Julia Herzensbrecher Band 8

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(K)EIN MANN FÜR GEWISSE STUNDEN? von NINA HARRINGTON
Erregende Spannung liegt in der Luft, als Antonia in der Luxusvilla einer Bekannten eine Dessousparty feiert. Da steht plötzlich ein sexy Fremder in der Tür. Haben ihre Freundinnen etwa einen Stripper bestellt? Doch der gut gebaute Typ stellt klar, wer er ist: Scott Elstrom. Rechtmäßiger Besitzer des Hauses - und ab sofort Antonias neuer Boss …

VERBOTENE NÄCHTE MIT DEM BOSS von CAROLE MORTIMER
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  • Erscheinungstag 14.02.2020
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783733714949
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nina Harrington, Carole Mortimer, Emma Darcy

JULIA HERZENSBRECHER BAND 8

1. KAPITEL

Scott Elstrom blickte über das weite Eismeer Alaskas und blinzelte, als die aufgehende Sonne die dünne Schneeschicht strahlend weiß aufleuchten ließ.

Der Anblick war so schön, dass er einen Moment lang den schneidenden Wind vergaß, der ihm bei der Überquerung des gefrorenen Meeres entgegenblies. Hier gab es nirgendwo Unterschlupf für ihn und sein Gespann von neun Schlittenhunden, und seine Wangen brannten vor Kälte unter der Maske, die sein Gesicht bedeckte.

Ohne die Handschuhe abzustreifen, griff Scott nach seiner Kopflampe und schaltete sie aus, um die Batterien zu schonen. Anschließend lief er hundert Schritte über das dicke Eis, um ein wenig warm zu werden, und sprang wieder auf den Schlitten.

Dallas, seine Leithündin, drehte sich zu ihm um. Es sah aus, als würde sie lächeln.

Die Hunde liebten das sonnige Wetter und freuten sich auf den Weg über den Sund auf die andere Seite der Bucht, wo sich das Basislager befand.

Seit dreizehn Tagen war Scott mit seinem Gespann unterwegs, um an den zwanzig Kontrollstationen der Umweltmonitoringfirma, für die er arbeitete, Messungen vorzunehmen. Manche der Stationen lagen in kleinen Städten, aber viele bestanden lediglich aus einfachen Holzhütten, in denen er mit seinen Hunden allein war. Er liebte dieses stille Leben.

Hier draußen fühlte er sich mit all denen verbunden, die einst die Elstrom Land- und Seekarten beim Fischen und Jagen genutzt hatten. Und mit den Entdeckern, die sich Wege in neue Welten zu erschließen suchten.

Doch seit der kurzen, knappen Nachricht seiner Schwester Freya war sein innerer Frieden dahin.

Ihr Vater war im Krankenhaus. Er hatte einen zweiten Schlaganfall erlitten. Und obwohl es zum Glück nur ein leichter gewesen war und die Ärzte sagten, dass er sich bald erholen würde, wollte sein Vater ihn sprechen. Dringend.

Komm nach Hause, Scott. Wir brauchen dich hier.

Scott lockerte seine Schultern und kämpfte gegen das schlechte Gewissen an, das ihn ob seines Widerwillens beschlich, eine Woche früher als geplant in die sogenannte Zivilisation zurückzukehren.

Sie brauchten ihn. Das war ja mal etwas ganz Neues!

Vor zwei Jahren hatte sein Vater die Leitung des alten Familienunternehmens an Scotts Stiefbruder Travis übertragen. Und es war gründlich danebengegangen. Inzwischen war Travis Geschichte, und Scotts Vater hatte monatelang kämpfen müssen, um das zu retten, was von seinem Kartografieunternehmen Elstrom Mapping übrig geblieben war.

Dass sein Vater zugab, Scott zu brauchen, war schon sehr ungewöhnlich.

Was auch der Grund dafür war, dass Scott beschlossen hatte, das Wasser zu überqueren, anstatt die weitere Route über festes Land zu wählen, wo er ein Schneemobil zur Verfügung gehabt hätte.

Es ging nicht anders. Er musste über das gefrorene Meer, wenn er den Transportflug erwischen wollte, der einmal wöchentlich vom Luftstützpunkt am Basislager startete. Alles andere würde zu lange dauern.

Doch das Meereis zu überqueren war ein heikles Unterfangen. Die Eisplatten bewegten sich unter dem Schlitten und erschwerten so das Vorwärtskommen. Außerdem konnte man sich nicht auf die Stabilität des Eises verlassen, vor allem dann nicht, wenn es so mild war wie in diesem Februar.

Scott sah zur Seite und beobachtete zu seinem Entsetzen, wie die Eisfläche neben ihm brach. Eine riesige Eisscholle hatte sich gelöst und trieb aufs Meer hinaus.

Ein Riss an einer dünnen Stelle – und das Gewicht des Schlittens würde Scott und seine Hunde in den Tod reißen.

Scott kniff die Augen zusammen, um nicht vom gleißenden Sonnenlicht geblendet zu werden, und sah aufs offene Meer hinaus. Er war seit vierundzwanzig Stunden unterwegs und hatte nur ein kurzes Nickerchen in einer Trapperhütte gemacht, während seine Hunde sich ausgeruht hatten. Jetzt trabten die Vierbeiner wieder munter voran, und die Sonne stieg am Himmel empor und wärmte Scotts Haut.

Außer dem Gleiten des Schlittens auf dem Eis und dem regelmäßigen Atem der Hunde war nichts zu hören.

Es war schön. Unvergleichlich. Hypnotisierend.

Das hier war sein Leben. Nicht die Londoner Innenstadt mit all ihrem Trubel.

Von jener Welt hatte er sich vor zwei Jahren verabschiedet, und er hatte keine Sehnsucht nach ihr. Die technische Ausrüstung, die er für das Kartieren und die Messungen nutzte, erlaubten es ihm, mit seiner Schwester und seinem Vater zu sprechen – wenn er es wollte, konnte er fast täglich Kontakt aufnehmen, mindestens aber einmal pro Woche.

Natürlich hatte Freya versucht, ihn zu überreden, über Weihnachten nach Hause zu kommen, doch er hatte keinen Sinn darin gesehen.

Sein Vater war ein Theoretiker, der nie verstanden hatte, warum sein Sohn Abenteuersport und ein hartes Leben im Freien der stillen Beschäftigung mit den Karten vorzog, die Elstrom Mapping zu einer weltberühmten Firma gemacht hatten.

Das Einzige, was Scott mit seinem Vater verbunden hatte, war das Familienunternehmen gewesen. Doch als sein Vater beschlossen hatte, die Verantwortung für die Firma in Travis’ Hände zu legen, war auch dieses Band zwischen ihnen zerrissen, und sie waren im Streit auseinandergegangen.

Im Dezember hatte es einen Wetterwechsel gegeben, der die Abreise von der Forschungsstation unmöglich gemacht hatte. Scott hatte einen perfekten und ihm sehr willkommenen Vorwand gehabt, in Alaska zu bleiben.

Seine Schwester war natürlich alles andere als begeistert gewesen. Sie hatte sich allein um ihre geschiedenen Eltern gekümmert. Die beiden hatten sich getrennt, als ihre Mutter es nach vielen frustrierenden Jahren aufgegeben hatte, mit einem Mann zusammenzuleben, der niemals zu Hause war.

Freya hatte den Jahreswechsel bei ihrer Mutter verbracht, die inzwischen einen neuen Freund hatte – einen Anwalt mit einer ansehnlichen Krawattensammlung – und offenbar glücklich mit ihm war.

Scott lachte in sich hinein. Sicher würde Freya ihn dafür leiden lassen. Er wollte gerade seine GPS-Position checken, als er aus dem Gleichgewicht geriet.

Er spürte einen Ruck, und der Schlitten rutschte unter ihm weg.

Sie waren auf dünnes Eis geraten.

Auf der Stelle war jede Faser seines Körpers in Alarmbereitschaft. Adrenalin flutete seine Adern. Während Scott in Gedanken in London gewesen war, hatte Dallas ihren Schritt verlangsamt und hatte ihren Schwanz hoch aufgerichtet; auch sie witterte die Gefahr.

Scott blieb fast das Herz stehen.

In fünf Schichten dicker Kleidung konnte er nicht schwimmen. Selbst wenn – das Wasser war so kalt, dass er nur wenige Minuten durchhalten würde. Er würde mit den Hunden und dem Schlitten untergehen.

Die Hunde würden sterben, weil sein Vater den Kampf aufgegeben hatte.

Das durfte nicht passieren. Nicht, solange er auch nur einen Rest Kraft in seinem Körper hatte.

Scott griff nach dem robusten Halteseil, ließ sich vom Schlitten gleiten und rutschte mit gespreizten Beinen bäuchlings aufs Eis, um sein Gewicht so gut wie möglich zu verteilen. „Dallas! Nach rechts, Dallas. Nach rechts. Lauf!“

Dallas verstand seine Anweisung und zog gegen das Gespann an, das geradeaus weiterlaufen wollte. Sie schaffte es, und nach ein paar entsetzlichen Minuten spürte Scott, dass sie wieder dickeres Eis unter sich hatten.

Das schartige Eis zerriss seinen Handschuh; augenblicklich wurden seine Finger taub und blau. Doch er schaffte es, sich wieder auf den Schlitten zu hieven, und die Hunde liefen rasch auf die Hütten am Ufer zu, die bereits in Sichtweite waren.

Also würde er es gerade noch rechtzeitig nach Hause schaffen, um sich anzuhören, was sein Vater ihm zu sagen hatte.

Und eines stand fest. Jetzt war seine Chance gekommen, seinem Vater zu beweisen, dass er besser war als Travis. Und nichts und niemand würde ihm im Wege stehen und ihn davon abhalten. Diesmal nicht.

„Moment. Dieser Stringtanga ist allen Ernstes essbar?“

Toni las die Beschreibung auf der Rückseite der schwarzen Schachtel, die ihre Schwester Amy ihr gereicht hatte.

„Klar.“ Amy tippte mit dem federbesetzten Ende ihrer rosafarbenen Peitsche auf die Verpackung. „Ansonsten würde man etwas so Unbequemes wohl kaum anziehen.“

„Ich stelle mir nur gerade vor, was wohl passiert, wenn die Zuckerperlen sich lösen und zwischen meinen Beinen verschwinden. Amy, ich hab dich wirklich sehr lieb und du bist meine einzige Schwester, aber ich wäre dir wirklich dankbar, wenn ich dir dieses Geburtstagsgeschenk ein andermal vorführen könnte.“

Amy gluckste. „Keine Sorge. Du brauchst dich nicht vor uns auszuziehen. Spar das Höschen für den tollen Mann auf, mit dem du bald zusammen sein wirst.“ Sie tippte Toni mit ihrer Federpeitsche auf den Kopf. „Sehr bald.“

„Na, dann packe ich die Schachtel mal lieber in den Kühlschrank und begnüge mich in der Zwischenzeit mit Schokoriegeln.“

Amy seufzte und ließ sich neben Toni auf einen Stuhl sinken. „Ach, nun komm schon. Es ist jetzt schon ein Jahr her, dass du mit Peter Schluss gemacht hast. Und wir waren uns doch einig, dass du viel zu gut für ihn bist. Stimmt’s? Neues Jahr, neues Glück.“

Lächelnd drückte Toni die Schachtel an ihren nur mit einem weinroten BH bekleideten Busen. „Ach, Amy, ich werde dich vermissen. Das weißt du, oder?“

„Na klar. Was meinst du, weshalb ich all den Schnickschnack auf meinen Rechner gespielt habe? Doch nur, damit wir uns jede Woche sprechen können!“ Amy legte einen Arm um Tonis nackte Schultern. „In ein paar Monaten bin ich doch wieder da. Im September fängt die Uni an.“ Sie ließ ihre Schwester los und schniefte. „Und, nur dass du es weißt – ich werde dich auch vermissen. Aber ich werde es wohl ertragen. Schließlich habe ich eine tolle Zeit vor mir.“ Wieder tippte sie Toni mit ihrer Peitsche an. „Dank des Weihnachtsgeschenks von meiner wundervollen Schwester … Meine Freundinnen können immer noch nicht glauben, dass du mir ein Round-the-World-Ticket gekauft hast.“

„Wie sollte ich dich sonst loswerden, bis die Klempnerarbeiten abgeschlossen sind?“ Toni grinste. „Gern geschehen. Aber vergiss nicht, dass es eine Bedingung gibt. Du sollst die Zeit genießen und sie nicht komplett damit zubringen, das antike Peru auszugraben.“

„Versprochen. Oh, Moment, die Küchenuhr klingelt. Scheint, als wäre der nächste Kuchen fertig. Ich bin gleich wieder da.“ Amy sprang auf und huschte davon, als würde sie immer in einem rosa- und cremefarbenen Rüschenkorsett und federbesetzten Pantoletten herumlaufen.

Toni lehnte sich zurück und wiegte sich im Takt zur Musik, als all ihre Freunde und Kollegen aus dem Medienunternehmen, bei dem sie arbeitete, sehr laut ein Lied über ein Uptown Girl mitsangen, das ihr zu Ehren in voller Lautstärke lief.

Das Tischtuch war übersät mit Prosecco- und Weißweinflecken, Pizza- und Kuchenkrümeln. Wahrscheinlich lag dort auch die Verpackung der weinroten Dessous; Amy hatte darauf bestanden, dass Toni als Star der Geburtstagsparty etwas ganz Besonderes tragen müsse.

Dann hatte Amy ihr eine Krone, die sie aus Goldfolie und Draht gebastelt hatte, aufgesetzt und darauf bestanden, dass Toni die Krone aufbehielt. Natürlich saß die Krone völlig schief. Doch damit nicht genug. Ihr Make-up war sicher total verlaufen, weil Amy sie damit zum Weinen gebracht hatte, dass sie ihr erklärt hatte, wie glücklich sie sei, dass Toni ihre Schwester war und dass sich daran nichts ändern würde, wenn sie nun zum ersten Mal von zu Hause wegginge.

Als Amy ihr dann ein Buch mit den Zeichnungen gegeben hatte, die ihre Mutter von ihnen angefertigt hatte, als sie klein gewesen waren, und ihr gesagt hatte, wie stolz ihre Eltern auf Toni und das, was sie erreicht hatte, gewesen wären, waren ihr die Tränen schon wieder gekommen – genau wie den anderen Anwesenden. Selbst die sonst so tapfere Amy hatte ihre Serviette fallen gelassen und sich danach gebückt, um heimlich eine Träne zu verdrücken.

Die Cupcakes mit Schokoglasur kamen gerade im rechten Moment, um eine wahre Heulorgie zu verhindern.

Toni ließ ihren Blick über die Tische und die Frauen im Raum schweifen. Es störte nicht weiter, dass sie furchtbar aussah und dass zu befürchten war, dass ihre Gäste das Ess- und das Wohnzimmer von Freya Elstrom, der diese Wohnung gehörte, verwüsteten. Jedenfalls störte es ihre Freunde nicht, die an einem kalten Februarabend hergekommen waren, um ihren Geburtstag zu feiern.

Amy würde ihr eine Menge erklären müssen. Toni hatte ihr seit Wochen immer wieder gesagt, dass sie nicht feiern wollte. Weil es sie nur an ihren letzten Geburtstag erinnern würde. Der Tag, an dem sie ihren vermeintlichen Freund mit einem brasilianischen Wäschemodel unter der Dusche erwischt hatte und an dem sich herausgestellt hatte, dass dieses Model nicht eine Affäre, sondern die eigentliche feste Freundin dieses Mistkerls war.

Das zu erwähnen hatte er während der paar Wochen, die er mit Toni zusammen gewesen war, geflissentlich vergessen.

Es war nicht unbedingt einer der lustigsten Augenblicke in ihrem Leben gewesen.

Darum diese Surprise-Party. Toni hatte kürzlich Aufnahmen für eine Fotodokumentation über die sprunghaft ansteigende Nachfrage bei Sexspielzeug und gewagten Dessous bei Frauen aller Altersgruppen gemacht. Als Toni vor ein paar Tagen erwähnt hatte, dass ihr bevorstehender Geburtstag mit dem Jahrestag ihrer Trennung von dem unehrlichen Exfreund zusammenfiel, hatten die Mädchen darauf bestanden, eine Party für sie zu schmeißen, und zwar solange Amy noch in London war. Und mit all den Utensilien von der Fotosession. Amy war von der Idee begeistert gewesen und hatte alles organisiert, während Toni bei der Arbeit gewesen war.

Das hier waren echte Freunde. Ihre echte Familie. Mädchen, die sie seit der Grundschule kannte, die ihre Männer und Freunde zu Hause hatten sitzen lassen, um Tonis Geburtstag zu feiern. Dazu ihre Kolleginnen und Amys Schulfreundinnen. Alle laut und ausgelassen und gut gelaunt. Genau so, wie Toni es mochte. Echte Menschen, die sie Tag für Tag um sich hatte.

Sie konnte sich glücklich schätzen, sie zu haben.

Und sie hatte zwei Wochen Urlaub. Das allein war schon ein Grund zum Feiern. Selbst wenn sie einen Großteil der Zeit damit zubringen würde, das Porträt eines sehr ernsthaft aussehenden Geschäftsmannes anzufertigen. Laut seiner Tochter Freya war Dr. Lars Elstrom ein stiller Akademiker, der viel am Schreibtisch saß, und Toni hatte mit ihm vereinbart, dass sie ihn in seinem Studierzimmer während der Arbeit porträtieren würde.

Die Hälfte des Honorars hatte Freya Elstrom ihr bereits überwiesen. Damit hatte sie Amys Round-the-World-Ticket und einen neuen Boiler für ihr kleines Haus gekauft. Heißes Wasser und eine Heizung, auf die sie sich verlassen konnte – traumhaft! Auch deswegen, weil sie das Häuschen für eine Weile vermieten wollte. Und wohl jeder Mieter erwartete warmes Wasser und eine funktionierende Heizung.

Toni warf einen Blick aus dem Fenster. Es schneite, und laut Vorhersage würde es noch einige Tage so bleiben. Nicht gerade das Wetter, bei dem man in ihrem eiskalten Reihenhaus in Unterwäsche herumlaufen mochte. Ganz sicher nicht. Aber hier, in diesem warmen Haus von Freya …

Toni war sehr glücklich, dass sie zwei Wochen lang hier wohnen durfte. Mietfrei – und mit so viel heißem Wasser, wie sie wollte.

Sie liebte es, wenn Mäzene alte Traditionen fortführten. Besonderes dann, wenn es sich um die Tradition handelte, dass der Firmenchef stets von einem Baldoni porträtiert werden musste. Und da sie die letzte Baldoni war … Bingo!

Ein warmes Gefühl der Zufriedenheit durchströmte sie. Seit Jahren hatte sie sich nicht so sicher und geborgen gefühlt. So beschützt. Und umsorgt von einem ganz besonderen Freundeskreis, in dem jeder auf den anderen aufpasste.

Sie lächelte zu Amys bester Freundin Lucy hinüber, die gerade demonstrierte, wie man einen Sarong knotete. Die beiden kannten sich schon seit der Grundschule. Toni konnte sich kaum vorstellen, wie Amy, Lucy und eines der anderen Mädchen, die hier mehr oder weniger ausgezogen umherspazierten, morgen losfliegen würden, um sich in der südamerikanischen Wildnis durchzuschlagen.

Doch so war es. Ihre kleine Schwester würde zusammen mit ihren Freunden auf Reisen gehen. Zuerst einen Monat lang in Peru herumreisen, danach vier Monate lang an einer archäologischen Ausgrabung teilnehmen und zum Schluss noch einen Monat lang ausspannen. Sechs Monate. Drei Mädchen, drei Jungs. Alles nette Teenager, die Toni seit Jahren kannte. Aber sechs Monate? Die längste Trennung von ihrer Schwester seit dem Tod ihrer Eltern lag über ein Jahr zurück. Damals hatte Toni fünf Wochen lang in Paris gearbeitet, war aber an den meisten Wochenenden nach Hause geflogen.

Sie hatten sich alle gut auf die Reise vorbereitet und sprachen hervorragend Spanisch, doch wenn Toni daran dachte, was die sechs vor sich hatten, grauste es ihr.

Aber sie durfte nicht jammern. Höchste Zeit, dass sie beide ihr Leben genossen. Darauf hatten sie sich an Silvester geeinigt: Sie würden beide neu anfangen. Dumm nur, dass Amy darauf bestand, dass bei Toni ein neuer Mann dazugehören sollte.

Vielleicht war es gar nicht so schlecht, siebenundzwanzig zu werden, wenn man solche Freunde hatte wie sie. Was machte es da schon, dass ihr der große Durchbruch als Künstlerin nicht gelungen war?

Und irgendwie fühlte sie es: Ihr Vater hätte verstanden, dass sie nicht weiter versuchen wollte, sich als Porträtmalerin über Wasser zu halten. Das war nicht ihr Leben und würde es nie sein. Es war sein Wunsch gewesen, nicht ihrer. Nein. Dieses Porträt für Freya Elstrom würde ihr letztes Gemälde sein. Danach wollte sie, die letzte Baldoni, keine Aufträge mehr annehmen. Es war an der Zeit, diesen Irrweg zu verlassen. Sie musste anfangen, sich voll auf ihre Karriere als Fotografin zu konzentrieren.

Amy kam mit einem Teller mit einem Cupcake darauf auf sie zu, lehnte sich an Tonis Seite und legte ihr den Kopf auf die Schulter. „Ich habe zwei Stück von der Red-Velvet-Torte, die du so magst, in der Waschmaschine versteckt.“

„Sehr schlau“, antwortete Toni, dippte den Finger in den cremigen Schokoladenguss und leckte ihn ab. „Lecker. Und noch einmal danke, dass du das alles hier organisiert hast. Es macht mich sehr glücklich.“

Amy lachte und drückte ihre Schwester. „Das sagst du nun schon zum zigsten Mal. Es muss am Wein liegen. Bei älteren Frauen soll er das Kurzzeitgedächtnis beeinträchtigen.“ Sie ließ Toni los und rieb sich die Hände. „Zurück zu den wirklich wichtigen Dingen. Was wirst du denn Verrücktes machen, während ich weg bin? Vergiss nicht die Spielregeln: Es muss spontan sein, das Gegenteil von dem, was du normalerweise tun würdest, und lustig. Die genialste Idee bekommt einen Punkt!“

„Auf dem Tisch tanzen?“, schlug Toni vor, schüttelte aber gleich den Kopf. „Nein, Quatsch. Das würde der Tisch gar nicht aushalten, so viel wie ich gerade wiege … und dein Kuchen ist einfach zu lecker, um die Finger davonzulassen. Etwas Verrücktes. Ähm …“

Als sie den Kopf drehte und über Amys Schulter hinweg in den Flur sah, stockte ihr der Atem.

Keine drei Meter entfernt von ihr stand ein höchst bemerkenswert aussehender Mann.

Er war mindestens eins neunzig groß, trug dicke Fellstiefel, Cargohosen, eine Steppjacke und eine schwarze Mütze, unter der wilde aschblonde Locken hervorquollen.

Schmale Hüften. Breite Schultern. Lange Beine.

Toni musterte ihn eingehend, doch dann riss sie ihren Blick los. „Oh, Amy …“, hauchte sie schwelgerisch, „ich bin dir wirklich etwas schuldig.“

„Allerdings! Aber weswegen genau jetzt?“, wollte Amy wissen.

„Du hast mir nicht gesagt, dass du einen als Holzfäller verkleideten Stripper bestellt hast.“

„Was habe ich?“ Amy wandte sich um und erstarrte. „Oh. Verstehe. Ich weiß auch nicht, wer das ist und habe nichts damit zu tun, aber worauf wartest du? Geh und finde heraus, wo er herkommt. Und wenn er noch zu haben ist, greif zu, bevor ihn dir eine von den anderen wegschnappt.“ Und damit tänzelte Amy in ihrem Rüschenkorsett zu ihren Freundinnen zurück.

Der mysteriöse Fremde stand regungslos im Türrahmen. Der große, ziemlich wild und kühl aussehende mysteriöse Fremde.

Er sah aus, wie ein Modestylist sich einen Abenteurer à la Indiana Jones vorstellen würde. Nach dem Abenteuer. Denn genaugenommen sah er ziemlich heruntergekommen aus.

Als ihr bewusst wurde, dass sie dastand und seine langen Beine anstarrte, sah sie zu seinem Gesicht auf – just in dem Moment, als auch er in ihre Richtung blickte. Und sie mit seinen blauen Augen so durchdringend ansah, dass sie fürchtete, zu erröten.

Mit seinen kantigen Wangenknochen hätte er als Model durchgehen können, wäre da nicht dieser üppige aschblonde Bart gewesen, der alles andere als gepflegt wirkte, und das blaue Tuch, mit dem seine rechte Hand notdürftig verbunden war. Seine Kleidung war fleckig und ziemlich abgenutzt. Wenn das eine Verkleidung war, dann war sie ziemlich überzeugend.

Er hatte noch kein Wort gesprochen, doch sein Blick und sein Gesicht, ja sein ganzer Körper strahlten Selbstbewusstsein aus. Dieser Mann wusste ganz genau, wer er war, was er wollte und warum er hier war.

Und scheinbar fühlte er sich ziemlich wohl in seiner Haut.

Wie er da so in den Türrahmen gelehnt dastand und den Anblick genoss, als würde er jeden Tag in eine Dessousparty hineinplatzen! So viel Selbstsicherheit war kaum zu ertragen.

Während sie dastand, mit nichts als einem weinroten Push-up-BH und passendem Höschen bekleidet.

Das war gar nicht lustig.

Toni griff nach ihrem Kimono, der auf der Sofalehne lag, und zog ihn blitzschnell über.

Manche der Mädchen waren es von Berufs wegen gewohnt, in Dessous vor der Kamera zu stehen, aber nicht sie. Die Vorstellung, dass ein Fremder sie so leicht bekleidet zu Gesicht bekam, gefiel ihr nicht.

Und was machte der Typ überhaupt hier? Wer hatte ihn eingeladen? Freya hatte nichts von einem Freund erzählt. Vielleicht hatte einfach jemand die Tür aufgelassen, und er war zufällig vorbeigekommen?

„Männeralarm“, rief Toni in Richtung der anderen. „Unbegleiteter Mann im Raum, Mädels.“

Kreischend rannten die Mädchen in alle Richtungen davon, die meisten von ihnen nach oben in die Schlafzimmer, den Geräuschen nach zu urteilen.

Es wurde Zeit, dass sie klärte, was hier los war.

Toni kniff die Augen zusammen und versuchte, sehr aufrecht und mit entschlossenen Schritten auf den Riesen zuzugehen, doch wegen der Pantoletten gelang ihr nur ein Trippeln.

Er beobachtete jede ihrer Bewegungen genau.

Sie räusperte sich und sah ihm in die Augen. „Also gut. Du siehst aus wie ein Typ, der gern Klartext redet. Ich bin Antonia Baldoni und Hausgast von Freya Elstrom. Das hier …“, sie zeigte in Richtung der liegen gelassenen Sachen, unter denen sich auch einige ziemlich sonderbare Sexspielzeuge befanden, „… ist meine Geburtstagsfeier. Und du bist?“

„Müde. Hungrig. Überrascht. Und sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen, Antonia Baldoni. Hausgast.“ Er lockerte seine Schultern und atmete tief ein. „Komisch. Ich komme gerade von Freya, und sie hat mir nichts von einem Hausgast erzählt.“ Als hinter Tonis Rücken Mädchengekicher ertönte, fuhr der Mann fort: „… oder besser gesagt: von Hausgästen. Und ich hatte schon gedacht, der Tag könnte gar nicht mehr seltsamer werden.“

„Du hast Freya gerade gesehen?“ Toni kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief. „Wirklich? Verzeih, aber ich finde das recht schwer, zu glauben. Freya war zu meiner Party eingeladen und hat abgesagt, weil sie in Italien ist. Vielleicht solltest du also lieber mit der Wahrheit rausrücken, bevor ich dich rauswerfe. Wo willst du Freya denn getroffen haben? Was willst du hier? Und wer bist du eigentlich?“

Tief seufzend setzte sich der Mann in Bewegung, und Toni trat einen Schritt beiseite, als er an ihr vorbei in die Küche ging, was ihm Mühe zu bereiten schien. Der strenge Geruch, der von ihm ausging, ließ Toni nach Luft fächeln.

„Moment. Warte. Ich habe dich nicht hereingebeten“, sagte sie entrüstet.

„Brauchst du auch nicht“, sagte der Mann und zeigte auf ein gerahmtes Foto an der Wand zwischen den Schränken.

Es war eines von mehreren Fotos, die Toni noch nicht genauer in Augenschein genommen hatte. Toni stellte sich auf die Zehenspitzen, um das Bild besser erkennen zu können. Es zeigte ein paar Leute – wahrscheinlich eine Familie – an einem Esstisch. Toni erkannte Freya und einen älteren Mann, der ihr sehr ähnlich sah – wahrscheinlich Freyas Vater, Lars Elstrom. Und hinter ihnen stand ein großer gut aussehender Mann mit breiten Schultern und Augen, die so blau waren wie die von …

Toni wandte sich um und starrte erst den Mann, der mit verschränkten Armen hinter ihr stand, und dann wieder das Bild an. Sie ließ die Schultern sinken.

Er nickte. „Scott Elstrom. Freyas Bruder. Und ich wohne hier.“ Er schnupperte und wies mit dem Kinn in Richtung Küchentheke. „Isst irgendwer die Pizza da?“

Toni sah entgeistert zwischen dem Mann und dem Foto hin und her. Das war er. Definitiv.

Augenblicklich verflog der Schwips, den sie zwei alkoholgeschwängerten Stunden mit den Mädchen hier zu verdanken hatte.

Das war kein Stripper.

Kein Geschenk in Form eines gut gebauten Holzfällers.

Es war Freya Elstroms Bruder.

Was für ein Albtraum.

Toni schloss die Augen und wies in Richtung Esszimmer, wo die Party wieder im vollen Gange war. „Wie du siehst, feiere ich gerade meinen Geburtstag. Und ich habe alle Hände voll zu tun.“

„Und ich werde nicht weggehen“, antwortete er.

Aus dieser Entfernung konnte sie die hellen Linien in seinen Augenwinkeln erkennen. Er sah aus, als habe er einen Sonnenbrand, und seine Kleidung hatte einiges mitgemacht. Er war unrasiert und ungekämmt und roch nach einer Mischung aus langer Reise, Leder, Körperausdünstungen und nassem Hund, die man ohne Weiteres als Mädchen-Abwehrmittel hätte vermarkten können. Dieser Mann hatte definitiv ein gründliches Bad, eine Rasur und eine gehörige Portion Deo dringend nötig.

Sein rechter Mundwinkel verzog sich zu etwas, das wohl ein ermutigendes Lächeln sein sollte.

Und plötzlich stellten sich alle Sensoren in ihr auf Empfang.

Einfach so. Völlig unerwartet und ihr so ganz und gar nicht willkommen. Vor allem jetzt nicht.

Einen Moment lang, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam, bekam sie keinen Ton heraus. Schweigend standen sie sich gegenüber. Die Luft zwischen ihnen knisterte. Beide rührten sich keinen Millimeter von der Stelle.

Als ihr Handy klingelte, war das fast eine Erlösung.

„Das ist wohl deins“, bemerkte er, trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Toni wandte sich ab und atmete tief durch, bevor sie ihr Handy aus der Handtasche kramte, die sie auf der Küchentheke hatte stehen lassen. Sie klappte es auf, hielt es ans Ohr und vernahm eine wohlbekannte Stimme.

„Entschuldige die Störung, aber kommst du bald wieder?“, fragte Amy im Flüsterton. „Wir wollen jetzt die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen anzünden. Du kannst den Prachtkerl gern mitbringen.“

„Ich bin gleich bei euch“, antwortete Toni und klappte ihr Telefon zu. Dann atmete sie tief durch und sah diesem höchst sonderbaren Exemplar von einem Mann ins Gesicht. Diesem schlecht riechenden, wild dreinblickenden und sehr attraktiven Exemplar von einem Mann. „Bleib, wo du bist. Iss so viel Pizza, wie du willst. Ich bin gleich wieder da, dann können wir alles klären.“

2. KAPITEL

Eine Horde kichernder Mädchen in Partylaune dazu zu bewegen, sich anzuziehen, war schwieriger, als Toni gedacht hatte. Zumal alle vor dem Weggehen unbedingt einen Blick auf den unerwarteten männlichen Gast in der Küche werfen wollten.

Amy kam ihr mit dem Argument zu Hilfe, dass es bereits spät war und manche von ihnen am nächsten Tag früh am Flughafen sein mussten. Die nächsten zehn Minuten verbrachten sie damit, hastig aufzuräumen, das Sexspielzeug zu verteilen und zu diskutieren, ob sie die Brownies aus der Küche retten sollten.

Als alle gegangen waren und Toni sich auch von Amy verabschiedet hatte – mit dem Versprechen, sich bei ihr zu melden, falls es Ärger gab –, verspürte sie fast so etwas wie Erleichterung.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an die schwere Eingangstür und blickte in Richtung Küche.

Hinter der weiß gestrichenen Tür wartete Ärger auf sie. Wie viel Ärger, wusste sie nicht.

Toni atmete ein paarmal tief durch. Vielleicht hätte sie diese geheimnisvollen Cocktails von Lucy nicht trinken sollen.

Wahrscheinlich nicht.

Blinzelnd setzte sie sich in Bewegung. Es wurde Zeit, herauszufinden, warum Scott Elstrom hier war.

Also öffnete sie die Tür und betrat die Küche so gelassen wie möglich.

Er saß mit dem Rücken zur Wand auf einem Barhocker, vor sich einen leeren Teller. Seine Jacke hatte er ausgezogen und an den Griff der Hintertür gehängt, die Toni jetzt erst bemerkte. Ob er womöglich schon vorher da gewesen war?

„Wie war die Pizza?“, fragte sie mit säuselnder Stimme, während sie seinen dichten aschblonden Bart und das dunkelblonde Haar betrachtete. „Falls du Nachtisch möchtest, nimm gern von den Penis-Lollis. Es gibt verschiedene Sorten, und sie sind anatomisch korrekt.“

Er sah die Lollis skeptisch an und hüstelte. „Gut zu wissen, aber danke.“ Er wies auf die Brownies. „Die sehen gut aus.“

Toni schob den Teller mit den Brownies aus seiner Reichweite. „Mein bestes Rezept. Meine Freundinnen hätten sie gern noch gegessen, wäre die Party nicht so früh durch einen unerwarteten Gast beendet worden. Die Brownies bleiben hier, bis ich ein bisschen mehr weiß.“

„Ich habe dich nicht darum gebeten, die Mädchen wegzuschicken. Und was das unerwartet betrifft …“, er hielt seine verbundene Hand hoch, „… ich hatte ja keine Ahnung, dass du hier bist. Keine Entschuldigungen, keine Ausreden. Und diese Brownies duften köstlich.“

„Du bekommst aber keinen, bevor ich nicht weiß, wer du wirklich bist“, erwiderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist ja nur ein einziges Foto. Vielleicht bist du nur ein entfernter Verwandter, der sich durchschnorrt und den Freya nicht hier haben will. Oder irgendein Exfreund. Oder was weiß ich.“

Wortlos zog er ein Smartphone aus einer der Seitentaschen seiner Cargohose, legte es auf den Frühstückstresen, wählte mit seinen langen, schlanken Fingern eine Nummer und hielt das Gerät ans Ohr. „Hey. Ja, ich bin da. Wie steht es? Wirklich? Er fragt schon nach Papier und Stift? Unglaublich … Ja, ich weiß.“ Er warf einen Blick auf Toni. „Ich habe übrigens schon deine Haussitterin kennengelernt. Sie hat mir Pizza gegeben und ist drauf und dran, die Polizei zu rufen, um den irren Landstreicher loszuwerden, der sich einbildet, er würde hier wohnen. Ach, sei nicht so. Beruhige dich. In den letzten Tagen hattest du den Kopf voll mit anderen Sachen? Tief durchatmen. Schon besser. Alles gut. Magst du kurz mit deiner Freundin sprechen, während ich ihre Brownies esse? Gut.“ Er reichte Toni das Gerät. „Für dich. Meine Schwester würde dich gern kurz sprechen.“

Ein paar Minuten später saß Toni völlig benommen auf dem Barhocker gegenüber von Scott. „Das tut mir leid. Wenn wir geahnt hätten, dass dein Vater im Krankenhaus ist, hätten wir hier nicht gefeiert. Das ist mir so unangenehm, dass ich gar nicht weiß, was ich dazu sagen soll.“ Sie nahm sich einen großen Brownie und knabberte daran herum, um sich zu beruhigen. „Wir hatten echt keine Ahnung. Ich hätte die Feier auf jeden Fall abgesagt, wenn Freya mir Bescheid gesagt hätte. Wie furchtbar … Das ist mir entsetzlich peinlich …“

Scott hob beschwichtigend die Hand. „Wie du schon sagst: Du konntest das nicht wissen. Du hast Geburtstag, und ihr habt gefeiert. Das ist doch nicht so schlimm.“

„Genau genommen habe ich erst Donnerstag Geburtstag, aber meine Schwester Amy geht morgen für mehrere Monate auf Reisen. Sie wollte vor ihrem Abflug mit mir feiern und hat eine Überraschungsparty für mich organisiert. Alle meine Freunde sind gekommen und … ach, was rede ich da. Es ist mir einfach furchtbar peinlich.“ Sie warf einen zaghaften Blick auf den Mann, der ihr schweigend gegenübersaß. „Entschuldige, dass ich dich für einen Stripper gehalten habe. Es war ein reiner Mädchenabend. Da hätte ein Mann schon ziemlich dringende Gründe haben müssen, um hier aufzutauchen. Und weil du zu keinem der Mädchen gehört hast, habe ich die falschen Schlüsse gezogen.“

Er rieb sich den Bart und sah an sich hinunter. „Du hast mich für einen Stripper gehalten? Was für ein Stripper erscheint um Himmels willen in einem solchen Aufzug?“

Toni schluckte. „Ein als Holzfäller verkleideter Stripper. Karohemd, Bart … Sehr beliebt bei Städterinnen, die es etwas weniger geschniegelt mögen.“ Sie hüstelte. „Männer mit spiegelglattem Oberkörper und Stringtangas sind ein wenig aus der Mode gekommen. Ein Prachtstück von einem rauen … ich will damit jetzt nicht sagen, dass du irgendwie rau wärst oder so, aber …“

„Vielleicht solltest du einfach aufhören zu reden. Und nur um das klarzustellen: Selbst an guten Tagen würde ich keinen Stringtanga tragen, und das heute war nicht mal ein guter Tag.“

„Ja. Verstehe. Gut. Oder, besser gesagt, nicht gut, je nachdem, wie schlecht dein Tag war.“

„Tja, wie schlecht war mein Tag? Lass mich mal nachdenken …“ Er legte die Stirn in Falten und tat, als würde er nachdenken. „Erst ist mir fast die Hand abgefroren. Dann musste ich mit einem grottenschlechten Schneemobil irgendwie zum Luftstützpunkt kommen. Ein Transportflugzeug von Alaska nach Island, ein Linienflug nach Rom, wobei ich ein Erste-Klasse-Ticket kaufen musste, um überhaupt mitzukommen. Anschließend habe ich vier Stunden in einem Krankenhaus verbracht und versucht, herauszufinden, was überhaupt los ist, und dann bin ich nach London geflogen. Und frag mich nicht, wie lange es gedauert hat, vom Flughafen ins Krankenhaus und zurückzukommen. Außerdem könnte ich nicht behaupten, dass ich besonders froh darüber wäre, hier zu sein. Ich denke, das sollte reichen.“

Toni atmete geräuschvoll aus. „Alaska? Im Februar? Eine abgefrorene Hand? Das erklärt einiges.“ Sie ließ sich von ihrem Barhocker gleiten. „Okay – was möchtest du? Kaffee oder Tee? Und iss gern die Brownies auf. Was, die sind schon alle weg? Macht nichts, es sind noch welche im Kühlschrank.“

Auch er stand auf und lockerte seine Schultern. „Danke für das Angebot, aber ich kann nicht mehr. Ich muss ins Bett. Wenn du morgen früh noch hier bist, können wir uns ja weiterunterhalten. Aber jetzt bin ich einfach zu müde.“ Er sah sie fragend an. „Mein Zimmer ist normalerweise verschlossen. Es ist das mit der blauen Tür. Schläft da irgendjemand drin?“

„Nein, es ist immer noch verschlossen. Freya sagte, es sei privat.“

Mit einem knappen Nicken verabschiedete sich Scott, schulterte seinen Seesack, wobei er schmerzvoll das Gesicht verzog, verließ die Küche und ging zur Treppe.

Mit ihrem benebelten Hirn brauchte Toni einen Moment, bis sie begriff, was das Ganze für sie bedeutete.

Ihr Auftrag! Oh nein …

„Warte bitte mal kurz. Ich habe noch eine Frage. Ich soll eine Woche bleiben und dann in den Räumlichkeiten von Elstrom mit eurem Vater arbeiten. Muss ich das verschieben? Ich meine … wann kommt dein Vater zurück nach London?“

Er blieb stehen und stellte seinen Seesack ab. Es musste an seiner angespannten Haltung liegen, dass Toni ihm seine Gereiztheit schon anmerkte, bevor Scott sie von der Seite ansah.

Sie rührte sich nicht; es war, als weigerten sich ihre Füße, die sichere Küche zu verlassen.

„Kurze Zusammenfassung: Ich bin wieder hier. Freya ist in Italien. Dad auch, und er wird so schnell nicht wiederkommen. Heute hat er offiziell verkündet, dass er in den Ruhestand geht. Adieu, Elstrom Mapping. Hallo Italien.“ Er zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, aber den Job bist du wohl los.“

Er musterte ihren spärlich bekleideten Körper von den Zehen, die aus den federbesetzten Pantoletten hervorlugten, bis zu den Zacken ihrer goldenen Papierkrone, wobei er den Blick an ganz bestimmten Stellen verweilen ließ. Die Andeutung eines schiefen Lächelns ließ sein Gesicht freundlicher wirken. „Aber keine Eile – du brauchst nicht sofort deine Koffer zu packen. Morgen reicht. Gute Nacht.“

Gute Nacht? Den Job bist du wohl los? Koffer packen?

Auf einmal war Toni stocknüchtern.

Bevor Scott hinaufgehen konnte, sauste sie zu ihm, stellte sich vor ihn auf die erste Stufe und verschränkte die Arme vor der Brust. „Oh nein, so läuft das nicht. Freya hat mich einen Vertrag unterzeichnen lassen. Ich soll ein Porträt vom Chef von Elstrom Mapping anfertigen. Sie hat mich bekniet, den Auftrag anzunehmen. Ich habe alles andere stehen und liegen gelassen, um hier sein zu können.“

Mit einem tiefen Seufzer sah der Mann, der nur wenige Zentimeter vor ihr stand, an ihr vorbei zur Wand. „Wie war dein Name noch gleich?“

„Baldoni. Ich sehe, es hat geklickert. Seit vier Generationen ist der Chef von Elstrom immer von einem Baldoni porträtiert worden. Freya hat mich kurz nach Weihnachten angerufen, um mich zu bitten, euren Vater zu malen. Er hat wohl schon länger darüber nachgedacht und jetzt endlich beschlossen, es in Angriff zu nehmen. Leider konnte ich es nicht früher schaffen, aber das ging in Ordnung. Hauptsache, das Porträt würde von einem Baldoni angefertigt, sagte Freya. Dein Vater scheint viel Wert auf Tradition zu legen.“

„Das kann man wohl sagen“, murmelte Scott und fuhr sich mit der Hand durch das verzottelte Haar. „Wenn das möglich wäre, würde er den gleichen Maler beauftragen wie seine Vorfahren.“

„Das wird wohl schwer werden, denn mein Großvater ist schon ein paar Jährchen tot. Aber wenn Mr. Elstrom krank ist“, sagte sie mehr zu sich selbst, bevor ihr wieder einfiel, dass Scott zuhörte, „kann ich einen anderen Termin für die Sitzung anbieten. Das lässt sich schon einrichten. Freya kann mir Bescheid sagen, sobald es eurem Vater besser geht. Warum schüttelst du den Kopf?“

„Weil mein Vater im Ruhestand ist, Miss Baldoni. Seit heute Nachmittag bin ich der Chef von Elstrom Mapping.“ Und ohne seinen durchdringenden Blick von ihr abzuwenden, kniff er die Augen zusammen und fuhr fort: „Und ein Porträt von mir ist das Letzte, was ich brauche.“

Scott trat einen Schritt zurück und sah zu, wie die temperamentvolle Brünette die Treppe hinaufstapfte. Er schulterte seinen schweren Seesack. Toni Baldoni ahnte ja gar nicht, wie sehr er es genoss, ihr hinaufzufolgen.

Das letzte Mal, dass er dieses Haus mit Mädchen in Dessous geteilt hatte, war der Tag gewesen, an dem Freya ihren Uni-Abschluss gefeiert hatte und er leichtfertigerweise eine Stunde zu früh aufgekreuzt war. Er hatte sich inmitten einer Horde aufgekratzter, beschwipster Mädchen wiedergefunden, die nicht nur mit den Glätteisen gekämpft hatten, sondern auch um seine Aufmerksamkeit. Um sich für die Party schön zu machen, hatten sie sogar das an sein Zimmer angeschlossene Bad in Beschlag genommen.

Seltsam. An jenen Abend hatte er seit Ewigkeiten nicht gedacht.

Als diese Brünette da nun in ihren albernen Schuhen vor ihm herstapfte und ihr Kimono hochwehte und den Blick auf ihre weichen Schenkel freigab, musste er unwillkürlich lachen.

Sie wandte sich um, funkelte ihn wütend an, zog den Saum ihres Kimonos hinunter, sauste in das Gästezimmer und schloss die Tür geräuschvoll hinter sich.

Kopfschüttelnd und zum Umfallen müde schloss Scott die Tür zu dem Zimmer auf, in dem er gewohnt hatte, nachdem er mit Freya und seiner Mutter hierhergezogen war. Dieser saubere, ordentliche Neubau war Welten entfernt von der dunklen, alten viktorianischen Villa mit den knarrenden Dielen, in der sie mit ihrem Vater gelebt hatten.

Er stellte den Seesack neben das Bett und öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Dabei fiel sein Blick auf ein gerahmtes Bild auf dem Fensterbrett – das Foto einer außergewöhnlich hübschen schlanken Blondine mit endlos langen Beinen in einem leichten Sommerkleidchen.

Alexa.

Scott griff nach dem Bild und betrachtete es einen Moment lang, bevor er es in der Schublade seines Nachttischs verstaute.

Er hatte die Aufnahme in ihrem ersten gemeinsamen Sommer gemacht, als sie zum Wandern in der Schweiz gewesen waren. Sie waren beide in den Zwanzigern und Single gewesen und hatten das Leben noch vor sich gehabt.

Alexa war die perfekte Frau für ihn gewesen. Als Teenager hatte er zugesehen, wie sich seine Eltern im Laufe der Jahre immer weiter voneinander entfernt hatten, bis er und Freya am Ende das Einzige gewesen waren, was sie noch gemeinsam hatten.

Diesen Fehler wollte er nicht wiederholen.

Alexa war clever, wunderhübsch und vor allem – das war das Wichtigste – wie er eine totale Sportfanatikerin. Sie hatten so viel gemeinsam. Stundenlang hatten sie über ihre Hobbys und all die exotischen Orte reden können, an denen sie gewesen waren. Sie waren unzertrennlich gewesen.

Und sie hatten sich ineinander verliebt. In den folgenden zwölf Monaten waren sie so sehr mit ihrer Hochzeit beschäftigt gewesen, dass er gar keine Zeit dazu gehabt hatte, innezuhalten und sich zu überlegen, was es bedeutete, verheiratet zu sein.

Noch immer konnte er kaum glauben, wie es so schlecht hatte ausgehen können.

Wenn Freya meinte, dass sie ihm helfen könnte, über den Verrat seiner untreuen Exfrau hinwegzukommen, wenn sie ihn an die glücklichen Zeiten mit Alexa erinnerte, dann hatte sie nichts begriffen.

Manchmal richtete Verrat zu großen Schaden an, um noch gefahrlos entfernt werden zu können. Wie eine Kugel im Brustkorb, die den lebenswichtigen Organen zu nahe kommt. Die immer da ist. Und die man immer wieder spürt, wenn man es am wenigsten erwartet.

Er erinnerte sich daran, wie Alexa hier in seinem Bett gelegen hatte, wie sie ihn verliebt angeblickt hatte, ihn zu sich gewunken. Ihr blondes Haar, das er so angebetet hatte, war weich und einladend über das Kopfkissen geflossen.

Seine halb abgefrorene Hand war nichts gegen den Schmerz, der ihn bei diesem Gedanken durchzuckte.

Scott krallte sich am Fensterrahmen fest und starrte in den Nachthimmel hinaus, der in London niemals wirklich dunkel oder klar war.

Er schloss die Augen und gab sich dem Ärger und der Enttäuschung hin, die er unterdrückt hatte, seitdem er das Krankenhauszimmer in Rom betreten hatte.

Es hatte ihn fertiggemacht. Es war niederschmetternd gewesen, seinen Vater so hoffnungslos und deprimiert zu erleben. Lars Elstrom hatte aufgegeben. Hatte aufgehört, zu kämpfen. Die Ereignisse der vergangenen Jahre hatten ihn kleingekriegt; er hatte keinen Sinn mehr darin gesehen, die Firma am Laufen zu halten.

Die Sprache seines Vaters war undeutlich gewesen, und er würde noch lange Probleme mit der linken Körperhälfte haben, aber immerhin war er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte.

Auf einmal wurde ihm klar, warum Freya sich so sehr gewünscht hatte, dass er, Scott, an Weihnachten nach Hause kam.

Es war aus mit Elstrom Mapping. Aus und vorbei. Nach zweihundert Jahren war der renommierte Kartenverlag am Ende.

Ein Dinosaurier.

Genau so hatte es sein Vater ausgedrückt. Er hatte den Familienbetrieb, dem er sein ganzes Leben gewidmet hatte, als ausgestorbene Kreatur bezeichnet, für die es in der modernen Welt keinen Platz mehr gab.

Sein Vater hatte aufgegeben.

Wie hatte das so schnell gehen können? Vor zwei Jahren hatte das Geschäft noch floriert, und es war Scott fast gelungen, seinen Vater davon zu überzeugen, dass sie sich neuen Technologien öffnen mussten. Sie hatten bereits Pläne gemacht und sich gefreut, dass Elstrom auch noch die nächsten zweihundert Jahre überstehen würde.

Doch das war gewesen, bevor sein Vater die Verantwortung seinem Stiefbruder übertragen hatte und Scott aus der Firma ausgestiegen war.

Travis hatte Elstrom Mapping in kürzester Zeit im Kern zerstört. Und sein Vater hatte lieber tatenlos zugesehen, als sich einzugestehen, dass er einen entsetzlichen Fehler gemacht hatte.

Und nun wollte er, dass Scott die Firma übernahm. Selbst wenn es nur für eine kurze Zeit wäre: Es würde ihn glücklich machen, zu wissen, dass Elstrom Mapping in der Familie blieb. Wenigstens noch für ein Weilchen.

Was hatte er schon für eine Wahl? Natürlich musste er Ja sagen.

Er würde beweisen, dass er in der Lage dazu war, zu tun, was Travis nicht gelungen war: Elstrom Mapping vor dem Untergang zu bewahren.

3. KAPITEL

„Komm schon! Raus mit der Sprache! Was ist gestern noch mit dem Holzfäller gelaufen?“

„Nichts“, trällerte Toni.

Enttäuschtes Grummeln und Buhrufe ertönten in der Küche von Lucys WG, in der auch Amy in den Tagen bis zur Abreise gewohnt hatte. Die Rucksäcke standen fertig gepackt im Flur, und die Mädchen aßen, als würden sie nun monatelang nichts Vernünftiges zu essen bekommen. Was möglicherweise nicht ganz falsch war.

„Komm schon, Antonia“, sagte Lucy grinsend. „Den schuldbewussten Blick kennen wir doch!“

„Schuldbewusst? Ich?“ Toni drückte sich geziert eine Hand an den Busen.

„Wer ist woran schuld?“, fragte Amy, die gerade mit ihrem Rucksack in die Küche gekommen war.

„Die Mädchen unterstellen mir, dass ich aufregende Informationen über Scott Elstrom zurückhalte, das ist alles.“

„Aha. Erwischt! Für eine Siebenundzwanzigjährige, die bis spät in die Nacht gefeiert hat, siehst du erstaunlich wach aus“, antwortete Amy, stellte ihren Rucksack in eine Ecke, setzte sich zu ihnen und belud ihren Teller mit Toast, Marmelade, Schinken und Käsecroissants. „Also, schieß los“, forderte sie. „Ich will alles wissen.“

„Nachdem ihr gegangen seid, hatten wir noch eine kurze Unterredung“, antwortete Toni in beiläufigem Ton. „Der Mann hatte einen totalen Jetlag. Erst hat er die Pizza gegessen und dann fast alle Brownies. Und nein, ich habe ihn nicht gebeten, meine Füße oder irgendwelche anderen Körperteile an ihm wärmen zu dürfen.“

„Warum nicht?“, wollte Amy wissen. „Du hast versprochen, dieses Jahr alles anders zu machen. Jetzt, wo du dir endlich den blöden Peter aus dem Kopf geschlagen hast, Single bist und unbeschwert deine Freiheit genießen kannst. Die besten Voraussetzungen, um bis zum Sommer wieder unter der Haube zu sein. Noch Silvester hast du das selbst gesagt.“

„Ja, vielleicht habe ich etwas in der Art gesagt. Dass dies das Jahr der spannenden Neuanfänge wird. Ein neuer Job. Viel reisen. Ein neuer Boiler. Renovieren. Das alles kann doch auch aufregend sein. Ihr könnt also mit dem Buhrufen aufhören. Ein neuer Freund kann, muss aber nicht sein.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Auf jeden Fall stand seine Zimmertür offen, als ich vor einer Stunde aufgestanden bin. Sein Frühstücksgeschirr stand gespült im Abtropfgitter, und er war nirgendwo zu sehen. Der Mann scheint tatsächlich an einem Sonntag zur Arbeit gegangen zu sein. Oder er hat gestern zu viele Mädchen in Unterwäsche gesehen, als gut für ihn war, und er ist Hals über Kopf nach Alaska zurückgeflogen.“

„Alaska“, sagte Lucy träumerisch. „Da wollte ich schon immer mal hin.“ Sie seufzte. „Aber nicht auf dieser Reise. Zu kalt. Jetzt brauch ich erst mal Sonne. Apropos – in zwanzig Minuten kommen die Jungs.“ Sie stand auf. „Ich sollte wohl mal die letzten Sachen zusammenpacken. Ich bin gleich wieder da. Amy, hast du zufällig mein Glätteisen gesehen?“

Auch Toni erhob sich und fing an, den Tisch abzuräumen, während Amy vor sich hin gluckste. „Glätteisen … Lucy kriegt bestimmt einen Schock, wenn sie den Zeltplatz sieht. Diese Generatoren sind ja alles andere als verlässlich.“ Sie sah zu Toni auf und grinste. „Guck nicht so besorgt. Ich habe ein Werkzeugset dabei und werde schon dafür sorgen, dass wir immer Strom haben, keine Angst, Schwesterherz. Ich werde das Satellitentelefon in regelmäßigen Abständen laden können. Wie sonst sollte ich immer auf dem neuesten Stand sein, was das abenteuerliche Liebesleben betrifft, das zu führen du versprochen hast? Ich kann mir schon gut vorstellen, wie du das Haus in ein Liebesnest verwandelst, jetzt, wo du deine Untermieterin los bist.“

„Du bist unverbesserlich“, antwortete Toni lachend. „Liebesnest? Wo hast du denn den Ausdruck her? Und statt dir Gedanken um mein Liebesleben zu machen, pass lieber auf dich selbst auf. Die Jungs sind sicher verrückt nach dir. Versuch doch bitte, nicht allen auf einmal das Herz zu brechen.“

„Ich kann nichts versprechen“, erwiderte Amy grinsend, bevor sie unvermittelt die Arme um Toni schlang und sich an sie schmiegte. Einen Moment lang standen die Schwestern stumm da. Amy blickte ihr in die Augen. „Ich werde dich sehr vermissen, aber du verstehst doch, warum ich nicht möchte, dass du mit zum Flughafen kommst und dann das große Geheule losgeht, oder?“ Bevor Toni antworten konnte, trat Amy einen Schritt zurück und legte ihren Teller und ihr Messer ins Waschbecken. „Danke fürs Abspülen. Ich zieh mich dann mal an.“ Damit verließ sie die Küche und ging zurück ins Schlafzimmer, in dem Lucy und zwei ihrer Mitbewohnerinnen darüber diskutierten, was ins Handgepäck gehörte und was nicht.

Erst als Amy außer Sichtweite war, zog Toni ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. Sie wusste seit Weihnachten, dass dieser Tag kommen würde, und hatte Amy versprochen, tapfer zu sein, aber jetzt …

Natürlich verstand sie es. Genau deswegen war sie hergekommen, statt zum Flughafen zu fahren und in der Abflughalle in Tränen auszubrechen. Aber einfacher machte es die Sache nicht. Für sie jedenfalls nicht.

Nicht nur die bevorstehende Abreise ihrer kleinen Schwester lag ihr auf der Seele. Obendrein war sie wegen des Auftrags besorgt.

Sie hatte fast die ganze Nacht wach gelegen und überlegt, was sie nun tun konnte, und je länger sie darüber nachgedacht hatte, desto klarer war ihr geworden, dass es nur eine Lösung gab.

Sie musste Scott überreden, dass er sich anstelle seines Vaters von ihr porträtieren ließ. Immerhin war er jetzt der Chef der Firma. Und es war seine Pflicht, das Projekt zu Ende zu bringen, für das Freya die Hälfte des Honorars im Voraus bezahlt hatte.

Nun musste sie nur noch den Mut aufbringen, Scott auf das Thema anzusprechen und ihn zu überzeugen, wenn sie ihn das nächste Mal sah. Seufzend stützte sie die Hände auf den Rand des Spülbeckens und schloss die Augen.

Sie hatte keine Wahl. Sie musste dieses Porträt malen. Sie brauchte das Geld für Amys Studiengebühren.

Das Gelächter der Mädchen riss Toni aus den Gedanken. Lächelnd stellte sie die Teller und Tassen in den Schrank. Amy hatte recht. Das war ihre Chance. An dem Tag, an dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren, hatte Toni ihr versprochen, dass sie immer für sie da sein würde. Doch jetzt war aus der kleinen Schwester eine erwachsene Frau geworden, die ihr eigenes Leben führte.

Amy war ein wundervoller Mensch und würde es weit im Leben bringen. Sie wusste genau, was sie wollte und wie sie es bekam. Es war ihre eigene Idee gewesen, mit ihren zukünftigen Professoren zu reden und in Erfahrung zu bringen, welche Expedition ihrem Studium zugutekommen würde. Sie dachte voraus. Plante ihre Zukunft.

In drei Monaten würde Amy in Peru mit der Arbeit an der Ausgrabungsstätte beschäftigt sein. Und sie, Toni, würde mit dem Porträt fertig sein und ihr gemeinsames kleines Haus entrümpelt und renoviert haben. Damit sie es in den kommenden drei Jahren – während Amys Studium – vermieten konnten.

Das war Tonis Gelegenheit, ihre Karriere als Fotografin voranzutreiben. Zu reisen. Und vielleicht sogar das Leben ein bisschen zu genießen.

So viel Veränderung machte ihr ein wenig Angst, aber wenn sie es jetzt nicht wagte, würde es ewig so weitergehen wie bisher.

Auch sie musste jetzt ein neues Leben beginnen.

In drei Jahren wollte sie ihr eigenes Fotostudio eröffnen. Sie würde ihr eigener Herr sein. Und sich nicht mehr ausnutzen lassen.

Noch drei Jahre, in denen sie sich gut vorbereiten und weiterbilden wollte. Und dann würde sie richtig durchstarten.

Aber zuerst musste sie dieses Porträt malen.

Sie durfte nicht zulassen, dass ein Mann, der sich nicht porträtieren lassen wollte, Amys Studium gefährdete.

Scott Elstrom würde ihr nicht so leicht davonkommen. Und wenn sie eklig werden musste, um ihn zum Einlenken zu bewegen.

Im leichten Londoner Graupel ging Scott die belebte Straße entlang und verzog das Gesicht. Das misstönende Gewirr von Lauten aus allen Richtungen zerrte an seinen Nerven. Autos, Busse, Taxen und Motorräder. Und Menschen. So viele Menschen auf einem Haufen. Die schubsten und drängelten und schoben. Was machten sie nur alle hier an einem Sonntagmorgen? Seltsam … Er hatte ganz vergessen, was für ein Lärm und Gewusel in der Stadt herrschte. Gerade erschien ihm sein Leben in Alaska wie ein ferner Traum. Still und ruhig und schön …

Ein Fahrradkurier sauste haarscharf an ihm vorbei. Er sprang beiseite. Der Schnee, der in der Nacht gefallen war, machte den Gehweg zu einem gefährlichen Pflaster für Radler.

In Alaska lag es in seiner Hand, was er wann tat und wie er sein Leben lebte. Das Klima und die schwierigen Bedingungen gehörten dazu. Aber hier? Hier hatte er mit ganz anderen Schwierigkeiten zu kämpfen. Und jede war mindestens so hart wie die Ersteigung eines Berges oder das Überqueren des Meereises.

Doch genau darum war er hier.

Er hatte seinem Vater und seiner Schwester versprochen, dass er sich ein halbes Jahr um das Familienunternehmen kümmern und bis Anfang September in London bleiben würde.

Sechs mühselige lange Monate Stadtleben, die sich jetzt schon wie eine Ewigkeit anfühlten.

Freya hatte ihn in der Krankenhaus-Kantine von den Plänen erzählt, während ihr Vater sich ausgeruht hatte. Das Firmengebäude sollte an einen Bauträger verkauft werden; aufgrund der Toplage würden sie eine Menge Geld dafür bekommen. Die Restbestände an Karten würden sie Sammlern und Museen anbieten. Mit den Erträgen würden sie die Schulden der Firma tilgen. Ihr Vater konnte die Vorstellung nicht ertragen, die Zulieferbetriebe, die ihm so viele Jahre treu gewesen waren, nicht ausbezahlen zu können. Und zu guter Letzt würde hoffentlich genug für die finanzielle Absicherung ihres Vaters im Ruhestand übrig bleiben.

Und schließlich war da noch das Angebot eines Marketingunternehmens, das die Rechte am Namen ihrer Firma kaufen und diesen auf geschmacklose Geschenkartikel drucken wollte. Ihr Vater hatte so empört auf den Vorschlag reagiert, dass Freya ihn hatte bitten müssen, leiser zu sprechen. Auf keinen Fall. Er würde nicht zulassen, wie der Name seines zweihundertjährigen Familienunternehmens verwendet wurde, um billige Lupen und Plastiklineale zu vermarkten.

Kein Wunder, dass Freya Scott angerufen hatte, um ihn zu bitten, nach Hause zu kommen. Seine Schwester wusste genau, wie man ihm ein schlechtes Gewissen machte.

Lars Elstrom hatte ihm einfach nur die Schlüssel gegeben, die Erlaubnis, die Firma abzuwickeln. Doch Scott wollte nicht derjenige sein, der das Licht löschte, wenn das Unternehmen für immer seine Türen schloss.

Er würde versuchen, Elstrom Mapping zu retten.

Es war seine eigene Entscheidung gewesen, das Unternehmen zu verlassen, als sein Leben vor zwei Jahren aus dem Ruder gelaufen war. Er hatte genügend Fakten zur Hand gehabt, um seinen Vater davon zu überzeugen, dass es unklug war, die Leitung des Unternehmens an Travis zu übergeben. Doch er hatte seinen Vater gezwungen, sich zu entscheiden: zwischen seinem charmanten, talentiert und inspiriert erscheinenden neuen Stiefsohn Travis und dem wütenden Mann, zu dem er selbst geworden war.

Und die Entscheidung war der Firma teuer zu stehen gekommen.

Inzwischen war der charmante Stiefsohn über alle Berge, das Geld war weg, und sein Vater rief Scott zu Hilfe.

Scott würde seine gesamte Kraft und all seinen Einfallsreichtum aufbringen müssen, um das durchzustehen. Er würde kämpfen. Genau wie er es damals getan hatte, als vor zwei Jahren seine Welt zerstört worden war.

Und er würde jetzt damit anfangen.

Scott blieb vor dem dreistöckigen Firmengebäude stehen und sah an der Fassade empor. Hier hatte er als Kind gespielt und gelernt, hier war sein Lebensmittelpunkt gewesen, nachdem seine Eltern sich hatten scheiden lassen. Und später, als er hier gearbeitet hatte, war es der Ort gewesen, an dem er versucht hatte, sich seinem Vater wieder anzunähern.

Zwei Jahre war es nun her, dass er vor dieser Tür gestanden und sich von Freya verabschiedet hatte, als würde er nur kurz in eine Kneipe um die Ecke gehen und nicht nach Alaska, doch es fühlte sich an, als sei es eine Ewigkeit her.

Sie waren vor seiner Abreise auf Freyas Wunsch noch einmal alle zusammen essen gegangen. Scott war den ganzen Abend lang schlecht gelaunt und nicht gerade gesprächig gewesen. Er hatte sich über eine Bemerkung seines Vaters geärgert, der gemeint hatte, dass sie nun, wo Travis die Firma leitete, jemanden gebrauchen konnten, der Erfahrung im Kartierungsbereich hatte.

Im Nachhinein war ihm klar geworden, dass sein Vater von alldem, was damals passiert war, schlichtweg überwältigt gewesen war, doch damals hatte er das nicht begriffen.

Keiner von ihnen beiden war bereit gewesen, sich einzugestehen, dass der andere Hilfe brauchte. Keiner von ihnen war willens gewesen, über das eigentliche Problem zu reden.

Denn nie hätte sein Vater es fertiggebracht, Scott zu bitten, nach London zurückzukehren und Elstrom zu retten. Schließlich wusste er, dass der Niedergang der Firma die Folge seiner eigenen Fehlentscheidung gewesen war. Es war sein Versagen gewesen, nicht das seines Sohnes.

Scott biss die Zähne zusammen, atmete tief durch und drehte die drei Schlüssel nacheinander im Schloss herum.

Bevor er eintrat, zögerte er einen Moment, doch dann schob er seine Angst beiseite.

Es wurde Zeit, dass er herausfand, wie schlimm es um die Firma stand. Denn nun war er für Elstrom Mapping verantwortlich. Die Dinge würden sich ändern müssen. Und zwar schnell.

Toni stieg aus dem Bus und stellte sich im nächstgelegenen Ladeneingang unter. Sie sah zu dem imposanten dreistöckigen Gebäude auf der anderen Straßenseite hinüber. Der Regen prasselte auf die Markise über ihr.

Was wollte sie hier? Sie wollte doch nicht mehr malen, sondern Fotografin sein. Toni schloss die Augen und schluckte ihr Selbstmitleid herunter. Das hier war ihre eigene Entscheidung gewesen. Niemand hatte sie gezwungen, den Auftrag anzunehmen. Auch wenn Freya immer wieder gesagt hatte, wie wichtig es ihrem Vater war, dass der letzte Elstrom von einem Baldoni porträtiert wurde. Weshalb er auch bereit gewesen war, einen Aufschlag zu zahlen, wenn sie das Bild im Laufe der nächsten Monate anfertigen würde.

Inzwischen war Toni klar, dass der Grund für die Eile Lars Elstroms Gesundheitszustand gewesen sein musste. Der letzte Elstrom. Das klang gar nicht gut. Toni lief ein Schauer über den Rücken.

Sie und Amy waren die letzten Baldoni. Ihr Vater war Einzelkind gewesen.

Vielleicht hatte sie mehr mit Scott Elstrom gemein, als sie bisher wusste?

Eines aber war ihr klar: Sie musste Scott dazu überreden, sich von ihr porträtieren zu lassen. Sie konnte den Vorschuss nicht zurückzahlen; sie hatte ihn bereits ausgegeben. Und den Rest des Geldes brauchte sie, um Amys Studium zu finanzieren.

Also sollte Scott sich besser schon einmal an die Vorstellung gewöhnen, auf Leinwand verewigt zu werden. Es gab ja wirklich Schlimmeres. Nun ja. Für einen Mann, der freiwillig den Winter in Alaska verbrachte, galten vielleicht andere Maßstäbe …

Egal.

Toni hatte zwei Wochen Zeit, um vor Ort an dem Porträt zu arbeiten; danach musste sie zurück zur Arbeit. Sie würde zu Hause weitermalen, falls sie nicht rechtzeitig fertig wurde. Und vielleicht konnte sie dann sogar noch einen kleinen Urlaub in der Sonne einschieben …

Sie atmete tief durch, wartete eine Lücke im Strom der Passanten ab, die mit gesenkten Köpfen und gezückten Regenschirmen an ihr vorbeieilten, ohne nach rechts und links zu sehen, und huschte rasch über die Straße, auf der der Verkehr der morgendlichen Rushhour gerade wieder zum Erliegen gekommen war. Kurz bevor sie die andere Straßenseite erreicht hatte, landete sie mit dem rechten Fuß in einer tiefen Pfütze. Kaltes, schmutziges Wasser schwappte in ihre Stiefelette.

Fluchend sprang sie auf den Bürgersteig und ging auf den Eingang des altehrwürdigen Gebäudes zu. Über der Tür prangte ein Messingschild mit der verschnörkelten Aufschrift: Elstrom and Sons. Land- und Seekarten.

Toni atmete tief durch, straffte die Schultern und versuchte, optimistisch zu sein.

Es war doch nichts Wildes. Sie war hergekommen, um Scott zu porträtieren, weiter nichts. Dass er nicht porträtiert werden wollte, darum würde sie sich später kümmern.

Sie spähte durch die dicke Glasscheibe in der Tür ins Gebäude hinein, konnte aber nichts erkennen.

Also strich sie ihren Mantel glatt, nahm all ihren Mut zusammen und klingelte. Ein Summen ertönte, und ein grünes Licht leuchtete auf.

Toni drückte die Tür auf und betrat das Gebäude. Augenblicklich umwehte sie ein wundervoller Duft nach altem Holz, Leder und Papier. Sie musste lächeln.

Dieser Geruch. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Sie atmete noch einmal tief ein. Natürlich! Die Politur aus Bienenwachs, Leinöl und Lavendel, mit der ihre Mutter die Möbel im Atelier ihres Vaters eingerieben hatte. Wenn diese einmal nicht unter Kunstkatalogen, Briefen und Rechnungen begraben gewesen waren. Toni hatte diesen Duft seit Jahren nicht gerochen. Vielleicht sollte sie sich selbst einmal diese Politur zubereiten, um ihre Möbel damit vor den Attacken zukünftiger Mieter zu schützen?

Ein zweites Summen riss sie aus den Gedanken. Sie schloss die Tür hinter sich und schaute sich um. Es war, als sei sie in eine andere Zeit gereist. Durch ein schmales, hohes Buntglasfenster drang Licht in den holzvertäfelten Raum, der in einen Flur zu münden schien. Teppiche gab es nicht; nackte, abgenutzte Holzdielen bedeckten den Boden. Zu Tonis Linken stand eine Reihe von Schränken und Regalen; in Kopfhöhe hingen alte Karten in vergoldeten Rahmen an der Wand.

Das letzte Mal, dass sie etwas Ähnliches zu Gesicht bekommen hatte, war in einem vornehmen Haus gewesen, an dessen Einrichtung seit Hunderten von Jahren nichts verändert worden war. Finanzielle Probleme hatten die Besitzer dazu gezwungen, das Anwesen gegen Geld für Filmarbeiten zur Verfügung zu stellen. Die Firma, für die Toni arbeitete, hatte dort monatelang gedreht.

Dieser Raum hier erinnerte allerdings eher an ein Museum.

Toni näherte sich einem langen, mit Intarsien verzierten Tisch. Darauf lagen Schriftrollen, Dokumente in Kunststoffhüllen, Sextanten und andere alte Vermessungsinstrumente.

Gerade war sie in die Betrachtung eines mit erstaunlich kunstvollen Gravuren versehenen Stiels einer Messinglupe versunken, als ein kühler Windzug an ihrem Nacken sie ins Hier und Jetzt zurückbeförderte. Sie wandte sich um.

In der Tür zum Flur stand ein großer, dunkelblonder Mann in einem leichten dunkelblauen Pullover. Trotz des feuchtkalten Wetters, das draußen herrschte, hatte er die Ärmel hochgekrempelt. Scott.

Sein sonnengebräuntes Gesicht war von Wind und Regen gerötet; er strich sich das lange, noch feuchte Haar aus dem Gesicht; jetzt kamen seine dichten Augenbrauen und sein grau melierter Bart umso besser zur Geltung.

Gestern im Haus hatten seine Augen dunkel und umwölkt gewirkt, doch jetzt sah Toni, dass sie so blau leuchteten wie das Mittelmeer. Und trotz der kurzen Nacht war von seiner Erschöpfung bis auf eine kleine Falte zwischen den Brauen nichts mehr zu sehen. Sein Kinn war so kantig, dass es fast wie gemeißelt wirkte. Und dieser Mund mit den vollen, lächelnden Lippen war wirklich atemberaubend.

Er trug Jeans, die locker auf seinen schmalen Hüften saßen, und unter denen sich muskulöse Beine abzeichneten. Er stand da, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und ließ den Blick über die Tische und Schränke im Raum wandern, und Toni nahm die leiseste Bewegung von ihm wie durch ein Vergrößerungsglas wahr.

Alles um ihn herum schien zu verblassen.

Wie machte er das nur? Wie schaffte er es, hereinzukommen und sofort den gesamten Raum mit allem, was darin war, zu beherrschen?

Dieser Mann strahlte eine ungeheure Liebe zum Leben im Freien aus. Kein Wunder, dass er in Alaska arbeitete. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie er breitbeinig und mit erhobenem Haupt am Steuer eines Eisbrechers stand.

Anstatt sie von oben bis unten zu mustern, sah er ihr nur unverwandt ins Gesicht, bis sich sein Mund schließlich zu einem Lächeln verzog.

In seinen Augenwinkeln bildeten sich Lachfältchen; die Luft zwischen ihnen begann zu knistern. Dieses Lächeln war nur für sie. Tonis Herz machte einen Satz. Einen großen. Und ihr war klar, dass es nicht an ihrem dicken Mantel und ihrem Schal lag, dass ihr mit einem Mal ganz heiß wurde.

In diesem Moment wusste Toni, wie es sich anfühlte, die wichtigste und schönste Person im Raum zu sein. Ihr Herz pochte heftig. Ihr wurde schwindelig. Ein sonderbares, ungewohntes Kribbeln durchsummte ihren Körper. Jede Faser ihres Leibes war hellwach und empfing die Schwingungen, die von Scott ausgingen.

Am liebsten hätte sie ihr Haar zurückgestrichen und die Brust herausgestreckt.

Es war, als hätte man sie mit einem magischen Lustpulver bestäubt.

Sie richtete sich auf und tat, als konzentrierte sie sich auf die Gravuren auf dem Stiel der Lupe, die sie noch immer in der Hand hielt.

Sein glutvoller, durchdringender Blick irritierte sie.

„Antonia Baldoni. Es überrascht mich, dass du am Sonntagmorgen hierherkommst. Ich hatte angenommen, dass du ausschläfst. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt, als ich mich heute Morgen auf den Weg gemacht habe, ich war ziemlich früh dran.“

„Ich habe nichts gehört. Und was den Anlass für mein Kommen betrifft …“ Toni legte die Lupe behutsam beiseite und sah Scott fest an. „Wir sprachen ja bereits darüber: Ich habe mich vertraglich dazu verpflichtet, den Chef von Elstrom Mapping zu porträtieren. Wer auch immer das ist.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Also werde ich dich porträtieren. Vielleicht fangen wir mit ein paar Fotos an?“

4. KAPITEL

Scott kam näher. Er stützte sich auf die Tischkante und beugte sich zu ihr herüber. Dabei kam er ihr so nahe, dass sie am liebsten zurückgewichen wäre. Doch sie tat es nicht.

Ihr Blick fiel auf seine Hände. Toni mochte Hände. Oft waren sie das Erste, was ihr an einem Menschen auffiel. An der Haltung seiner rechten Hand erkannte sie, dass die verbundenen Finger noch immer schmerzten. Die Finger seiner linken Hand waren lang und schlank. Seine Nägel waren sauber und kurz geschnitten. An den Fingerknöcheln hatte er einige Schrammen und Narben, und auf dem Handrücken traten die Adern hervor. Seine Hände waren sehnig. Stark. Es waren geschickte, schnelle, arbeitende Hände.

Sie standen so dicht beieinander, das sie sein dichtes blondes Haar hätte berühren können, das über seine Schläfe fiel. Natürlich tat sie es nicht. Stattdessen hob sie einfach nur den Kopf und atmete tief durch.

Ein großer Fehler.

Denn statt des Dufts von Leder und Lavendel, der sie hier umgab, sog sie nun den würzig-frischen Geruch von Regen, frisch gemähtem Gras und Zitrusfrüchten ein.

Offenbar hatte sich Mr. Alaska in Freyas Haus gründlich gewaschen.

Er roch wundervoll. Ungeheuer männlich und ungewöhnlich. Von den sonnengebleichten Härchen auf seinen braun gebrannten Armen über seinen muskulösen Hals bis zu seinem selbstbewussten Lächeln war er außergewöhnlich attraktiv.

Er war das komplette Gegenteil von Peter – oberflächlich betrachtet zumindest.

Und er war der Traum eines jeden Modefotografen. Irgendwie musste sie ihn rumkriegen, sich von ihr malen zu lassen.

Auch wenn es irritierend war, wie sehr sie sich von ihm angezogen fühlte. Bislang war sie in ihrem Job stets immun gegen solche Reize gewesen. Es kam nicht selten vor, dass sie beruflich schönen Menschen begegnete. Allerdings waren die meisten von ihnen ziemlich aufgeblasen. Doch die Aura dieses Mannes zog sie in seinen Bann.

Zugleich spürte sie einen Moment lang Mitleid mit ihm. Er war mit abgefrorenen Fingern Tausende von Kilometern gereist, um ein Familienunternehmen zu übernehmen. Dass sie hier auftauchte und ihn nervte, war sicher das Letzte, was er gebrauchen konnte.

Aber dann sah er ihr ins Gesicht. Sein Blick war durchdringend und ernst, und Toni erkannte die Willenskraft dieses Mannes, der in der Lage schien, sie mit seinem Blick zu Eis erstarren zu lassen.

Was sie sich hätte denken können. Wahrscheinlich erwartete er von allen, dass sie sprangen, wenn er mit den Fingern schnippte.

„Da scheinst du etwas missverstanden zu haben. Ich dachte, dass ich mich klar ausgedrückt hätte. Die Dinge haben sich geändert, und ich habe nicht vor, mich von dir oder von irgendjemand anderem porträtieren zu lassen.“ Er sprach mit einem leisen, tiefen Tonfall, der zweifelsohne einschüchternd auf sie wirken sollte.

Jetzt bloß nicht beeindrucken lassen.

„Doch, das habe ich schon verstanden. Ich weiß, dass die Dinge sich geändert haben. Aber ich sehe das als Chance. Heute Morgen habe ich noch mit Freya darüber gesprochen, dass ich das Gefühl habe, dass dies hier etwas ganz Besonderes werden könnte.“

Scott runzelte die Stirn. „Du hast mit Freya geredet?“

„Das musste ich selbstverständlich tun unter diesen Umständen. Immerhin hat sie mir bereits die Hälfte meines Honorars als Vorschuss gezahlt. Dein Vater freut sich übrigens riesig darauf, das Porträt von dir zu sehen. Er kann es kaum abwarten, dass es neben den anderen im Sitzungssaal hängt.“ Sie lächelte, klimperte mit den Wimpern, zückte die Kamera und fotografierte sein verdattertes Gesicht, bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte. „Super. Das hätten wir schon mal. Magst du mir jetzt die Galerie zeigen?“

„Die Galerie?“ Er sah gar nicht glücklich aus.

„Eure Ahnengalerie. Ich würde gern die Arbeiten meines Vaters sehen. Und dabei kannst du mir dann etwas über deine Familie erzählen. Ich freu mich darauf!“

Er seufzte. „Also gut. Aber nur, wenn du aufhörst, mich zu fotografieren.“

„Fotografieren verboten? Das reizt mich umso mehr …“

„Ich bin kamerascheu“, brummte er.

„Okay … damit komme ich schon klar. Dann fertige ich eben ein paar Skizzen mehr an und mache mir Notizen über deine Vorstellungen.“

„Ich habe keine Vorstellungen. Aber wenn du die anderen Porträts ansehen willst: Der Sitzungssaal ist im ersten Stock.“ Mit dem Kinn wies er in Richtung einer schmalen hölzernen Treppe. „Nach dir.“

„Was für ein wundervoller Tisch“, sagte Toni, als sie den schmalen, holzgetäfelten Raum betraten. Ein Tisch aus honiggelbem Holz mit kunstvoll eingelassenen Bildern und goldenen Bändern stand in der Mitte und nahm fast seine ganze Länge ein.

Toni fuhr mit einem Finger über das Holz und ging zu der Wand mit den vier Fenstern hinüber. „Sind diese Buntglasfenster original?“

„Nicht alle. Das Gebäude wurde während des Krieges beschädigt; manche Scheiben sind Repliken.“

„Sie sind hervorragend gemacht.“ Toni atmete tief durch, drehte sich um und schob die Hände in die Manteltaschen, um sie ein wenig aufzuwärmen.

Nun fiel ihr Blick auf die Reihe der ungewöhnlichsten und beeindruckendsten Porträts, die sie je gesehen hatte. Sie trat näher und betrachtete die Bilder genau. Die ältesten der Gemälde rahmten den Chefsessel am Kopfende des Tisches ein. Mit leuchtenden Augen ging sie von Porträt zu Porträt und nickte bewundernd. „Der ältere Herr mit der Seekarte und dem Sextanten ist sicher einer von den Elstroms, die selbst noch zur See gefahren sind. Aber dieser hier …“ Sie blieb vor einem Bild stehen und legte den Kopf schief. „Dieser hier sieht eher aus wie ein Gelehrter. War er Wissenschaftler?“

Sie drehte sich zu Scott um. Er stand am anderen Ende des Raumes nahe der Tür und starrte gedankenverloren auf den Tisch. Offensichtlich hatte er ihre Frage überhaupt nicht gehört.

Es war nicht zu übersehen, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Seine Haltung war verspannt, sein Gesicht verkniffen. Und seine Augen waren nicht mehr blau, sondern stahlgrau wie das Meer auf dem Bild, das sie eben angesehen hatte. Finster. Stürmisch. Aufgewühlt.

Es war ihm anzusehen, dass er sich nicht wohlfühlte.

Was nicht so verwunderlich war. Die vergangenen vierundzwanzig Stunden waren sicher nervenaufreibend für ihn gewesen. Die Erkrankung seines Vaters, die überstürzte Abreise. Toni war klar: An seiner Stelle wäre sie in dieser Situation ein Wrack. Vielleicht sollte sie ein wenig nachsichtiger mit ihm sein.

Sie wandte den Blick diskret von ihm ab und ging weiter von Bild zu Bild, bis sie bei dem Porträt eines Elstroms im Anzug ankam, das in einem Stil gemalt war, der ihr sehr bekannt vorkam.

Hinter ihr raschelte es; Scott hatte sich aus seiner Erstarrung gelöst. „Welch eine klassische Pose“, sagte sie in heiterem Ton, „so dominant. Dein Großvater war sicher ein wundervoller Chef. Mein Großvater hat ihn sicher gut getroffen; das Funkeln in seinen Augen ist sehr lebendig.“ Sie warf einen Seitenblick auf Scott, doch der schien sich mehr für einen Stapel Briefe zu interessieren, den er mitgenommen hatte. „Aber wir können das Ganze etwas freier angehen“, sagte sie und trat einen Schritt auf ihn zu. „Wir könnten sogar rausgehen und eine Art Actionszene machen. Beim Segeln. Oder beim Bergsteigen. Alles gute Führungsmetaphern. Gib mir einfach ein paar Fotos, ich krieg das schon hin.“

„Führungsmetaphern“, wiederholte er. „Klingt beeindruckend. Machst du so was öfter?“

Plötzlich verlor Toni die Geduld. „Freya hat meinen Lebenslauf gesehen, und dein Vater schien ziemlich erpicht darauf zu sein, dass ich etwas male, was es wert ist, hier neben deinen Ahnen an der Wand zu hängen. Gibt es ein Problem, von dem ich nichts weiß? Liegt es an mir? Vielleicht an der Unterwäsche-Vorführung gestern? Ist nicht meine übliche Abendbeschäftigung.“

Scott sah sie an und legte die Briefe vor sich auf dem Tisch. „Nur damit das klar ist: Meine Entscheidung, den Vertrag mit dir zu kündigen, hat nichts mit gestern Abend zu tun. Du kannst deinen Geburtstag feiern, wie du willst.“

„Kündigen? Oh nein, das …“ Sie schüttelte den Kopf. „Freya hat gesagt, dass es von größter Wichtigkeit ist. Ich habe andere Aufträge für diesen abgelehnt. So kurzfristig kannst du nicht kündigen.“ Sie wandte sich um und wies auf die Bilder. „Das hier ist deine Familie. Mein Großvater hat damit angefangen, sie zu porträtieren. Die Baldonis haben die Elstroms porträtiert, angefangen bei deinem Urgroßvater bis hin zu deinem Onkel, den mein Vater gemalt hat, als ich ein kleines Mädchen war. Und nun bin ich dran. Aus Tradition. Und das gefällt mir gut. Ihr haltet an einer alten Familientradition fest – und ich auch. Also werde ich dich porträtieren“, erklärte sie entschlossen.

Doch er schloss nur kurz die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich versuche es noch mal. Es ist ganz einfach. Ich möchte nicht, dass ein Bild von mir an dieser Wand hängt, und ich habe absolut keine Zeit dafür, mich von dir malen zu lassen. Von mir aus kannst du den Rest des Honorars sofort bekommen, und dann bist du frei, zu gehen. Betrachte das Geld als Bonus.“

„Das ist doch nicht dein Ernst! Ich fahre doch nicht durch die ganze Stadt, damit du es dir dann anders überlegst.“

„Ich habe es mir nicht anders überlegt. Die Idee mit dem Porträt ist nicht von mir. Ich habe erst gestern Abend davon erfahren. Das Ganze ist mit meiner Schwester abgesprochen gewesen, nicht mit mir.“

„Ich habe einen Vertrag unterschrieben“, antwortete Toni und verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust.

„Dann annulliere ich ihn eben. Und keine Sorge, du bekommst dein Honorar. Du kannst gehen.“

Autor

Emma Darcy
Emma Darcy ist das Pseudonym des Autoren-Ehepaars Frank und Wendy Brennan. Gemeinsam haben die beiden über 100 Romane geschrieben, die insgesamt mehr als 60 Millionen Mal verkauft wurden. Frank und Wendy lernten sich in ihrer Heimat Australien kennen. Wendy studierte dort Englisch und Französisch, kurzzeitig interessierte sie sich sogar für...
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