Julia Jubiläum Band 8

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DER HEIßESTE DOC IN MANHATTAN von BECKETT, TINA
Wie erstarrt sieht Tessa, wer der neue Chirurg in ihrem Krankenhaus in Manhattan ist: Dr. Clay Matthews! Unvergesslich ist die leidenschaftliche Affäre mit ihm. Aber genauso unvergesslich ist auch der Betrug ihres Ex. Beginnt nun alles von vorn: Liebe, Glück und Tränen?

EIN ATEMZUG VOM GLÜCK ENTFERNT von BERLIN, AMALIE
Jede Sekunde zählt! Gemeinsam mit Dr. Enzo DellaToro kämpft Kimberlyn um das Leben eines verunglückten Motorradfahrers. Aber warum klopft ihr Herz nach diesem Einsatz jedes Mal wie verrückt, wenn sie Enzo sieht? Er ist doch ihr größter Rivale um ein Stipendium …

HINFALLEN, AUFSTEHEN - DR. ALEXANDER KÜSSEN von RYDER, LUCY
Holly plant, eine hervorragende Schönheitschirurgin zu werden. Sie weiß, wie es ist, sich vor der Welt verstecken zu müssen. Ungeplant hingegen ist die peinliche Begegnung im Fahrstuhl des Krankenhauses, als sie einem höchst attraktiven Mann vor die Füße fällt: ihrem neuen Kollegen Dr. Alexander!

AUCH ASSISTENZÄRZTE BRAUCHEN LIEBE von RUTTAN, AMY
Hingerissen von einer bezaubernden Fremden, erlaubt sich der angehende Kinderchirurg Samuel Napier eine heiße Liebesnacht. Schließlich werden sie einander nie wiedersehen. Irrtum! Schockiert erfährt er, dass er Dr. Mindy Walker sinnlich geliebt hat - seine direkte Vorgesetzte …


  • Erscheinungstag 09.08.2019
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783733713034
  • Seitenanzahl 496
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tina Beckett, Amalie Berlin, Lucy Ryder, Amy Ruttan

JULIA JUBILÄUMSBAND BAND 8

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

seit 30 Jahren führt uns Julia – Ärzte zum Verlieben in die OP-Säle und Krankenstationen der Welt. Leben und Tod liegen hier nah beieinander. Es wird verbunden, operiert, geheilt.

Gegen die Liebe sind alle Menschen machtlos. Man begegnet ihr immer dann, wenn man am wenigsten damit rechnet. Dummerweise gibt es noch kein Medikament für gebrochene Herzen.

Julia – Ärzte zum Verlieben sorgt dafür, dass es gut ausgeht, im Leben wie in der Liebe – für Ärzte und Ärztinnen, Patienten und Patientinnen, Krankenschwestern und -pfleger. In 30 Jahren hat es bei uns ungefähr dreieinhalb Millionen Happy Ends gegeben! Dreieinhalb Millionen Paare, die zueinander gefunden haben. Möge in Ihrem Leben auch alles gut ausgehen!

Ihre Cora-Redaktion

1. KAPITEL

Zwölf Jahre vorher

Theresa Camara, von allen nur „Tessa“ genannt, saß im Schneidersitz auf dem Boden ihres Schlafzimmers, umgeben von Kleidung. Kleidung von jemand anderem. Zwei große Müllsäcke voll, um genau zu sein. Sie blickte hinunter auf das neue Sommerkleid, für das sie zehn Stunden gearbeitet hatte, und ihr wurde ganz schlecht. Was ihr noch vor zwei Tagen wie ein extravaganter Kauf erschienen war – einer, der sie erwachsen und unabhängig wirken ließ – sah ausgesprochen billig aus, verglichen mit den Designerklamotten, die sie gerade bekommen hatte.

Und wie kam sie nur auf die Idee, sie nicht anzuziehen? Sollte sie nicht unendlich dankbar sein, dass ihre beste Freundin an sie gedacht hatte, als sie ihren Kleiderschrank ausmistete? In den beiden Säcken befanden sich mehr Klamotten, als Tessa jemals besessen hatte.

Doch tatsächlich bewirkten sie nur, dass sie sich arm fühlte.

Tessa schluckte. Das war schon okay. Schließlich würde sie sie zu einem guten Zweck einsetzen, einschließlich des pflaumenblauen Ballkleids, das jetzt auf einem Bügel an ihrem Schrank hing. Bestimmt würde sich niemand daran erinnern, dass Abby es erst letztes Jahr getragen hatte.

Tessas Eltern, die immer schwer gearbeitet hatten, seitdem sie aus Brasilien in die Vereinigten Staaten gezogen waren, waren gerade damit beschäftigt, ihr eigenes Renovierungsunternehmen aufzubauen. Erst vor Kurzem war es ihnen gelungen, einen großen Auftrag von einer Firma aus Manhattan an Land zu ziehen, bei dem es darum ging, eine Reihe von Bürogebäuden neu zu gestalten. Bestimmt würde sie das die nächsten Jahre in Anspruch nehmen. Im Moment hatten sie einfach nicht das Geld dazu, ihr ein Ballkleid zu schenken, das sie nur ein einziges Mal tragen würde. Oder Klamotten für ihr Abschlussjahr auf der Highschool, das in zwei Wochen begann.

Tessa richtete sich auf und griff nach einem dunklen Paar Röhrenjeans, die fast neu waren. Glücklicherweise hatten sie und ihre Freundin dieselbe Größe. Das Ganze war ein Geschenk des Himmels, so musste sie es sehen. Es würde ihre Eltern finanziell entlasten. Aus diesem Grund hatte sie einen Job im Supermarkt angenommen. Schließlich würde noch eine Menge anderer Kosten auf sie zukommen, auch wenn sie vorhatte, sich für das Medizinstudium um ein Stipendium zu bewerben. Sie verschränkte ihre Finger und küsste sie, in der Hoffnung, dass dieser Traum in Erfüllung gehen würde.

Und dann, eines Tages … eines Tages würde sie diejenige sein, die anderen helfen konnte. Sie würde unglaublich hart dafür arbeiten, um weiterhin so gute Noten zu bekommen wie jetzt. Dann würde sie sich auch um ihre Eltern kümmern, die alles für sie getan hatten.

Nein, Tessa brauchte keine Designerklamotten. Oder einen Haufen Geld. Sie musste nur erfolgreich sein, egal, welche Opfer sie dafür bringen musste. Daher beschloss sie auch, einen Vertrag mit sich abzuschließen. Sie würde ihr Studium selbst finanzieren. Ohne Unterstützung.

Sie würde sich von niemandem helfen lassen.

2. KAPITEL

Heute

„Domingo, Segunda-Feira, Terca-feira, Quarta-feira …“ Die Wochentage auf Portugiesisch aufzusagen, hatte Tessa schon immer geholfen, sich zu zentrieren. Aber statt das Entsetzen aufzulösen, das ihr die Kehle zuschnürte, wurde es mit jedem Atemzug stärker.

Sie starrte auf das Plakat in der Lobby des West Manhattan Saints Hospital, das den neuen Chirurgen der Orthopädie willkommen hieß.

Leute machten einen Umweg um sie, während sie ins Gebäude strömten, und ein junger Mann stieß aus Versehen gegen ihre Schulter, wofür er sich sofort entschuldigte. Er murmelte, dass er zu spät kommen würde. Auch Tessa war zu spät dran, und doch konnte sie nicht anders, sie musste das Poster anstarren.

Clayton Matthews, eine Begegnung mit der Vergangenheit – ihrer Vergangenheit, lächelte sie immer noch so an wie früher. Dabei zog sich eine Seite seines Mundes ein bisschen hoch, was sie so anziehend fand, dass ihre Knie weich wurden.

Er war einmal fast so etwas wie ein Gott für sie gewesen. Bevor sie erkannt hatte, wem sie das Stipendium für ihr Medizinstudium verdankte. Und wer fast für ihre gesamte Ausbildung aufgekommen war.

Gut, es war nicht er persönlich gewesen, sondern es waren seine Eltern. Warum sie das getan hatten, wusste Tessa nicht. Allerdings waren ihre und seine Eltern Freunde geworden, als ihr Vater an einem riesigen Häuserblock gearbeitet hatte, der Claytons Dad gehörte.

Nur weil ihre Eltern Geschäftspartner waren, hatte Tessa ihn überhaupt kennengelernt. Und der Anblick des Plakats erinnerte sie an diese schreckliche Szene, die sich bei der Abschlussfeier zugetragen hatte.

Tessa schluckte. Nein, sie wollte ihn nicht sehen. Besonders nicht jetzt, wo der zweite Todestag ihrer Mutter kurz bevorstand. Andererseits würden sie auf verschiedenen Stockwerken arbeiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich über den Weg liefen, war also äußerst gering.

„Wow, Tessa, du siehst so aus, als hättest du gerade ein Gespenst gesehen“, sagte Holly Buchanan, eine Medizinstudentin, die im selben Haus wie sie in Brooklyn wohnte. Dann betrachtete sie das Plakat und nickte. „Sieht nicht schlecht aus, dein Gespenst. Ist das etwa das neueste Mitglied unserer glücklichen Familie?“

Tessa zog ein Gesicht. Glücklich? Also, die meisten ihrer Kommilitonen waren von den vielen Stunden, die sie arbeiten mussten, am Rande des Burnouts. Das galt auch für ihre Mitbewohner Holly, Caren und Sam. Sie trafen sich häufiger im Krankenhaus als zu Hause.

„Ja, sieht so aus“, erwiderte sie und versuchte dabei, die Bitterkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken, was ihr offensichtlich nur halb gelang.

„Kennst du ihn etwa?“, fragte Holly neugierig.

Tessa schüttelte den Kopf. „Nein, überhaupt nicht.“ Und das war nicht einmal gelogen. Denn der Mann, den sie gekannt hatte, war nicht derselbe wie dieser Fremde hier. Wie sie gehört hatte, war er inzwischen auch verheiratet.

„Also, überhaupt nicht stimmt ja wohl nicht“, erklang in diesem Moment eine Stimme hinter ihr, die sie nur zu gut kannte. „Denn schließlich kenne ich dich ziemlich gut.“

Tessa drehte sich erschrocken um, und da stand er und streckte Holly die Hand entgegen.

„Clayton Matthews, Orthopäde. Freut mich, Sie kennenzulernen!“

Holly warf Tessa einen schnellen Seitenblick zu, dann ergriff sie die dargebotene Hand und nannte ihm ihren Namen und ihren Fachbereich. Tessa hingegen wäre am liebsten im Erdboden versunken.

„Tut mir leid, aber ich muss los“, sagte Holly zu ihr. „Sonst bringt Langley mich noch um.“ Langley war verantwortlich für die Assistenzärzte, und Holly und er hatten von Anfang an keinen guten Start gehabt.

Ihre Freundin verabschiedete sich mit einer gemurmelten Entschuldigung und ließ sie und Clayton allein zurück.

„Tessa, wie schön, dich zu sehen“, sagte er erfreut. „Wie geht’s dir?“

Ach, mehr fiel ihm nach ihrer Trennung nicht ein? „Mir geht’s gut, und dir?“

„Ich bin ein bisschen überrascht. Ich hatte keine Ahnung, dass du deine Assistenzzeit am West Manhattan Saints Krankenhaus absolvierst.“

Nein? Schließlich war das West Manhattan Saints eine der größten Ausbildungsstätten für Medizinstudenten in der ganzen Stadt. Wo hätte sie sonst sein sollen?

Tessa ignorierte seinen Kommentar und warf erneut einen Blick auf das Poster. „Sieht nett aus, dein Foto.“ Und das meinte sie auch so. Das Foto zeigte Clayton so, wie er wirklich aussah, mit seinem dichten schwarzen Haar, dem markanten Kinn und den tiefblauen Augen, deren Blick einem das Gefühl geben konnte, als wäre man der einzig wichtige Mensch auf der ganzen Welt.

Selbst wenn man es nicht war.

„Danke“, erwiderte er. „Man tut, was man tun muss. Aber das weißt du ja.“

Ja, sie hatte es gewusst. Auch nachdem sie erfahren hatte, wer ihre Ausbildung bezahlt hatte. Genau wie der Mann, der jetzt vor ihr stand. Mit dem sie zur Schule gegangen und der schließlich ihr erster Lover geworden war.

Irgendwann hatte er angefangen, ihr Geschenke zu machen. Zuerst waren sie klein gewesen, dann wurden sie immer exklusiver, obwohl Tessa dagegen protestiert hatte.

Bei der Abschlussfeier hatte er ihr zusammen mit seinen Glückwünschen eine kleine flache Schachtel von einem Juwelier überreicht und sie geküsst. Nur dreißig Minuten später hatte dann eine Stimme aus dem Lautsprecher verkündet, dass das Wilma-Grandon-Stipendium nach Claytons Großmutter benannt worden war und dass sie es bekommen hatte.

Tausend Paar Augen hatten sich in diesem Moment auf sie gerichtet.

Und Tessa hatte nur an ihre Kindheit als arme Tochter brasilianischer Einwanderer denken können. An die Second-HandKleidung, die sie hatte tragen müssen. Sie war wie vom Donner gerührt gewesen. Wie hatte Clayton ihr das nur antun können?

Natürlich hatte sie sich schließlich in einem langen Brief bei seinen Eltern für ihre Großzügigkeit bedankt. Clayton hingegen hatte sie einen ganz anderen Brief geschickt, zusammen mit seinem Geschenk. Sie hatte ihm klipp und klar erklärt, dass es vorbei war. Und das hatte sie ihm auch gesagt, als er schließlich vor ihrer Tür stand und sie zur Rede stellen wollte.

Wie hatte er ihr nur eine so wichtige Information vorenthalten können? Tessa war total bedient gewesen. Das hatte er offensichtlich kapiert, denn das war das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte.

Jedenfalls bis jetzt. Aber vielleicht konnten sie ja wenigstens freundlich zueinander sein.

Sie streckte die Hand aus. „Also, freut mich auch, dich zu sehen, Clay. Ich hoffe, es wird dir hier gefallen.“

Er zögerte einen Moment lang, ergriff dann ihre Hand und drückte sie. Sofort schoss ein Hitzestrahl durch ihren Körper.

Ups, das war ganz klar ein Fehler gewesen. Ein Schauer durchlief sie, als er sie ein bisschen näher an sich heranzog.

„Ich glaube, das tut es jetzt schon“, sagte er und zwinkerte.

Nur mit Mühe unterdrückte sie den Impuls, sich umzudrehen und ganz weit wegzulaufen … weg von allem, wofür sie jetzt schon so viele Jahre gearbeitet hatte.

Aber das wäre ein Fehler gewesen, denn schließlich war sie aus einem ganz bestimmten Grund hier. Und zwar, um Menschen mit Hautkrankheiten zu helfen, die manchmal gutartig, manchmal aber auch bösartig waren.

Nein, sie würde nicht wegrennen, und zwar vor niemandem.

Daher warf sie den Kopf zurück und sah Clayton direkt in die Augen. „Ich habe gehört, du bist verheiratet. Wie geht es deiner Frau?“

Er zuckte zusammen und ließ ihre Hand los. Dann schluckte er und erwiderte: „Sie ist nicht mehr meine Frau. Wir sind geschieden.“

Geschieden? Oh, Gott! Wie sollte sie das überleben, wenn sie sich jeden Tag über den Weg liefen?

„Das tut mir leid zu hören“, erwiderte sie. „Aber ich bin schon spät dran und …“

Clayton trat einen Schritt zurück und nickte. „Natürlich, dann will ich dich nicht aufhalten. Bestimmt sehen wir uns irgendwo im Krankenhaus.“

Ob das eine Drohung oder ein Versprechen war, hätte sie nicht sagen können. Aber Tessa nutzte die Gelegenheit, um einen möglichst schnellen Abgang zu machen. Sie warf ihm ein schnelles, flüchtiges Lächeln zu und entfernte sich dann so schnell, wie ihre Beine es nur zuließen.

Clayton sah ihr nach, und sie konnte seinen Blick fast körperlich spüren.

Geschieden! Oh, verdammt, wie viel leichter wäre es gewesen, wenn er glücklich verheiratet gewesen wäre, mit einem Stall voller Kinder?

Was mochte zwischen ihm und seiner Frau passiert sein? Er schien nicht besonders glücklich darüber zu sein, dass es mit seiner Ehe vorbei war.

Das geht dich nichts an, Tessa. Sie beschleunigte ihre Schritte und nahm sich fest vor, ihm in nächster Zeit aus dem Weg zu gehen. Eigentlich hatte sie geplant, sich um die Fellowship für Mikrochirurgie zu bewerben, eine spezielle Weiterbildung, die sie hier am West Manhattan anboten. Aber vielleicht sollte sie sich lieber nach einer anderen Klinik umsehen.

Das Problem war nur, dass sie ausgesprochen gern hier war. Sie liebte das Krankenhaus, liebte ihre kleine Wohnung in dem Backsteingebäude mit Sam, Caren und Holly. Wollte sie wirklich zulassen, dass Clayton sie daraus vertrieb?

Tessa bog um die Ecke, aber erst als sie im Fahrstuhl war und hoch in den dritten Stock fuhr, erreichte sie der Schock, und sie lehnte sich mit dem Rücken zur Wand.

Clayton Matthews. Er war hier am West Manhattan Saints.

Und er hatte nichts von seiner Anziehungskraft verloren.

Ihre Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Nein, sie würde sich davon nicht beeinflussen lassen. Sie würden ihren eingeschlagenen Kurs nicht seinetwegen ändern, egal, wie sehr sein Anblick ihre Knie weich werden ließ.

Das Beste würde sein, ihn in Zukunft einfach zu ignorieren. Und dafür brauchte sie eine Strategie.

Vorbeugung war das Wort der Stunde. Das richtige Wort, um negative Konsequenzen zu vermeiden.

Und das würde sie auch in Bezug auf Clayton tun. Sie würde ihm aus dem Weg gehen. Um jeden Preis.

„Traditionelle Capoeira aus Brasilien“ stand auf der Liste der Firmen, die das alljährliche Sommerfest des Krankenhauses unterstützten, und fiel Clayton sofort ins Auge. Darunter gab es eine Liste, in der man sich eintragen konnte, wenn man das Fest als Freiwilliger unterstützen wollte. Es sollte eine Lotterie geben, einen Malwettbewerb für Kinder und vieles mehr. Er überlegte, ob er sich für irgendetwas eintragen sollte, verschob den Gedanken jedoch auf später, wenn er sich etwas beruhigt hatte.

Denn um ehrlich zu sein, hatte ihn Tessas Anblick an diesem Morgen ganz schön durcheinandergebracht. Vielleicht hätte er mit der Situation besser umgehen können, wenn sie nicht vor diesem lächerlichen Poster gestanden hätte, das das Krankenhaus unbedingt hatte aufstellen müssen.

Und als er dann auch noch hatte hören müssen, dass sie leugnete, ihn zu kennen …

Nun, das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Sein ursprünglicher Impuls, sich zu verdrücken, hatte sich plötzlich in Wut verwandelt.

Andererseits hatte er auch etwas in Tessas Augen aufblitzen sehen, als sie sich ihm schließlich zuwandte. Nur hatte er es nicht richtig deuten können. War es Bestürzung gewesen? Entsetzen? Schuld? Oder gar Schmerz?

Jedenfalls hatte sie keinen Schmerz gezeigt an dem Tag, als er bei ihr aufgetaucht war und sie ihm noch auf der Türschwelle klipp und klar mitgeteilt hatte, dass Schluss war. Wenn überhaupt jemand damals hätte Schmerz empfinden müssen, dann er. In den letzten sechs Monaten war ihre Beziehung nicht immer einfach gewesen, aber nie hätte er geglaubt, dass Tessa unglücklich gewesen war. Außer natürlich in Bezug auf das Geld. Was ja auch der Grund dafür gewesen war, dass sie ihm das Armband zurückgegeben hatte.

In diesem Moment räusperte sich jemand neben ihm, und er sah, dass es eine junge Frau mit einem Bleistift in der Hand war, die sich offensichtlich in die Liste eintragen wollte. Er trat einen Schritt zurück und machte ihr Platz.

Dann fiel sein Blick wieder auf den Namen des Capoeira-Tanzstudios. Ob Tessa dort immer noch trainierte? Als sie sich kennenlernten, hatte sie ihn dazu eingeladen, mehr über ihre brasilianische Herkunft zu erfahren. Er war ihrer Einladung gefolgt und hatte es nicht bereut. Als er sah, wie sie sich in dem Tanzzirkel, den man Roda nannte, bewegte, war er total hingerissen gewesen und hatte ihre fließenden Bewegungen mehr als sexy gefunden. Capoeira war eigentlich eine Kampfsportart, aber ihm war es mehr als ein Tanz vorgekommen.

Doch dann hatte Tessa ihm das Gegenteil bewiesen. Diese Disziplin war so leidenschaftlich und feurig wie sie selbst – und genauso stolz.

Die junge Frau lächelte ihn an, und Clayton kehrte mit einem Ruck in die Gegenwart zurück.

Automatisch erwiderte er ihr Lächeln, denn Tatsache war nun einmal, dass er Frauen mochte. Auch wenn er anscheinend kein Talent für längerfristige Beziehungen hatte. Das schien ein Gen zu sein, das seine Eltern – die inzwischen seit fünfunddreißig Jahren verheiratet waren – ihm nicht vererbt hatten.

Erneut betrachtete er die Liste und dachte über Tessa und das Studio nach. Vielleicht sollte er sich für das Putzteam bewerben? So schwer konnten zwei Stunden freiwilliger Arbeit doch nicht sein, oder?

Aber eigentlich wollte er in diesem Moment nur zurück an seine Arbeit und die Begegnung mit einer gewissen Rothaarigen vergessen.

Die ihn ganz schön erschüttert hatte. Und ein Feuer in ihm entzündet hatte, das er wohl besser mit Hilfe von Wasser und Schaum so schnell wie möglich löschen sollte. Um ihrer beider willen.

3. KAPITEL

Wo blieb nur seine Exfrau?

Clayton saß mit seiner Tochter Molly in der Cafeteria des Krankenhauses und hörte ihr zu, wie sie ihm erzählte, was sie gestern Abend alles mit Oma und Opa gemacht hatte.

Seine Eltern hatten die Nachricht seiner Scheidung mit stoischem Gleichmut aufgenommen, obwohl er insgeheim den Verdacht hatte, dass sie ihm übelnahmen, dass er sich nicht mehr Mühe gegeben hatte. Aber das stimmte nicht, er hatte alles probiert und war eine Menge Kompromisse eingegangen, damit seine Ehe funktionierte. Als nichts davon Erfolg hatte, war er mit seiner Frau sogar zu einem Paartherapeuten gegangen.

Leider ohne Erfolg. Offensichtlich hingen die größten Niederlagen in seinem ganzen bisherigen Leben immer mit Frauen zusammen.

Genervt blickte er auf seine Uhr und sah, dass Lizza bereits über eine halbe Stunde zu spät war. Während er in ein paar Minuten seinen Dienst antreten musste. Eigentlich hatte er sich noch mit seinen Kollegen bekannt machen wollen, bevor er seine morgendliche Runde antrat. Doch das konnte er jetzt wohl vergessen.

Da erblickte er aus den Augenwinkeln noch eine vertraute Gestalt an der Kasse und seufzte laut.

„Was ist denn, Daddy?“, fragte Molly alarmiert.

„Ach, gar nichts, Liebling“, erwiderte er. „Ich habe nur an die Arbeit denken müssen.“

„Oh, okay. Sag mal, muss ich eigentlich wirklich zu Mommy?“

Dieselbe Frage hatte sie ihm schon die letzten beiden Male gestellt. Clayton wusste nicht, was er ihr darauf antworten sollte. Lizza war sehr oft auf Reisen, besonders in Europa, wo sie sich über die neuesten Modetrends informierte. Im letzten Jahr hatte ihre Tochter nur ein paar Wochenenden mit ihr verbracht, obwohl sie noch keine dreieinhalb Jahre alt war.

„Bestimmt wäre Mommy traurig darüber, wenn du nicht zu ihr zurückkommst.“

„Ja, ich weiß“, seufzte Molly, und sein Magen zog sich zusammen.

Wenn jemand ihm vor vier Jahren prophezeit hätte, dass er nach der Trennung von Tessa heiraten und ein Kind bekommen würde, so hätte er demjenigen gesagt, dass er wohl seinen Verstand verloren hätte. Und trotzdem saß er jetzt hier mit seiner Tochter, die er über alles liebte. Nur ihretwegen konnte er überhaupt Lizzas ganzen Mist ertragen.

Suchend sah er sich in der Cafeteria um. Es war Frühstückszeit, und jeder Platz war besetzt. Plötzlich trafen sich seine und Tessas Blicke, und erneut blitzte etwas in Tessas Augen auf, das er nicht deuten konnte. Sie sah sich nach einem freien Tisch um, doch es gab keinen mehr.

Komm schon, Lizza. Beeil dich!

Clayton war klar, dass er Tessa nicht einfach so stehen lassen konnte, daher winkte er sie zu sich herüber. Tatsächlich wirkte es so, als würde sie lieber überall woanders sitzen, aber sie hatte keine Wahl. Wenige Minuten später stellte sie ihr Tablett neben Mollys ab und nahm Platz.

Die Kleine sah sie neugierig an. „Hallo, ich bin Molly. Wer bist du denn?“

Tessa blinzelte. „Ich bin Dr. Camara. Hallo, Molly. Was machst du denn hier?“

„Ich warte auf meine Mommy.“

Erneut zog sich Claytons Magen zusammen, dann stellte er die beiden einander vor. „Tessa, das ist meine Tochter.“

„Ist das deine Freundin?“, fragte Molly.

„Eine alte Freundin, ja.“ Abwartend sah Clayton Tessa an und wartete darauf, dass sie ihn korrigieren würde. Doch das tat sie nicht, sondern nickte nur.

„Ja, das stimmt. Dein Dad und ich sind zusammen zur Schule gegangen.“

„Oh. Kennst du Mommy auch?“

„Nein. Ist sie Ärztin?“

„Nein, sie macht schöne Kleider.“

Tessa griff nach ihrem Glas mit Saft und trank einen großen Schluck. „Oh, wie schön für dich. Dann hast du bestimmt eine Menge toller Sachen zum Anziehen.“

Irgendwie klang es ein bisschen traurig, was Clayton nicht entging.

„Du siehst so aus, als wärst du in Eile“, sagte er zu ihr.

Sie nickte. „Ja, ich assistiere heute in der plastischen Chirurgie. Bei einem Mohs-Eingriff.“

Er sah sie erstaunt an. „Mohs-Chirurgie? Ist das dein neues Fachgebiet?“ Diese berühmte Technik, die nach ihrem Erfinder benannt worden war, wurde häufig bei Hautverletzungen angewandt, die bösartig waren.

Tessa schüttelte den Kopf. „Wie du ja weißt, bin ich auf dermatologische Chirurgie spezialisiert. Aber ich hoffe, dass ich eine Fellowship in Mohs-Chirurgie bekommen werde.“

Darauf erwiderte er nichts, und die beiden sahen sich ein paar Sekunden stumm an, bis die Luft zwischen ihnen vor lauter Spannung zu knistern begann.

Und dann ertönte das rhythmische Klicken von High Heels, die sich auf den Tisch zubewegten.

„Mommy kommt“, flüsterte Molly, und es klang fast ein wenig resigniert.

Clayton drehte sich um und sah, dass Lizza auf sie zustolzierte. Ihr perfekt geschminktes Gesicht stand in scharfem Kontrast zu Tessas Sommersprossen und ihrem natürlichen Stil. Der Unterschied zwischen den beiden hätte Psychologiebücher füllen können.

Lizza blieb vor ihnen stehen und zog die Augenbrauen hoch, während Tessa so wirkte, als wäre sie am liebsten im Erdboden versunken.

„Hallo, Clayton!“

Sie hatte ihn immer bei seinem vollen Namen genannt, statt mit der Abkürzung. Zuerst hatte ihm das gefallen, weil es sie von Tessa unterschied, aber nach einer Weile war ihm ihre Förmlichkeit auf den Wecker gegangen. Genau wie die dummen Luftküsse, die sie jedem gab. So beugte sie sich auch jetzt vor und gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange, ohne sie wirklich zu berühren. Und sie machte sich nicht einmal die Mühe, Molly zu umarmen.

Clayton sah verstohlen auf seine Uhr. Schon jetzt war er fünf Minuten zu spät für seine Schicht. „Lizza, das hier ist eine alte Schulfreundin, Tessa.“

Tessa murmelte ein leises Willkommen, aber Lizza beachtete sie gar nicht, sondern fragte ihre Tochter: „Können wir gehen, Liebling? Mommy muss ein paar wichtige Anrufe machen.“

Er stand auf und kniete sich vor Molly hin. „Wir sehen uns Montag wieder, mein Schatz.“

Lizza blickte ihn ungeduldig an, sie schien sich wieder mal über ihn zu ärgern. Nun, das ließ sich jetzt nicht ändern.

Seine Tochter schlang die Arme um seinen Hals. „Ich hab dich lieb, Daddy. Pass gut auf dich auf!“

„Mach ich das nicht immer?“ Er zwinkerte ihr zu.

Wenige Sekunden später waren Mutter und Tochter schon auf dem Weg zum Ausgang. Ein paar Männer sahen Lizza bewundernd nach. Ja, sie ist schön, dachte Clayton, mit ihrem langen blonden Haar und der tollen Figur. Aber inzwischen wusste er, dass sich hinter der Fassade nicht viel verbarg. Was ihm den letzten Rest gegeben hatte, war die Telefonnummer eines anderen Mannes, die er irgendwann einmal bei ihr gefunden hatte. Jemand, den sie offensichtlich in Italien getroffen hatte. Da war ihm klar geworden, dass er sich das Geld für die Paartherapie hätte sparen können.

Das Einzige, wofür er ihr dankbar war, war das alleinige Sorgerecht für Molly, das sie ihm ohne mit der Wimper zu zucken gewährt hatte.

Als er sich wieder hinsetzte, fiel ihm auf, dass Tessa fasziniert ihre Müslischale betrachtete.

Dann sah sie ihn an. „War das nicht ein bisschen peinlich für dich?“, fragte sie geradeheraus. „Du hättest ja auch so tun können, als würdest du mich gar nicht kennen.“

Clayton runzelte die Stirn. „Warum hätte ich das tun sollen? Wie kommst du nur auf die Idee, dass ich mich für dich schämen könnte?“

Er sah erneut auf seine Uhr. Er war bereits eine Viertelstunde zu spät dran.

Natürlich war ihm klar, dass sie immer Minderwertigkeitsgefühle gehabt hatte, was Geld betraf. Vielleicht hatte Lizzas teure Garderobe diese Gefühle wieder geweckt.

Dabei waren Tessas Eltern nicht arm, nur hätten sie sich die Ausbildung ihrer Tochter nicht leisten können. Und so hatten seine Eltern angeboten, sie zu unterstützen. So waren sie nun einmal, sie halfen, wo sie konnten.

Früher wäre dies bestimmt ein Streitpunkt zwischen Tessa und ihm gewesen. Aber im Moment hatte er für so etwas keine Zeit.

Er stand auf und sah zu ihr hinunter. „Ich glaube, du verwechselst da was. Du hast dich immer so verhalten, als wäre es dir peinlich und nicht mir.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Nein, den Eindruck habe ich auch.“ Dann wechselte er das Thema. „Ach, übrigens, ich habe gesehen, dass das Capoeira-Studio einer der Sponsoren für das Sommerfest ist.“

Sie nickte. „Sie bereiten gerade eine Show vor.“

„Und machst du da mit?“

„Ja.“

Clayton versuchte, die Erinnerung daran zu verdrängen, wie sie ihr Training mit sinnlichen, kraftvollen Bewegungen ausgeübt hatte, aber es wollte ihm nicht gelingen. Doch er merkte, dass es Zeit für ihn war, zum Dienst zu kommen. Er war sowieso schon zu spät dran.

„Okay, wir sehen uns“, sagte er und ging mit schnellen Schritten davon.

Dieses Treffen zwischen ihr und seiner Exfrau hatte ihm gerade noch gefehlt. Was ihn anging, war sein Tag gelaufen.

Die Fußspitze traf klatschend ihre Wange.

Im nächsten Moment lag Tessa auf dem Boden, und Marcos kniete sich besorgt neben sie.

„Das hätte nicht passieren dürfen. Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“

Da, wo sie die letzten zwei Tage gewesen war. Bei Clayton und der Vorstellung, dass er vielleicht eines Tages ohne Vorankündigung im Studio auftauchen könnte. In Begleitung seiner Tochter, oder, was noch viel schlimmer gewesen wäre, seiner wunderschönen Exfrau. Neben Lizza war sie sich wie ein Mäuschen vorgekommen. Bestimmt hatte auch Clayton sich gefragt, was er überhaupt jemals in Tessa gesehen hatte.

Gleichzeitig war sie wütend auf sich, denn eigentlich hätte sie sich auf ihr Training für das Sommerfest konzentrieren müssen. Sie sollte die romantische Seite der Capoeira demonstrieren, von den Partnerübungen bis zu den Radschlägen, Drehungen und Trommelwirbeln, die diese Kampfsportart so besonders machten. Hier ging es viel mehr um Geschick als darum, den Gegner zu besiegen.

Trotzdem bezog es sich immer noch auf seine Wurzeln, wie sie gerade wieder gemerkt hatte. Eine falsche Bewegung, und der andere lag schon am Boden.

Das hatte sie damals auch Clayton gezeigt, als er ihrer Einladung in das Studio gefolgt war. Sie hatte die sogenannte batizado-Zeremonie mit ihm praktiziert, bei der es darum ging, dass eine erfahrene Tänzerin einen Neuling in die einzelnen Übungen einführte. Unwillkürlich stieg das Bild in ihr auf, wie sie einmal über ihm gekniet hatte, nachdem es ihr gelungen war, ihn flach auf den Boden zu werfen. Er hatte nur gelächelt und ihr versprochen, dass er sich später am Abend dafür revanchieren würde.

Ein Versprechen, dass er dann tatsächlich auch eingelöst hatte.

„Tessa?“

Sie blinzelte und kehrte wieder in die Gegenwart zurück. „Entschuldige, ich habe kurz meine Konzentration verloren.“

„Kurz?“ Der Besitzer des Studios stieß ein paar kräftige portugiesische Flüche aus. „Ist das nicht schon länger so?“ Er strich ihr sanft über die Wange. „Ich möchte nicht, dass du vor dem Fest blaue Flecken bekommst. Das wäre keine gute Werbung für das Studio. Verstehst du?“

„Ja, natürlich. Lass uns noch mal von vorn anfangen!“

Marcos half ihr hoch und nickte dem nächsten Tänzer im Kreis zu. „Los, fang an!“

Die Trommeln erklangen, während Tessa sich auf ihren neuen Partner einstimmte, bis ihre geschmeidigen Bewegungen fast synchron waren. Zwei Minuten später nahm sie ihren Platz im Kreis ein, bis sie wieder an der Reihe war. Doch leider machte sie erneut ein paar Fehler, landete mehrmals auf dem falschen Fuß und fand sich schließlich mit dem Rücken auf der Matte liegend wieder. Hoffentlich würde Marcos ihr nicht ihren lilagrünen cordao wegnehmen und sie auf ein tieferes Level zurückstufen.

Erneut kniete er neben ihr. „Ich glaube, das reicht für heute, Tessita.“

Sie zog ein Gesicht. Diesen Kosenamen benutzte er nur, wenn er sauer auf sie war. Und ihr war klar, dass er dazu allen Grund hatte. Schließlich trainierte sie schon viele Jahre mit ihm, und er wusste, was sie konnte.

„Ich habe keine Ahnung, was mit mir los ist.“

„Ich auch nicht. Aber wenn du nächste Woche wieder zum Training kommst, fände ich es schön, wenn du die Capoeira nicht so … brutal erscheinen lassen würdest.“

Alle lachten, einschließlich Tessa, dann half er ihr wieder auf die Füße.

„Alles klar. Das wird nicht mehr vorkommen.“

„Gut. Denn bis zum Fest bleibt uns nicht mehr viel Zeit.“

Sie schnappte sich ihr Handtuch und wischte sich damit den Schweiß aus Gesicht und Nacken. „In vier Wochen, ja, ich weiß. Vielleicht nehme ich bis dahin ja noch ein paar Privatstunden bei dir.“

„Gute Idee, Tessita.“

Ups, er war also immer noch sauer. Nun, das Beste war, sie verbannte den Gedanken an Clayton in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins.

Wie sie das allerdings schaffen sollte, war ihr schleierhaft.

4. KAPITEL

Er ließ sie nicht aus den Augen.

Tessa versuchte, sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, während sie dabei war, das befallene Hautgewebe von dem gesunden zu trennen. Der Mohs-Eingriff war um drei Tage verschoben worden, weil die Patientin sich erkältet hatte.

Woher hatte Clayton gewusst, wann sie im OP sein würde? Vielleicht hatte ihr Vorgesetzter Brian Perry ihm Bescheid gesagt. Aber warum hätte er das tun sollen? Brian war Onkologe, sein Fachgebiet überschnitt sich nicht mit der Orthopädie.

Sie hatte die Stelle bereits markiert, die operiert werden sollte, und als sie die dünne Gewebeschicht mit der Pinzette auf eine Glasscheibe transferierte, gab sie sich Mühe, die Markierungen nicht zu verschieben. Brian sah es sich an und nickte dann der Laborassistentin zu. „Wenn Sie so weit sind, können wir anfangen.“

Sie würden die Gewebeproben untersuchen und einfärben, um Stellen zu finden, die noch Krebszellen enthielten. Mit dem Ziel, so viel gesundes Gewebe zu erhalten wie nur möglich.

„Wie geht es Ihnen, Mandy?“ Die Patientin lag auf dem Bauch, sie war bei vollem Bewusstsein. Mohs-Eingriffe wurden für gewöhnlich unter lokaler Betäubung gemacht, was allerdings bedeutete, dass es manchmal etwas länger dauerte, wenn der Tumor tiefer eingedrungen war als angenommen.

„Ich bin okay. Wie läuft’s?“

„Das wissen wir in ein paar Minuten.“

In diesem Moment ertönte der Summer an Tessas Gürtel, genauso wie der von Brian. Das Labor signalisierte, dass sie sich die Proben anschauen konnten.

Tessa war froh, Claytons eindringlichem Blick zu entkommen. Sie hatte keine Ahnung, warum er überhaupt hier war.

Die Ergebnisse unter dem Mikroskop ergaben, dass es im Gewebe immer noch einen Bereich mit Krebszellen gab. Brian markierte ihn, und nachdem sie schließlich noch weitere Hautschichten entfernt hatten, bekamen sie endlich die Resultate, auf die sie gehofft hatten: klare Ränder. Das bedeutete, es handelte sich hier nicht um ein Melanom, sondern um einen zellularen Tumor im hinteren linken Rückenbereich der Patientin. Auch wenn dieser nicht so gefährlich war wie der Krebs, der Tessas Mutter umgebracht hatte, musste man ihn unter Beobachtung halten, damit er nicht wieder zu wuchern anfing.

„Sieht gut aus, Tessa“, sagte Brian schließlich zu ihr. „Herzlichen Glückwunsch!“

„Danke.“ Eigentlich hätte sie sich über das Lob freuen müssen, aber sie war immer noch irritiert von Claytons Erscheinen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sah Brian hinüber zum Fenster in den Flur. „Sieht so aus, als hätten Sie Publikum.“

Sie nickte nervös. „Ja. Ich weiß nur nicht, warum.“

Brian lachte. „Jedenfalls wollte ich Ihnen noch sagen, dass ich Ihren Antrag auf eine Fellowship in plastischer Chirurgie unterstützen werde, wenn Sie immer noch daran interessiert sind.“

Eigentlich hätte dies ein Moment des Triumphs für sie sein müssen. Denn kurz vor der Beendigung ihrer Assistenzzeit hätte sie sich eigentlich nichts Besseres wünschen können. Doch jetzt hing der Schatten der Vergangenheit über ihr und drohte den Moment zu zerstören.

Brian verließ den OP, und sie biss sich auf die Lippen. Warum machte ihr Claytons Gegenwart eigentlich so viel aus? Sie hätte auf ihre Leistung doch auch stolz sein können, weil er gesehen hatte, wie weit sie es schon gebracht hatte.

Sie bat die OP-Schwester um das Nahtmaterial, und die Schwester reichte ihr die Nadel mit dem Faden darin. Tessa vernähte zuerst geschickt die tieferen Schichten und überzeugte sich immer wieder davon, dass es ihrer Patientin gut ging. Fünfzehn Minuten später war sie fertig. Brian war nicht wieder zurückgekehrt, daher klebte sie das letzte Stück Pflaster auf die Gaze und teilte der Patientin mit, dass sie in einer Woche wiederkommen sollte, damit Dr. Perry die Fäden ziehen konnte. Dann verabschiedete sie sich von ihr.

Sie streifte die Gummihandschuhe ab und warf sie in den Abfalleimer. Nachdem sie ihren Kittel abgelegt hatte, warf sie einen verstohlenen Blick auf das Fenster zum Flur. Clayton war nicht mehr da. Zuerst war sie enttäuscht, dann jedoch erleichtert. Warum auch immer er gekommen war, endlich konnte sie sich entspannen.

Doch als sie auf den Flur hinaustrat und gerade die Spange aus ihrem Haar nehmen wollte, wurde sie eines Besseren belehrt. Bei Claytons Anblick fing ihr Herz wie wild zu pochen an.

„Wo ist Brian?“, fragte sie und hätte sich gleich am liebsten auf die Zunge gebissen. Was für eine dumme Frage!

„Er hat mir gesagt, er müsste nach einer anderen Patientin schauen. Dann meinte er, ich sollte hier auf dich warten.“

Sie sah ihn scharf an. „Und gibt es dafür irgendeinen besonderen Grund?“

Erst jetzt fiel ihr auf, wie ernst er wirkte. Er holte tief Luft und sagte: „Ich habe gestern Abend mit meiner Mom gesprochen.“

Tessa erstarrte. All die Jahre hatten ihre Eltern eine freundschaftliche Beziehung zueinander gepflegt. Auch wenn Tessa sich ein bisschen dafür geschämt hatte, dass sie für ihre Ausbildung gezahlt hatten, war sie ihnen natürlich dankbar gewesen. Selbst nach der Trennung von Clayton hatte sie den Kontakt zu ihnen aufrechterhalten.

„Ja, und?“

Er sah sie eindringlich an. „Ich wusste gar nicht, dass deine Mutter gestorben ist, Tessa.“

Oh, nein, bitte nicht. Nicht jetzt. Nicht hier.

Sofort schossen ihr die Tränen in die Augen, und sie nickte stumm. „Ja, leider. So, und jetzt muss ich …“

Doch er ergriff ihre Hand und drückte sie. „Das tut mir so leid. Ich hatte ja keine Ahnung. Hast du deshalb dein Fachgebiet geändert?“

„Meinst du, ob ich deshalb in die dermatologische Chirurgie gewechselt habe? Allerdings. Deine Mutter hat dir doch bestimmt auch gesagt, woran sie gestorben ist, oder?“

„Ja, hat sie.“ Unvermittelt ließ er ihre Hand los und strich ihr sanft über die Wange. Sein Blick war voller Mitgefühl, von der etwas arroganten Haltung, die er in der Lobby vor dem Poster ausgestrahlt hatte, war nichts mehr geblieben.

Das brachte sie völlig aus der Fassung. Sie trat einen Schritt zurück und löste sich von seiner Berührung. „Ich dachte, ich könnte ihr Andenken am besten dadurch in Ehren halten, indem ich versuche, anderen zu helfen, die an derselben Krankheit leiden wie sie.“ Jetzt richtete sie den Blick auf ihn. „Ist das der Grund, warum du mich beobachtet hast? Wegen deiner Mom?“

„Du hast mich also gesehen?“ Sein Mundwinkel zuckte.

Gegen ihren Willen musste sie lächeln. Dieser Mann war wirklich unmöglich. Dachte er wirklich, sie hätte ihn nicht bemerkt? „Ich bin schließlich nicht blind.“

Clayton nickte. „Nun, ich dachte, hier finde ich dich bestimmt. Du schwebst durch dieses Krankenhaus wie ein Geist.“

Wie ein Geist? So konnte man es auch sehen. Ein Geist auf einer Mission, wäre wohl genauer gewesen. Gestern wäre sie ihm fast zweimal über den Weg gelaufen und war deshalb immer schnell in ein Krankenzimmer geflüchtet, damit das nicht passierte.

Wirklich sehr erwachsen, Tessa.

„Die Krankenhäuser halten ihre Ärzte immer ziemlich auf Trab. Aber das weißt du ja selbst.“ In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür, und ihre Patientin wurde von einem Pfleger im Rollstuhl aus dem OP geschoben. Damit bot sich ihr der perfekte Moment zur Flucht. „Ich muss los.“

„Ich werde dich begleiten. Denn ich möchte verhindern, dass du mir schon wieder entwischst.“

Wie bitte?

„Wolltest du mit mir noch über etwas anderes reden?“ Außer ihrem Privatleben, natürlich. Auch wenn Tessa es nicht direkt aussprach, wäre es ihr lieber gewesen, wenn keiner erfuhr, dass Clayton und sie mehr als nur Kollegen waren.

Er glich seine Schritte ihrem Tempo an und nickte. „Ja, da ist noch was.“

Clayton wusste nicht genau, was ihn dazu bewogen hatte, Tessa bei dem Eingriff zuzuschauen. Bestimmt hing es mit dem Anruf seiner Mutter zusammen, die ihm von Glorias Tod berichtet hatte. Er hatte den starken Wunsch verspürt, Tessa sein Beileid auszusprechen. Denn obwohl ihre Trennung alles andere als harmonisch verlaufen war, wünschte er ihr und ihrer Familie nur Gutes.

Und er war auch ein bisschen sauer, dass seine Mutter ihm nicht schon vorher davon erzählt hatte. Der Grund dafür war wahrscheinlich, dass ihr nicht entgangen war, wie allergisch er stets auf Tessas Namen reagierte. Dass sie ihm damals sein Geschenk zu ihrem Abschluss zurückgegeben hatte, hatte Clayton mehr verletzt, als er zugeben wollte.

Es war Molly gewesen, die ihrer Oma in aller Unschuld von der Begegnung in der Cafeteria erzählt hatte.

Mit dem Ergebnis, dass diese zum Hörer gegriffen und ihrem Sohn die neuesten Nachrichten mitgeteilt hatte.

Tessa sah ihn abwartend an, und er gab sich einen Ruck.

„Kannst du dich noch daran erinnern, dass ich dich nach deinem Studio gefragt habe?“

„Studio?“ Sie sah ihn verständnislos an, doch ihm war klar, dass das nur gespielt war.

Clayton nickte ungeduldig. „Ja, dein Capoeira-Studio. Ich habe darüber nachgedacht, und ich glaube, dass es Molly sehr gefallen würde, sich das Training anzuschauen. Und wenn ihr an einer Aufführung für das Fest arbeitet, wäre das die perfekte Gelegenheit.“

Tessa sah ihn verwundert an. „Du weißt doch, wo das Studio ist. Da hat sich nichts verändert. Warum fragst du also mich?“

„Na ja, weil … Also, ich glaube nicht, dass Marcos sich noch an mich erinnert.“

„Bestimmt wird er das tun.“

Aber es war schon einige Jahre her. Wahrscheinlich waren in dieser Zeit viele Leute dort ein und aus gegangen.

„Wie kommst du darauf?“

Sie wandte den Blick ab. „Also, er hat ein paarmal nach dir gefragt.“

Oh, das war sicher peinlich für Tessa gewesen. Sie hatte dem Besitzer des Studios erklären müssen, dass sie sich getrennt hatten und dass dies der Grund dafür war, dass Clayton nicht mehr wiederkommen würde.

Wobei … natürlich hätte er das tun können, denn Capoeira gefiel ihm ausgesprochen gut. Aber weil er damals so wütend auf sie gewesen war, war das nicht mehr infrage gekommen. Zumal er auch nicht unbedingt an sie erinnert werden wollte, sondern eine klare Trennung vorgezogen hatte.

„Wie ich dich kenne, hast du nur Gutes über mich gesagt“, meinte er bitter.

Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht, und sie blieb stehen. „Ich habe nie schlecht über dich geredet, Clay.“ Sie zögerte einen Moment lang und setzte dann hinzu: „Wie fändest du es, wenn ich ihn anrufen und fragen würde? Dann melde ich mich bei dir wieder wegen eines Termins.“

Clayton sah sie neugierig an. „Und warum solltest du das für mich tun?“

Sie zuckte die Achseln. „Vergiss nicht, ich spreche seine Sprache. Vielleicht ist es für mich leichter, ihm die Situation zu erklären.“

Doch ihn überzeugte ihre Antwort nicht. Wahrscheinlich wollte sie nur die Kontrolle darüber behalten, wie viele Informationen Marcos bekam. Denn obwohl er einen ziemlich starken Akzent hatte, war sein Englisch mehr als passabel.

Das war wieder einmal typisch Frau!

Aber jetzt war nicht der Moment, um ihr zu widersprechen. Vielleicht war die Idee mit dem Studio ja auch gar nicht so gut. Aber er war von der athletischen und gleichzeitig eleganten Sportart der Capoeira wirklich begeistert gewesen und wollte sie Molly gern zeigen.

Vielleicht konnte sie sogar Stunden dort nehmen, wenn es ihr gefiel.

Clayton wollte auch nicht ausschließen, dass er selbst sein Training wiederaufnehmen würde. Schließlich musste er etwas tun, um fit zu bleiben. Und er konnte immer ins Studio gehen, wenn Tessa nicht da war. Sie mussten sich nicht unbedingt über den Weg laufen, wenn sie das nicht wollte. Ihre Kreise mussten sich nicht überschneiden. In dieser Hinsicht hatte er so einiges von Lizza gelernt.

Gut, er hatte seine Pflicht erfüllt und ihr sein Beileid ausgedrückt. Jetzt sollte er so schnell wie möglich wieder verschwinden.

Er zog seine Brieftasche aus der Hosentasche, holte eine Visitenkarte hervor und reichte sie ihr. „Ruf mich bitte an, sobald du mehr weißt, ja?“

Tessa zögerte, und einen Moment lang befürchtete er, sie könnte sich weigern, sie anzunehmen. Dann griff sie danach, hütete sich jedoch davor, dass ihre Finger sich berührten. Clayton merkte es sehr wohl, aber so leicht wollte es ihr nicht machen.

Noch bevor sie ihre Hand zurückziehen konnte, griff er danach und drückte sie. „Bitte grüß deinen Dad von mir, ja?“

„Ja, wird gemacht.“ Dann riss sie sich von ihm los, drehte sich um und eilte den Flur hinunter, obwohl ihre Patientin längst verschwunden war.

Clayton starrte ihr nach, und er fragte sich, was ihn dazu bewogen hatte, ihre Hand zu nehmen. Denn Tessa war nicht die Einzige, die darauf reagiert hatte. Auch er hatte sich danach gesehnt, über ihre Handinnenfläche zu streichen, wie er es früher immer getan hatte.

Und er wusste genau, warum er es getan hatte. Denn es war ihm schwergefallen, sie dabei zu beobachten, wie sie seinem Kollegen assistierte und nicht zurückzuckte, als dieser kurz ihren Ärmel berührte. So, wie sie es bei ihm tat.

Es hatte ihm nicht gefallen, was er dabei empfand. Er hatte herausfinden müssen, ob sie immer noch so wie früher auf seine Berührungen reagierte. Jetzt wusste er es.

Aber er wusste auch, dass er dieses Wissen – und alles, was damit zusammenhing – möglichst schnell verdrängen musste. Denn sonst würde er großen Ärger bekommen.

Im Grunde war es ganz einfach. Er durfte sie nicht mehr berühren.

Unter gar keinen Umständen.

Tessa ließ sich auf einen Stuhl im Wohnzimmer fallen und stützte den Kopf auf die Arme. Caren Riggs war bereits zu Hause und bereitete auf der Kücheninsel selbstgemachte Pasta zu. Aber das war Tessa im Moment vollkommen egal, obwohl es bereits köstlich duftete.

Mit Clayton umzugehen, war wesentlich schwieriger, als sie gedacht hatte. Denn seine Berührung war ihr durch Mark und Bein gegangen und hatte alles wieder heraufbeschworen, was Tessa so gern verdrängt hätte.

Sie wollte sich nicht zu ihm hingezogen fühlen, auf keinen Fall. Und dabei ging es nicht nur um körperliche Lust. Natürlich, Clayton war ein ausgesprochen attraktiver Mann, der jeden Raum, den er betrat, dominierte. Doch darum ging es hier nicht. Denn selbst Brian, der ein bisschen älter war als er und mindestens so gut aussah, hatte nicht dieselbe Wirkung auf sie.

Und das war schlecht. Sehr schlecht sogar. Es ließ in ihr den Verdacht aufkommen, dass sie noch nicht über ihn hinweg war.

Doch, das bist du. Du hast mit ihm Schluss gemacht.

Nein, sie hatte mit ihm Schluss gemacht, weil sie gewusst hatte, dass sie nicht gut füreinander waren. Das hieß aber nicht, dass es nicht sehr schmerzhaft gewesen war. Im Gegenteil, die Vorstellung, ihn vielleicht nie wiederzusehen, hatte ihr das Herz gebrochen.

Ein paar Minuten lang blieb sie so sitzen, dann hörte sie, dass Caren eine Schüssel auf den Esstisch setzte.

„Hey“, sagte ihre Mitbewohnerin mitfühlend. „Du siehst müde aus.“

„Bin ich auch.“ Mehr brachte sie nicht heraus.

„Dann iss etwas. Es gibt Hühnchen mit Teigtaschen, wirklich sehr lecker. Außerdem muss ich etwas mit dir besprechen.“

Oh, nein. Es war schon zum zweiten Mal heute, dass jemand diese Worte zu ihr sagte.

Tessa sah auf und erblickte die große Schüssel auf dem Tisch, der ein verführerischer Duft entströmte. Eine zweite Bowl stand vor Caren.

„Was ist der Grund für dieses Festmahl?“

„Es gibt keinen Grund. Allerdings kann es gut sein, dass ich eine Weile nicht mehr nach Südstaatenart kochen kann, deshalb wollte ich die Gelegenheit nutzen.“

Caren kam nicht aus New York, und Tessa fand ihren lang gedehnten Tonfall irgendwie beruhigend. Selbst jetzt legte er sich wie Balsam auf ihre Seele und drängte die Welle von Kummer und Verwirrung zurück, die sie seit ihrer ersten Begegnung mit Clayton in der Lobby des Krankenhauses überschwemmt hatte.

Sie legte den Kopf zurück und nahm den Löffel entgegen, den Caren ihr reichte. Das Backsteingebäude, in dem sie wohnte und das Hollys Familie gehörte, war mit klassischen dunklen Holzmöbeln und opulenten Polstern ausgestattet. Es erinnerte Tessa an das Haus von Claytons Eltern, das in einem ähnlichen Stil eingerichtet war. Wohlhabend, mit einem Hauch von Understatement.

„Und was ist der Grund dafür?“, fragte sie und rührte den Inhalt der Bowl um, um ihn etwas abzukühlen.

„Genau darüber wollte ich ja mit dir, Holly und Sam sprechen, sobald die anderen auch da sind, aber ich kann’s dir ja schon mal verraten.“ Caren stockte und sah sie besorgt an. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Ja, mit geht’s blendend.“ Tessa schnitt eine der Teigtaschen klein und probierte. Tatsächlich schmeckte es genauso gut, wie es duftete. Andächtig schloss sie die Augen. „Das ist ja der Hammer!“

„Ich wusste, dass du es mögen würdest.“

„Auf jeden Fall.“ Sie nahm noch ein paar Bissen und fuhr dann fort: „Also, was hast du auf dem Herzen?“

Caren legte ihren Löffel beiseite und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. „Ich trage mich mit dem Gedanken, auf eine ärztliche Mission zu gehen.“

„Was?“ Caren hatte noch nie etwas davon gesagt, dass sie das Krankenhaus oder ihr Wohngebäude verlassen würde. „Wohin denn?“

„Nach Afrika. Kamerun, um genau zu sein. Gerade habe ich das Okay dafür bekommen. Ich habe auch schon angefangen zu packen.“

„Wow, das ging aber schnell“, sagte Tessa staunend. „Was ist denn mit deiner Fellowship, lässt du das einfach sausen? Und was ist mit deiner Wohnung?“

Das Haus war in vier verschiedene Wohneinheiten unterteilt worden mit gemeinsamer Küche, Wohn- und Esszimmer. In den letzten Monaten waren die vier Bewohner gute Freunde geworden. Vielleicht hing es damit zusammen, dass sie alle jung und Singles waren. Aber wahrscheinlich hatte es mehr damit zu tun, dass alle Ärzte werden wollten.

Tessa war eigentlich davon ausgegangen, dass es eine Weile so bleiben würde. Doch wenn Caren jetzt auszog …

„Also, darum geht es auch. Ich habe eine Cousine, die sich am West Manhattan Saints um eine Fellowship beworben hat.“ Caren nahm noch einen Bissen von ihrer Teigtasche. „Ich könnte meine Wohnung an sie untervermieten. Alle meine Möbel würden hierbleiben, und ihr müsstet euch nur an ein neues Gesicht gewöhnen.“

In diesem Moment wurde der Schlüssel im Schloss umgedreht, und Sam Napier erschien mit ein paar Tüten in der Hand. Er schloss die Tür hinter sich und sah die beiden neugierig an. „Hallo! Störe ich etwa?“

Mit seinem längeren Haar, der schlanken Figur und dem leichten schottischen Akzent konnte man Sam nur als superheiß bezeichnen. Gleichzeitig hatte er etwas Geheimnisvolles an sich, gab selten etwas Persönliches von sich preis. Insgeheim hatte Tessa immer den Verdacht, dass sich dahinter noch etwas anderes verbarg.

Sie zuckte die Achseln. „Nein, überhaupt nicht. Caren wollte nur …“ Sie sah die andere fragend an.

„Ich habe Tessa gerade gesagt, dass ich wahrscheinlich eine Weile weg sein werde. Meine Cousine Kimberlyn, die ebenfalls Medizin studiert, könnte hier einziehen und meinen Teil der Unkosten übernehmen, wenn das okay ist. Ich wollte mich vorher noch mit euch absprechen, bevor ich ihr eine Zusage gebe.“

Sam kam auf sie zu. „Damit habe ich kein Problem. Ich nehme an, es hängt vor allem von Holly ab, denn schließlich gehört ihren Eltern ja das Haus.“

„Du hast recht. Ich werde sie heute Abend fragen.“

„Studiert Kimberlyn noch?“, fragte Sam.

„Sie ist Assistenzärztin, genau wie wir. Doch sie will sich auch um eine Fellowship bemühen.“

„Das klingt doch nach einer perfekten Lösung“, meinte er zustimmend.

„Ja, denke ich auch“, sagte Caren und lächelte. „Oh, ich bin so erleichtert. Ich hatte Angst, ihr würdet mir das übelnehmen.“

Tessa lächelte sie an. „Natürlich nicht. Im Gegenteil, ich freue mich für dich. Außerdem kommst du ja irgendwann wieder. Aber du musst uns eine Menge Fotos aus Kamerun schicken.“

„Das mache ich.“ Sie erhob sich. „So, und jetzt muss ich schnell duschen. Ich habe nämlich heute noch Dienst. Und vorher muss ich packen.“

„Geh schon“, drängte Tessa sie. „Ich räume das hier für dich auf.“

Caren zog ein Gesicht. „Tut mir leid, ich fürchte, ich habe ein ziemliches Chaos angerichtet. Überall liegt Mehl herum. Bist du sicher, dass du das in Angriff nehmen willst?“

„Ja, auf jeden Fall.“ Außerdem würde es sie von dem Gedanken an Clayton ablenken.

„Also, ich muss morgen früh in den OP, deshalb werde ich jetzt mal ins Bett gehen.“ Sam nickte den beiden Frauen zu und ging dann die Treppe hoch in seine Wohnung.

„Danke euch beiden für euer Verständnis“, sagte Caren. „Bestimmt werdet ihr Kimberlyn lieben.“

Tessa stand ebenfalls auf und stapelte die Bowls übereinander. „Wenn sie dir auch nur ein bisschen ähnelt, werden wir das ganz bestimmt.“

5. KAPITEL

„Dr. Matthews? Sie werden dringend unten in der Notaufnahme verlangt“, rief eine der Krankenschwestern vom Empfang ihm zu, das Handy noch ans Ohr gedrückt.

Claytons Schicht dauerte jetzt bereits sechs Stunden. Er hatte zweimal operiert und danach eine telefonische Konsultation mit dem Arzt eines anderen Krankenhauses geführt. Das Ganze war so hektisch gewesen, dass er gar keine Zeit gehabt hatte, über Tessa nachzudenken.

Bis jetzt.

„Worum geht es?“

„Ein älterer Mann, der von seiner Terrasse gestürzt ist und sich ein Bein gebrochen hat. Vielleicht auch eine Hüfte.“

„Sagen Sie Bescheid, dass ich auf dem Weg bin.“ Clayton betrat den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. Dabei dachte er über den Unfall nach. Bei älteren Leuten war es manchmal nicht einfach, Ursache und Wirkung voneinander zu trennen. Es konnte sein, dass die Fraktur durch den Sturz ausgelöst worden war, aber auch andersherum. Manchmal waren die Knochen bereits so brüchig, dass sie aufgrund der Abnutzung einfach nachgaben.

Als er im ersten Stock ankam, waren all seine Gedanken bei seinem neuen Patienten.

Einer der Oberärzte hielt ihn auf dem Weg an. „Sind Sie der neue Orthopäde?“

„Ja, ich bin Clayton Matthews.“

„Anthony Stark. Schön, Sie kennenzulernen. Ihr Patient ist im Untersuchungsraum. Ich habe auch eine Assistenz dazugerufen, sobald wir ihn gecheckt haben.“

Das war ein bisschen eigenartig, weil der einzige Assistenzarzt in seinem Bereich, den Clayton kannte, seines Wissens nach gerade beim Essen war. „Okay, danke. Ist er schon geröntgt worden?“

„Ja, er ist gerade aus der Radiologie gekommen. Es sieht aus wie ein verschobener Bruch.“

Clayton runzelte die Stirn. Ein verschobener Bruch bedeutete, dass zwei Knochenenden nicht mehr gleichgerichtet waren. Eine ziemlich komplizierte Situation also. Unwillkürlich musste er an einen seiner letzten Patienten denken, dessen Herz nicht stark genug gewesen war, um die Operation seines gebrochenen Beckenbodens zu überleben. Er konnte nur hoffen, dass dies hier nicht passieren würde.

In diesem Moment vernahm er ein lautes Schimpfen aus dem Untersuchungsraum.

Der Arzt aus der Notaufnahme lächelte ihn ein bisschen schief an. „Dann kann ich Ihnen nur viel Glück wünschen! Lassen Sie mich wissen, wenn Sie Hilfe brauchen.“

Clayton ging auf den Bereich zu, vor dem ein Vorhang hing. Die Stimmen dahinter wurden lauter. Eine männliche und eine weibliche … die alles andere als fröhlich klang.

Ihm fiel auf, dass die Krankenakte noch nicht am Haken hing. Er schob den Vorhang zur Seite, machte einen Schritt nach vorn und erstarrte. Denn obwohl sie ihm den Rücken zugewandt hatte, erkannte er, dass die weibliche Stimme, die er gehört hatte, nicht die einer Krankenschwester, sondern Tessas war. Und sie versuchte mit aller Macht, die Bettdecke zurückzuziehen, die der Patient krampfhaft festhielt.

„Niemand sieht meine Weichteile, bis auf meinen Arzt.“

„Aber ich bin Arzt, Mr. Phillips. Und ich bin hier, um mir Ihr Bein anzuschauen.“

Was, zum Teufel …? Warum wollte Tessa sich das Bein des Patienten anschauen? Dr. Stark hatte zwar gesagt, dass er einen der Assistenzärzte zu Rate gezogen hatte. Aber er war davon ausgegangen, dass es sich um einen Orthopäden handelte.

Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, hätte er am liebsten abgewartet, wer von den beiden den Kürzeren bei dem Streit ziehen würde. Doch das kam natürlich nicht infrage.

Daher trat er einen Schritt nach vorn. „Kann ich irgendwie helfen?“

Zwei Köpfe wandten sich ihm zu. Aber was ihn am meisten überraschte – Tessa schien über seinen Anblick nicht irritiert zu sein, sondern wirkte geradezu erleichtert.

Der ältere Mann, Mr. Phillips, zog hingegen noch stärker an seiner Decke. „Diese junge Frau hier will mir an die Wäsche.“

„Unsinn“, sagte sie empört. „Ich will mir sein Muttermal anschauen.“

Auweh!

Er sah sie verblüfft an. „Ich dachte, das hier wäre mein Patient. Mit einem gebrochenen Oberschenkelknochen, oder?“

Sie nickte. „Und einer verdächtigen Hautverletzung am anderen Bein. Was auch der Grund ist, warum Dr. Stark mich dazugerufen hat.“

Verdammt, das hatte ihm gerade noch gefehlt!

Er machte einen Schritt auf das Bett zu. „Was würden Sie davon halten, wenn ich es mir mal anschaue?“

„Aber …“, begann sie.

Er warf Tessa einen scharfen Blick zu, und sie verstummte. Zu seiner Überraschung nickte sie und zog sich tatsächlich zurück.

Mr. Phillips, der über Claytons Erscheinen offensichtlich erleichtert war, lehnte sich zurück und ließ zu, dass Clayton die Decke lüftete und ihm behutsam das Nachthemd hochschob, ohne seinen Unterleib dabei zu entblößen. Doch er konnte auch mit dem bloßen Auge erkennen, dass der Bereich über dem linken Knie offensichtlich gebrochen war, denn es stand in einem Winkel von mindestens fünf Grad seitlich ab. Und auf dem anderen Oberschenkel war ein großes Muttermal zu sehen, in der Größe eines Zwei-Euro-Stücks.

Natürlich war Tessa die Expertin für solche Verfärbungen, aber er war sich ziemlich sicher, dass es sich hier um ein Melanom handelte. Also um die tödlichste Form von Hautkrebs, die am schnellsten streute. Ob die Metastasen bereits die Knochen befallen hatten und dies der Grund für den Sturz war, würde man nur durch weitere Untersuchungen herausfinden können. So oder so musste beides sofort behandelt werden.

Er sah sie an und nickte. „Ja, er hat eine Läsion.“ Clayton gab eine kurze Beschreibung, ohne das eigentliche Wort zu benutzen.

„Ich muss es mir anschauen, um sicher zu sein.“

Mr. Philipps griff wieder nach der Bettdecke, aber Clayton stoppte ihn und blickte zu Tessa hinüber. „Könntest du uns einen Moment allein lassen?“

Selbst mit dem zurückgebundenen roten Haar und der deutlichen Erschöpfung in ihren grünen Augen sah sie wunderschön aus. Vielleicht jetzt sogar noch mehr als früher, als sie zur medizinischen Hochschule ging. Sie strahlte plötzlich eine eiserne Entschlossenheit aus, die damals nicht da gewesen war. Oder er hatte sie nur nicht bemerkt.

„Bitte vertrau mir“, fügte er hinzu.

Wortlos drehte sie sich um und duckte sich unter den Vorhang weg.

Er wandte sich wieder seinem Patienten zu. „Mr. Phillips, Dr. Camara ist ein Profi.“

„Kann sein. Aber meine Frau war in all den Jahren die Einzige, die mich nackt sehen durfte.“

„Haben Sie sich denn noch nie von einer Ärztin behandeln lassen?“

Der Mann schüttelte den Kopf. Bestimmt hatte er schreckliche Schmerzen, aber anscheinend war die Vorstellung, dass Tessa ihn untersuchen könnte, noch unerträglicher für ihn. Natürlich hätte Clayton jederzeit einen männlichen Dermatologen hinzuziehen können. Aber das wäre ihr gegenüber nicht fair gewesen. Deshalb versuchte er es mit einer anderen Lösung.

„Wir machen es jetzt so. Sie behalten Ihr Krankenhemd an, und ich ziehe Ihnen die Decke bis hierhin.“ Er zog daran, bis ein kleines u-förmiges Areal entblößter Haut entstand. Nur die Hautverletzung war sichtbar, nichts anderes. Natürlich würde man auch die anderen Bereiche untersuchen müssen, um jeden Verdacht auszuschließen, aber vielleicht konnten sie das ja unter Betäubung machen. Die Tests würden dann zeigen, ob er stabil genug für die Operation war.

Mr. Phillips beobachtete Clayton bei dem, was er tat, und entspannt sich sichtlich. „Ja, das ist okay. Aber sie soll es nicht weiter runterziehen.“

Clayton nickte. „Sie haben mein Wort.“

„Gut.“

„Tessa? Du kannst wiederkommen.“

„Tessa?“, fragte der Patient. „Meine Tochter heißt auch so.“

„Nun, das ist doch ein gutes Zeichen, oder?“

„Gibt es noch andere Familienmitglieder, die wir anrufen sollen?“, fragte Tessa, die wieder ans Bett getreten war.

Dabei war ihr Blick auf die exponierte Stelle gerichtet, und Clayton konnte sehen, wie sie gedanklich eine Einschätzung vornahm.

Mr. Phillips schüttelte den Kopf. „Meine Frau ist seit zehn Jahren tot, und meine beiden Kinder wohnen weit weg.“

„Danke, dass ich mir die Stelle anschauen darf“, sagte Tessa. „Ich muss Ihnen wahrscheinlich ein bisschen Haut wegschneiden, während Dr. Matthews sich um Ihr Bein kümmert. Wäre das für Sie in Ordnung?“

„Ja, ich denke schon. Solange Sie Ihre Augen dort behalten, wo sie hingehören, junge Dame.“

Sie lächelte. „Das verspreche ich Ihnen.“

Sein Kopf fiel zurück aufs Kissen, und die Falten in seinem Gesicht wurden tiefer. „Dann schlage ich vor, Sie legen gleich mal los.“

Eine Stunde später, nachdem sie bei ihm ein EKG gemacht und ihm Blut abgenommen hatten, stellte sich heraus, dass Mr. Phillips die Konstitution eines Ochsen besaß, auch wenn er die Knochen eines Achtzigjährigen hatte. Und zum ersten Mal stand Tessa neben Clayton in einem OP.

Was sie anging, so würde es auch das letzte Mal sein. Denn auch wenn ihre Hände nicht zitterten, fand sie es ziemlich anstrengend, Seite an Seite mit ihm zu arbeiten. Clayton fixierte den gebrochenen Oberschenkelknochen, während sie vorsichtig die vom Tumor befallenen Hautstellen auf dem anderen Bein herausschnitt.

„Es ist nicht so tief wie befürchtet“, sagte sie laut.

Clayton erwiderte darauf nichts, er bohrte kleine Löcher für die Stifte, die die Knochen des Patienten zusammenhalten würden, damit sie heilen konnten.

Sobald Tessa die Ränder frei hatte, würde Mr. Phillips sich einem PET-Scan unterziehen müssen, um zu sehen, ob der Krebs gestreut hatte.

„Wie sieht das Bein aus?“, fragte sie Clayton.

Er erwiderte ihren Blick und nickte. „Ich denke, er hat gute Chancen, wenn er vorsichtig ist.“

Wie er es versprochen hatte, blieb Mr. Phillips’ Intimbereich die ganze Zeit bedeckt. Tessa war gerührt darüber, dass Clayton Wert auf die Würde des Patienten legte.

Ja, er war ein guter Mann. Wenn auch nicht für sie.

Vielleicht würde sich irgendwann einmal die Möglichkeit ergeben, dass sie sich für die Art, wie sie ihre Beziehung beendet hatte, entschuldigen konnte. Vor vier Jahren hatte sie ihm brüsk sein Geschenk zurückgegeben und gesagt, er sollte sich zum Teufel scheren. Möglicherweise konnten sie jetzt wenigstens Kollegen werden, wenn auch keine Freunde.

Zögernd sah sie ihn an. „Hättest du vielleicht Lust, mit mir essen zu gehen, wenn wir hier fertig sind?“

Er sah sie überrascht an. „Gute Idee! Molly schläft heute bei meinen Eltern. Dinner ist prima.“ Dann machte er mit seiner Arbeit weiter.

Die Erwähnung seiner Tochter erinnerte Tessa daran, dass er ein Kind mit einer anderen Frau hatte. Einem Supermodel, ihrem Aussehen nach zu schließen. Was mochte zwischen den beiden wohl passiert sein?

Vielleicht hatte er ihr ja auch zu viele Geschenke gemacht. Andererseits wirkte die frühere Mrs. Matthews nicht so, als hätte sie etwas dagegen.

Nein, so war eben nur sie, die dumme, stolze Tessa, der es unbedingt immer nach ihrem eigenen Willen gehen musste. Schließlich hatte sie ja gelernt, die Großzügigkeit von Claytons Eltern zu schätzen und anzunehmen. Warum konnte sie es dann nicht bei ihm?

Weil ich ihm auf Augenhöhe begegnen wollte, gab sie sich sofort die Antwort. Weil ich ihm zeigen wollte, dass ich auf eigenen Füßen stehen kann. Schließlich kam sie aus einer hart arbeitenden Familie, die auf ihre Unabhängigkeit stolz war.

Natürlich war das Ganze nicht sehr rational, das sah sie selbst ein. Aber so war sie nun einmal.

Sie beendete die Sektion des Tumors und legte das letzte Stück Haut auf ein kleines Tablett, das danach in die Pathologie gebracht wurde.

„Wie kommst du voran?“, fragte sie Clayton.

„Bin fast fertig. Noch eine Viertelstunde, schätze ich.“

„Macht es dir etwas aus, wenn ich dir zuschaue?“ Sie lächelte. „Schließlich hast du das bei mir vor Kurzem auch gemacht.“

Eigentlich hatte ihr vor dem heutigen Tag gegraut, aber dann war es erstaunlich einfach gewesen, Seite an Seite mit Clayton zu arbeiten. Im Grunde hatte Tessa es sogar genossen.

Das ließ in ihr die Hoffnung aufsteigen, dass sie zu irgendeiner Form von Übereinstimmung kommen könnten, denn schließlich war es unvermeidlich, dass sie sich im Krankenhaus hin und wieder über den Weg laufen würden.

Er lächelte sie an, und sofort zog ihr Magen sich zusammen. „Ich habe gar nichts dagegen, Dr. Camara. Unbedingt … schauen Sie mir zu!“

Eine Hitzewelle breitete sich bei diesen Worten in ihrem Körper aus. Denn sie konnte sich nur allzu gut daran erinnern, dass er das schon einmal zu ihr gesagt hatte. Allerdings hatte er damals nicht operiert. Nein, er hatte ihre Hüften angehoben und war bereit gewesen, in sie einzudringen. Und dann …

Oh, Gott! Daran durfte sie jetzt auf gar keinen Fall denken.

Sie machte ihren letzten Stich und nähte die Wunde zu. Dann bat sie die Schwester, das Nahtmaterial abzuschneiden, bevor sie ihre Nadel auf das Tablett zurücklegte.

Doch die ganze Zeit überschlugen sich ihre Gedanken.

Sie trat einen Schritt zurück und wäre am liebsten aus dem OP geflohen. Aber das hätte bestimmt komisch ausgesehen, zumal sie ja gesagt hatte, dass sie Clayton bei der Arbeit zuschauen wollte.

Trotzdem schoss ihr das Blut in den Kopf, und ihr wurde immer heißer. War es eine gute Idee gewesen, ihn zu fragen, ob er mit ihr essen gehen würde? Höchstwahrscheinlich nicht.

Schau mir zu.

Oh, Gott, da war schon wieder diese Stimme in ihrem Kopf.

Denk an etwas anderes, Tessa.

Sie konzentrierte sich auf seine Hände, die sich an Mr. Phillips’ Bein zu schaffen machten. Und was sie sah, beeindruckte sie sehr. Kein Zweifel, Clayton wusste, was er tat. Er wirkte sicher und fokussiert. Genau so, wie sie eines Tages auch als Ärztin sein wollte.

Nach dem Essen würde sie sich sofort von ihm verabschieden und ihr ganz normales Leben wiederaufnehmen, ohne auch nur einen Gedanken an ihn zu verschwenden.

6. KAPITEL

„Du bewirbst dich also um eine Fellowship in Mohs-Chirurgie?“

Nachdem sie die OP beendet hatten, waren sie in ein kleines Restaurant um die Ecke des Krankenhauses gegangen. Tessa hatte beim Labor noch Scans bestellt, um sicherzugehen, dass der Tumor sich nicht über das Bein hinaus ausgebreitet hatte.

Irgendwie war sie aber komisch gewesen, dachte Clayton, und er hatte sich vorgenommen, es beim Essen anzusprechen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab.

Sie nickte. „Ja, ich möchte im Herbst damit anfangen.“

In diesem Moment kam der Kellner mit dem Wein und nahm ihre Bestellung auf.

Als sie wieder allein waren, beugte Clayton sich vor. „Ich kenne Dr. Wesley gut, den Chef der Onkologie. Eigentlich kann man sagen, dass wir Freunde sind. Wenn du möchtest, werde ich ein gutes Wort für dich einlegen.“

Danach herrschte fünf Sekunden Schweigen, und ihr Gesicht rötete sich.

„Glaubst du, ich schaffe es nicht allein?“, fragte sie scharf.

Was, zum Teufel …?

„Ich dachte nur, ich könnte dir vielleicht …“

Sie schüttelte den Kopf. „Du musst mir keinen Gefallen tun, Clayton. Das habe ich nicht mehr nötig.“

Bestürzt sah er sie an. „Was willst du damit sagen? Geht es hier um meine Eltern? War dies der Grund dafür, dass du mit mir Schluss gemacht hast? Weil sie dir mit ein bisschen Geld geholfen haben?“

Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme bitter klang.

Sie starrte ihn an. „Mit ein bisschen Geld? Es war wohl mehr meine gesamte Ausbildung!“ Ihre Stimme war so laut geworden, dass ein paar Leute vom Nebentisch zu ihnen herüberschauten.

Tessa schloss die Augen und fuhr ruhiger fort: „Betrachte es doch mal mit meinen Augen. Ich dachte, ich hätte mir das Stipendium aus eigener Kraft verdient. Weil ich im College so hart gearbeitet hatte. Doch als ich dann feststellen musste, dass es gar nichts mit mir zu tun hatte …“

Sie sah ihn an. „Du kannst dir wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie gedemütigt ich mich gefühlt habe, als sich herausstellte, dass die Eltern meines reichen Freundes dahintersteckten. Aber das Schlimmste war, dass ihr es vor mir geheim gehalten habt.“

Natürlich konnte Clayton ihre Wut und Enttäuschung nachvollziehen. Aber er wusste auch, dass seine Eltern in gutem Glauben gehandelt hatten. Sie hatten ihre Unterstützung als eine sinnvolle Investition in die Zukunft gesehen. Schließlich hatte Tessa auch nur die allerbesten Noten bekommen, und sie hatten ihre Zuversicht dadurch bestätigt gesehen.

Spontan ergriff er ihre Hand und drückte sie. „Meine Eltern haben zwar für deine Ausbildung bezahlt, doch du hast sie dir auch verdient.“

„Kann schon sein“, gab sie zurück. „Aber warum haben sie uns nichts davon erzählt?“

„Nun, ich denke mal, sie hatten Angst, dass deine Eltern das Geld zurückweisen würden. Aus falschem Stolz. Aus genau demselben Stolz, den eine gewisse junge Ärztin …“

Sie lächelte. „Also, stolz bin ich schon, aber …“

Unwillkürlich fiel sein Blick auf ihre Lippen, und der Wunsch, sie zu küssen, wurde fast übermächtig. Sofort fing die Luft zwischen ihnen zu knistern an, und auch Tessa spürte die veränderte Atmosphäre.

Glücklicherweise kam in diesem Moment das Essen, und Clayton machte sich dankbar über seine Spaghetti her.

Tessa probierte ihren Salat und dachte über ein unverfänglicheres Thema nach. Doch er kam ihr zuvor.

„Wie läuft es im Studio mit Marcos?“

Sie schmunzelte. „Na ja, er ist immer noch so grantig wie eh und je. Aber sie freuen sich auf die Vorführung. Oh, da fällt mir ein, ich habe ganz vergessen, ihn anzurufen, um zu fragen, wann du und Molly mal vorbeikommen könnt.“

„So bald wie möglich. Molly interessiert sich gerade sehr für Karate. Capoeira ist natürlich nicht dasselbe, aber ich denke immer noch, dass es ihr gefallen würde.“

„Bestimmt hat Marcos nichts dagegen, wenn sie mitkommt. Ich rufe ihn gleich morgen an.“ Sie machte eine kleine Pause. „Tut mir leid mit deiner Scheidung.“

Dieser abrupte Wechsel zu einem persönlichen Thema brachte ihn einen Moment lang aus der Fassung. Dann seufzte er. „Nun, sieht fast so aus, als würde ich keine längeren Beziehungen hinkriegen.“

Sie lachte. „Da sind wir uns wohl ähnlich. Aber wenigstens hast du jetzt eine Tochter, also ist etwas Gutes daraus entstanden.“

Ja, das stimmte.

„Sie ist mein Leben.“

In diesen einfachen Worten lag mehr Wahrheit, als er seit Langem ausgesprochen hatte. Sie kamen aus der Mitte seines Herzens, drückten den Mann aus, zu dem er geworden war.

Und er konnte nur hoffen, dass Lizza und er Molly durch ihre Trennung nicht zu viel Schaden zugefügt hatten. Glücklicherweise war seine Tochter noch zu klein gewesen, um zu verstehen, worum es bei ihren andauernden Streitigkeiten gegangen war. Aber jetzt war das anders, daher hatte er auch immer ein ungutes Gefühl, wenn sie bei ihrer Mutter war.

Er würde alles tun, um seiner Tochter weitere Probleme zu ersparen. Deshalb kam es auch gar nicht infrage, eine gewisse rothaarige junge Dame zu küssen, auch wenn sich alles in ihm danach sehnte.

Die nächste Viertelstunde genossen sie das Essen überwiegend schweigend, nur unterbrochen von Kommentaren, wie gut es schmeckte. Die Spannung aus dem OP schien verschwunden und einem entspannten Miteinander gewichen zu sein, so wie es auch früher zwischen ihnen gewesen war.

Schließlich beugte Tessa sich vor und legte ihre Hand auf seine. „Vielen Dank“, sagte sie schlicht. „Ich habe das Gefühl, dass du jetzt endlich verstehst, was damals in mir vorgegangen ist.“

Clayton war sich nicht sicher, ob das stimmte. Aber offensichtlich sahen sie beide ein, dass sie Fehler gemacht hatten.

Schweigend drückte er ihre Hand. Und dann, wider besseres Wissen, hob er sie an seine Lippen und küsste sie.

Wie ein Blitzschlag durchzuckte Tessa das Gefühl seiner Lippen auf ihrer Haut. Unwillkürlich stiegen Bilder und Erinnerungen in ihr auf, und ihre Blicke trafen sich. Langsam legte er ihre Hand wieder zurück auf den Tisch, ließ sie aber nicht los.

Sein Teller war jetzt leer, ihrer auch.

„Möchtest du Nachtisch, Tessa?“

Oh ja, sie sehnte sich nach einem Dessert. Aber es war von der verbotenen Art, das sie eine Weile genossen hatte, bis sie den letzten Bissen schließlich bereute.

Sie schüttelte den Kopf, konnte den Blick jedoch nicht von ihm wenden.

Clayton griff nach seiner Brieftasche, zog ein paar Scheine heraus und erhob sich von seinem Stuhl.

Er streckte die Hand nach Tessa aus, und sie ließ sich von ihm aus dem Lokal führen. Genau wie früher, als keiner von ihnen es hatte erwarten können, was als Nächstes kam.

Mit dem Unterschied, dass sie es auch jetzt nicht mehr wusste.

Sie nickten dem Kellner zu, dann waren sie draußen in der milden New Yorker Luft.

Tessa lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand, Clayton stand direkt vor ihr.

„Hast du Angst?“, fragte er.

Ja. Aber das sagte sie nicht. „Nein, überhaupt nicht. Oder sollte ich?“

Wieder griff er nach ihrer Hand. „Unbedingt.“

„Warum denn?“ Doch in Wirklichkeit wünschte sie sich nur, dass er noch näher kommen würde. Das Verlangen strömte durch ihre Adern, sie konnte kaum atmen.

In diesem Moment verließ ein anderes Paar das Restaurant, ging dann aber schnell weiter, als ob es den intimen Moment nicht stören wollte.

Clayton beugte sich vor. „Wann genau musst du zu Hause sein?“

Sie holte tief Luft. Was sollte sie darauf antworten? Und wie sollte sie reagieren, wenn er sie bitten würde, die Nacht mit ihm zu verbringen?

Wahrscheinlich interpretierte sie ihn ganz falsch. Er wollte bestimmt etwas anderes von ihr, und sie war nur zu dumm und zu naiv, um es zu verstehen.

Aber noch immer strich er ihr mit dem Daumen über die Haut, was sie ganz verrückt machte, während sein warmer Atem ihre Wange streifte.

Tessa biss sich auf die Lippen und kämpfte gegen den Drang an, die Augen zu schließen und sich einfach dem Geschehen zu überlassen. Wenn er das meinte, von dem sie glaubte, dass er es meinte … würde sie dann Ja sagen?

Ja.

„Ich muss noch nicht sofort nach Hause. Warum?“

„Es ist ein wunderschöner Abend. Ich dachte, wir beginnen mit einem Spaziergang im Park.“

Beginnen?

Ihr Magen machte einen kleinen Satz. Früher, als sie zusammen waren, waren sie immer in den Central Park gegangen. Um dort herumzubummeln oder zu lernen … oder einen einsamen Ort für sich zu finden.

Aber damals waren sie fast noch Kinder gewesen.

Er will nicht mit dir knutschen, Tessa. Hör auf zu träumen!

„Gehst du oft in den Park?“

„Ja, manchmal. Das ist ein guter Ort, um nach einer Operation wieder einen klaren Kopf zu bekommen.“

War er damals auch dort hingegangen und stundenlang allein herumgewandert, nachdem sie mit ihm Schluss gemacht hatte? Irgendwie tat ihr dieser Gedanke weh. Aber nach der Szene in ihrem Studentenwohnheim hatte er sie nie wieder angerufen oder sonst irgendwie gezeigt, dass er unter der Trennung gelitten hatte.

Davor hatten sie sich bereits monatelang gestritten. Es war unvermeidbar gewesen, dass sich die Dinge zuspitzen würden. Wenn er damals den Schrei ihres Herzens gehört hätte, wäre das Ende ihrer Beziehung vielleicht nicht so bitter gewesen. Sie hätten sich als Freunde getrennt und wären ihrer eigenen Wege gegangen, mit guten Erinnerungen an die gemeinsame Zeit.

Aber das war nicht geschehen. Und sie konnte ihre Worte von damals nicht zurücknehmen, auch wenn sie es gewollt hätte. Außerdem stand sie immer noch dazu, dass sie sich damals von Clayton getrennt hatte.

Denn sie hatte weder seine Geschenke gewollt noch, dass er sich um sie kümmerte. Sie hatte einfach nur seine Liebe und seinen Respekt gewollt. Das hatte er nie verstanden.

Das reicht jetzt, Tessa. Lass es los.

Allerdings würde sie gern mit ihm spazieren gehen. Und sei es auch nur, um auch die letzten Reste von Verbitterung zwischen ihnen zu begraben.

Daher drückte sie seine Hand und sagte: „Der Park klingt nach einer guten Idee.“

Zwanzig Minuten später standen sie vor dem kleinen Teich mitten im Central Park.

„Ich weiß noch, wie mich meine Mom als Teenager immer davor gewarnt hat, mich nachts hier allein rumzutreiben“, sagte Tessa, und Clayton nickte.

„Ja, meine Eltern haben mir dasselbe geraten.“ Er schmunzelte. „Und vielleicht würde ich es ihnen selbst jetzt nicht auf die Nase binden, wie oft ich hierherkomme.“

Er musste daran denken, wie verblüfft und entsetzt seine Mom damals gewesen war, als er ihr von der Trennung von Tessa erzählt hatte. Auch wenn er eine schonendere Variante dafür gewählt hatte, denn er wollte nicht, dass seine Eltern Tessa in einem schlechten Licht sahen.

Sie hatten bis heute keine Ahnung, dass der Grund dafür ihr Stipendium gewesen war.

Doch Clayton war froh darüber, denn er wusste, dass es ihnen sehr wehgetan hätte.

Was er Tessa immer noch übel nahm, war die Art, wie sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Wenn sie darüber geredet hätten, wäre es ihnen vielleicht gelungen, die Missverständnisse aufzuklären.

Fakt war, dass er bereits zwei gescheiterte Beziehungen hinter sich hatte. Um seiner Tochter willen musste er in Zukunft aufmerksamer sein, auf wen er sich einließ.

Aber das war gar nicht so einfach, wenn die Lust durch seine Adern pulsierte.

Ein Polizist ging an ihnen vorbei und sah sie prüfend an, als ob er die Situation einschätzen wollte. Clayton nickte ihm zu, und der Beamte nickte zurück.

„Ist es nicht schön hier?“, sagte er dann zu Tessa.

Und das war es wirklich. Der sanfte Schein der Parklichter spiegelte sich im Wasser … und in Tessas Haar.

Verdammt, ein Grund dafür, warum er diesen Spaziergang vorgeschlagen hatte, war ja gewesen, um Zeit zu gewinnen. Um zu entscheiden, ob er sie küssen wollte.

Der Impuls dazu, den er bereits vorhin im Restaurant gespürt hatte, kehrte wieder zurück. Stärker als zuvor.

Als ob sie seine Gedanken spürte, wandte sie ihm den Kopf zu, und ihre Augen weiteten sich. So ein Mist! Sie hatte schon immer in ihm lesen können wie in einem offenen Buch.

Und weil das so war …

Er trat einen Schritt näher an sie heran, um zu sehen, ob sie vor ihm zurückweichen würde. Aber das tat sie nicht. Daher streckte er die Hand aus und strich ihr unendlich sanft über die Wange. Ihre Haut war genauso warm und weich, wie er sie in Erinnerung hatte.

Doch im Gegensatz zu Lizza, die ihre Haut immer mit sündhaft teuren Pflegeprodukten behandelte, fühlte sich Tessa … einfach nur real an. Das war die einzige Art, wie er sie beschreiben konnte. Ja, sie war aus Fleisch und Blut, und ihre Haut war so sanft wie Seide.

„Hey.“

Sie lächelte ihn an. „Selber hey.“

Mehr brauchte er nicht. Er legte die Hand um ihren Nacken und zog sie an sich. Bestimmt war es nicht das erste Mal, dass Leute sich im Park küssten. Oder auch noch mehr miteinander machten.

Doch so sehr Clayton sich auch wünschte, ihre Lippen mit seinen zu bedecken und sich alles zu nehmen, was sie bereit war, ihm zu geben, so tat er es doch nicht. Sein Kuss war wie ein Hauch, und er zog sich danach gleich wieder zurück. Doch jetzt war sie es, die ihm den Kopf zuwandte und begann, an seiner Unterlippe zu knabbern.

Okay, honey, jetzt sag nicht, ich hätte es nicht versucht.

Beim nächsten Kuss ließ er alle Zurückhaltung fallen. Die Leidenschaft übermannte ihn, überrollte ihn wie eine gewaltige Welle, während der Kuss immer leidenschaftlicher wurde.

Jemand pfiff laut, und fast hätte er gelächelt. Fast.

Ohne Tessa loszulassen, zog er sie hinter einen Busch, wo sie nicht gesehen werden konnten.

Clayton war gewillt, ein Risiko einzugehen. Und mehr. Er drängte Tessa mit dem Rücken gegen einen Baum, und erneut nahm sein Mund den ihren in Besitz. Tessa stöhnte leicht auf, und ihre Hände, die bisher auf seinen Schultern gelegen hatten, schlossen sich um seinen Nacken. Ihre Brüste waren gegen seine gedrückt. Am liebsten hätte er sie gestreichelt, doch er wollte natürlich nicht, dass sie beide heute Nacht noch im Gefängnis landeten.

Obwohl es einmal eine Zeit gegeben hatte, wo ihnen das völlig egal gewesen wäre. Gerade im Park hatten sie damals ihre wildesten Fantasien ausleben können.

Allein bei der Erinnerung daran wurde ihm ganz heiß.

Es war so lange her!

Als sie schließlich ihren Mund von seinem löste, fluchte er leise: „Das Problem mit dem Park ist, dass es hier viel zu viele Leute gibt.“

„Aber früher hat uns das doch auch nicht gestört.“ Ihre Finger strichen über seine Brust, streiften dabei die Spitzen, und er stöhnte auf.

„Tessa, ich glaube nicht, dass du das tun willst.“

„Ach, nein?“

Sie zog ihn an sich und schmiegte sich an ihn, bis sie das Zeichen seines Begehrens deutlich spüren konnte.

Clayton wusste genau, dass das keine gute Idee war. Nicht, weil sie sich hier in einem öffentlichen Park befanden, sondern weil er kein Liebesspiel wollte, das in ein paar Minuten zu Ende sein würde. Er wollte sich Zeit für sie nehmen, wollte ihren Körper Zentimeter um Zentimeter genüsslich erkunden.

Daher bot er all seine Willenskraft auf, um sich von ihr zu lösen.

„Nein“, stieß er hervor. „Nicht hier.“

Sie sah ihn verwundert an. „Was?“

„Ich will keinen Quickie im Park und auch nicht gerade dann, wenn du am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe wieder aufstehen musst.“ Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Es wird in meiner Wohnung passieren, Tessa. Und ich werde dich die ganze Nacht bei mir behalten.“

7. KAPITEL

Chop-Chop-Chop.

Kleine Finger hämmerten mit Karateschlägen auf dem Stuhl herum, bis Clayton den Kopf schüttelte. Doch Molly ließ sich nicht entmutigen und machte mit dem Trommelfeuer weiter.

Claytons Mutter, die in der Küche stand und gerade in einem Topf mit Spaghetti rührte, lachte, als sie den markerschütternden Schrei hörte, den ihre Enkelin plötzlich ausstieß.

Clayton warf ihr einen bösen Blick zu. „Jetzt ermutige sie nicht auch noch!“

„Das tue ich doch gar nicht! Aber wie ich dir bereits sagte, je eher du sie in dieses Studio bringen kannst, desto besser.“

Inzwischen waren zwei Tage vergangen, seit er Tessa im Park geküsst hatte, und er hatte sich die ganze Zeit über Vorwürfe gemacht. Was hatte er sich nur dabei gedacht, ihr eine heiße Nacht in seinem Apartment zu versprechen? Er nahm doch nie Frauen dorthin mit. Niemals.

Um sich abzulenken, klopfte er auf den Sessel neben sich, bis Jack, der Hund seiner Eltern, zu ihm kam und sich mit einem müden Seufzen davor niederließ, die Augen schloss und einschlief.

In gewisser Weise beneidete Clayton das Tier, denn seitdem er Tess versprochen hatte, sie die ganze Nacht bei sich zu behalten, war das Einschlafen für ihn zur Qual geworden. Immer wieder drängten sich verbotene Bilder in sein Bewusstsein, bis er mit einem Ruck wieder hochfuhr.

Nur seine Tochter konnte ihn auf andere Gedanken bringen. Er stand auf, ging zu ihr hinüber und drückte sie an sich. „Wie wär’s, wenn du dir vor dem Essen jetzt mal deine kleinen Hände waschen würdest? Und jetzt ist Schluss mit dem Trommeln, verstanden?“

Molly kicherte. „Wann sehen wir denn den capo … capo …?“ Sie versuchte vergeblich, das Wort auszusprechen.

Capoeira“, entgegnete er langsam. „Bald, Liebling. Ganz bald.“

Hoffe ich jedenfalls.

Damit schob er sie den Flur entlang, wohl wissend, dass sie nach dem Essen gleich wieder mit den Karateübungen anfangen würde. So lange, bis sie zu Hause ins Bett fallen und endlich einschlafen würde.

Wir sind hier doch alle Freunde.

Wirklich?

Tessa hatte gehofft, dass Clayton im Studio auftauchen würde, wenn sie da war, aber bisher war er nicht gekommen.

Marcos hatte ihr gesagt, er hätte etwas mit ihr und ihm zu besprechen, was sie mit unbestimmten Befürchtungen erfüllte.

Doch als sie bei ihrem nächsten Besuch in den Parkplatz einbog, erblickte sie sofort Claytons Auto. Sie wollte unbedingt verhindern, dass die beiden Männer allein miteinander sprachen. Damals hatte sie Marcos nicht erzählt, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, und er hatte auch nicht danach gefragt. Aber als Clayton dann nicht mehr im Studio erschienen war, hatte er natürlich zwei und zwei zusammenzählen können.

Das Erste, was sie sah, als sie die Tür zum Studio aufstieß, war der Mann, an den sie nun schon die ganze Zeit hatte denken müssen. Er stand mit seiner Tochter in einer Gruppe von Capoeiristas, was Tessa sehr erleichterte. Denn schließlich hatte er ihr gesagt, dass er Molly das Studio zeigen wollte. Es war also kein leeres Versprechen gewesen.

Im Gegensatz zu dem, was er ihr im Park gemacht hatte. Eigentlich hatte sie befürchtet, dass er jeden Tag vor ihrer Tür erscheinen würde, um sein Versprechen, sie die ganze Nacht zu lieben, einzulösen. Doch als das nicht geschah, nahm sie an, dass er es sich noch einmal überlegt hatte, was ihr gar nicht so unlieb war.

Es war ein warmer Abend gewesen, und der Park hatte sich von seiner schönsten Seite gezeigt. Daher war es nicht verwunderlich, dass er alte Erinnerungen und Gefühle in ihnen wachgerufen hatte.

Aber es waren Gefühle, die in ihrem jetzigen hektischen Leben keinen Platz mehr hatten. Schließlich war sie kurz davor, ihre Assistenzzeit abzuschließen und sich um eine Fellowship zu bewerben. Das Letzte, was sie wollte, war, eine alte Romanze wiederaufleben zu lassen, die im Grunde schon tot war.

Oder?

Natürlich war sie das. Andererseits war sie eine ganz normale junge Frau mit normalen Bedürfnissen. Und es war schon lange her, dass sie mit einem Mann geschlafen hatte. Über ein Jahr.

Wenn Clayton ihr ein Angebot machen würde, konnte sie nicht garantieren, dass sie Nein sagen würde. Aber es musste klar sein, dass es dabei nur um Sex ging.

Um S-E-X. Und sonst nichts.

In diesem Moment traf sie der Blick seiner blauen Augen, und sein Mund verzog sich zu dem sexy Lächeln, das sie so gut kannte. Okay, sie hatte ihn angestarrt, während ihr all diese Gedanken durch den Kopf gingen. Aber falls sie jemals an einen potenziellen Samenspender gedacht haben mochte, würde er ganz bestimmt nicht dafür infrage kommen.

Sie zuckte zusammen, denn erst jetzt merkte sie, dass Marcos ihr eine Frage gestellt hatte.

„Entschuldige. Was hast du gesagt?“

„Ich sagte, dass es gut ist, Clayton wieder hier bei uns zu haben, Tessita. Findest du nicht auch?“

Tessita. Oh, nein. Er war schon wieder sauer auf sie.

„Ja, natürlich.“

„Willst du ihm zeigen, woran du gerade arbeitest?“

„Was?“ Oh, nein. Sie hatte nicht die Absicht, vor ihm zu trainieren. „Das kann noch warten. Ich glaube, er ist nur gekommen, um seiner Tochter zu zeigen, was Capoeira ist.“

„Ja, aber wer könnte das besser als jemand, der diesen Sport beherrscht?“ Er streckte ihr seine Hand entgegen. „Schließlich hat er damals ja sogar mit dir zusammen trainiert.“

Marcos wartete ihre Antwort gar nicht ab, sondern klatschte in die Hände. „Schließt den Kreis. Wir wollen anfangen.“

Die Teilnehmer kamen in einem lockeren Kreis zusammen. Clayton trat ein bisschen nach hinten und hob Molly hoch, damit sie besser sehen konnte.

Dabei hatte Tessa noch nicht einmal ihre Capoeirasachen an, denn sie war erst sehr spät aus dem Krankenhaus gekommen. All die Nachtschichten forderten ihren Tribut, und in letzter Zeit hatte sie sich nur noch schwer konzentrieren können. Daher trug sie jetzt auch nur ihre Yogahose und ein lockeres T-Shirt.

Schweigend trat sie in den Kreis und knotete noch schnell ihr Shirt vor der Brust zusammen. Denn auf gar keinen Fall wollte sie, dass es ihr vor aller Augen hochrutschte, wenn sie einige der Sprünge und Saltos machte, die sie geübt hatte.

Dann begannen die Tamburinspieler mit der Musik, und der typische Beat der Capoeira erklang, begleitet von den Klängen der Lesiba, dem Musikbogen. Der restliche Kreis fing an zu klatschen, dann traten zwei Männer nach vorn und begannen mit den Stößen und Täuschungsmanövern, die so typisch für diese Kampfsportart waren. Einer von ihnen stürzte zu Boden, als er einen einfachen Salto rückwärts machte, sprang dann aber schnell wieder auf die Füße.

„Leute, konzentriert euch!“, rief Marcos und winkte einen anderen Teilnehmer in den Kreis. Dieser verpasste keinen einzelnen Beat, sondern traf sich mit einem anderen Mann zu einem synchronisierten Zweitanz, bei dem die Füße des einen nur um Zentimeter den Körper des anderen verfehlten. Sie kamen sich nahe, aber nie so nahe, dass sie eine wirkliche Gefahr füreinander darstellten.

Tessa klatschte dabei gemeinsam mit den anderen, sah sich dabei aber immer wieder nach Clayton um, der dem Ganzen gebannt folgte. Er nahm Molly in den anderen Arm und sagte etwas zu ihr, bis sie ebenfalls zu klatschen begann.

Gegen ihren Willen musste Tessa lächeln und unwillkürlich an ihren Vater denken, der sie als kleines Kind in diesen Sport eingeführt hatte. Schnell hatte sich dabei herausgestellt, dass sie talentiert war, und sie hatte sich bald bis in den Kreis der Fortgeschrittenen hochgearbeitet. Die grün-lila Kordel, die sie trug, bezeugte, dass sie selbst Schüler hätte ausbilden können, wenn sie es gewollt hätte.

Doch natürlich ließ ihr der Beruf keine Zeit dazu. Sie war froh, wenn sie es einmal die Woche ins Studio schaffte.

Marcos nahm sie immer besonders hart ran, vor allem seit feststand, dass sie bei ihrem öffentlichen Auftritt dabei sein würde.

Autor

Amy Ruttan
Amy Ruttan ist am Stadtrand von Toronto in Kanada aufgewachsen. Sich in einen Jungen vom Land zu verlieben, war für sie aber Grund genug, der großen Stadt den Rücken zu kehren. Sie heiratete ihn und gemeinsam gründeten die beiden eine Familie, inzwischen haben sie drei wundervolle Kinder. Trotzdem hat Amy...
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