestern gequält, wo sie nur konnten. Azures Hippie-Eltern, die damals gerade erst aus einer Kommune in die Vorstadt gezogen waren, hatten sich nicht viel daraus gemacht, ihren Töchtern Manieren beizubringen.

„Azure, Darling“, wiederholte Paulette um der Wirkung willen. „Das hier ist mein Kunde Mr. …“ In diesem Augenblick wurde Azure klar, dass Paulette den Möchtegern-Casanova im Schlepptau hatte.

„Lee“, sagte der Mann und betrachtete mit blitzenden Augen Azures Lippen. Dann ließ er seinen Blick über ihren Hals nach unten gleiten. Azure hatte das Gefühl, dass er sich vorstellte, wie sie wohl in einem Negligé aussah. Was vollkommen lächerlich war. Sie besaß kein Negligé und hatte auch nicht vor, sich eines zuzulegen.

Sie zwang sich zu einem Lächeln und tänzelte zur Seite wie eine Varietékünstlerin. Sie würde auf keinen Fall zulassen, dass Paulette sie den Kunden ihrer Partnervermittlungsagentur vorstellte. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um Möchtegern-Casanovas handelte. „Ich muss dringend ins Bett. Bin vollkommen erschlagen. Schön, Sie kennenzulernen. Tschüss!“ Dann nahm Azure die Beine in die Hand und verschwand durch den Gang, der sich wie durch ein Wunder in der Menschenmenge aufgetan hatte.

Sie eilte zu Paulettes Appartement, wo sie auf der Schlafcouch nächtigen sollte. Kaum berührte ihr Kopf das Kissen, fiel sie schon in tiefen Schlaf.

Azure streckte sich, um wirklich wach zu werden. Paulette lärmte in der Küche herum und knallte mit den Türen.

„Azure?“ Ihre Cousine erschien in der Küchentür. Sie trug eine hochgeschobene rosafarbene Schlafbrille in ihrem dunkelrot gefärbten Haar. „Ich bin ja so froh, dass du auch eine Frühaufsteherin bist. Ich wusste doch, dass wir prima miteinander klarkommen würden!“

Azure war sich da nicht so sicher. Sie hätte Paulette gern mitgeteilt, dass sie eigentlich alles andere als eine Frühaufsteherin war. Jedenfalls, wenn man sie nicht mit einem Lärm weckte, der auch die Toten aus den Gräbern geholt hätte.

„Ich habe Kaffee gekocht“, sagte Paulette. „Komm, trink eine Tasse mit mir. Wenn du möchtest, kannst du dann mein Auto ausleihen und nach Haulover Beach fahren. Da ist es nicht so voll wie hier am Strand. Ich brauche den Wagen heute sowieso nicht, weil ich die Abrechnungen von Rent-a-Yenta durchgehen muss.“

Übersetzung: Paulette wollte nicht, dass Azure den ganzen Tag über in ihrem Appartement herumlungerte. Aber Alleinsein klang ohnehin nach einer guten Idee.

„Okay, mach ich“, murmelte Azure, während sie in die Küche hinüberging und sich einen Kaffee einschenkte. „Warum kommst du denn nicht mit?“

Paulette wedelte mit der Hand herum, um zu verdeutlichen, wie viel sie heute in ihrer Partnervermittlungsagentur zu tun hatte. „Bin beschäftigt“, sagte sie. „Magst du ein Rührei?“

„Nein danke“, sagte Azure und schluckte ihr übliches Frühstück herunter, das aus zwei Vitamintabletten bestand.

Paulette trank ihren Kaffee aus und ging in ihr Schlafzimmer hinüber, wo sie sich eine Arbeitsecke eingerichtet hatte. „Die Autoschlüssel liegen auf dem Tischchen neben der Tür. Der Weg zum Strand ist ausgeschildert. Du wirst schon hinfinden.“

Azure rief ihre Mutter an, um sich zu verabschieden, klappte die Couch wieder zusammen und zog ihren Badeanzug aus dem Koffer. Zehn Minuten später sauste sie in Paulettes gelbem VW Käfer in Richtung Haulover Beach.

Sie freute sich wahnsinnig darauf, am nächsten Tag wieder heim nach Boston zu fliegen. Dort erwarteten sie ihre ordentliche kleine Wohnung, ihr konservativer grauer Kleinwagen und ihre Klassik-CDs. Und niemand dort nannte sie Azure! Ihre Freunde und Kollegen riefen sie A.J., eine Kurzversion ihrer beiden Vornamen Azure und Jonquille, die ihre Eltern ihr in einem Anflug von Wahnsinn verpasst hatten. Ihr Leben lang hatte Azure gegen diese Namen rebelliert, genauso wie gegen ihre unkonventionellen Eltern.

Als sie am Strand angekommen war, parkte sie den Käfer und ging durch einen Tunnel, der unter der Straße hindurch zum Meer hinüberführte. Der Anblick des spiegelnden Ozeans, der Duft nach Salzwasser und das Schreien der Möwen ließen sie den anstrengenden Marsch ans Ufer vergessen. Sie suchte sich eine ruhige Ecke, wo sie es sich bequem machen konnte. Nachdem sie ihr Handtuch ausgebreitet und sich mit Sonnencreme eingerieben hatte, ließ sie sich auf den Bauch fallen und zog sich eine Baseballkappe, die sie von Paulette geliehen hatte, über das Gesicht.

Sie wurde von lautem Lachen geweckt. Den Gesprächen konnte sie entnehmen, dass eine Gruppe von Leuten direkt neben ihr ein Volleyballnetz aufspannte. Das war es wohl mit ihrem friedlichen Nachmittag. Als die Leute zu spielen begannen, wurde Azure von Sand übersät und beschloss umzuziehen.

Sie drehte sich auf den Rücken und schob die Baseballkappe nach oben. Was sie sah, war so erschütternd, dass sie ihren Augen kaum traute. Das Volleyballspiel war in vollem Gange, und alle Teilnehmer waren splitterfasernackt! Peinlich nackt. Erschreckend, schwabbelig, fettwulstig nackt. Azure wollte nur noch weg.

Diese verdammte Paulette! Azure hätte ihr keine Sekunde lang trauen dürfen! Sie war nicht nur unerträglich anstrengend, sie hatte auch einen Dachschaden. Vielleicht lag es an all den Gemeinheiten, mit denen Azure und ihre Schwestern sie früher gequält hatten. Wie dem auch sei, Azure würde sich für die Nettigkeit schon noch revanchieren. Sie würde …

Ihre Aufmerksamkeit wurde von einem gut aussehenden Mann angezogen, der gerade aus den Wellen stieg. Mit offen stehendem Mund staunte sie über seinen schönen Körper, die gebräunte Haut, die Struktur seiner Muskeln. Während sie ihn anstarrte, kam er auf sie zu und blieb vor ihrem Handtuch stehen. Wassertropfen fielen auf Azures Haut. Ihr war vom bloßen Anblick dieses Mannes so heiß geworden war, dass sie glaubte, die Tropfen zischend verdampfen zu hören. „Kommen Sie“, sagte er rundheraus. „Wir brauchen noch ein paar Spieler.“

Oh, nein. Sie kannte diesen Kerl! Sie hatte ihn nicht gleich erkannt, weil – nun ja, weil er eben nackt war. Sein Haar war heute nach hinten gekämmt und dunkler vom Wasser. Außerdem wirkte er noch größer als am Vorabend. Wieso war ihr gestern diese umwerfende kleine Lücke zwischen seinen schneeweißen Schneidezähnen nicht aufgefallen? Es war der Möchtegern-Casanova!

Azure war sprachlos. Zu allem Überfluss saß sie auch noch auf Augenhöhe mit seinem besten Stück! Mühsam hob sie den Blick und sah ihm in seine funkelnden graublauen Augen, die ihr gestern schon aufgefallen waren. Unter seinem Nabel hatte er eine Tätowierung, die aussah wie ein Frosch.

Sie befahl sich, nicht weiter über die Anatomie von Mr. Lee nachzudenken, und rappelte sich auf. Er schien das als Zustimmung zu seinem Vorschlag zu werten und nahm sie bei der Hand, um sie zum Spielfeld hinüberzuziehen.

„Aber ich … ich …“ Sie wollte sich gegen seine Aufdringlichkeit wehren, aber irgendwie fehlte es ihr an Überzeugungskraft.

„Vorsicht!“, schrie jemand. Der Volleyball kam durch die Luft auf sie zugeflogen und wäre ihr fast gegen den Kopf geprallt. Azure wehrte ihn zur Selbstverteidigung ab. Die Spieler johlten und klatschten, als hätte sie gerade einen Punkt gemacht.

Eigentlich tat ihr etwas Zustimmung gut, nachdem sie tagelang die bohrenden Fragen ihrer Familienmitglieder über ihre Arbeit, ihr Liebesleben und ihren Mangel an Hobbys hatte ertragen müssen. Aber Zustimmung von Menschen mit Kleidern am Körper wäre ihr doch um einiges lieber gewesen.

„Wollen Sie sich nicht auch ein bisschen entspannen?“ Möchtegern-Casanova sah ihr aus seinen bemerkenswerten Augen, die von Lachfältchen umrandet waren, ganz offen ins Gesicht.

Übersetzung: Er fand, dass sie ihren Badeanzug ausziehen sollte. Auf keinen Fall!

„Ich muss los“, stieß sie hervor und marschierte mit entschlossenem Gesichtsausdruck zurück zu ihrem Handtuch, um ihre Sachen einzusammeln.

„Wohin denn?“, fragte er und baute sich in all seiner beschämenden Nacktheit direkt vor ihr auf.

„Äh …“, sagte sie, während sie angestrengt nachdachte. Als ihr Blick von seiner Tätowierung aus nach unten glitt, wurde sie rot und richtete sich wieder auf.

„Wir könnten später etwas trinken gehen“, schlug er vor. Er verließ sich auf seinen Charme, was ein Fehler war. Seit Paco reagierte Azure allergisch auf Charme.

Sie straffte ihre Schultern. „Das bezweifle ich, Mr. Lee.“

„Lee ist mein Vorname“, sagte er. In diesem Moment tauchte ein Strandreinigungswagen auf, der einen solchen Lärm machte, dass seine Worte fast untergingen. Azure nutzte die Gelegenheit zur Flucht. Während sie zum Tunnel zurücklief, bemerkte sie das Schild, das sie bei ihrer Ankunft übersehen hatte: „Achtung: FKK-Bereich“.

Als Azure in Paulettes Appartement ankam, schäumte sie noch immer vor Wut. Paulette telefonierte gerade und winkte Azure zu, während sie das Telefonat mit einem unbekannten Klienten fortsetzte.

„Sie hat eine dieser Krankheiten, bei denen einem alle Haare ausfallen. Ihr Bruder ist Tätowierer und hat ihr den Kopf mit kleinen schwarzen Schnörkeln tätowiert.“ Während ihr Kunde etwas sagte, rollte Paulette schweigend mit den Augen. „Nein, es sieht nicht aus wie Stacheldraht. Kleine, niedliche Schnörkelchen. Sie ist sehr gut aussehend.“ Eine weitere Pause. „Aber sicher, Klientin Nummer 1799 liebt es, Unkraut zu jäten. Sie wird Ihnen sicher gern im Garten helfen. Ich gebe Ihnen ihre Telefonnummer.“ Paulette nannte eine Nummer, dann verabschiedete sie sich und legte auf. „Mein Gott“, seufzte sie und ging zur Badezimmertür. „Was manche Menschen zu erdulden bereit sind, nur um sich zu verlieben.“

Azure folgte ihr. „Wie konntest du mich nur zu einem FKK-Strand schicken? Die Leute haben nackt Volleyball gespielt und …“

Paulette nahm eine Flasche Mineralwasser und spritzte sich den Inhalt aufs Gesicht. „Es war ein FKK-Strand?“

„Jawohl. Nackte Bäuche, nackte Hintern, nackte …“

„Gut, Darling, ich kann’s mir vorstellen. Und, hast du jemanden kennengelernt?“

„Diesen Lee, deinen Kunden, habe ich da getroffen. Er war ebenfalls splitternackt.“

„Ach, das tut mir leid. Ich wusste ja gar nicht, dass es ein FKK-Strand ist. Ich war selbst noch nie dort.“ Paulettes Seelenruhe brachte Azure fast um den Verstand.

Azure ließ sich auf einen Stuhl vor der Badezimmertür fallen. „Du hast mich also nicht dorthin geschickt, um dich für früher zu rächen? Für all die Scherereien, die du wegen mir und meinen Schwestern hattest?“

Paulette warf ihr einen vorsichtigen Blick zu. „Nein, das habe ich nicht. Abgesehen davon dachte ich, die Vergangenheit wäre vergeben und vergessen.“

„Nun ja“, setzte Azure an, die nicht wusste, was sie sagen sollte.

„Ich gehe mal davon aus, dass du nicht vorhast, mir wieder einzureden, dass ich unbedingt einen Fahnenmast ablecken sollte, wenn es unter null Grad hat.“ Paulette ging zu ihrem Schreibtisch, um etwas zu notieren.

„Das mit der Zunge an dem Fahnenmast … hat das eigentlich sehr wehgetan?“ Das hatte Azure immer schon wissen wollen. Um ehrlich zu sein, hatte sie wegen dieses Streiches bis heute ein schlechtes Gewissen.

Paulette warf ihr einen misstrauischen Blick zu. „Ja, das hat es. Aber erst, als ich versucht habe, meine Zunge loszureißen, und die Hälfte davon am Fahnenmast hängen blieb.“ Sie rang sich ein Lächeln ab.

„Es tut mir leid, Paulette. Das gilt auch für all die anderen Streiche.“ Wie das Katzenfuttersandwich. Oder als sie Paulette eingeredet hatten, dass Rauchen intelligenter macht und ihre Cousine von ihren schockierten Eltern im Keller mit einer Schachtel Zigaretten erwischt worden war. Aber Paulette hatte sie nicht verraten, sondern die Strafe stillschweigend in Kauf genommen.

„Vergeben und vergessen“, sagte Paulette. „Und wenn wir schon bei den Geständnissen sind, dann kann ich dir ja auch verraten, dass ich dich heimlich in meine Kundenkartei aufgenommen habe. Ich würde gern ein Date für dich arrangieren. Mit Kunde Nummer 1851, genauer gesagt.“

Azure stand auf. „Keine Dates, Paulette. Der gute Paco hat dafür gesorgt, dass ich es vorläufig satt habe, Frösche zu küssen. Außerdem reise ich morgen ab.“

„Nicht so schnell!“, sagte Paulette. Sie kramte in den Papieren auf ihrem Schreibtisch herum und zog eine Telefonnotiz hervor. „Die Nachricht ist von einem Mann namens Harry. Du sollst ihn sofort zurückrufen.“

„Harry Wixler ist mein Boss“, sagte Azure. Warum rief er sie in den Ferien an?

„Er will, dass du eine Weile in Miami bleibst. Ich bin fast die ganze Woche über auf einem Seminar in Orlando, du kannst also gern hier wohnen, wenn du willst.“

Azure musste herausfinden, was vor sich ging. Seufzend setzte sie sich in einen Sessel auf dem Balkon und rief Harry im Büro an. Draußen auf dem Meer bahnte sich ein Frachter seinen Weg nach Norden und hinterließ eine weiße Spur im Ozean. Im Vordergrund schaukelten einige Freizeitboote in den Wellen. Es gab wirklich schlimmere Orte, an die ihr Boss sie hätte verfrachten können.

„Wir haben hier ein kleines Problem, A.J.“, erzählte ihr Harry Wixler, nachdem er den Anruf entgegengenommen hatte. „Ein potenzieller Kunde macht gerade Ferien auf seiner Jacht in Miami. Ich möchte, dass Sie dort bleiben und auf seinen Anruf warten. Wenn wir seinen Auftrag an Land ziehen wollen, müssen wir ihm Honig ums Maul schmieren.“

Azure rollte mit den Augen. „Ich hasse es, jemandem Honig ums Maul zu schmieren.“

„Der Mann braucht einen Geschäftsplan. Ich will, dass Sie das erledigen.“

„Was für eine Art von Geschäftsplan?“

„Er hat vor einigen Jahren für mehrere Millionen sein Dotcom-Unternehmen verschachert. Jetzt hat er keine Lust mehr, auf seiner Jacht durch die Welt zu reisen und will ein neues Unternehmen aufziehen. Er möchte einen Lizenzbetrieb mit dem Namen ‚Grassy Creek‘ gründen. Ich weiß noch nichts Genaueres, nur dass es etwas mit Gras zu tun hat.“

„Gras? Was für Gras?“, fragte Azure scharf.

„Nicht diese Art Gras“, antwortete Harry und gluckste in sich hinein. „Diese jungen Dinger immer, mit ihren voreiligen Schlüssen!“

„Ich bin kein junges Ding“, schoss Azure zurück. „Ich bin eine 31-jährige Frau.“

„Wenn Sie erst mal in meinem Alter sind, werden Sie das auch für jung halten. Sie sind eine meiner besten Beraterinnen, besonders wenn es um Lizenzunternehmen geht. Der Kunde will ein paar Biokostläden eröffnen. Spezialisiert auf Weizengras – stellen Sie sich das mal vor! Ich habe ihm Ihre Telefonnummer gegeben. Mieten Sie sich ein Auto, damit Sie ihn abholen und zum Essen ausführen können. Verstanden?“

„Verstanden“, seufzte Azure.

„Gut. Halten Sie Rücksprache mit mir, wenn Sie ihn getroffen haben.“

„Hey, Harry“, sagte Azure, ehe er auflegen konnte, „wie heißt der Mann denn eigentlich?“

„Santori“, antwortete Harry. „Genießen Sie Miami, A.J. Und holen Sie sich keinen Sonnenbrand.“

„Warten Sie mal, Harry! Sprechen wir hier über Leonardo Santori?“ Sie hatte viel über diesen Mann gelesen. Er war noch aufs College gegangen, als er eine Online-Musikbörse gründete, die er vor einigen Jahren für eine atemberaubende Summe verkauft hatte.

„Richtig, der Typ von Dot. Musix. Ein gescheiter Kerl und ein Wahnsinnsunternehmer. Er lebt zurückgezogen. Sie können sich ja denken, dass es uns eine Menge schwarze Zahlen einbringen würde, seinen Auftrag an Land zu ziehen. Ich kann wirklich nicht genug betonen, dass Sie diesen Mann unbedingt für uns gewinnen müssen, A.J.!“

„Warum kann ich ihn nicht anrufen?“

„Wie gesagt, er achtet sehr auf seine Privatsphäre. Er lebt auf einer Jacht. Wir sollten uns an seine Spielregeln halten.“ Mit diesen Worten legte Harry auf.

Wenigstens wollte er, dass sie einen Wagen mietete. So konnte sie sich frei bewegen, ohne auf Paulette angewiesen zu sein.

Ihre Cousine kam durch die Schiebetür auf den Balkon und grinste sie über ein Glas Papayasaft hinweg an. „Wirst du dich jetzt mit meinem Klienten verabreden?“

„Dein Klient, Harrys Klient, die ganze Welt ist voller Klienten“, motzte Azure. Sie stand auf, lehnte sich an das Balkongeländer und blickte in die Bucht.

„Ich wollte euch nur zusammenbringen, weil du heute morgen so niedergeschlagen gewirkt hast.“

„Dabei war ich nicht mal annähernd so deprimiert wie jetzt“, murmelte Azure düster. Dann seufzte sie tief. „Ich telefoniere besser mal mit der Autovermietung. Wo ist das Telefonbuch?“

„Auf der Küchenanrichte.“

Paulette folgte Azure in die Küche und suchte im Eisfach nach Eiswürfeln, während ihre Cousine ihren Anruf tätigte und vereinbarte, dass der Wagen zum Blue Moon gebracht wurde.

„Probleme, Probleme“, seufzte Azure, nachdem sie aufgelegt hatte. „Sie können den Wagen erst morgen Nachmittag vorbeibringen. Bestimmt ruft dieser mysteriöse Santori genau in der Zwischenzeit an. Was soll ich nur die nächsten Tage über hier machen? Alle sind wieder abgereist. Du arbeitest den ganzen Tag, und Onkel Nate wird wie immer versuchen, mich zu überreden, in seine Doppelkopf-Mannschaft einzusteigen.“

„Du könntest mir mit Rent-a-Yenta helfen“, schlug Paulette hoffnungsvoll vor. „Ich fahre bald auf das Seminar und habe viel zu tun. Die Klienten rennen mir hier fast die Tür ein.“

„Verkupple sie doch mit dem Kunden, den du mir anhängen wolltest.“

„Vielleicht. Obwohl … wenn du ihn nicht willst, bleibt immer noch Mandi.“ Mandi wohnte über Paulette, Azure hatte sie vor der Hochzeit kennengelernt. Sie hatte ein schwarzes Stricktop und einen durchsichtigen weißen Rock getragen, der jedem den Blick auf ihr neues Diamant-Bauchnabelpiercing gestattete.

„Lieber Mandi als ich.“

„Wie gesagt, ich könnte Hilfe im Büro gebrauchen. Seit Karmas Hochzeit liege ich schlecht in der Zeit.“

„Auf keinen Fall“, sagte Azure. Aber dann stieg vor ihrem inneren Auge das Bild Paulettes auf, wie sie hilflos am Fahnenmast stand. Ihre Zunge war am eiskalten Metall festgefroren, während Azure und ihre Schwestern sich totlachten.

„Na ja“, sagte Azure unwillig. „Ich könnte vormittags ein bisschen Ablage machen.“

Sie wünschte, sie hätte nicht zugesagt. Aber Paulette sah glücklich aus. Was konnte es also schaden?

2. KAPITEL

Lee Santori stand auf dem Vorschiff seiner 43 m langen Jacht Samoa und badete im Sonnenlicht des frühen Tages. 27 Grad um sieben Uhr morgens waren nichts Ungewöhnliches für den Sommer in Florida. Hinter dem Strand ragte die Skyline von Miami in den Himmel, Glastürme blitzten golden im Licht der aufgehenden Sonne. In Lees Rücken lag Fisher Island, der Stammsitz der Schönen und Reichen. Um ihn wogte der Atlantische Ozean, den er vor gerade erst zwei Wochen auf der Samoa überquert hatte, um von Portugal, wo er den Winter verbracht hatte, in die USA zurückzukehren.

Er war froh, endlich auf dieser Seite des Atlantiks angekommen zu sein. So war er auch die Frau losgeworden, die ihm ungebeten durch ganz Europa gefolgt und überall aufgetaucht war, wo er sich niederließ. Sie hatte behauptet, eine Prinzessin im Exil zu sein und aus einem kleinen Land auf dem Balkan zu stammen. Ihren Worten zufolge hatte sie vor einem Aufstand fliehen müssen, aber Lee bezweifelte, dass die Geschichte stimmte.

Jetzt war er sie los, und er konnte an nichts anderes mehr denken als an jene andere Frau, die auf der Hochzeit seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Azure hieß sie. Azure wie Azur, die Farbe des Meeres bei Sonnenuntergang. Azur, die Farbe des Himmels am Mittag, die Farbe seiner Lieblingskreide, als er noch ein Kind war.

Lee atmete tief ein und machte einen Hechtsprung in das kühle, funkelnde Wasser der Biscayne Bay. Während er auftauchte, hatte er das Gefühl, in einer riesigen azurblauen Blase zu schwimmen. Was ihn nur daran erinnerte, wie schief die ganze Sache mit der einzigen Frau, die ihn im Augenblick interessierte, gelaufen war.

Der sanfte Klang der Schiffsglocke ertönte.

„Frühstück ist fertig“, rief Fleck vom Deck zu ihm herunter.

Lee schwamm mit kraftvollen, sicheren Stößen zum Schiff zurück und kletterte die Leiter empor. Er konnte sein Glück, all das zu besitzen, noch immer nicht fassen. Bis heute fühlte er sich mit dem sorglosen Leben, das er seit dem Verkauf seiner Firma führte, nicht vollkommen wohl. Aber das würde sich ändern. Er hatte große Pläne.

Fleck, ein Bekannter von Lees Collegefreund Slade, der gebaut war wie ein Schneepflug, grinste Lee breit an. Die ungekämmten, von der Sonne fast weiß gebleichten Haare standen ihm wild vom Kopf ab. „Sieht nach Shrimps und Rührei aus, Kumpel.“

Lee schüttelte sich das Wasser aus dem Haar. Die Tropfen fielen auf das Teakholzdeck der Jacht und glitzerten in der Sonne wie Diamanten. Der schweigsame Steward reichte ihm ein Handtuch. Während Lee sich abtrocknete, sagte er: „Ich weiß doch, dass das dein Lieblingsfrühstück ist. Ich habe angeordnet, dass du jeden Morgen deine Shrimps bekommst, solange du hier bist.“

„Du weißt, wie man Gäste behandelt.“ Fleck schlug ihm auf den Rücken, und sie gingen zu einem kleinen runden Tisch hinüber, der auf dem Heck stand. Zwischen dem frischen Blumengesteck und dem feinen Porzellanservice lag ein weiterer ungeöffneter Brief von Lees Vater. Er ignorierte ihn, so wie er seinen Vater und alles, was mit ihm zu tun hatte, seit einiger Zeit ignorierte.

„Ich habe mich gefragt“, erzählte er Fleck zögerlich, „ob du vielleicht Lust hättest, dauerhaft an Bord zu bleiben.“

„Als Teil der Sicherheitsmannschaft?“

„Nein, ich bin inkognito in Miami unterwegs und brauche kein weiteres Personal. Ich dachte, du willst vielleicht Geschäftsführer meines neuen Projekts werden.“

Fleck wirkte verblüfft. „Ehrlich? Du meinst diese Biokost-Geschichte?“

„Ganz genau.“ Lee trank seinen frisch gepressten Orangensaft aus und schob sich eine Gabel Rührei in den Mund.

„Wie komme ich zu der Ehre? Ich bin nur ein nichtsnutziger Surfer!“

„Da hatte unser gemeinsamer Freund Slade Braddock seine Finger im Spiel. Er hat mir versichert, dass du aus dem Rabaukenalter raus bist. Außerdem hat er mir erzählt, wie gut du die Ferienanlage an der Westküste geleitet hast, ehe sie bankrott ging.“

Flecks Miene verdüsterte sich für einen Moment. „Danach blieb mir nichts anderes mehr als das Surfen. Bis der Unfall passiert ist, habe ich so gut wie jeden Strand der Welt gesehen.“

Slade hatte Lee alles über den Motorradunfall erzählt, der Fleck über einen Monat lang ans Bett gefesselt und all seine Ersparnisse verschlungen hatte. Da Fleck nun pleite war, hatte Lee ihm den Job auf der Jacht angeboten. Eigentlich hatte das Angebot nur bis zu Slades Hochzeit mit Karma gegolten. Doch da hatte Lee bereits gemerkt, was in Fleck steckte. Sein neuer Angestellter war scharfsinnig und hatte einen bodenständigen Geschäftssinn, den sein lockerer Lebensstil und sein loses Mundwerk kaum verbergen konnten.

„Bist du bereit, dich niederzulassen?“, fragte Lee.

„Voll und ganz.“

„Ich will meine erste Grassy-Creek-Filiale hier in Miami eröffnen. Und ich möchte, dass du von Anfang an dabei bist.“

Fleck sah noch überraschter aus. „Cool! Ist schon alles startklar?“

„Ich bleibe hier in Miami, um den Vertreter eines Samenlieferanten zu treffen, der am Mittwoch aus Südamerika eingeflogen kommt. Demnächst werde ich mich außerdem mit einem Mitarbeiter einer Unternehmensberatungsfirma treffen. Ich habe ein Ladengeschäft im Westen von Miami angemietet. Die Handwerker bauen es schon um. Vielleicht können wir es uns in den nächsten Tagen ja mal gemeinsam ansehen.“

„Jederzeit! Du bist ein toller Kerl, Lee, ehrlich.“

Lee war es peinlich, wenn man sich zu überschwänglich bei ihm bedankte. „Keine Ursache“, sagte er schroff und schob seinen Stuhl zurück.

„Gehst du weg?“

„Ich will an Land und nach den Handwerkern sehen. Aber vorher muss ich noch mit Paulette von Rent-a-Yenta reden. Sie hat die Sache mit dieser Azure O’Connor vermasselt.“

„Azure? Karmas verklemmte Schwester?“

„Ich glaube, so verklemmt ist sie gar nicht. Jedenfalls bin ich ihr gestern an einem FKK-Strand begegnet.“

Diese Nachricht schien Fleck nun wirklich aus den Socken zu hauen. „Was du nicht sagst! Und, wie sieht sie so aus unter dem Geschäftsanzug, den sie auf der Hochzeit anhatte?“

„Keine Ahnung. Ich war nicht in der Lage, viel zu erkennen.“

„In was für einer Lage warst du denn genau, Lee?“, hakte Fleck mit einem wissenden Grinsen nach.

„Um ehrlich zu sein glaube ich nicht, dass ich gute Chancen bei der Frau habe, das hat mir Paulette bestätigt. Azure hält mich für den letzten Abschaum.“

„Oh.“

„Ich habe mich auf Slades Rat hin bei Paulettes Partnervermittlung angemeldet. Seit ich reich bin, werde ich auf der ganzen Welt von Frauen gejagt. Sie riechen das Geld und mutieren zu Bestien. Es ist grauenhaft. Deshalb finde ich es eigentlich ganz interessant, ausnahmsweise mal der Jäger zu sein und nicht der Gejagte.“

Fleck lachte schallend. „Du Armer, wie schrecklich! Ich wünschte, ich hätte solche Probleme. Aber wie hast du es geschafft, dich inkognito bei Rent-a-Yenta anzumelden?“

„Ich habe einen falschen Namen angegeben. Lee Sanders.“

„Cool.“ Fleck wirkte beeindruckt, auch wenn Lee keinen Grund dazu sah.

Er hasste es, falsche Namen benutzen zu müssen, nur um seine Ruhe zu haben.

Als Lee weitersprach, wirkte er ernst. „Das Problem ist, dass ich kaum Frauen begegne, mit denen ich etwas gemeinsam habe. Sie sind selten ehrlich, und es ist fast unmöglich, herauszubekommen, ob sie es auf mein Geld abgesehen haben oder nicht. Ich bin jetzt 37. Ich will mich niederlassen. Also warum keine Partnervermittlung?“

Fleck zuckte die Schultern. „Ja, warum nicht …“

„Auf der Hochzeit saß Paulette neben dieser Eisprinzessin, die bis zum Ehegelöbnis mit ihrem Handy und ihrem Palm herumgespielt hat. Als ich gerade dachte ‚Wie kaltherzig muss man eigentlich sein, um sich nicht mal ein paar Minuten Zeit für eine Hochzeit zu nehmen‘, stecke sie ihren Palm weg, und ich sah, wie eine Träne ihre Wange hinunterlief. Die Frau hat also doch kein Herz aus Eis.“

„Und was soll das heißen?“, fragte Fleck und nahm sich ein frisches Croissant.

„Dass sich unter der harten Schale ein weicher Kern verbirgt. Sie hat gemerkt, dass ich sie beobachte, und sie hat mir direkt in die Augen gesehen. Ich könnte schwören, dass es gefunkt hat.“ Er wusste nicht, wie er seine Hingezogenheit zu Azure beschreiben sollte, oder das Verständnis, das er für ihre Situation hatte. Und auf keinen Fall wollte er zugeben, dass er das Bedürfnis hatte, dieser Frau nahe zu sein und für sie zu sorgen, denn er war sich sicher, dass Fleck es nicht verstehen würde.

Wie zur Bestätigung sagte Fleck ruppig: „Na, dann erzähl mal, wie du ihr zufällig am FKK-Strand begegnen konntest.“

Lee zwang sich, Azures einsame Träne zu vergessen. „Ich habe Paulette über sie ausgequetscht. Es stellte sich heraus, dass Azure ihre Cousine und Karmas Schwester ist. Paulette hat bei der Hochzeit versucht, ein Gespräch zwischen uns in Gang zu bringen, aber Azure hat sich davongemacht. Danach habe ich Paulette gebeten, ein Date für den nächsten Tag zu arrangieren. Sie schlug vor, dass ich einfach zu Haulover Beach fahre. Sie wollte Azure überreden, auch hinzugehen.“

Lee beschloss, Fleck nicht zu erzählen, wie aufgeregt er auf dem Weg zum Strand gewesen war und dass ihm Azures herzförmiges Gesicht und ihr sinnlicher Körper seitdem nicht mehr aus dem Kopf gingen. „Als ich sah, dass es sich um einen FKK-Strand handelte, dachte ich, dass Azure Nudistin ist. Es war noch früh am Morgen, also bin ich eine Weile schwimmen gegangen, um in Ruhe über alles nachzudenken.“

„Über was denn?“, fragte Fleck ungläubig.

„Ob ich dableiben sollte. Ob sie ihre Sachen ausziehen würde.“

„Was sie aber nicht getan hat“, stellte Fleck, der förmlich an Lees Lippen hing, fest.

„Richtig. Ich habe versucht, sie zum Volleyballspielen zu überreden, aber das hat sie nur wütend gemacht.“

„Ist sie weggegangen?“

„Weggerannt würde es besser beschreiben. Frag nicht warum, aber ich kann an nichts anderes mehr denken.“ Er erinnerte sich, wie liebevoll und aufmerksam Azure sich um die alte Dame mit dem Schuh und das weinende kleine Mädchen gekümmert hatte. Ihm gegenüber war sie zwar abweisend, aber sie schien ein gutes Herz zu haben. Das gefiel ihm noch viel besser als ihr atemberaubendes Aussehen.

Fleck schien über das Gesagte nachzudenken. „Wenn ich du wäre, würde ich mich an die hübschen Mädels am Jachthafen halten, die nur darauf warten, dich kennenzulernen, anstatt mich in die einzige Frau zu verknallen, die nichts von dir wissen will.“

„Aber genau deswegen gefällt sie mir doch. Ich jage gern, Fleck, und die Herausforderung reizt mich. Wenn Azure mal diesen straff gezurrten Dutt lösen und etwas Lockeres anziehen würde, wäre sie ein echter Hingucker.“

„Oh, Mann“, seufzte Fleck und schüttelte den Kopf. „Du scheinst echt zu wissen, was du willst.“

„Nur dass es nicht so aussieht, als ob ich es bekommen werde. Also, ich muss los.“

Er schnappte sich den Brief seines Vaters und ging unter Deck, wo er ihn auf einen Stapel weiterer ungeöffneter Briefe mit demselben Absender legte. Nachdem er geduscht hatte, stellte er fest, dass der Steward seine frische Wäsche noch nicht gebracht hatte und sein Kleiderschrank gähnend leer war.

Kurzerhand schlüpfte er in ein ausgewaschenes dunkelblaues Tanktop und Shorts aus Flecks Schrank und begutachtete das Ergebnis grinsend im Spiegel. Er sah aus wie ein waschechter Miami-Beach-Boy.

Die Barkasse der Samoa brachte ihn zum Jachthafen. Lee verkleidete sich mit Sonnenbrille und Baseballkappe, um ungesehen an seinen Groupies vorbeischleichen zu können. Das Ablenkungsmanöver gelang, und Lee entkam unerkannt, während sich die Mädchen um seinen hübschen ersten Steuermann Mario drängten. Als Lee an die Tür von Rent-a-Yenta klopfte, war es zehn Uhr in der Früh.

Die Tür stand offen. Er wollte gerade hineinstürmen, um Paulette zu fragen, wie es zu dem Debakel am Strand hatte kommen können, als er erkannte, dass die Frau am anderen Ende des Raumes gar nicht Paulette war. Es war Azure, die sich auf dem PC sein Vermittlungsvideo ansah.

Er schlenderte durch die Tür und räusperte sich, um Azures Aufmerksamkeit zu erregen. Sie fuhr herum. Lee lehnte sich lässig gegen die Wand, die Hände tief in den Taschen von Flecks abgetragenen Shorts vergraben.

„Sie!“, sagte Azure und sprang auf.

Seine Anwesenheit schien sie nicht gerade zu erfreuen. Jedenfalls starrte sie ihn an, als sei er ein ekliges Kriechtier. Nun ja, dachte er ironisch, in Flecks Klamotten sehe ich auch nicht gerade aus wie der typische Gentleman.

„Ich hätte nicht erwartet, dass Sie mich mit Kleidern am Körper wiedererkennen“, scherzte er, weil er hoffte, dass Humor die Stimmung auflockern würde.

„Keine lustigen Sprüche, bitte. Ich erkenne Sie, da können Sie sicher sein. Was wollen Sie hier?“

„Ich bin Paulettes Kunde. Gefällt Ihnen mein Film?“

Sie hob kämpferisch das Kinn. „Ich helfe Paulette mit der Ablage. Mein Interesse ist also rein beruflicher Natur.“ Wurde sie gerade rot, oder war das nur der Sonnenbrand?

„Ach so? Und meinen Film haben Sie ganz zufällig im DVD-Player abgelegt?“

Azure schaltete den Film aus, nahm die DVD aus dem Gerät und warf sie auf Paulettes Schreibtisch. Dann ging sie zu einem Tisch in der Mitte des Raumes und begann, den darauf liegenden Papierberg zu ordnen. Lee fiel auf, wie ihre hohen Absätze die schlanken Kurven ihrer Fesseln betonten.

„Haben Sie irgendwelche Fragen, oder sind Sie nur hier, um mich zu nerven?“, fragte sie schnippisch. Sie trug heute einen Französischen Zopf, einen dunklen Rock und eine weiße, langärmlige Bluse – kaum das Richtige für einen heißen Tag in Miami.

„Ich wollte Paulette sehen.“ Lee stieß sich von der Wand ab und kam näher.

„Paulette ist im Laden an der Ecke und holt Bagels.“

„Super! Hoffentlich nimmt sie auch einen mit Mohn mit. Das ist meine Lieblingssorte.“

In diesem Moment kam Paulette durch die Tür gestürmt und musste zweimal hinsehen, ehe sie Lee erkannte. Dann stellte sie eine weiße Papiertüte auf dem Tisch ab.

„Mohn habe ich leider nicht mitgebracht. Es gibt Pumpernickel mit getrockneten Tomaten und zwei verschiedene Sorten Frischkäse. Wollen Sie mitessen, Lee? Unser Onkel Nate kommt auch gleich.“

Azure legte den Kopf schief. „Moment mal, Paulette! Ich versuche verzweifelt, den Typen loszuwerden.“

„Setz dich doch einfach und trink eine Tasse Kaffee mit ihm.“

„Da fällt mir gerade ein, dass ich mir noch ein bisschen die Stadt ansehen wollte“, murmelte Azure und schnappte sich ihre Handtasche. „Grüß Onkel Nate lieb von mir, Paulette. Bis später.“

Ehe Lee reagieren konnte, hatte sie das Büro schon verlassen und stöckelte auf ihren lächerlich hohen Absätzen den Bürgersteig entlang.

„Oh, oh“, seufzte Paulette. „Sie scheint kein Interesse an Ihnen zu haben. Aber ich hätte da eine Klientin, die bei mir im Haus wohnt. Sie heißt Mandi.“

„Ich habe sie auf der Hochzeit gesehen. Tut mir leid, aber sie ist nicht mein Typ.“

„Und Azure schon? Nun ja, wenn Sie auf freudlose Workaholics ohne Sinn für Humor stehen, dann ist sie genau die Richtige für Sie …“

Aber Lee hörte sie nicht mehr. Er war schon auf und davon, um Azure zu folgen.

Azure wünschte, sie hätte Kleidung mitgenommen, die besser zu den tropischen Temperaturen passte. Auf ihren schmerzhaft hohen Absätzen trippelte sie die Ladenreihe in der Lincoln Mall entlang. Hier reihten sich Juweliere, Schuhgeschäfte, und Boutiquen aneinander, die alle teure Waren in den leuchtendsten Farben anboten. Sie hätte sich all diese Dinge problemlos leisten können. Aber ihre praktische Veranlagung verbot ihr, Sachen zu kaufen, die sie nie wieder tragen würde.

Selbst für einen Junitag in Miami war es heiß. Azure stand der Schweiß auf der Stirn. Die schwüle, feuchte Luft schien sich in ihrer Kleidung zu stauen. Selbst ihre Hose klebte an der Haut. Azure flüchtete in den Schatten einer Markise, die vor einem Laden hing, und nahm einen Umschlag aus ihrer Handtasche, mit dem sie sich Luft zufächelte.

Im Schaufenster hing ein knallgelber Häkelbikini an einer Schaufensterpuppe. Mit ein paar Pfund weniger auf den Rippen hätte Azure ihn vielleicht angezogen, allerdings ohne die gelben Schlangenledersandalen und die Federboa, die die Puppe dazu trug.

„Der Bikini würden Ihnen gut stehen“, ertönte eine bekannte Stimme hinter ihr. Sie fuhr herum und sah Lee, der seine Daumen in den Tunnelzug seiner Shorts gehakt hatte. Er lächelte sie auf eine Weise an, die ihr schon viel zu vertraut vorkam.

„Warum folgen Sie mir?“, fragte sie.

„Weil ich Sie gern besser kennenlernen würde“, sagte er mit einem aufrichtig bewundernden Funkeln in seinen graublauen Augen.

Sein überdeutliches Interesse ging ihr auf den Keks. Sie drehte sich um und stürzte sich in die Menschenmenge auf dem Gehweg. „Es hat keinen Zweck, sich weiter um mich zu bemühen.“

Er folgte ihr und redete unbekümmert weiter. „Warum nicht? Vielleicht sind wir ja füreinander bestimmt!“

Diese verdammten Schuhe! Sie quälten sie so, dass sie nicht schnell genug gehen konnte, um diesem Lee zu entkommen. „Ich bin nicht zu haben. Außerdem fahre ich in ein paar Tagen zurück nach Boston.“

„Und was wäre so schlimm daran, diese paar Tage lang mit mir gemeinsam Miami zu erkunden?“

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. „Hören Sie auf mit Ihren blöden Witzen.“

„Aber ich meine es ernst! Glauben Sie mir, ich habe nie in meinem Leben etwas so ernst gemeint.“ Er wirkte aufrichtig, was Azure sehr verwunderte. Aber er sollte wissen, dass er absolut nicht ihr Fall war. Vielleicht war das grausam, aber auf lange Sicht war Ehrlichkeit der einzige Weg, mit solchen Typen umzugehen.

Sie atmete tief durch und musterte ihn. Er wirkte entschlossen und dickköpfig, aber sie würde sich schon durchsetzen. „Ich verbringe meine Freizeit nicht mit nichtsnutzigen Surfertypen.“

„Nichtsnutzigen Surfer …?“ Er wirkte bestürzt, dann rieb er sich reumütig über die Stoppeln an seinem Kinn. „Normalerweise rasiere ich mich morgens, aber heute hatte ich es eilig.“

Sie merkte, wie Zweifel in ihr hochkamen. Der Mann hatte Charme, aber vermutlich war genau das ihr Problem. Seit Paco hatte sie eine Abneigung gegen Männer, die glaubten, dass ihnen die Welt zu Füßen lag. Und genau so wirkte der Möchtegern-Casanova.

„Wenn Sie es so eilig haben, dann eilen Sie jetzt doch bitte in die andere Richtung davon.“ Sie ging weiter und erwartete, dass er enttäuscht zurückbleiben würde. Stattdessen schien er ein Lachen zu unterdrücken. Das verwirrte sie, aber schließlich lief hier rein gar nichts nach Plan.

„Ich habe es nicht eilig“, sagte Lee. „Wissen Sie, wir nichtsnutzigen Surfertypen lassen es ruhig angehen.“ Er war noch nie als Surfertyp bezeichnet worden. Das Missverständnis verlieh der Angelegenheit einen ganz neuen Reiz. Er wollte nicht, dass Azure seine wahre Identität kannte. Ihre Fehleinschätzung schlug sich zu seinen Gunsten nieder. Wenn sie ihn besser kannte, würde er ihr die Wahrheit schon noch sagen.

Azures Handy klingelte, und sie zog es aus den Tiefen ihrer Handtasche. „Ja? Ja, am Apparat. Ja, Sie sollen den Wagen heute liefern. Zu den Blue-Moon-Appartements.“

Sie lauschte einen Moment, dann legte sie auf. „Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt“, stöhnte sie und schüttelte verzweifelt den Kopf, sodass sich einige Haarsträhnen aus ihrem Zopf lösten. „Die Verleihfirma hat Personalknappheit und kann den Wagen heute nicht liefern.“

„Aber Sie haben ein Auto reserviert?“, fragte er. Am liebsten hätte er ihr die feinen Haarsträhnen aus dem Gesicht gestrichen und ihren Nacken geküsst, um herauszufinden, ob sie genauso gut schmeckte wie sie aussah.

Sie ging weiter, aber ihr Schritt wirkte weniger entschlossen. „Ja, ein Wagen ist da, aber sie können ihn nicht vorbeibringen. Ihr Büro ist im Westen der Stadt, also eine Ewigkeit entfernt. Am besten nehme ich mir ein Taxi.“ Sie sah die Straße hinab und winkte einen Wagen heran, der aber nicht reagierte.

„Vielleicht sollte ich noch andere Mietwagenfirmen anrufen“, überlegte sie und setzte sich auf eine Bank, der eine Topfpalme ein wenig Schatten spendete. Lee überlegte. Wenn er Azure anbot, sie zu dem Autoverleih zu fahren, könnte seine Tarnung auffliegen. Er hatte eine Mercedes-Limousine gemietet, die eindeutig nicht zu seiner neuen Surferidentität passte. Surfer fuhren alte Schrottkisten. Autos wie … das von Fleck, ein uraltes Mustang Cabrio in Knallrot. Mit vielen Dellen, dafür aber ohne Stoßstangen.

Er räusperte sich. „Ich könnte Sie hinfahren.“

Azure warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Ja?“

„Gern.“ Mehr als gern, fügte er im Stillen hinzu, während er die Linie ihrer Wangenknochen studierte. „Ich habe nachher sowieso einen Termin in der Gegend.“ Das war ausnahmsweise nicht gelogen, denn der Laden, den er gemietet hatte, lag ebenfalls im Westen von Miami.

„Und es würde Ihnen sicher nichts ausmachen?“

„Nein, bestimmt nicht.“

„Na dann …“ Sie stand auf. „Ich habe keine andere Wahl. Ich muss bereit sein, wenn mein Klient mich treffen will.“

„Dann gehe ich mal den Wagen holen. Ich komme dann zum Blue Moon.“

Azure seufzte tief und ordnete ihre Frisur. Lee hätte in diesem Moment viel dafür gegeben, sie mit offenem Haar zu sehen.

„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Sie ersparen mir wirklich viel Mühe.“

„Keine Ursache. Ich bin in einer knappen Stunde da.“

„Bis dann.“ Mit diesen Worten stolzierte Azure zurück zum Blue Moon. Lee machte sich grinsend vor Vorfreude auf den Weg zum Jachthafen.

Die Blue-Moon-Appartements lagen mitten in South Beach, dem Art-Déco-Viertel von Miami. Azure konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie jemand so ein Haus bauen und es dann auch noch rosa-, türkis- und lavendelfarben anstreichen konnte.

Goldy, das Mädchen für alles im Blue Moon, saß hinter dem Empfang und las aus den Teeblättern am Boden ihrer Tasse, als Azure in die Lobby kam.

„Die Teeblätter verraten, dass ich über Wasser reisen werde“, sagte Goldy und schob ihren groß geblümten Kaftan zurecht. „Und ich werde eine Zeremonie besuchen.“

„Sie waren gerade auf einer. Die Hochzeit, meine ich“, bemerkte Azure.

„Die anstehende Zeremonie ist anderer Natur. Sie hat andere Schwingungen. Ich frage mich, ob sie irgendwie mit dem Raumschiff zusammenhängt.“

Azure blieb erstaunt stehen. „Welches Raumschiff?“

„Das weiß ich auch nicht so genau. Ein Mann im Radio hat erzählt, dass vielleicht ein Raumschiff hier in Miami landen wird. Die Anhänger eines Elviskultes wollen es begrüßen. Ein paar von ihnen waren gestern hier und haben gefragt, ob ich Zimmer frei hätte.“

Azure musste grinsen. Sie mochte Goldy trotz ihrer abgehobenen Art. Dann lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung. „Goldy, ich warte auf jemanden, der mich zur Mietwagenfirma fährt. Rufen Sie mich an, wenn er da ist?“

„Klar.“ Goldy starrte wieder auf ihre Teeblätter. „Dieser Mann, der Sie abholt, lebt auf dem Wasser. Dieser ganze Teesatz hat viel mit Wasser zu tun.“

Azure lachte. „Das mit dem Wasser stimmt. Er ist so ein Surfertyp. Aber zum Glück hat er ein Auto.“

„Ein Surfer also?“ Goldy rollte hinter ihrer dicken Brille vielsagend mit den Augen. „Sieht er aus wie einer aus Baywatch?“

„Nicht direkt. Haben Sie auf der Hochzeit zufällig jemanden kennengelernt, der Lee heißt?“

Goldy schürzte die Lippen und dachte kurz nach. „Keine Ahnung.“ Das Telefon klingelte. „Bis später, Azure.“

„Bis später!“

Azure ging nach oben in Paulettes Appartement und stellte sich kurz unter die Dusche. Dann durchwühlte sie ihren Koffer nach leichterer Kleidung, in der sie bei der Hitze nicht eingehen würde. Sie fand eine blauweiße Bluse und eine blaue Stoffhose, die zum Teil aus Wolle bestand. Viel zu heiß für das Wetter.

Verzweifelt sah sie in Paulettes Kleiderschrank nach und hoffte, dass sie etwas finden würde, das sie sich leihen konnte. Paulette hatte eine Menge schicke Sachen, aber für die über 1,70 m große Azure war alles zu kurz. Schließlich fand sie ein paar knielange weiße Hosen, in denen sie nicht albern aussah. Sie zog sie an und schlüpfte in die blauweiße Bluse. Zum Glück hatte Paulette dieselbe Schuhgröße wie sie. Azure suchte sich ein Paar Sandalen aus, die ihre geschundenen Füße schonen würden.

Vielleicht, dachte sie, während sie das mäßig überzeugende Ergebnis im Spiegel begutachtete, sollte ich doch eine Shoppingtour machen.

Flecks treuer Mustang hatte seine Nachteile. Beispielsweise die Füllung, die aus den Polstersitzen heraushing, oder den Türgriff auf der Beifahrerseite, der ständig abfiel.

Aber Lee war all das nur recht, weil es seine Tarnung glaubwürdiger machte.

Fleck freute sich wie ein Schneekönig über den Wagentausch.

„Echt wahr? Du nimmst den Mustang, und ich bekomme den Mercedes?“

„Wir tauschen nicht nur Autos, wir tauschen Identitäten!“, erklärte Lee und begutachtete sich im Wandspiegel seiner mahagonigetäfelten Kajüte. „Von diesem Moment an bin ich der Surfer und du der Jachtbesitzer.“

Fleck strahlte vor Glück. „Für wie lange?“

„Solange ich will. Außer du hast was dagegen.“

„Nein, verdammt! Ich bin Fleck Johnson, der einen Multimillionär spielen darf und nur darauf wartet, fünfzig willige Frauen an Bord der Samoa zu holen!“

„Mach, was du willst, solange du mir nicht die Tour vermasselst.“

„Ich angle meine Fische auf meine und du deine auf deine Weise.“ Fleck machte eine Pause und warf Lee einen kritischen Blick zu. „Hey, wenn du ein echter Surfer werden willst, musst du die Haare anders tragen. Abgesehen von deinen Klamotten siehst du immer noch aus, als kämst du gerade aus einem Schickimicki-Tennisklub spaziert.“

Lees hellbraunes Haar war in den langen Stunden auf Deck der Samoa von der Sonne ausgebleicht worden, aber der Schnitt passte nicht sonderlich gut zu seiner Rolle.

„Lass mich mal machen“, sagte Fleck und begann, sich an Lees Haaren auszutoben. Er wuschelte darin herum, bis sie wirr abstanden.

„Wahnsinn“, sagte Lee. „Ich sehe aus …“

„… wie ein waschechter Surfer. Die Mädels stehen drauf.“

„Und warum rennen sie dann alle mir hinterher?“

„Das ist ’ne andere Art von Frauen, Kumpel. Die Frauen, die auf Surfer stehen, sind freiheitsliebend. Sie suchen keinen Typen, der sie unterstützt. Die sind total entspannt, so wie ich.“

„Die Frauen, die auf Typen wie mich stehen, sind nur hinter dem Geld her, wie ich schon feststellen durfte.“

Fleck lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. „Azure soll also denken, dass du arm bist?“

„Warum nicht? So kann ich herausfinden, ob sie wirklich mich mag.“

Fleck hob skeptisch eine Braue. „Soweit ich informiert bin, mag sie dich bisher überhaupt nicht.“

„Stimmt.“ Lee nahm seine Rolex ab und reichte sie Fleck. „Die kann ich nicht tragen.“

Fleck nahm sie ehrfurchtsvoll entgegen. „Du musst vermutlich tanken.“

„Mach ich. Und lass es ruhig angehen mit den Frauen, Fleck.“

Fleck lachte. „Nach dem Ärger, den du ständig hast, ist wohl eher die Frage, ob die Frauen es mit mir ruhig angehen lassen.“

Lee schnappte sich die Autoschlüssel und ging zur Barkasse hinauf, während Fleck noch immer kicherte.

3. KAPITEL

Azure wollte die ganze Angelegenheit mit dem Mietwagen so schnell wie möglich hinter sich haben. Ungeduldig wartete sie auf dem Gehweg vor dem Blue Moon und versuchte dabei, sich nicht über den Mann zu wundern, der ein Huhn an einer Leine spazieren führte. Er wurde von zwei Teenagern verfolgt, die androhten, das Huhn zu entführen, um es für Voodoo-Zwecke zu schlachten.

Jedenfalls hoffte Azure, dass es sich nur um eine Drohung handelte. Wenn man Goldy glaubte, dann gab es im Süden von Florida die merkwürdigsten Phänomene, von denen Santería, die Voodoo-Art, die die kubanischen Einwanderer praktizierten, nur eines war.

Als Azure gerade darüber nachdachte, den Tierschutzbund anzurufen, schlenderte Goldy aus dem Blue Moon, und im selben Moment kam ein leuchtend roter Wagen mit offenem Verdeck und quietschenden Reifen um die Ecke gejagt. Er legte ein atemberaubendes Bremsmanöver vor Azure hin.

Lee schwang sich über die Fahrertür. „Zu Ihren Diensten, Ma’am. Strandtaxiservice. Unser Motto: Sie wollen hin, wir fahren Sie.“

„Äh, Goldy, das hier ist Lee. Lee – Goldy.“

Goldy klimperte mit ihren dünnen Wimpern. „Schön, Sie kennenzulernen. Hmm, Sie scheinen kein Anhänger dieses Elviskultes zu sein. Sie leben in einem großen Haus auf dem Wasser, oder?“

„Woher wissen Sie, wo ich lebe?“, fragte Lee verblüfft.

Goldy lächelte geheimnisvoll. „Es stand in den Teeblättern. Es war schön, Sie kennenzulernen, Lee. Ich muss jetzt wieder an den Empfang zurück. Kommen Sie mal vorbei und besuchen Sie mich, dann lege ich Ihnen die Karten. Sie könnten viel Neues erfahren.“ Sie winkte ihm mit ihren plumpen Fingern ungraziös zu und verschwand mit wehendem Kaftan wieder in der Empfangshalle.

Lee starrte ihr hinterher. „Was in Gottes Namen war das denn?“

Wie sollte Azure das Phänomen Goldy erklären? Sie hatte keine Ahnung. „Sie steht auf New Age“, erläuterte sie deswegen knapp.

„Und was zur Hölle ist ein Elviskult?“

Azure seufzte. „So etwas wie eine Religion offenbar. Eine örtliche Sekte. Mehr weiß ich auch nicht. Wollen wir los? Ich möchte nicht, dass die Firma das Auto weitervermietet, weil ich nicht auftauche.“

Lee öffnete ihr höflich die Beifahrertür, und sie setzte sich. Während er um das Auto herumging, musterte Azure ihre Umgebung misstrauisch. Der Wagen sah aus, als würde er im nächsten Augenblick auseinanderfallen. Die Farbe blätterte ab und verriet, dass das Auto einmal grün gewesen war. Verschiedene Teile fehlten, und dem Geräusch nach zu urteilen brauchte es einen neuen Auspuff. Falls es überhaupt einen Auspuff hatte.

Lee machte es sich neben ihr bequem und legte den Rückwärtsgang ein. Offenbar hatte er das gar nicht gewollt, denn er stieg sofort so hart auf die Bremse, dass Azure die Sonnenbrille in den Schoß fiel.

„Tut mir leid“, sagte er, während sie sich die Brille wieder auf die Nase schob. „Manchmal klemmt die Gangschaltung.“

„Aha.“

Vorsichtig lenkte Lee den Wagen in den Straßenverkehr. „Also“, sagte er und blickte konzentriert auf die Straße. „Wie lange bleiben Sie noch in der Stadt?“

Nicht, dass ihn das etwas angegangen wäre, aber immerhin tat er ihr gerade einen Gefallen. Sie musste wohl antworten.

„Ich weiß es noch nicht genau“, murmelte Azure.

„Sie haben erzählt, dass Sie einen Kunden hier haben“, bohrte er nach und sah sie an, um ihr ein strahlendes Lächeln zu schenken.

„Das stimmt.“ Sie beschloss, ihm keine weiteren Informationen zu geben. Er war einfach zu eingebildet, und er sah eindeutig zu gut aus. Außerdem hatte er Charme, und das ließ die Alarmglocken in ihrem Kopf schrillen. Warum konnte er nicht abstoßend hässlich sein? Dann müsste sie nicht hingerissen seine starken, sehnigen Hände beobachten, die souverän das Lenkrad umfassten. Oder die Muskeln an seinen Oberschenkeln, die sich an- und wieder entspannten, während er die Pedale bediente …

Sie zwang sich wegzusehen und richtete ihren Blick aus dem Fenster. Schon lange hatte sie kein Mann mehr derart aus der Fassung gebracht. Seit Paco, genauer gesagt. Aber selbst der hatte keine solche Wirkung auf sie gehabt. Im Augenblick konnte Azure an nichts anderes mehr denken als an die Tätowierung unter Lees Nabel.

„Erzählen Sie doch mal. Was für eine Arbeit machen Sie eigentlich?“, fragte sie in dem verzweifelten Versuch, sich selbst abzulenken.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu, dann sah er wieder auf den Verkehr. „Mal dieses, mal jenes“, sagte er vage. „Was sich eben gerade anbietet.“ Er versuchte, sich vorzustellen, was Fleck sagen würde. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, wie kompliziert es werden würde, Identitäten zu wechseln.

„Schauen Sie mal!“, sagte er und wies auf das Meer, als sie eine Brücke überquerten. „Ein Parasailor.“

Azure war dankbar für die Ablenkung und sah aus dem Fenster, um den leuchtend gestreiften Flügel zu beobachten, der aus dem Segel eines schaukelnden Boots zu wachsen schien. Sie s...

Autor

Pamela Browning
Bevor Pamela Browning Autorin wurde, war sie Reporterin und Kolumnistin bei einer Zeitung, arbeitete im Werbebereich und leitete das Zulassungsbüro eines kleinen Colleges. Bis jetzt umfasst ihr Werk 40 Romane, und immer wieder werden ihre Bücher von begeisterten Leserinnen gelobt. Außerdem ist sie Sprecherin der Romance-Autorinnen. Sie wird häufig zu...
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